»Du erreichst mehr mit einer Pistole in deiner Hand
und netten Worten als nur mit netten Worten.«

Al Capone

Als Theodore Roosevelt sich 1912 im Endspurt seiner Präsidentschaftskandidatur befand, reiste er quer durch die USA und hielt Reden in unzähligen Städten – vor der Zeit von Internet, Radio und Fernsehen war das der einzige Weg, Wähler zu erreichen.1 Sein Wahlkampfteam ließ drei Millionen Broschüren mit seinem Redetext drucken, die bei den Veranstaltungen verteilt werden sollten. Auf dem Cover war ein präsidiales Foto Roosevelts zu sehen. Kurz vor Beginn der Reise fiel einem Mitarbeiter des Wahlkampfteams ein kleiner aber verhängnisvoller Schriftzug auf dem Bild auf: »Moffet Studios Chicago«. Und tatsächlich: George Moffet hielt die Rechte an dem Bild. Sollten sie die Broschüren dennoch verteilen, könnte er einen Dollar pro unautorisierter Kopie des Bildes verlangen, insgesamt also die für damals astronomische Summe von drei Millionen Dollar, die Roosevelts Wahlkampfkasse gesprengt hätte. Für das Wahlkampfteam sahen die Optionen so aus: Ohne die Broschüre setzten sie die Präsidentschaft aufs Spiel. Verwendeten sie die Broschüre, liefen sie Gefahr, dass es einen Skandal gäbe und sie ruiniert wären – gewissermaßen eine Wahl zwischen Arsen oder Zyankali. Moffet, so schien es, hielt alle Macht in seinen Händen – auch wenn er von der Situation noch gar nichts wusste.

Was tun? Die Wahlkampfmannschaft ging zu Kampagnenchef George Perkins, seines Zeichens Eisenbahnmagnat und Partner des Bankhauses J. P. Morgan. Dieser fackelte nicht lange und ließ umgehend ein Telegramm an Moffet schicken: »Wir planen, Millionen von Broschüren mit Roosevelts Bild auf dem Cover zu verteilen. Es wäre großartige Werbung für das Fotostudio, dessen Bild wir nehmen. Wie viel zahlen Sie uns, damit wir Ihres verwenden?« Die Antwort kam prompt: »Wir haben das noch nie gemacht, aber unter diesen Umständen freuen wir uns, Ihnen 250 Dollar zu bieten.« Obwohl er sicherlich wusste, dass er noch ein paar Hunderter mehr hätte rausschlagen können, nahm Perkins an. Und Moffet? Er hätte bestimmt viele Tausend Dollar bekommen können, erhielt aber immerhin die Werbung seines Lebens.

Selbst in scheinbar ausweglosen Situationen können Sie also Ihre Macht oder zumindest die Wahrnehmung Ihrer Macht erhöhen.

Für den britischen Verhandlungsprofi Gavin Kennedy ist Macht die Essenz des gesamten Verhandlungsprozesses.2 Stellen Sie sich vor, Ihr vierjähriger Sohn weigert sich, seinen Spinat zu essen.3 Wer hat die Macht? Sie sind vielleicht Partner einer internationalen Großkanzlei und Ihr Sohn kann noch nicht einmal seinen Vornamen (Kurt) mit weniger als fünf Fehlern schreiben. Ganz egal. In dem Moment kann nur er das tun, was Sie wollen, nämlich den Spinat essen. Anders als ihm ist Ihnen ist die Sache aber auch noch wichtig. Macht ist abhängig von Situationen. Scheinbar Machtlose haben häufig die Macht, ob es nun Ihr Kind ist oder der sture Schalterbeamte. Die reichsten Länder der Welt mit riesigen Armeen sind machtlos, wenn ein einfacher Geiselnehmer mit einer einzigen Pistole fünf Menschen in seiner Gewalt hat.4 Die Polizei kann das Gebäude umstellen und auf den nächsten Schritt des Geiselnehmers warten, viel mehr aber nicht. Wenn sie das Gebäude stürmt – wie es vor wenigen Jahrzehnten noch gang und gäbe war – ist die Chance hoch, dass einige Geiseln dabei ums Leben kommen. Das Machtverhältnis auszugleichen, hieße für die Polizei, Freunde und Verwandte des Geiselnehmers aus ihren Häusern zu zerren und dem Geiselnehmer mit ihrer Ermordung zu drohen: »Wir haben Ihre Mutter. Wir zählen bis drei und Sie sind Halbwaise.«5

Die Macht zu verstehen und – trotz widrigster Umstände – zu Ihren Gunsten zu steuern, ist der Kern jeder Verhandlung.

James Stockdale war einer der höchstdekorierten US-Offiziere aller Zeiten.6 Während des Vietnamkrieges wurde er von den Vietcong gefasst und sollte gezwungen werden, in einem Propagandafilm gegen die USA aufzutreten. Ausgerechnet er, der mit einigen anderen Häftlingen den Widerstand unter den Kriegsgefangenen organisiert hatte. Ein abgemagerter Mann in einer Zelle – welche Wahl hatte er?

Kurz vor den Dreharbeiten nahm er den Hocker in seiner Zelle, drosch auf sein Gesicht ein und verwandelte es in blutigen Matsch. Kein gutes Motiv mehr für einen Propagandafilm, der nie gedreht wurde.

Welche Macht haben Sie, wenn Sie jemand mit vorgehaltener Waffe überfällt? Ein amerikanischer Senator sagte dem Räuber folgendes: »Töten Sie mich ruhig. Ich habe Krebs im Endstadium. Ich habe über Selbstmord nachgedacht, aber dann würde meine Frau die Lebensversicherung nicht bekommen. Wenn Sie mich töten, helfen Sie meiner Familie«. Eine Räuberpistole, aber ein effektives Mittel gegen eine ebensolche, mit der der scheinbar übermächtige Räuber all seiner Macht beraubt wurde und abzog.

Auch wenn Sie glauben, dass Sie absolut nichts machen können, gibt es immer einen Hebel, und Sie haben mehr Macht, als Ihnen bewusst ist.

Stellen Sie sich vor, Sie sind gerade knapp bei Kasse.7 Nach einigen Wochen, in denen Ihre Kinder mit Decken im winterlichen Wohnzimmer vor einer kargen und ungeschmückten Weihnachtstanne vom letzten Jahr sitzen und Ihre Frau mit Scheidung droht, rappeln Sie sich auf und gehen zur Bank, um einen Überbrückungskredit zu beantragen. Wählen Sie Ihre abgewetztesten Kleider, um den Angestellten von Ihrer Bedürftigkeit zu überzeugen und Mitleid bei ihm zu erwecken? Sagen Sie ihm, dass Ihre Kinder gerne ein Weihnachtsfest ohne Tränen feiern möchten und versprechen Sie ihm, wenn auch keine Rückzahlung, so doch zumindest Lohn im Jenseits? Wohl kaum. Banken geben dem Geld, von dem sie glauben, dass er es nicht braucht. Einen Kredit zu geben, ist eine Wette auf die wirtschaftliche Stabilität einer Person: Das Geld ist weg, wenn die Bank die Wette verliert. Wenn derjenige, der sich das Geld geliehen hat aber über Nacht auf eine Ölquelle stößt, wird er der Bank zum Dank wohl kaum das Doppelte zurückzahlen. Die Bank muss ihr Risiko minimieren. Je weniger bedürftig Sie wirken, desto höher Ihre Chance auf das Geld. Vor allem aber: Sehen Sie sich auch in dieser Situation nicht als Bittsteller. Machen Sie sich klar, dass der andere ebenso Zwängen unterworfen ist. Eine Bank lebt davon, Kredite zu vergeben, sie tut Ihnen damit keinen Gefallen. Es gibt sogar Werbekampagnen, um Menschen zu überzeugen, ihr Geld von genau dieser Bank zu leihen.

Es ist ein weit verbreitetes Gefühl unter Verhandlern, die andere Partei für mächtiger zu halten als sich selbst.8 Denn sie sehen ihre Zwänge, Ängste und Fristen klar vor Augen, nicht aber die des Gegenübers, der scheinbar sorglos auf seinem Sessel sitzt. Gewerkschaftler sehen in den Managern die geballte Macht des Kapitals, die Unternehmensführung wiederum sieht sie bei den Arbeitnehmern. Der Vertrieb betrachtet den Einkauf als die große Macht, der Einkauf hingegen wähnt alle Macht bei den Zulieferern. Vertriebler sind besessen von der Macht der Käufer und der der Konkurrenz. Sie fokussieren sich auf ihre Schwächen und glauben den Käufern bereitwillig, wenn diese von der Konkurrenz schwärmen, weshalb typischerweise Vertriebler am wenigsten vom eigenen Produkt halten.

Aber niemand bietet genau das, was Sie bieten. Machen Sie sich die Einzigartigkeit Ihres Verhandlungsgegenstands bewusst. Häufig unterliegen Einkäufer Vorgaben aus dem Unternehmen: Spezialisten können angeblich nur mit Ihrem Produkt arbeiten, ganz egal, ob es teurer ist als das der Konkurrenz. Vielleicht aber gibt es auch Vorgaben, dass das Unternehmen nur Lieferanten ab einer bestimmten Unternehmensgröße wählen darf, oder dass das Unternehmen grundsätzlich zwei Lieferanten für eine Ware hat. Gerade Großunternehmen, mit ihren stadtartigen Gebäudekomplexen, ihren riesigen Fuhrparks und ihren scheinbar unbegrenzten Mitteln erscheinen übermächtig. Die Wahrheit ist: Sie sind es nicht. Vielmehr sind sie wie ein riesiges Schiff, das, wenn es einmal Kurs in eine Richtung aufgenommen hat, fast nicht zu stoppen ist.9 Zu viele Parteien sind beteiligt und niemand will derjenige sein, der den Deal platzen lässt. Wenn Sie zu Ihrer Chefin gehen, um eine Gehaltserhöhung auszuhandeln, dann denken Sie sich, dass es sicherlich Tausende gäbe, die Ihren Job gerne machen würden. Die Vorgesetzte aber hat Angst, Sie zu verlieren, und fragt sich, wie sie Sie gleichzeitig zufriedenstellen und ihr Budget einhalten kann. Macht bedeutet nichts anderes, als über Wohl und Wehe des anderen zu entscheiden, wobei am mächtigsten derjenige wahrgenommen wird, der dem anderen am meisten Schaden zufügen kann. Fragen Sie sich: Was ist das Schlimmste, das mir mein Gegenüber antun kann?10 So merken Sie, dass er eigentlich gar nicht viel machen kann. Auch wenn Sie keinerlei Macht bei sich wähnen, können Sie immer noch Ihre Kooperation beenden. Diesen Weg beschritt Gandhi, der Indien von der scheinbar übermächtigen Kolonialmacht Großbritannien ohne eine einzige Waffe befreite.

In ganz seltenen Fällen mag das Gefühl von Machtlosigkeit angenehm sein.11 So kann man sich für verschiedene Situationen als nicht verantwortlich fühlen: »Was hätte ich schon tun können?« In der Regel aber ist das Gefühl der Macht sehr förderlich für Ihr Wohlbefinden. Warum sind so viele Menschen so ungern im Krankenhaus? Weil sie dort keinerlei Kontrolle mehr über ihren Tagesablauf haben: vom morgendlichen Aufwachen bis zum Zeitpunkt und Bestandteil aller Mahlzeiten – der Patient hat nichts mehr zu melden. Warum fühlen Sie sich schlechter, wenn Sie im Bus sitzen und zu spät dran sind, als wenn Sie mit Ihrem Auto fahren?12

Nochmal zu Roosevelt: Welche Macht hatte eigentlich der Fotograf Moffet? Was genau hätte er denn mit dem Bild gemacht, wenn Roosevelt kein Interesse daran gehabt hätte? Oder wenn Roosevelt die Wahl verloren hätte – wer würde sich für das Bild des Verlierers interessieren? Na, eben, Moffet hatte wenig in der Hinterhand. Die Schwäche des anderen kann schnell übersehen werden, wenn wir uns zu sehr auf unsere eigene, scheinbare Machtlosigkeit fokussieren.

Wer hat also die Macht? – Sie, wenn Ihr Gegenüber davon überzeugt ist!13

Versierte Verhandlungspartner werden von Anfang an versuchen, die Wahrnehmung von Macht zu ihren Gunsten zu verschieben. Der Verkäufer Ihrer neuen Wohnung kommt mit einem Maybach mit Chauffeur zur Besichtigung vorgefahren. Was geschieht? Sie sind froh, dass Sie mit einem solch bedeutenden Menschen Geschäfte machen dürfen, und es wäre Ihnen geradezu peinlich, mit ihm zu feilschen. Das Auftreten und Statussymbole sind die traditionellen Markenzeichen von Hochstaplern: Sie wussten schon immer, worauf Menschen achten. Prunkvolle Eingangshallen, hübsche Empfangsdamen, Büros mit Skyline-Blick – Requisiten, mit denen sie Ihnen zeigen wollen, wie mächtig sie sind. Dazu gibt es zahlreiche subtile Methoden, Sie einzuschüchtern14: Man lässt Sie vor dem Büro warten, weil wichtigere Menschen als Sie zu treffen sind. Sie bekommen einen Stuhl angeboten, der 50 Zentimeter niedriger ist als der Ihres Gegenübers und blicken direkt in die Sonne. Vor dem Gespräch mit Ihnen sagt er seiner Assistentin, dass für die nächsten zwei Minuten – länger nicht – keine Anrufe durchgestellt werden sollen. Er schaut gelangweilt und guckt ständig auf die Uhr. Er vergisst wiederholt Ihren Namen und den Ihres Unternehmens, spricht aber sehr vertraut über seine Tenniskumpel von der Konkurrenz. Er ignoriert Ihre mitgebrachten Proben. Wenn er Ihnen nun doch einen Deal vorschlägt, fühlen Sie sich geradezu geschmeichelt.

Chinesische Geschäftsleute nutzen eine Methode, die als Long Wait bekannt ist15: Ausländische Geschäftspartner, die mit Produktionsstätten im chinesischen Hinterland verhandeln müssen, bekommen von der Regierung häufig noch weiter abgelegene Unterkünfte zugewiesen. Nicht nur, dass diese Schlafstätten keine Mitglieder bei Leading Hotels of the World sind: Man empfängt die Gäste zu einer freundlichen ersten Verhandlungsrunde, nach der sie von einem Fahrer, der kein Englisch spricht, zurück in die chinesische Pampa gefahren werden, wo man sie ohne neuen Verhandlungstermin warten lässt – einige Tage, manchmal sogar mehrere Wochen. Irgendwann hat auch der geduldigste Besucher keine Lust mehr und will einfach nur nach Hause. Man packt die Koffer und begibt sich mit einem, nach einigem Hin und Her aufgetriebenen Taxi zum Flughafen. Kaum haben die chinesischen Geschäftspartner davon erfahren, kommen sie zum Flughafen und versprechen mit größter Freundlichkeit und Verbindlichkeit sofortige Treffen. Nach ein, zwei Tagen der Verhandlung beginnt das Spiel aufs Neue. Was geschieht dabei? Die Wahrnehmung der Macht wird verschoben.

Australien etwa verfügt über große Kohlevorkommen, ganz im Gegensatz zu Japan.16 Japan aber braucht viel Kohle. Dennoch sind die Japaner in einer besseren Verhandlungsposition. Wie ist das möglich? Die Verhandlungen finden in Japan statt. Das bedeutet, dass die Australier erst einmal eine lange Reise auf sich nehmen müssen (alles ist weit von Australien entfernt, sogar nach Neuseeland fliegt man mehrere Stunden). Die Australier haben Jetlag, müssen sich auf ungewohntem Territorium herumschlagen und leben aus dem Koffer. Dazu kommt der kurzsichtige Druck des Unternehmens, bloß die Flüge nicht verfallen zu lassen: Man verliert Hunderttausende in der Verhandlung, damit man ja nicht das Geld für die Tickets umsonst ausgegeben hat. Die Japaner dagegen sind entspannt, schlafen jede Nacht zuhause und haben es geschafft, dass der Verkäufer zu ihnen kommt wie ein Hausierer.

Derjenige, der hergebeten wird, ist in einer schwächeren Position. Denken Sie nur an den Unterschied zwischen Barmann und Kellner: Wir gehen zum Barman, buhlen um seine Aufmerksamkeit und hoffen, dass er uns sieht, bis wir endlich ordern dürfen. Der Kellner hingegen kommt zu uns wie ein Lakai, um Order entgegenzunehmen. Das Ergebnis ist das gleiche, doch die wahrgenommene Macht desjenigen, den wir aufsuchen, ist viel größer.

Der Finanzier J. P. Morgan wollte vor vielen Jahren ein Grundstück von der Rockefeller-Familie kaufen, die aber gar nicht sonderlich an einem Verkauf interessiert war. Schließlich schickte der alte Rockefeller auf Drängen Morgans seinen Sohn. Als dieser in Morgans Büro trat, blickte er kaum auf, sondern arbeitete weiter an seinen Akten.

»Und? Wie viel wollen Sie?« Rockefeller war zwar jung, aber er ließ sich nicht einschüchtern: »Mr. Morgan, hier muss ein Irrtum vorliegen. Ich bin nicht hergekommen, um zu verkaufen. Soweit ich weiß, wollen Sie kaufen.«

Das ist die richtige Reaktion, die das Machtgefüge wieder ins rechte Licht rückt. Versierte Verhandler werden immer wieder versuchen, dass Sie sich ohnmächtig fühlen. Wenn Sie dieses Manöver aber durchschauen und korrigieren, werden Sie Ihr Gegenüber verblüffen und Ihre eigene Macht erhöhen.

Macht zu verstehen, bedeutet auch, zu wissen, wann Ihre Macht am größten ist. Wehe, Sie haben sich zu Hause ausgesperrt und müssen den Schlüsseldienst rufen. Ein Handgriff von etwa 20 Sekunden kann Sie leicht über 100 Euro kosten. Der seriöse Herr mit Dietrich weiß aber, dass er das Geld vorher eintreiben muss: Wenn Sie sich am kältesten Tag des Jahres, ohne eine Jacke anzuhaben, ausgesperrt haben, bibbernd und mit eingefrorenen Tränen der Freude den Messias vor sich sehen, der Ihnen das Tor in die Welt des flauschigen Sofas mit acht Kissen vor dem knisternden, nach Zimt und Gemütlichkeit duftenden Kamin öffnet, akzeptieren Sie jedes Angebot. Kaum sind Sie drin, sehen Sie nur noch den unverschämten Ex-Knacki, der er ist. Man spricht vom Nutten-Prinzip (Hooker Principle), weil der Freier stets vor der Dienstleistung um das »Honorar« gebeten wird. Vorher ist die Macht der Dienstleisterin groß, danach denkt sich fast jeder, dass man es selbst genauso gut hinbekommen hätte – jedenfalls mit identischem Ergebnis.17

Der Faktor Zeit hat eine entscheidende Bedeutung für die Macht des Anbieters. Wenn Sie in ein Hotel einchecken und der Nachtportier Ihnen die Reservierungsbestätigung vorlegt, auf der ein höherer Preis verzeichnet ist, als vereinbart war, gehen Sie am besten ins Bett und verhandeln am nächsten Tag. Dann nämlich hat sich das Machtgefüge zu Ihren Gunsten verschoben.

Natürlich sind Sie in einer besseren Position in der Gehaltsverhandlung, wenn Sie noch in einem festen Arbeitsverhältnis stehen. Selbstverständlich können Sie eher um ein Auto feilschen, wenn Sie noch einen fahrbaren Untersatz haben, als wenn Sie bei Regen die drei Kilometer von der Bushaltestelle zum Autohändler ins Industriegebiet gestapft sind.

Fragen Sie dann nach etwas, wenn Ihre Macht am größten ist, bei Bewerbungen in dem Moment, in dem man Ihnen das Angebot gemacht hat, Sie aber noch nicht angenommen haben. Also nicht etwa vor dem Angebot, da man sich dann vielleicht für den fast genau so interessanten Gegenkandidaten entscheidet. Aber eben auch nicht nachdem Sie angenommen haben, da die Sache dann bereits erledigt ist und Menschen nur ungern nachverhandeln. Nutzen Sie also den goldenen Moment zwischen der Zusage des Arbeitgebers und Ihrer Annahme, um nach einem Firmenwagen, dem Eckbüro oder Umzugskosten zu fragen – hier ist Ihre Macht am größten.18

Drängen Sie auch dann auf die Begleichung von Schulden, wenn Ihre Macht am größten ist. Sie sind Caterer und Ihr Kunde hat noch nicht bezahlt? Verlangen Sie die vollständige Begleichung aller Rechnungen direkt vor dem nächsten Event, wenn die hungrigen Gäste schon nervös nach dem Essen lugen.

Das Gleiche gilt, wenn Sie der Kunde sind. Sagen wir, Sie haben Parkett für Ihr Wohnzimmer bestellt und eine der Kisten enthält wurmstichiges Holz. Zahlen Sie nicht schon alle anderen Kisten und halten nur den Teilbetrag zurück. Ich habe vor einiger Zeit die Felgen meines Autos ausbessern lassen. Die vierte allerdings ist dem Handwerker misslungen. Er versprach mir, in den nächsten Tagen bei mir vorbeizukommen und sie noch auszubessern. Ich habe die anderen drei gezahlt und ihn nie wieder gesehen. Gehen Sie jedoch sicher, dass Ihr Ansprechpartner im Unternehmen weiß, warum Sie nicht zahlen, damit die Forderung nicht einfach an ein Inkassounternehmen weitergereicht wird.19 Falls möglich, warten Sie also stets mit der Zahlung des ganzen Betrags, bis alles erfüllt wurde – so ist Ihre Macht ungebrochen. Vor allem: Entwickeln Sie ein Auge dafür, wann Ihre Macht am größten ist.

Donald Trump hat mit seinem Verhandlungsstil einige Scherben hinterlassen, aber auch häufig viel erreicht. Er hat sich stets alle Optionen offengehalten: ob NATO-Austritt der USA oder den Einsatz von Atomwaffen. Wenn ein US-Präsident von vornherein gewisse Dinge ausschließt, dann mag das auf den ersten Blick erfreulich für den Weltfrieden sein. Wenn aber die andere Seite den Krieg durchaus als Option betrachtet, hat sie eine Option mehr und damit mehr Macht. Eliminieren Sie daher nicht frühzeitig Ihre Möglichkeiten!

Ganz ähnlich ist es bei Geiselnahmen, die von den Medien genau verfolgt werden: Wenn Terroristen fünf Deutsche verschleppen und alle Sender und Zeitungen nonstop darüber berichten, geschieht was? Der Wert der »Ware«, der Geiseln, und damit die Macht der Geiselnehmer steigt ins Unermessliche. Die Nachfrage ist immens, das Angebot auf fünf beschränkt.20 Die Öffentlichkeit untergräbt die Macht des Verhandlers für Deutschland, der nun keine Wahl mehr hat und sich jeder Forderung beugen muss, damit die Bundesregierung vor den Wählern nicht schlecht dasteht.

Auf den Alltag angewendet, bedeutet das: Zeigen Sie nie Ihr besonderes Interesse für eine Option, da Sie damit Ihre Machtposition schwächen. Es ist nicht überliefert, dass jemals ein Käufer, der bei einer ersten Besichtigung das Haus »Perfekt!« fand und mit den Kindern in den Armen, jeden sein Zimmer aussuchen ließ, mit einem Zollstock nochmals nachmaß und dann nach dem Preis fragte, einen großen Nachlass bekam.21 Ihre Optionen zu reduzieren, ist der sicherste Weg, ohne Not Ihre Macht zu verringern.

Sie dürfen auch nie preisgeben, wenn Sie wenig Macht haben: dass Ihre Produktion pausieren und Ihre Mitarbeiter in Kurzarbeit gehen müssten, wenn der Vertrag heute platzen sollte. Geben Sie nie preis, warum Sie nicht mehr mit der Konkurrenz arbeiten. Warum? Wenn Sie ihre Konkurrenz nicht mögen, hat sie mehr Macht. Sagen Sie nicht, dass Sie ihre Produkte großartig finden. Ihre Macht muss so gering wie möglich gehalten werden.

Die verbreitetste Methode, seine eigene Position zu untergraben, ist, »Verhandlungsbasis« (VB oder VHB) hinter seinen Preis zu schreiben. Haben Sie »VB« schon mal auf einem brandneuen Mercedes gesehen? Nein, denn nur Amateure machen es. Warum schreiben so viele VB an Dinge, die sie verkaufen wollen? Weil sie sich sagen:

»Naja, so wird immerhin keiner abgeschreckt vom Preis und ein paar Euro kann man ja immer runtergehen.«

Was aber geht im Kopf der Käuferin vor, wenn sie an Ihrem Wagen 9 000 Euro VB sieht? Sie denkt sich, dass kein Mensch 9 000 Euro zahlen würde, und fragt sich, für wie viel weniger sie ihn bekommt. Würden Sie denn in einer anderen Situation als allererstes sagen:

»Ich will eigentlich 100 Euro für den Stuhl, aber ich bin auch bereit, weniger zu nehmen«, bevor Sie irgendeinen Vorzug des Stuhls angepriesen haben? Natürlich nicht. Aber mit VB machen Sie genau das. Sie erschaffen damit das Gegenteil einer Konkurrenzsituation, nehmen sich selbst die Macht und signalisieren, dass Sie den Wagen unter Wert verkaufen müssen. Wenn Sie von jemandem kaufen, der VB an seinen Preis schreibt, dann betrachten Sie es als Ihre vornehmste Pflicht, den Preis empfindlich zu drücken. Denn Sie wissen jetzt, dass der andere noch nicht einmal den angegebenen Preis erwartet.

Dass Sie Ihre wahrgenommene Machtposition niemals verringern dürfen, illustriert eine Geschichte des französischen Schriftstellers Honoré de Balzac. Ein Pariser Buchhändler war von dem noch jungen Balzac hellauf begeistert. Er wollte ihm 3 000 Francs für seinen nächsten Roman bieten. Als er die Adresse des Autors in einem Scherbenviertel erfuhr, reduzierte er sein Angebot auf 2 000 Francs. Nachdem er das Haus gesehen hatte, wollte er nur noch 1 500 Francs bieten. Als er die Treppen erklomm und schließlich die schäbige Dachkammer sah, in der Balzac gerade ein altes Stück Brot in ein Glas Wasser tunkte, gab er schließlich sein Angebot ab: 300 Francs.

Wenn Sie Macht verstehen und einen Hebel suchen, um sie zu vergrößern, kann der Weg auch über Dritte gehen. Dazu ein Beispiel: Mieter in einem verwahrlosten Gebäude konnten ihren Vermieter nicht überzeugen, etwas an den desolaten Zuständen im Haus zu verändern – nicht einmal das Abwasser funktionierte.22 Aber der Vermieter blieb untätig. Welche Macht hatten die Mieter, die sich noch nicht einmal einen Anwalt leisten konnten? Sie marschierten vor das Haus des Vermieters in einem eleganten Vorort und protestierten dort mit selbstgebastelten Schildern und Transparenten gegen seine Untätigkeit. Es dauerte keine Viertelstunde und die Nachbarn forderten ihn auf, etwas zu tun, um die Demonstranten loszuwerden. Der Vermieter knickte ein und ließ das Haus sanieren.

Ein Freund von mir wohnte für einige Monate in einer WG in Amsterdam. Nach seinem Auszug bekam er die Kaution von seiner Vermieterin, die zugleich seine Mitbewohnerin gewesen war, einfach nicht zurück. Ein halbes Jahr nach seinem Auszug hatte er zig Mails geschrieben und wurde ignoriert. Er hat es immer wieder auf ihrem Handy versucht und wurde weggedrückt. Was tun? Einen niederländischen Anwalt damit beauftragen? Das hätte wohl Jahre gedauert und wäre mühselig geworden. Seine Position erschien ihm fast aussichtslos, doch da hatte er eine zündende Idee: Er ging auf Facebook und kopierte sich die gesamte Freundesliste der Vermieterin heraus. Dann schrieb er ihr noch mal und fragte sie, was sie von der Idee hielte, ihren ganzen Freunden und Bekannten von ihren Machenschaften zu schreiben. Nötigung oder gar Erpressung? Er hatte keine moralischen Bedenken und riskierte es: Nach einer Woche war das Geld auf seinem Konto.

Es ist nicht immer leicht, die entscheidenden Außenstehenden zu finden. So wie die Polizei bei Geiselnahmen häufig Vertraute der Geiselnehmer einschaltet, müssen Sie herausfinden, wer für Ihren Verhandlungspartner wichtig ist. Gewinnen Sie Verwandte, Freunde oder Kollegen Ihres Verhandlungspartners für Ihre Sache.23 Andere, scheinbar Unbeteiligte, können der Hebel Ihrer Macht sein.

Wie Sie Ihre Macht systematisch erhöhen, erfahren Sie im nächsten Abschnitt.