»Das Leben ist ungerecht, aber denke daran:
nicht immer zu deinen Ungunsten.«
John F. Kennedy
Eine der bekanntesten Simulationen bei Verhandlungstrainings ist das Ultimatum Game.1 Die Regeln sind sehr einfach: Ihr zugewiesener Partner bekommt 100 Euro. Er muss Ihnen nun ein Angebot machen, wie er das Geld mit Ihnen teilen will. Handeln ist nicht erlaubt, es gibt nur ein einziges Angebot. Wenn Sie zustimmen, wird der Betrag genau so aufgeteilt. Wenn Sie aber ablehnen, bekommt niemand etwas. Was würden Sie tun, wenn Ihr Partner Ihnen einen Euro anbieten würde? Würden Sie Ja sagen?
Die meisten lehnen es ab: Auch wenn sie dann nichts bekommen, ist es ihnen immer noch lieber, als dass der andere 99 Euro bekommt. Rein ökonomisch betrachtet, ist das Verhalten irrational – lieber einen Euro als null Euro.2 Die meisten lehnen Angebote unter 20, viele solche unter 30 und einige gar solche unter 40 Euro ab.3 Sie halten sie schlicht und einfach für unfair. Und das ist der entscheidende Punkt: Fairness ist einer der wichtigsten Aspekte beim Verhandeln. Menschen aller Kulturen lehnen nützliche Deals ab, weil sie ihnen nicht fair erscheinen. Wir interessieren uns nicht nur für unseren persönlichen Nutzen, sondern sind immer auch Verteidiger der Gerechtigkeit.
Was wir in einer Verhandlung als fair wahrnehmen und was nicht, hängt nicht nur vom Ergebnis ab, sondern mindestens ebenso stark vom Prozess.4 Den Anker einfach nur in den luftleeren Raum zu setzen, ist nicht empfehlenswert und auch wenig überzeugend. Viel plausibler wirkt jeder Anker mit einer Begründung, am besten mit einer, die dem Bedürfnis nach Fairness nachkommt, in dem wir den Anker mit einem sogenannten »objektiven« Kriterium regelrecht im Boden verankern.
Eine Begründung muss noch nicht einmal gut sein: Die Harvard-Psychologin Ellen Langer führte vor einigen Jahren ein aufsehenerregendes Experiment durch: Sie testete, was man sagen muss, um Wartende in einer Schlange am Kopiergerät dazu zu bringen, einen vorzulassen. Dazu schickte sie einen Studenten nach vorne und ließ ihn Folgendes sagen: »Entschuldigen Sie, ich habe fünf Seiten. Darf ich an den Kopierer?« Immerhin 60 Prozent der Angesprochenen ließen ihn vor. Sagte er aber: »Entschuldigen Sie, ich habe fünf Seiten. Darf ich an den Kopierer, weil ich in Eile bin?« stimmten schon 94 Prozent zu. Immerhin hat er jetzt einen – wenn auch dünnen – Grund geliefert. Noch interessanter wurde es bei der dritten Formulierung: »Entschuldigen Sie, ich habe fünf Seiten. Darf ich an den Kopierer, weil ich ein paar Kopien machen muss?« Obwohl dieser Satz überhaupt keinen neuen Grund liefert, ließen ihn immer noch 93 Prozent vor. Der Grund selbst ist also gar nicht entscheidend, es genügt das Gefühl, dass es einen Grund gibt, als Rechtfertigung vor sich selbst und vor anderen.5
Aber natürlich ist es erstrebenswert, möglichst starke »objektive« Kriterien für seinen Anker zu finden.
TEXAS SHOOTOUT
Eine beliebte Methode bei Kindern: Einer teilt den Keks und der andere darf wählen. So geht man sicher, dass sich der Erste große Mühe beim Teilen gibt. Niemand kann sich hier beklagen. Eine sehr klare und einfache Methode, die als Texas Shootout bekannt ist.6
Sie kam bei einer der komplexesten seerechtlichen Verhandlungen zum Einsatz. Es ging um das Recht der Ausbeutung von Bodenschätzen7: Die Verhandlungsparteien waren ein Unternehmen der Vereinten Nationen und ein Zusammenschluss von Privatunternehmen. Die Vereinten Nationen fürchteten nun, dass die Privatunternehmen, die über die bessere Technologie verfügten, die besten Stellen ausfindig machen würden. Schließlich sah die Lösung so aus, dass die Privatunternehmen den Vereinten Nationen zwei Gebiete zeigten, von denen diese eines wählen durften.
Auch bei alltäglicheren Problemen kommt der Texas Shootout zum Einsatz: Wenn Eltern nach einer Scheidung um das Sorgerecht verhandeln, können sie sich vorher über das Besuchsrecht einigen. Nachlassstreitigkeiten können umgangen werden, in dem einer das Erbe teilt und der andere als erstes wählt.8 Es gibt Gesellschafterverträge, in denen für den Fall des Streits eine Shootout-Klausel (auch: Shotgun-Klausel) eingebaut ist: Einer nennt den Preis für die Anteile, der andere kann dann wählen, ob er die Anteile seines Partners zu diesem Preis kauft oder seine verkauft.
Einer der bekanntesten Schadenersatzfälle der Welt ist sicherlich der McDonalds-Kaffee-Fall aus dem Jahr 1994: Die neunundsiebzigjährige Stella Liebeck aus New Mexico kaufte im Drive In von McDonalds für 49 Cent einen Kaffee und verbrühte sich ihre Oberschenkel, als sie den Becher zwischen ihren Beinen abstellte und den Deckel abnahm. Ihr Anwalt argumentierte, dass McDonalds den Kaffee zu heiß servierte, nämlich bei über 80 Grad, wobei 60 Grad genügen sollten. Als es um die Frage der Höhe des Schadenersatzes ging, argumentierte der Anwalt, dass es angemessen sei, wenn McDonalds den Kaffeeumsatz von sieben Tagen an Liebeck zahlte, damit das Großunternehmen auch wirklich etwas spüre und sein Verhalten ändere. Den Geschworenen schien dieses »objektive« Kriterium der Kaffeeumsatztage als eine plausible Berechnungsmethode und sie sprachen Liebeck immerhin zwei Tage des Kaffeeumsatzes zu, nämlich die astronomische Summe von 2,7 Millionen Dollar.
Diese Berechnung hatte keinerlei Basis. Aber sie genügte, denn Ihr Angebot muss keinem Gremium von Allwissenden fair erscheinen, sondern nur in dem Moment für Ihren Verhandlungspartner nachvollziehbar sein.
»Ich war zuerst hier.« »Aber ich bin dran!« Schon Kleinkinder verwenden objektive Normen, um ihre Positionen durchzusetzen. Erwachsene machen es ganz ähnlich, wenn bei Entlassungen etwa nach Dauer der Betriebszugehörigkeit aussortiert wird.9
Etliche Studien haben gezeigt, dass scheinbar objektive Kriterien den Ausgang einer Verhandlung entscheidend beeinflussen.10 »Natürlich wollen Sie einen hohen Preis erzielen und ich einen niedrigen Preis zahlen. Wie wäre es, wir finden gemeinsam heraus, was ein fairer Preis ist?« Dagegen wird niemand etwas sagen. Etwas präziser formuliert: »Ich habe mir im Internet einmal den Durchschnittspreis pro bebautem Quadratmeter für das Frankfurter Ostend angesehen, er liegt bei 4 500 Euro. Insofern ist mein Angebot für die 100-Quadratmeter-Wohnung über 450 000 Euro fair.« Definieren Sie die Verhandlung als eine Suche nach objektiven Kriterien.11 Statt als Sprachrohr Ihrer eigenen Interessen zu erscheinen, sind Sie nun die Stimme der Fairness. Standardverträge, Standardzinssätze, Schwacke-Liste: All dies sind objektive Richtlinien – auf den ersten Blick jedenfalls.
Denn bei der Bewertung von Unternehmen, die zum Verkauf stehen etwa, gibt es unzählige Methoden, die zu völlig unterschiedlichen Zahlen kommen. Wenn Sie statt einer Multiplikatormethode eine Discounted-Cash-Flow-Analyse ansetzen, haben Sie zwei sehr unterschiedliche Ergebnisse auf dem Tisch. Wenn Sie eine Wohnung mieten wollen, können Sie ebenfalls von einem Angebot der unterschiedlichsten »objektiven« Kriterien wählen: Sie können die Gutachtermethoden wie Vergleichswert, Substanzwert oder Ertragswert verwenden, die alle zu völlig unterschiedlichen Preisen kommen. Und doch sind alle plausibel. Nehmen Sie die Kriterien, die vorteilhafter für Sie sind, und präsentieren Sie sie.
Es kann immer sein, dass Ihr Verhandlungspartner Ihre objektiven Kriterien nicht akzeptiert, besonders wenn ihm das Ergebnis nicht passt. »Schwacke-Liste? Seit zwanzig Jahren hält sich kein Mensch mehr daran!« Was also tun? Sie müssen Ihren Verhandlungspartner dazu bringen, Ihre Kriterien zu akzeptieren, bevor er die Folgen kennt. Bekommen Sie also erst einmal einen Fuß in die Tür. Gemäß dem Konsistenzprinzip sind Menschen sehr konsistent in Ihrem Verhalten.12 Sie sind nett, obwohl Sie den anderen nicht mögen, sind großzügig, obwohl sie knapp bei Kasse sind.13 Sie halten an Ihrem vorherigen Verhalten fest, um ja nicht als Fähnchen im Wind zu gelten. Fragen Sie also erst einmal, ob Ihr Gegenüber es für sinnvoll hielte, seine angesetzte Miete mit anderen Mieten in der Lage zu vergleichen, bevor Sie zu seiner Überraschung zehn Vergleichsangebote aus Ihrer Tasche ziehen. Danach wird es sehr schwer für Ihren Verhandlungspartner, Ihnen nicht entgegenzukommen – er müsste sich selbst widersprechen.
Gleichzeitig gilt: Seien Sie vorsichtig, Dingen zuzustimmen, Sie könnten sonst selbst in der Konsistenzfalle landen!14 Die scheinbar unverfängliche Zustimmung führt zu einer Konsequenz, die gegen Ihr Interesse läuft.
FRACTIONATING
»Too early, too bad«, heißt es im Marketing und tatsächlich sind diejenigen, die Ihrer Zeit voraus sind, geradezu tragische Gestalten. Sie werden verlacht, verschmäht und verjagt. Große Schritte verschrecken Ihren Verhandlungspartner. Nur Anfänger fassen alle Ihre Forderungen am Anfang zusammen und verlangen sofort alles. Wenn Sie zwei Kleider, drei paar Schuhe und zwei Handtaschen kaufen, dann fragen Sie erst nach einem Rabatt, weil Sie alles zusammen nehmen, dann nach einem für das Ausstellungsstück und schließlich nach Skonto.
Fractionating heißt diese Technik, bei der der andere in kleinen Schritten dazu gebracht wird, das zu tun, was Sie möchten.15 Sie schlagen Ihren Vorgesetzten ein neues Abrechnungssystem vor: Versuchen wir es doch erst nur für einen Monat in der kleinen Abteilung. Das Risiko ist gering, aber Ihr Fuß ist in der Tür.16
Wenn Sie nach langer Sucherei partout keinen vorteilhaften objektiven Standard heranziehen können, dann nutzen Sie ein persönliches Prinzip: »Es tut mir leid, aber ich zahle prinzipiell nicht mehr als 30 Prozent meines Gehalts für Miete.«17 Auch das ist ein scheinbar objektives Kriterium. »Das ist leider Unternehmensrichtlinie«, wirkt ebenfalls Wunder, so als ob interne Unternehmensgremien, Universalgesetze erlassen, die für die ganze Welt gelten.
Als ich mal ein Auto bei einem Gebrauchtwagenhändler kaufte – einen Leasing-Rückläufer – ankerte ich mit einem Preis, der 15 Prozent unter seinem Angebotspreis lag – ein erheblicher Nachlass, aber noch keine absurde Forderung. Sodann erklärte ich ihm, dass der Wagen sicherlich seinen Preis wert sei, zumal auch gerade die Ausstattung wirklich wunderbar geschmackvoll sei. Leider aber hätte ich ein Budget, über dem ich mich schon befände, kein Euro mehr stünde mir zur Verfügung, und ich könne sehr gut verstehen, wenn er den Wagen jemand anderem verkaufte. Schließlich stimmte er zu. Egal, wie niedrig Ihr Angebot auch ist: Um Ihren Verhandlungspartner nicht zu beleidigen, müssen Sie immer begründen, wie Sie auf eine so hohe oder so niedrige Zahl kommen, und dazu eignet sich das objektive Kriterium.
Holiday Inn Hotels hatten ein großes Problem: Gäste hielten sich nicht an die Check-out-Zeiten und das Hotel kam kaum nach, die Zimmer schnell genug zu reinigen, damit sie den ankommenden Gästen pünktlich zur Verfügung standen. Die Lösung? Ein Schild an der Rezeption, auf dem die Check-out-Zeit steht. Seitdem sind 95 Prozent der Gäste pünktlich.18 Die Autorität des geschriebenen Wortes ist viel stärker als die des gesprochenen.
Als Donald Trump noch vor allem für seine Immobiliengeschäfte bekannt war, gab er eine seiner Lieblingstaktiken preis19: Wenn er eines seiner Objekte verkaufen will, dann lässt er seine Analysten verschiedene Szenarien durchrechnen, die auf unterschiedliche Renditen kommen. Er nimmt nur dasjenige mit in die Verhandlung, das die höchste Rendite verspricht, und schreibt mit der Hand noch etwas darauf wie »Ihre Rendite: 20 Prozent im Jahr«. Seine Devise ist, stets das beste objektive Kriterium schriftlich zu präsentieren und dann völlig vereinfacht darzustellen. Solange man bei der Wahrheit bleibt, eine empfehlenswerte Technik.
Wenn Sie ein Büro mieten, prüfen Sie, was andere Büros in der Lage pro Quadratmeter kosten. Wenn die Preise zwischen 20 und 45 Euro variieren, dann drucken Sie die günstigsten aus und zeigen Sie sie dem Vermieter. Sie wollen eine neue Matratze kaufen? Von 50 Angeboten, die Sie im Internet finden, sind vielleicht nur drei besser als das des Ladens, in den Sie gehen. Nehmen Sie immer die für Sie besten Vergleichsangebote ausgedruckt mit, ob Sie ein Haus, ein Auto oder einen neuen Toaster kaufen. Damit stehen Sie nicht da, wie ein Feilscher in eigener Sache, sondern wie ein Verfechter der Gerechtigkeit.
Fast jedes Argument wirkt schriftlich wie ein objektives Kriterium: »Meine Chefin hat gesagt, wir können unmöglich mehr als 100 000 Euro zahlen« ist lange nicht so wirksam, wie die ausgedruckte E-Mail Ihrer Chefin, in der genau das steht.
Wenn Sie beispielsweise von Berlin nach München ziehen und mit Ihrem neuen Arbeitgeber in Gehaltsverhandlungen stecken, listen Sie Ihre deutlich höheren Unkosten und Ausgaben auf. Jetzt ist es nicht nur das übliche Gejammer über das »teure München«, sondern jetzt sieht der Arbeitgeber die neuen Kosten Schwarz auf Weiß vor sich – aus einem subjektiven Argument wird so ein scheinbar objektives Kriterium.
Noch stärker ist die Autorität des geschriebenen Wortes, wenn es sich um ein vermeintlich offizielles Dokument oder Formular handelt. In New York etwa gibt es einen Standardmietvertrag mit dem Namen: Standard Form of Office Lease of the Real Estate Board of New York. Donald Trumps langjähriger Anwalt George Ross kümmert sich sehr intensiv um die Belange seines Lieblingsmandanten und änderte gewisse Klauseln im Vertrag, den er dann »umtaufte« in: Standard Form of Office Lease. Dieser neue »Standardvertrag« war so erfolgreich, dass Ross schließlich für jedes der Trump-Gebäude eine Variation des Vertrags erstellte, selbstverständlich immer im Interesse seines Lieblingsmandanten.
Wenn es Ihnen zu weit geht, Ihre eigenen Verträge standardisiert aussehen zu lassen, indem sie ihnen offiziöse Titel geben und auf behördlichem Umweltpapier drucken, können Sie immerhin je nach Ihrer Situation ein Standardformular von einem Aussteller Ihrer Wahl nehmen: Wenn Sie eine Wohnung mieten, ein Vertrag des Mieterschutzvereins, wenn Sie vermieten einen der Eigentümerschutzgemeinschaft Haus und Grund.
Umgekehrt gilt: Lassen Sie sich nicht täuschen von scheinbar objektiven Kriterien Ihres Gegenübers. Seine Unternehmensrichtlinien sind nicht Ihre, seine Vergleichswerte zählen nicht für Sie, weil sich Ihr Produkt von allen anderen unterscheidet. Auch von Schriftlichem dürfen Sie sich nicht einschüchtern lassen. Sicherlich gibt es ein paar Dokumente, die man ernstnehmen kann. Als Gott Mose auf dem Berg Sinai die zehn Gebote präsentierte, hat dieser auch nicht herumgefeilscht, jedenfalls ist nichts davon bekannt, dass es einmal 12 oder 13 waren. Aber abgesehen von göttlichen Eingebungen ist fast alles verhandelbar, auch wenn es auf Schieferplatten graviert oder mit Goldschrift auf Büttenpapier gedruckt ist.20 Sie müssen nicht durch jede Tür eintreten, auf der »Ausgang« steht oder jeden Knopf drücken, auf dem »Nicht drücken« steht.21 Aber kein Standardformular kennt unsere besondere Situation; vielmehr wurde es vor Jahren von jemandem erstellt, der weder unsere, noch die Bedürfnisse unseres Verhandlungspartners kannte. Also: Wenn es nicht zu Ihren Gunsten ist, stellen Sie es infrage!
VERFÜGBARKEITSHEURISTIK
Bedeutend für unseren Entscheidungsprozess ist auch die Verfügbarkeit von Informationen, also wie leicht wir relevante Informationen abrufen können.22 So schätzen wir etwa das Risiko, ermordet zu werden, deutlich höher ein, wenn wir gerade einen Bericht über einen Mord gelesen haben.
Glückspieler neigen dazu, weiterzuspielen, wenn sie gerade gesehen haben, dass jemand anderes gewonnen hat. Wir halten es fälschlicherweise für wahrscheinlicher, von einem Hai gebissen zu werden, als von einem Flugzeugteil, das vom Himmel fällt, erschlagen zu werden.23 Und wir halten es auch eher für möglich, mit einem Flugzeug abzustürzen, als von einem Esel getreten zu werden.
Das verblüffendste Beispiel ist vielleicht die Wahrnehmung des Ausmaßes von Armut.
Über 70 Prozent der Weltbevölkerung lebte im Jahr 1900 in bitterer Armut (»extreme poverty«). Das 20. Jahrhundert verringerte diesen Anteil in einem Tempo, das in der Menschheitsgeschichte beispiellos ist, und so liegt der Anteil der extrem armen Weltbevölkerung nun bei unter 10 Prozent. Allein in China wurden durch die Änderung des Wirtschaftssystems von der Planwirtschaft zum freien Markt fast eine Milliarde Menschen aus der bitten Armut gerettet: In etwas über 20 Jahren entwickelte sich der Bevölkerungsanteil der Bitterarmen von über 66 Prozent auf nur 0,1 Prozent. Trotz dieser unumstrittenen Zahlen ist der Eindruck ein ganz anderer: Der Kapitalismus würde nicht funktionieren, und alles werde immer schlimmer. Verantwortlich dafür ist eine völlig verzerrte Berichterstattung, die der verstorbene WHO-Arzt Hans Rosling in seinem hervorragenden Werk Factfulness detailliert beschreibt.
Menschen sind irrational, und Sie können das nutzen, in dem Sie die für Sie positiven Informationen deutlich und lebendig präsentieren, je vereinfachter, desto besser. Idealerweise legen Sie sie auch noch schriftlich vor. Umgekehrt müssen Sie aufpassen, nicht von der für Ihren Gegenüber positiven Informationen geblendet zu werden und sich immer auch Informationen vor Augen führen, die gerade nicht vorliegen.24
Sie sind bei Subway und der Salat Ihres Sandwiches ist braun statt grün.25 Sie möchten ein neues, aber der Angestellte sagt nur: »Wir machen in fünf Minuten zu.« Sie könnten schimpfen und diskutieren, oder Sie zeigen auf das Plakat mit dem Slogan »Subway. Eat Fresh.«, das neben der Kasse hängt. »Hier steht ›Eat Fresh.‹ und nicht ›Eat Fresh bis 19.45 Uhr‹.«
Sie bekommen Werbung von American Express. Darin steht, dass man 5 000 Flugmeilen gutgeschrieben bekommt, wenn man jetzt eine neue Kreditkarte beantragt. Beflügelt von dem Wunsch, Ihre Verhandlungskünste zu verbessern, greifen Sie zum Hörer, obwohl Sie bereits eine AmEx haben. »Das Angebot gilt nur für Neukunden«, ertönt es am anderen Ende. Sie können nun drohen, zu Visa zu wechseln, oder verärgert auflegen, um dann aus Faulheit gar nichts zu tun. Oder Sie handeln klug und antworten etwas wie: »Dann hat American Express aber seine ganze Werbestrategie geändert. Der Slogan lautet doch schon seit Jahren »Membership has its privileges«. Aber jetzt scheint es so zu sein, dass Nichtmitgliedschaft Privilegien hat.« Jetzt wird es schwierig.
Der Verhandlungsexperte Stuart Diamond hält die Methode, die Kriterien der anderen als objektiven Standard heranzuziehen, für eine der wirkungsvollsten Techniken des Verhandlers überhaupt. Denn am allerstärksten wirkt das Konsistenzprinzip, wenn Sie das vorherige Verhalten oder die Kriterien Ihres Verhandlungspartners heranziehen, die nicht Sie, sondern die er selbst bestimmt hat.
In Talkshows wird ab und zu gezeigt, wie Politiker einige Jahre zuvor Aussagen machten, die den aktuellen völlig widersprechen. Als nicht konsistent mit den eigenen Aussagen wahrgenommen zu werden, ist – wie bereits im Rahmen des Konsistenzprinzips beschrieben – unangenehm und peinlich, und wir tun sehr viel, um uns das zu ersparen.
Daher ist es auch so schwer, den anderen nach einer Ausnahme zu fragen: Damit widerspricht er seinem bisherigen Verhalten und müsste sein zukünftiges ändern. Vermeiden Sie daher das Wort Ausnahme und versuchen Sie, eher zu argumentieren, wie Ihr Ziel mit seinen bisherigen Handlungen in Einklang steht.
Schauen Sie sich genau an, wie Ihr Verhandlungspartner zuvor gehandelt hat. Und wenn Sie die Standards des anderen nicht kennen, fragen Sie einfach: »Haben Sie schon einmal Überziehungszinsen wiedergutgeschrieben? In welcher Situation?«
Sie sind in einem Restaurant und man berechnet Ihnen ein Essen, das erst vergessen wurde, und das Sie nach einer halben Stunde einfach abbestellt haben. Am Ende steht es dennoch auf Ihrer Rechnung.
»Sie hatten es ja bestellt, und dann ist es eben im System«, sagt die Kellnerin schnippisch. Sie können jetzt einen Streit vom Zaun brechen, sich weigern zu zahlen und die Atmosphäre für alle am Tisch vergiften, oder aber Sie sagen: »Gab es schon irgendwann einmal eine Situation, in der etwas von einer Rechnung abgezogen wurde?« »Ja, schon«, sagt die Kellnerin. »Wenn das Restaurant bei einem Fehler Beträge von der Rechnung abzieht, warum dann nicht jetzt?«26
Betrachten Sie Internetseiten, Hochglanzbroschüren, Firmenphilosophien oder Slogans nicht nur als Marketingmaßnahmen, sondern als Arsenal von objektiven Kriterien des anderen, die Sie als Munition verwenden können: »Ist es nicht Ihr Ziel, Ihren Hotelgästen »völlige Entspannung und eine Auszeit vom Alltag« zu geben? Ist es dann in Ordnung, wenn ich hier zwei Stunden länger auf meinen Check-in warten muss?« Jetzt ist der richtige Moment nach einem Upgrade in eine Suite zu fragen oder nach einem kostenlosen Frühstück.
Ganze Bewerbungen können anhand der Kriterien des anderen strukturiert werden: Ein Student sah sich die Broschüre einer sehr renommierten Universität genau an und schrieb eine Bewerbung, die er folgendermaßen gliederte: »Sie erwarten xy von Ihren Studenten, hier ist der Grund, warum ich xy habe …« Und zwar so lange bis er alle Punkte aufgelistet hatte. Eine unorthodoxe Bewerbung – und eine erfolgreiche.
Gerade in Großunternehmen sind die Mitarbeiter vorsichtig, die eigenen Kriterien einzuhalten: Nicht nur, dass sie sich selbst nicht widersprechen wollen, sie wollen auch keinen Ärger mit ihren Vorgesetzten. Fragen Sie in Fällen, in denen Sie die Kriterien des anderen verletzt sehen: »Was würde Ihr Vorstandsvorsitzender jetzt sagen?«
Berücksichtigen Sie bei jeder Verhandlung das menschliche Streben nach Fairness. Unfair behandelte Vertragspartner werden Ihnen schaden, sogar wenn Sie zum Abschluss gekommen sind, neigen sie dazu, wahrgenommene Verluste irgendwie wieder wettzumachen – ob mit überhöhten Transportleistungen oder anderen plötzlich aufgetauchten Fantasiekosten.27 Jeder wird dabei verlieren. Aber Menschen handeln irrational, wenn sie Gebote der Fairness verletzt sehen.
Belegen Sie Ihre eigenen Ziele immer mit objektiven Standards, am besten schriftlich, und untermauern Sie sie mit den Kriterien Ihres Gegenübers, um das Konsistenzprinzip zu nutzen. Machen Sie es sich regelrecht zur Gewohnheit, objektive Kriterien in Ihre Fragen zu platzieren: »Was genau ist hier fair?« Oder: »Soll ich für Ihren Fehler bezahlen?«28
Um es auf den Punkt zu bringen: Menschen lassen sich leicht überzeugen, in eine Richtung zu gehen, die sie sowieso schon einmal eingeschlagen hatten.29