»Wert haben und ihn zu zeigen verstehen, heißt zweimal Wert haben.
Was nicht gesehen wird, ist, als ob es nicht wäre.«
Baltasar Gracián y Morales
Ich besitze eine schwarze Lederjacke, mit der ich aussehe wie ein Türsteher, was aber niemand weiß, da ich sie noch nie außerhalb meiner vier Wände getragen habe. War sie ein Geschenk, oder kaufte ich sie vor vielen Jahren, als die Mode noch anderen ästhetischen Gesetzen unterworfen war? Nein, ich erwarb sie selbst auf einem Basar in Istanbul, nachdem mir der freundliche Händler einen Tee in die Hand gedrückt hatte, der kaum einen Euro wert war und den ich nicht einmal mochte.
Dennoch: Ich hätte mich miserabel gefühlt, einfach zu gehen, und schließlich kaufte ich tatsächlich besagte Lederjacke. Und das, obwohl ich genau wusste, dass mir der nette Herr mit dem eindrucksvollen Schnurrbart den Tee genau deshalb serviert hatte. Sie haben sicherlich schon Ähnliches erlebt, als Sie ein Stück Käse auf dem Wochenmarkt kosteten und den Stand mit drei Tüten verließen, obwohl Sie am nächsten Tag in den Sommerurlaub aufbrachen.
Das Prinzip der Gegenseitigkeit ist ein Gesetz menschlichen Handels, das in allen Kulturen gleichermaßen anzutreffen ist. Demnach fühlen wir uns verpflichtet, dem anderen etwas Gutes zu tun, wenn er uns gerade etwas gegeben hat.
In China ist das Prinzip der Gegenseitigkeit in Form des Guanxi eine regelrechte Institution, die die gesamte Gesellschaft durchzieht. Wenn man etwas für einen macht, wird ein weiterer Faden im großen Guanxi-Netz gesponnen. Es gibt jährliche Guanxi-Listen, in denen diejenigen aufgeführt sind, die das größte Netzwerk mit dem dichtesten Dickicht gegenseitiger Gefälligkeiten haben.1
Die unterschiedlichsten Kulturen und ganze Staaten fühlen sich auch nach Jahrzehnten noch verpflichtet, einen Gefallen zu erwidern: So hat das bitterarme Äthiopien im Jahr 1985 Geld an Mexiko geschickt, um die Not nach einem starken Erdbeben zu lindern. Warum? Mexiko hatte Äthiopien fünfzig Jahre zuvor unterstützt, als das Land von Italien erobert wurde.
Wie können Sie die universal geltende Norm der Gegenseitigkeit für Ihre Verhandlungen geschickt nutzen? Da der Anker, idealerweise begründet mit Fairness, ja doch sehr ehrgeizig ist, muss man dem anderen früher oder später entgegenkommen – und zwar mit der richtigen Strategie, die auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit basiert. Ich erlebe bei Verhandlungsberatungen und auch bei -trainings häufig, dass ein Deal daran scheitert, dass beide Parteien auf Ihren Ankern beharren, weil sie dem anderen nicht ohne Gesichtsverlust entgegenkommen können. Genau hier setzt das Strategische Entgegenkommen an.
Sie sollen Ihrem Verhandlungspartner nichts schenken, vielmehr besteht die Kunst darin, dem anderen das Gefühl zu geben, dass er Ihnen etwas schuldet. Es zählt nämlich nicht der objektive Wert Ihres Entgegenkommens, sondern der Wert, der von Ihrem Gegenüber wahrgenommen wird. Unter »reaktiver Devaluation« versteht man das Phänomen, dass Menschen das Entgegenkommen ihres Gegenübers als weniger wertvoll ansehen, als es tatsächlich ist, weil der Vorschlag vom Gegner kommt.2 Die Gründe dafür sind negative Emotionen und Misstrauen. Wenn Sie zu leicht nachgeben, wird Ihr Verhandlungspartner dies zudem als Schwäche deuten und versuchen, noch mehr aus Ihnen herauszupressen, statt Ihr Entgegenkommen zu erwidern. Wenn Sie schnell nachgeben, ist das für den misstrauischen Verhandlungspartner außerdem der Beweis dafür, dass Sie ihn zu Anfang übers Ohr hauen wollten.
Das vielleicht wichtigste Prinzip beim Handeln überhaupt ist, dass Sie absolut nichts kostenlos hergeben dürfen, sondern dass Sie jedes Zugeständnis als taktisches Manöver einsetzen.3
Daher gilt: Seien Sie nicht voreilig mit Ihrem Entgegenkommen! Beginnen Sie stattdessen eisern, und kommen Sie ihm erst langsam entgegen. Es ist viel glaubwürdiger, hart zu beginnen und dann langsam Zugeständnisse zu machen, als sehr entgegenkommend zu starten und dann plötzlich stur zu werden. Sofortiges Entgegenkommen wird als wertlos betrachtet, und Sie verringern Ihre wahrgenommene Macht, langsames Entgegenkommen dagegen wirkt viel wertvoller.4 Beginnen Sie, bei Ihren unwichtigen Punkten nachzugeben, aber bleiben Sie zögerlich.
Auch wenn Ihnen ein Aspekt unwichtig ist, geben Sie nicht zu schnell nach. Was Ihnen wichtig ist, ist für Ihren Verhandlungspartner möglicherweise völlig irrelevant und umgekehrt. Vielleicht ist es Ihnen völlig egal, ob Sie den Wagen mit ausgewiesener Mehrwertsteuer verkaufen oder nicht, aber für den potenziellen Käufer ist es das entscheidende Kriterium. Was passiert, wenn Sie ihm diesen Punkt einfach schenken? Er wird Ihr Entgegenkommen nicht schätzen, weil er sieht, wie leicht Sie nachgegeben haben, und Sie werden später, wenn Ihr entscheidender Punkt ansteht, nichts Wertvolles mehr haben, das Sie tauschen können.5
Unter Bogey verstehen Verhandlungsexperten vorzugaukeln, dass einem etwas wichtig ist, was in Wahrheit ziemlich egal ist.6 Machen Sie daher aus jedem Entgegenkommen eine große Sache. Sie haben die Ware sowieso schon auf Lager und eine um eine Woche verfrühte Lieferung bedeutet keine Umstände für Sie, ja Sie wären sogar froh, Ihr Lager leerzuräumen? Klugerweise sagen Sie dennoch etwas wie: »Oh, das wird nicht leicht, aber ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um es möglich zu machen.« So sind Sie in einer hervorragenden Position, um für Ihr großes Zugeständnis nach etwas anderem zu fragen, etwa nach einer Folgebestellung. Wenn Ihnen ein Punkt besonders wichtig ist, dann geben Sie bei einer Reihe unwichtiger Punkte nach, um dann zu sagen: »Ich habe jetzt drei Mal nachgegeben, und ich denke, nun ist es an der Zeit, dass Sie mir entgegenkommen.«
Einen Schritt weiter würden Sie gehen, wenn Sie das Zugeständnis aus dem Hut zauberten (Decoy Gambit): Als Gene Hackman in der ersten Superman-Verfilmung die Rolle des Bösewichts Lex Luthor spielte, weigerte er sich standhaft, seinen Schnurrbart zu rasieren. Der Regisseur Richard Donner besuchte ihn in seiner Garderobe und schlug ihm einen Deal vor: Wenn sich Hackman seines Schnurrbarts entledigte, würde auch er den seinen rasieren – im Jahre 1978 nicht nur in Istanbul ein großes Opfer. Hackman ließ sich noch an Ort und Stelle von der Maskenbildnerin rasieren als Donner daraufhin seinen einfach abnahm: Er hatte ihn sich nur für die Verhandlung angeklebt.
Auf den Alltag übertragen: Wenn Sie etwa in ein Hotel einchecken und es gibt nur Kingsize-Betten in den Doppelzimmern, was Ihnen eigentlich völlig egal ist oder sogar genau Ihrem Wunsch entspricht, dann erwecken Sie den Eindruck, wahnsinnig enttäuscht zu sein. Akzeptieren Sie das Zimmer, aber fragen Sie sofort nach etwas anderem: »Aber dann bekommen wir doch wenigstens das Frühstück kostenlos dazu?«7 Machen Sie sich bewusst, dass nicht Ihr wahres Zugeständnis zählt, sondern nur die Wahrnehmung Ihres Verhandlungspartners. Ein hervorragender Verhandler bekommt Dinge, die einen sehr hohen Wert haben, für solche, die für ihn einen sehr niedrigen Wert haben. Eine Kriegsstrategie aus dem alten China lautete entsprechend: »Einen Backstein hinwerfen, um einen Jadestein zu erlangen.«
KINDER UND WERT
Kinder teilen die Welt in zwei Kategorien ein: in Dinge, die sie mögen, und Dinge, die sie nicht mögen.8 Von den Dingen, die sie mögen, versuchen sie so viel wie möglich herauszuschlagen – Eis, Spielzeug, länger wach bleiben.
Kinder verstehen instinktiv, wie Entscheidungen in Organisationen, also in ihrer Familie, getroffen werden.9 Sie spielen Entscheidungsträger gegeneinander aus (»Papa hat gesagt, ich darf.«) oder rücken zur nächsten Instanz (Großeltern). Und Sie akzeptieren kein Nein, sondern bohren hartnäckig weiter. Kinder sagen »nur ein bisschen« und minimieren damit Ihr Risiko. Sie sagen: »Ich hab‹ dich lieb, Mami«, und erfüllen damit Ihre Bedürfnisse.10 Kinder richten sich sehr nach ihrem Gegenüber.
Sehen Sie die Dinge, die Ihr Kind mag, als Verhandlungsgegenstände. Dabei müssen Sie kein schlechtes Gewissen haben: Ihr Kind kann gar nicht früh genug lernen, gut zu verhandeln. Außerdem ist eine Verhandlung ein transparenter Weg, dem Kind das zu geben, was es will, und gleichzeitig Verantwortung von ihm einzufordern.
Der Wert des Entgegenkommens spielt also eine untergeordnete Rolle, der Schlüssel liegt darin, das Geben und Nehmen taktisch klug zu strukturieren.11 »Wenn Sie den Wagen erst in einer Woche statt morgen liefern, dann füllen Sie mir dafür den Tank.«
Sobald Sie ein Zugeständnis gemacht haben, bewegen Sie sich keinen Millimeter, bevor Ihr Gegenüber Ihnen nicht auch etwas gegeben hat. Für den britischen Verhandlungsexperten Gavin Kennedy ist »wenn« das nützlichste Wort in der Verhandlung überhaupt.12
»Wenn Sie 10 Prozent weniger zahlen wollen, dann bestellen Sie 100 Einheiten.«
»Wenn Sie nach Indien liefern, übernehmen wir die Versicherung.«
»Wenn du erst am dritten des Monats einziehst, lasse ich dir noch das Regal in der Abstellkammer da.«
Auch bei komplexen Verhandlungen ist »wenn …, dann …« das richtige Vorgehen13: »Wenn Sie Aktienoptionen statt Geld akzeptieren, können wir 5 Prozent mehr zahlen, und wir bieten Ihnen noch einen Beratervertrag für das nächste Jahr.«
So »erziehen« Sie Ihr Gegenüber von Anfang an dazu, immer erst zu überlegen, was es Ihnen geben kann, bevor es etwas von Ihnen will. Auch Roger Dawson hält es für die wichtigste Gewohnheit eines erfolgreichen Verhandlers, jedes Mal etwas zu verlangen, sobald man etwas gegeben hat, und zwar sofort – denn nach ein paar Stunden schon verflüchtigt sich der Wert jedes Zugeständnisses.14
Das »wenn …, dann …« sollte Ihnen in Fleisch und Blut übergehen, ganz gleich in welcher Situation. Sogar in einem Gespräch, in dem Sie von Ihrer Kündigung erfahren, bieten Sie etwas wie perfekte Einarbeitung des neuen Kollegen dafür, dass Sie noch einige Zeit Ihr Büro nutzen können, den Laptop und das Handy behalten oder für die Übergangszeit zur nächsten Position als unbezahlter Berater fungieren.15
PROSPECT THEORIE
Frage 1: Welche dieser Situationen würde Sie glücklicher machen?16
Szenario A: Sie gehen spazieren und finden einen 20 Euro-Schein.
Szenario B: Sie gehen spazieren und finden einen 10 Euro-Schein. Am Tag darauf gehen Sie anderswo spazieren und finden wieder 10 Euro.
Die meisten Leute wählen Szenario B.
Frage 2: Welche dieser Situationen würde Sie unglücklicher machen?
Szenario X: Sie öffnen Ihr Portemonnaie und stellen fest, dass Sie einen 20-Euro-Schein verloren haben.
Szenario Y: Sie öffnen Ihr Portemonnaie und stellen fest, dass Sie einen 10-Euro-Schein verloren haben. Am nächsten Tag verlieren Sie wieder 10 Euro.
Die meisten Befragten wählen Szenario Y.
Was sagen uns diese Ergebnisse? Menschen ziehen es vor, etwas Erfreuliches in kleinen Schritten zu bekommen. Zweimal 10 Euro machen glücklicher als einmal 20 Euro, auch wenn das Ergebnis identisch ist. Ebenso ist es schmerzhafter, zweimal einen Verlust zu erleiden als nur einmal, auch wenn das Ergebnis identisch ist. Was bedeutet das für die Verhandlung? Menschen ziehen es vor, Geld in vielen kleinen Einheiten zu bekommen. Zugleich präferieren sie es, Geld auf einen Batzen herzugeben. Mit anderen Worten: Wenn Sie dem anderen mit dem Preis und dem Liefertermin entgegenkommen, ist es effektiver, das nicht auf einen Schlag, sondern in mehreren Stücken zu bieten. Es gilt für alle positiven Punkte: Ziehen Sie sie auseinander und geben Sie gute Nachrichten in vielen Etappen. Schlechte Nachrichten oder Nachteile hingegen präsentieren Sie auf einmal.
Stellen Sie sich vor, Ihr Kellner hat Sie und Ihre Gruppe zwanzig Minuten lang warten lassen, obwohl Sie einen Tisch reserviert hatten.17 Was tun Sie? Die meisten würden sich nun eine Beschwerderede überlegen und sich beim Kellner und Geschäftsführer en detail auslassen. Menschen sind Profis im Beschweren. Aber sie sind Amateure, wenn es darum geht, ihre Interessen durchzusetzen. Wenn Sie sich nur beschweren, können Sie lange auf irgendetwas warten, das Ihr Interesse befriedigt. Meist ist der andere mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, und Ihre Interessen sind spätestens dann vergessen, wenn der nächste Gast nach der Weinkarte fragt. Er ignoriert Ihre Interessen nicht böswillig, aber warum sollten Sie den anderen raten lassen, was Sie wollen?
Gewöhnen Sie sich deshalb an, mit einer Beschwerde auch immer etwas vorzuschlagen: Ihnen wurde Unrecht getan, nun soll Ihr Gegenüber Ihnen etwas dafür geben, um das wieder auszugleichen. Die Devise lautet also auch hier: »Wenn …, dann …« Der Fokus liegt damit nicht auf dem Fehler des anderen, er liegt auf Ihren Zielen und Interessen.18
Gehen Sie also nicht auf den Kellner oder seinen Chef los und überziehen ihn mit einer Schimpftirade, weshalb Ihr Tisch belegt ist und warum Sie niemals wieder einen Fuß in sein Restaurant setzen werden. Behalten Sie Ihr Ziel im Auge: Sie sind kein Verfasser eines Restaurantführers, sondern Sie wollen hier und jetzt einen schönen Abend verbringen. Gehen Sie zum Chef und sagen Sie ihm: »Leider ist unser Tisch noch nicht bereit, obwohl ich ihn reserviert hatte. Wenn unser Tisch noch nicht fertig ist, dann würden wir gerne an der Bar bei Aperitifs aufs Haus warten.« Sie haben Ihre Beschwerde klar kommuniziert, der Fokus liegt aber auf dem, was Sie bekommen und in diesem Moment einen hohen Wert hat. Sicherlich wäre es besser, den Tisch sofort zu bekommen, aber es ist nicht realistisch zu verlangen, dass der Gastronom die anderen Gäste verjagt. Das nächstbeste in dieser Situation wären eben die Getränke. Sie haben so einen schönen Abend, und auch der Restaurantbetreiber hat damit eine gute Möglichkeit, den Fehler auszubessern und Kunden zu behalten. Häufig ist es sehr leicht für Ihr Gegenüber, Ihnen etwas zu geben, dass Sie zufriedenstellt. In vielen Boutiquen etwa genügt oft ein Knopfdruck und der Kassierer kann Ihnen einen Stammkundenrabatt über 15 Prozent geben. Bei Hotels ist zum Beispiel der Unterschied zwischen Rack Rate und Best Available Rate verblüffend – ein Klick genügt.
Gerade in guten Restaurants oder Hotels bringt es Ihnen wenig, einfach nur Ihrem Ärger Luft zu machen. Viele Hotels notieren die Präferenzen und das Verhalten Ihrer Gäste – Datenschutz hin oder her.19 Statt einer Wiedergutmachung werden Sie von jetzt an noch schlechter behandelt, wenn der nächste Angestellte auf den Monitor blickt. Als Student hatte ich mir in einer Videothek einmal zwei Filme ausgeliehen für einen gemütlichen Abend mit Freunden in der WG. Die Pizza war gerade eingetroffen, wir schoben die erste DVD in den Rekorder: Sie funktionierte nicht. Zum Glück hatten wir eine zweite. Aber nein, auch die ging nicht – der Abend war gelaufen. Am nächsten Tag marschierte ich zur Videothek und ließ die arme Angestellte meinen Zorn über den verdorbenen Abend spüren. Was brachte es mir? Nichts. Monate später war ich wieder einmal dort, und als ich meine Mitgliedskarte vorzeigte, tippte der Angestellte meine Nummer ein und sah schockiert auf den Monitor. Als ich ihn fragte, was da stand, lachte er und sagte, er werde es einfach löschen. Bis heute frage ich mich, wie genau ich dort charakterisiert wurde, aber es wäre sicherlich kein guter Text über mich auf dem Buchumschlag geworden.
Sie haben miserables WLAN in der Wohnung? Statt die Hotline Ihres Providers anzurufen und eine langwierige Schimpftirade vom Stapel zu lassen, schlagen Sie vor, dass Sie eine Gutschrift bekommen. Sie müssen konstant die Arbeit für Kollegen in der Elternzeit machen? Gehen Sie zu Ihrer Vorgesetzten und sagen Sie: »Ich kann die Arbeit für zwei weiterhin machen, möchte dann aber ein höheres Gehalt.« Damit sind Sie schon mal Ihren Kollegen voraus, die die Vorgesetzte mit Missmut und Gejammer überziehen und dann in der Hoffnung gehen, sie werde sich schon etwas einfallen lassen; tatsächlich sind Sie aber schon vergessen, sobald das Telefon klingelt. Beschweren Sie sich nie, setzen Sie Ihre Ziele durch!
Einer meiner Bekannten wohnt in einer an sich sehr schönen Straße in Berlin, die sich ab dem frühen Nachmittag in einen Straßenstrich verwandelt. Was ihn daran vor allem störte, waren die benutzten Kondome, die er jeden Morgen vor seinem Garten und Hauseingang fand. Was sollte er tun? Zu den Prostituierten gehen und sich beschweren, mit dem Risiko bestenfalls Gelächter und im schlechteren Fall eine Horde Zuhälter mit Baseballschlägern zu provozieren? Er ging zu derjenigen, die vor seinem Haus stand, und schlug ihr Folgendes vor: »Wenn Ihr Eure Kondome im Mülleimer statt in meinem Garten entsorgt, könnt Ihr immer bei mir klingeln, falls Ihr mal Hilfe oder einen heißen Tee braucht.« Das Ergebnis: Keine herumliegenden Kondome mehr, und bis heute hat auch noch keine bei ihm geklingelt. Sie sehen: Das Prinzip gilt überall!
HYPERBOLIC DISCOUNTING
Vor einigen Jahren sorgte der sogenannte Marshmallow-Test für Aufsehen: Vierjährigen wurde ein Marshmallow vorgesetzt. Wenn sie es nur eine Minute schaffen könnten, es nicht zu essen, bekämen sie ein zweites.20 Die gequälten Gesichter gingen um die Welt – die wenigsten Kinder hielten es durch.
Als Erwachsene sind wir nicht ganz anders und neigen dazu, größere Verluste in der Zukunft zu akzeptieren als kleinere in der Gegenwart. Würden Sie lieber heute 100 Euro haben oder morgen 200 Euro? Hier würden Sie sich wohl noch kontrollieren können, aber wenn es nicht ganz so deutlich ist, lassen wir uns leicht täuschen. Hätten Sie lieber 1 000 Euro in einem Jahr oder 1 100 Euro in 13 Monaten? Die meisten entscheiden sich hier für die 1 100 Euro – ein Monat mehr oder weniger spielt dann auch keine Rolle mehr. Was aber, wenn Sie die Wahl haben zwischen 1 000 Euro heute oder 1 100 in einem Monat? Hier entscheiden sich die meisten für die 1 000 Euro sofort – obwohl der Zinssatz (sensationelle 10 Prozent in einem Monat) der gleiche ist wie im obigen Beispiel.
Nutzen Sie den Effekt, wenn Sie Ihr Entgegenkommen strukturieren: Viele sind einverstanden, jetzt einen niedrigeren Preis zu akzeptieren als einen höheren in der Zukunft: »Ich gebe Ihnen jetzt sofort 12 000 Euro für Ihr Auto.« Andererseits müssen Sie vorsichtig sein, sich mit Nachteilen in der Zukunft nicht aufs Glatteis führen zu lassen: Nur weil sie nicht sofort drohen, sind sie nicht weniger bedrohlich – der Tag wird kommen. Bei dem Marshmallow Test kam noch etwas Interessantes heraus: Diejenigen, die sich kontrollieren konnten, machten häufiger Karriere – dem Effekt zu widerstehen, führt also zu handfesten Vorteilen!
Eine subtile Methode, das Prinzip der Gegenseitigkeit zu verwenden, ist der »Guter Bulle – Böser Bulle«-Trick. Man kennt ihn aus Krimis: Der eine Polizist ist sehr grob, haut auf den Tisch, schlägt den Verhörten fast. Der nette Polizist hält den bösen zurück, sagt ihm, er solle mal eine rauchen gehen und setzt sich nun zum Verhörten, schenkt ihm Kaffee ein, bietet ihm eine Zigarette an und entschuldigt sich für seinen aggressiven Kollegen. Was geschieht? Das Prinzip der Gegenseitigkeit greift: Der Verhörte fühlt sich dem Guten gegenüber verpflichtet, weil er so nett zu ihm ist, und sogar scheinbar die Beziehung zu seinem Kollegen aufs Spiel setzt, um ihm zu helfen. Hinzu kommen noch die Angst, wieder in die Hände des anderen zu geraten und der Kontrasteffekt, der den Guten geradezu engelsgleich erstrahlen lässt.
Diese Methode ist zwar alt, aber wirksam und sie führt zu messbaren Erfolgen.21 Und so wird sie nicht nur in Verhören angewendet, sondern auch im Geschäftsleben. In einer Verhandlung schreit der Böse nicht unbedingt herum, aber er stellt unverschämte Forderungen und setzt einen extremen Anker. Wir denken, dass wir abbrechen müssen, und dann kommt sein Kollege, die scheinbare Stimme der Vernunft. Wir sind ihm dankbar und verbunden, dass er uns, oder zumindest die Fairness, seiner Beziehung zum Kollegen vorzieht.22 Häufig steckt ein Berater oder ein Anwalt in der Rolle des Bösen.
Wenn Sie nicht allein verhandeln, geht es noch einfacher: Der Böse droht, die Verhandlung abzubrechen und sogar zu gehen, der Gute aber bleibt zurück. Wenn keiner versucht, den Bösen zurückzuhalten, haben Sie in Gestalt des zurückgelassenen Guten immer noch die Möglichkeit, einen Deal abzuschließen, ohne Ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren. Der Gute kann immer noch sagen: »Er ist einfach ein Hitzkopf. Aber ich glaube, wir könnten das schon hinbekommen, wenn wir da noch was am Preis machen könnten.«23
Was, wenn Sie in der Verhandlung sind und den einen für Ihren neuen besten Freund halten, während Sie den anderen am liebsten mit einem Tritt aus seinem Stuhl entfernen würden? Sie wissen, das Spiel wird mit Ihnen gespielt. Sagen Sie es einfach: »Oh, was für eine interessante Variation von ›Guter Bulle – Böser Bulle‹« oder seien Sie noch direkter und fügen Sie hinzu: »Ich würde gerne geradlinig und ohne solche Tricks mit Ihnen verhandeln, wäre das in Ordnung?« Wenn Ihnen das zu aggressiv ist, sagen Sie »Wahnsinn! So gut habe ich ›Guter Bulle – Böser Bulle‹ noch nie umgesetzt gesehen. Hut ab!« Sie können sicher sein, dass das Spiel augenblicklich vorbei ist. Wenn Ihnen das zu scharf ist, sagen Sie lediglich etwas wie: »Sie sind sich untereinander ja gar nicht einig. Ich trinke mal einen Kaffee; bitte holen Sie mich ab, wenn Sie sich geeinigt haben und wir vernünftig miteinander verhandeln können.«
Gerade versierte Verhandler werden versuchen, das Prinzip der Gegenseitigkeit gegen Sie zu verwenden. Um die Wirkung der Norm der Gegenseitigkeit zu neutralisieren, machen Sie sich und dem anderen klar, dass Sie jetzt zu nichts verpflichtet sind, weil man Entgegenkommen belohnt, nicht aber Tricks.24 Weil uns das aber immer noch schwerfällt, sollten Sie – gerade bei wichtigen Angelegenheiten – aktiv eingreifen: Wenn Sie von Ihrem Geschäftspartner zum Essen oder zu Opernbesuchen eingeladen werden, sorgen Sie dem natürlichen Bedürfnis, ihm später entgegenzukommen, vor, indem Sie ihm immer einen Gegenwert präsentieren. Sie laden ihn ebenfalls ein oder bringen eine Flasche Wein mit. Eine Kleinigkeit genügt. Dem netten Verkäufer auf dem Basar in Istanbul hätte ich lieber mal ein Kaugummi geschenkt.
Die Gegenseitigkeit funktioniert auch umgekehrt: Wenn Sie knallhart sind und keinen Millimeter von Ihren Forderungen abrücken, wird Ihr Gegenüber entsprechend reagieren. Die geschickte Anwendung der Norm der Gegenseitigkeit ist ein Schlüssel zur erfolgreichen Verhandlung, auch in den verfahrensten Situationen.
Im Kalten Krieg entwickelte der Amerikaner Charles Osgood das Konzept des GRIT (Graduated and Reciprocated Initiatives in Tension Reduction) zu Deeskalationen von Konflikten.25 Wenn die Verhandlungen kurz vor dem Abbruch stehen, kann es Wunder wirken, wenn Sie nur einen kleinen Schritt in Richtung Ihres Gegenübers gehen und so Ihren guten Willen zeigen. Warten Sie, dass er Ihnen nun ebenfalls entgegenkommt. Statt einer Spirale nach unten, wird nun eine Spirale nach oben, in Richtung eines gemeinsamen Abschlusses in Gang gesetzt.
Der ehemalige Premierminister Ägyptens, Anwar Sadat flog am 19. November 1977 nach Jerusalem, um seinen israelischen Amtskollegen Menachem Begin zu treffen. Mit diesem Besuch, bei dem er schon auf dem Flughafen von Israelis umjubelt wurde, war er das erste arabische Staatsoberhaupt, das Israels Existenzrecht akzeptierte. So kam es schließlich zum wegweisenden Friedensabkommen von Camp David.26 Um es auf eine kurze Formel zu bringen: Gutes Verhandeln ist das optimale Lenken von Bewegung in Richtung Ihres Ziels.27
Am Ende des Prozesses dürfen Sie aber keinen Fehler machen: Stellen Sie sich vor, Sie organisieren Ihre Hochzeit und verhandeln mit dem Gastronomen um den Preis für eine Flasche Hauswein, für den er ursprünglich 20 Euro pro Flasche verlangt. Nach einigem Hin und Her kommt er Ihnen entgegen: 18, dann 16 und schließlich 14 Euro. Nun sei seine Schmerzgrenze erreicht, sagt er. So richtig überzeugt sind Sie nicht. Wie aber hätte er Ihnen zeigen können, dass er wirklich nicht weiter heruntergehen kann? Statt in gleichmäßigen Zwei-Euro-Schritten hätte er seinen Rabatt immer weiter reduzieren müssen: erst 17 Euro, dann 15 und schließlich 14 Euro. Immer kleiner werdende Schritte – hier 3–2–1 – zeigen Ihrem Verhandlungspartner, dass das Ende der Fahnenstange erreicht ist.28 Also, nach dem Anker müssen Sie sich in die Richtung Ihres Verhandlungsgegners bewegen – eben mit dem Strategischen Entgegenkommen.