»Mehr als die Vergangenheit
interessiert mich die Zukunft,
denn in ihr gedenke ich zu leben.«

Albert Einstein

Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Lottoschein gekauft, weil ein paar Hundert Millionen Euro im Jackpot sind und Sie ein, zwei gute Ideen hätten, das Geld sinnvoll zu verwenden: eine Flotte italienischer Sportwagen, ein Flugzeug mit Whirlpool et cetera. Sie haben einen Quicktip gekauft, das heißt, die Zahlen wurden willkürlich ermittelt. Aus Ihrer Geldbörse haben Sie das Bild Ihres Mannes herausgenommen und durch das Los ersetzt. Tag für Tag betrachten Sie es mit einem seligen Lächeln, Sie hoffen und bangen. Am letzten Tag vor der Ziehung biete ich Ihnen zwei Euro für Ihr Los. Was tun Sie? Die Chancen sind hoch, dass Sie mein Angebot ablehnen. Sogar dann, wenn wir direkt neben einem Kiosk stehen, an dem Sie für einen Euro ein neues kaufen könnten. Denn Sie denken sich: »Wie könnte ich nach dieser Woche in Vorfreude und Angst nun einfach das Los verhökern?«1

Sie sind nämlich nun ein Opfer des sogenannten Escalation of Commitment2 (Verlusteskalation) – je mehr Energie Sie in das Erreichen eines Ziels stecken, desto schwieriger fällt es Ihnen es aufzugeben.

Gerade bei Versteigerungen sieht man deutlich, wozu dieses Phänomen führt. In den Siebzigerjahren führte der britische Wirtschaftswissenschaftler Martin Shubik ein interessantes Experiment durch, das heute als Eskalationsauktion bekannt ist: Er sagte den Versuchsteilnehmern, dass er einen 50-Dollar-Schein versteigern werde. Jeder dürfe mitbieten. Die einzige besondere Regel sei, dass der Bieter, der das zweithöchste Gebot abgegeben hat, ebenfalls an den Auktionator zahlen müsse. Wenn der Schein für 20 Dollar versteigert würde und das zweithöchste Gebot bei 19 Dollar läge, dann müssten beide Bieter zahlen, aber nur der Höchstbietende bekäme den Schein. So weit, so gut. Wie verläuft nun die Auktion? Die Gebote beginnen bei einem Cent, schaukeln sich aber schnell hoch: von drei auf fünf, dann auf über zehn Dollar. Es ist unsinnig für alle Beteiligten, jetzt noch weiter zu bieten, dennoch steigen die Gebote weiterhin – keiner möchte verlieren. Die Gebote gehen regelmäßig über 20 Dollar, angeblich wurde der Schein auch schon für 200 Dollar versteigert. Diese Auktion erscheint theoretisch, aber genau das gleiche Prinzip geschieht beim Wettrüsten zweier Nationen: Die zweite hat umsonst investiert.

Das Paradebeispiel einer für die Käufer desaströsen Auktion fand im Jahr 2000 in einer alten Kaserne in einem Vorort von Mainz statt. Dort wurden die UMTS-Lizenzen für die märchenhafte Summe von 98,8 Milliarden D-Mark, also über 50 Milliarden Euro, von der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post eingenommen. Das Verblüffende: Es war noch gar nicht klar, wie wichtig UMTS überhaupt einmal sein würde und wie man damit Geld verdienen könne. Zwei der damaligen Bieter – mobilcom und 3G/Quam – wurden kurz darauf insolvent und mussten ihre Lizenzen abgeben. Deren Lizenzen wurden schließlich für weniger als ein Fünfzigstel ihres ursprünglichen Preises noch einmal versteigert.

Unternehmer, Geschäftsführer und Vorstände ärgern sich regelmäßig nach Versteigerungen, obwohl sie den Zuschlag erhalten haben. Sobald sie wieder klar denken können, wird ihnen bewusst, dass sie viel zu viel gezahlt haben und sie spüren, ganz ähnlich dem

»Fluch des Verhandlers« im letzten Kapitel, den »Fluch des Gewinners«, (Winner’s Curse)3 Typischerweise erfinden sie dann Ausreden wie nebulöse »Synergien für die Zukunft«, aber insgeheim haben Sie einen neuen Merksatz im Repertoire: Wer mit leeren Händen von der Versteigerung zurückkehrt, ist häufig der wahre Sieger. Wie in Teil I über die Erhöhung von Macht bereits beschrieben: Versteigerungen sind nichts anderes als Verhandlungssituationen mit einem besonderen Konkurrenz- und Zeitdruck. Insofern sind die Lehren aus Versteigerungen durchaus auch gültig für Verhandlungen. Es kommt aber ein noch stärkerer Mechanismus hinzu: Wenn man Zeit und Mühe in eine Verhandlung steckt, neigt man dazu, den Deal unbedingt abschließen zu wollen. Es besteht eine Korrelation zwischen der Höhe des Investments und der Bereitschaft, nachzugeben.4

Stellen Sie sich vor, Sie sind am Eröffnungssamstag auf dem Münchner Oktoberfest. Sie haben noch ein paar Stunden bis zum Anstich und verspüren große Lust auf eine Achterbahnfahrt, zumal Sie sicher sind, dass vor dem Zeltbesuch grundsätzlich die bessere Zeit für derartige Aktionen ist. Sie stellen sich an der Schlange an und nach ein paar Minuten schon sagt Ihnen der freundliche Achterbahnassistent mit Zahnlücke und Lederblouson, dass die Wartezeit ungefähr anderthalb Stunden betragen wird. Was tun? Wahrscheinlich gehen Sie dann eben in die Geisterbahn oder zum Riesenrad. Was aber, wenn Sie schon eine halbe Stunde warten und dann erst erfahren, dass es noch etwa eine Stunde dauert? Jetzt sieht die Sache schon anders aus: Soll denn die ganze Warterei umsonst gewesen ein? Obwohl die Wartezeit in beiden Situationen genau gleich ist, bleiben die meisten Menschen im zweiten Szenario eher in der Schlange stehen. Wie schon beschrieben: Menschen fällt es schwer, ein bereits getätigtes Investment aufzugeben.5

Was bedeutet das für Sie? Gehen Sie, wenn es irrational ist, weiterzumachen. Vergessen Sie Ihren bisherigen Einsatz – was getan ist, ist getan. Sehen Sie nur das, was vor Ihnen liegt: Ist es sinnvoll oder nicht, jetzt weiterzumachen? Hüten Sie sich davor, unbedingt einen Deal abschließen zu wollen, weil Sie schon so viel Arbeit hineingesteckt haben. So wie sich Investoren von ihren faulen Aktien trennen müssen, so dürfen Sie keine kostbare Erde in ein schwarzes Loch schaufeln.

Donald Trump ist aus so vielen Verhandlungen herausgegangen, dass der »Trump walkout« ein fester Begriff des Verhandlungsjargons geworden ist. Anders als an sein Amt, biss sich Trump nicht an Deals fest: Auch wenn er Monate oder gar Jahre in ein Projekt gesteckt hatte, blendete er seine bisherigen Investments aus und ging, falls es besser für ihn war. So hatte Trump einmal mehrere Millionen in die Optionierung des Grundstücks und die Planung eines gigantischen Gebäudes auf der Westside Manhattans investiert, das er zum modernsten Fernsehstudio-Komplex der Welt machen wollte: der Television City. Als die Stadt New York ihm aber die zugesagten Steuervergünstigungen verweigerte, stand er auf und ging – er begrub das Projekt kurzerhand und widmete sich anderen.6

Wie Robert Rubin, ehemaliger US-Finanzminister und Chef von Goldman Sachs, sagt: »Wenn andere Ihren Willen bemerken, aufzustehen und zu gehen, sehen Sie stärker aus.«7

Sagen Sie sich nicht: »Ich hatte schon so viel Mühe, dass ich heute den Vertrag unterzeichne – ganz egal, was passiert.« Seien Sie immer bereit, zu gehen! Dafür ist es absolut entscheidend, dass Sie jederzeit Ihre BATNA im Blick haben. Eine Frau, die gerade ihr erstes Kind bekommen hatte, wollte ein Familienauto kaufen und hat über das Internet einen passenden Kombi gefunden. Bevor Sie zu besagtem Händler ging, war sie sich sicher, dass sie nicht ohne diesen Wagen nach Hause zurückkehren würde. Obwohl es schon Jahre her ist, konnte ich mir den Nachlass, den sie in der Preisverhandlung mit dem Händler herausschlug, gut merken: null Euro. Sobald Sie nicht mehr bereit sind, aufzustehen und zu gehen, können Sie die Verhandlung auch einfach überspringen.

Sagen wir, Sie möchten ein Rennrad kaufen. Sie suchen ein entsprechendes Geschäft auf und sind überrascht, dass die niederste Form des Witzes, die Wortspielerei, keine exklusive Domäne des Friseursalons ist. Sie gehen also in den Laden »Radhaus« mit dem Untertitel »Rad und Tat« und erblicken ein Exemplar für 2200 Euro, das Ihnen gefällt. Sie gehen zum Verkäufer, Herrn Tat, und sagen: »Ich biete Ihnen 1800 Euro – ja oder nein?«8 Was wird geschehen? Er wird sich wahrscheinlich für Option zwei entscheiden. Keiner lässt sich gerne unter Druck setzen und – und das ist entscheidend: Er hat noch überhaupt keine Zeit und Mühe in Sie investiert, weshalb ihm ein Nein so leichtfällt. Was aber wäre, wenn Sie viermal wiederkommen, um es Ihrer Frau, Ihrer Mutter und Ihrer Patentante zu zeigen, um deren fachliche Meinung zu erfahren. Wenn Sie es zweimal Probe fahren? Wenn Sie nach alldem etwas sagen wie: Ich möchte es wirklich gerne kaufen, aber ich habe von Mami und Tante je 600 Euro bekommen, mir durch Rasenmähen 50 Euro selbst verdient und könnte noch 550 Euro zusammenkratzen.« Jetzt rechnet der Verkäufer den Aufwand zusammen, den er wegen Ihnen hatte und fragt sich, ob das alles vergeblich gewesen sein soll. Dagegen vergleicht er den Einkaufspreis und sagt sich: »Lieber einen kleinen Gewinn als einen reinen Verlust.«

Zugegeben, die Mühe hier ist groß und der Aufwand vielleicht unverhältnismäßig. Das Prinzip funktioniert aber genauso bei Verhandlungen, in denen es um erheblich höhere Summen geht.

Stellen Sie sich vor, Sie benötigen eine neue Telefonanlage. Ein Anbieter fährt die 150 Kilometer zu Ihnen und hat zwei Mitarbeiter dabei. Sie halten eine ausführliche Präsentation, bei der genauestens auf Ihr Unternehmen eingegangen wird. Danach sagen Sie einfach nur: »Vielen Dank für Ihren Aufwand, aber leider ist das nichts für uns. Ich wünsche Ihnen alles Gute.« Schweigen. Die drei stehen da, räuspern sich und fangen an, mit feuchten Augen ihre Thinkpads zusammenzupacken. Sie sind schon längst aufgestanden, schreiten Richtung Tür und bemerken eher beiläufig: »Sie haben sich viel Mühe gegeben. Um fair zu sein: Was wäre Ihr bester Preis?« Sie können ziemlich sicher sein, dass Sie jetzt wirklich den besten Preis zu hören bekommen. Was ist geschehen? Sie wirken entgegenkommend, was der andere gemäß dem Prinzip der Gegenseitigkeit erwidern möchte. Vor allem aber ist durch den großen Aufwand des anderen Ihre Machtposition erheblich gestiegen. Ihn jetzt Glauben zu machen, dass er schon verloren habe, erhöht sie umso mehr.9

Tun Sie alles, um Ihren Verhandlungspartner dazu zu bringen, so viel Zeit und Mühe wie möglich in die Verhandlung zu investieren. Wenn Sie eine Wohnung kaufen wollen, bringen Sie den Verkäufer dazu, Unterlagen von der Gemeinde und dem Bauamt für Sie zu besorgen, vielleicht noch in beglaubigter Kopie. Dann fällt Ihnen noch ein, dass Sie ein Gutachten benötigen, das Asbest im Gebäude ausschließt. Selbstverständlich dürfen Sie nicht nach allem auf einmal fragen. Schritt für Schritt, bis es für Ihren Verhandlungspartner kein Zurück mehr gibt.

Am einfachsten nutzen Sie das Phänomen, indem Sie die problematischen Punkte erst am Ende der Verhandlung ansprechen: Wenn alles andere schon in stunden- oder tagelanger Diskussion geklärt ist, möchte Ihr Gegenüber nicht riskieren, dass alles umsonst gewesen sein soll. Weil Sie aber notfalls bereit sind, zu gehen, sind Sie in der besseren Verhandlungsposition. Wenn Ihr Gegenüber die problematischen Punkte unbedingt zuerst vom Tisch haben möchte, dann sagen Sie, dass die Sache so wichtig ist, dass Sie noch etwas darüber nachdenken müssen und Sie deshalb erst über die anderen Dinge reden möchten. So haben Sie das Zeitinvestment des anderen wieder hoch gesetzt.10

Die Dynamik einer Verhandlung ist ein wenig so wie eine Kugel einen Hügel hinauf zu rollen, damit sie schließlich wieder herunterrollt – und zwar ans Ziel. Und wenn Sie die Kugel richtig steuern: an Ihr Ziel.11 Der Gipfel ist in dem Moment erreicht, an dem die wichtigsten Diskussionspunkte geklärt sind. Danach entwickelt die Verhandlung eine Eigendynamik. Statt Stress fühlt man Erleichterung und ein Hochgefühl.

Unter Nibble (Häppchen) versteht man die Taktik, am Ende noch mit kleinen Forderungen zu kommen. Ein paar Begehren aus dem Hut zu ziehen, am besten mit einem Augenzwinkern vorgetragen, lässt den Verhandler 3 bis 5 Prozent mehr herausschlagen12:

»Ich habe fünf hungrige Mäuler zu stopfen, geben Sie mir noch einen Gutschein für ein Abendessen zum Catering-Auftrag dazu.« Besonders effektiv ist die Methode, wenn man es so sagt, als ob es selbstverständlich sei und eigentlich von vornherein klar: »Sie machen aber vorher den Tank voll, nicht wahr?« Das Hochgefühl und die Angst, dass alles umsonst war, machen den Nibble so effektiv.

Fragen Sie also am Ende immer charmant nach einem Upgrade, ein wenig mehr Lieferung oder ein wenig günstigere Transportkosten. »Und welche Krawatte bekomme ich von Ihnen zu dem Anzug?«, werfen Sie galant ein, nachdem Sie sechs Anzüge in acht verschiedenen Größen anprobiert haben – nicht früher!

Ähnlich wird der Effekt beim sogenannten Lowballing verwendet: Anders als beim Ankern legt der Verhandler ein für das Gegenüber wirklich sehr gutes Angebot vor und wartet, bis sich das Gegenüber dafür entschieden hat.13 Jetzt erst packt er die Nachteile und weiteren Kosten aus, wie etwa eine Anschlussgebühr, Transportkosten oder Wartungsdienste. Diese Taktik empfehle ich allerdings nicht, da sie nicht nachhaltig ist: Sie führt zu viel Missmut und letztlich einem schlechten Ruf, der dem Verhandler sehr schadet.

Was tun, wenn der andere ein versierter Verhandler ist und den Nibble oder das Lowballing bei Ihnen versucht? Gerade bei Anfängern hat dies verheerende Folgen: Sobald man sich einmal für einen Deal entschieden hat, ist das Gehirn im Ja-Modus und man stimmt Dingen zu, die einem vorher absurd schienen. Daher wenden Sie auch hier das altbekannte »Wenn …, dann …« an: »Sie wollen die Badmöbel in der Wohnung haben? Kein Problem, ich gebe Sie Ihnen zu einem guten Preis.« Mit anderen Worten: Sie lenken ein, aber nicht kostenlos. Ohne die gute Atmosphäre zu ruinieren, fragen Sie nach einer Gegenleistung. Sollte er sich nicht darauf einlassen, können Sie schärfer werden: »Wollen Sie jetzt die Verhandlungen neu eröffnen? Haben wir uns doch nicht geeinigt?«14 Wenn die andere Seite immer noch hartnäckig bleibt, gehen Sie noch einen Schritt weiter: »Gut. Ich war auch nicht ganz zufrieden. Ihr geplanter Einzugstermin passt mir eigentlich überhaupt nicht. Den müssten wir dann auch verschieben.«15 Ihr Gegenüber wird es sich jetzt zweimal überlegen, ob es wirklich das ganze Verhandlungsergebnis infrage stellen will.