»Nehmen Sie einem anderen niemals seine Würde.
Sie bedeutet ihm alles und Ihnen nichts.«
Frank Barron
Der amerikanische Geiselunterhändler Dominick Misino wurde ganz am Anfang seiner Polizeikarriere nach Spanish Harlem gerufen.1 Ein junger Mann, der gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen hatte, war flüchtig und hatte sich mit einer Pistole in einem Haus voller Menschen verschanzt. Mehrere Hundert Schaulustige befanden sich auf der Straße. Er wolle am liebsten aufgeben, gestand er Misino, da er wisse, wie aussichtslos seine Lage sei, aber er wolle nicht schwach erscheinen vor all den Zuschauern. Was tun? Der junge Mann ließ sich schließlich von Misino Handschellen anlegen und ging mit ihm brav vor das Haus, wo er plötzlich wild umher tobte und herumbrüllte. »José! José!« feierte die Menge den harten Kerl, der ganz allein die New Yorker Polizei auf Trab hielt. Nachdem sie mit dem Polizeiwagen um die Ecke bogen, wurde er wieder ruhig und bedankte sich bei Misino für das Theater. Misino merkte sich für sein weiteres berufliches Leben, wie wichtig es für den anderen ist, sein Gesicht zu wahren.
Der deutsche Verhandlungsexperte und ehemalige Polizist Matthias Schranner erzählt von einem Suizidgefährdeten, dem eine Menschenmasse bei seinem zaghaften Beinahe-Selbstmord zuschaute.2 Erst als die Polizisten ihm vorschlugen, mit einer Feuerwehruniform unerkannt das Weite zu suchen, willigte er ein. So ist es kaum verwunderlich, dass für Schranner die Gesichtswahrung einer der wichtigsten Aspekte der Verhandlung ist.
Sicherlich gibt es entscheidende Unterschiede zwischen einer alltäglichen Verhandlung und einer Verhandlung mit einem Geiselnehmer, denn hinter Ihnen steht kein staatliches Gewaltenmonopol, und Sie können auch nicht von einem finalen Rettungsschuss Gebrauch machen.3 Dennoch sind einige Mechanismen die gleichen: Auch wenn Ihr Verhandlungspartner eigentlich zustimmen will, wird er es nicht tun, wenn er das Gefühl hat, damit sein Gesicht zu verlieren. Vor über 2 500 Jahren schrieb der chinesische General Sun Tzu in seinem Buch über Führung, dass man dem Gegner immer eine goldene Brücke bauen müsse, über die er sich zurückziehen kann, um sein Gesicht zu wahren. Positiv ausgedrückt: Bauen Sie Ihrem Gegenüber eine Brücke, über die er ohne Gesichtsverlust zu Ihnen schreiten kann.4
Es gab wohl keinen Zeitpunkt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, an dem sich die Welt so nahe an einem dritten Weltkrieg befand, wie im Oktober 1962. Die Kubakrise führte fast dazu, dass sich die Sowjetunion mit ihrem Erzfeind, den USA, bekriegten. Den USA ging es darum, dass die Sowjetunion ihre Raketen nicht auf Kuba stationierte. Es kam zu folgendem Deal: Die Sowjets entfernten die Raketen und die USA versicherten, Kuba nicht anzugreifen, sowie ihre Raketen in der Türkei zu entfernen. Dieser letzte Punkt aber durfte nicht veröffentlicht werden, damit Kennedy nicht schwach aussähe. Chruschtschow bekam, was er wollte, weil er Kennedy sein Gesicht wahren ließ. Kennedy wiederum verbot seinem Kabinett, öffentlich von einem Sieg zu sprechen, damit Chruschtschow wiederum sein Gesicht wahren konnte. Man könnte durchaus sagen, dass die gegenseitige Wahrung des Gesichts damals die Welt rettete.
Angst vor Gesichtsverlust führt immer wieder zu den gefährlichsten Stillständen: So blieben die USA viel zu lang in Vietnam, im Irak und in Afghanistan, obwohl sie wussten, dass sie einen aussichtslosen Kampf führten. Die goldene Brücke sollte am besten schmal sein – der Verhandlungspartner erhält eine klare Handlungsanweisung, der er auf halbem Wege nicht mehr ausweichen kann: »Der Mietvertrag war derartig lang und unübersichtlich, dass ich die Klausel ebenfalls übersehen hätte, aber Haustiere sind eben nicht erlaubt.«
Sobald Ihr Gegenüber seine Position erst einmal vor anderen ausgedrückt hat, ist es deutlich schwieriger, ihn zur Meinungsänderung zu bewegen. Menschen ändern ihre Meinung nur ungern vor anderen, aus Angst, ihr Gesicht auch noch vor Publikum zu verlieren.
Wenn Sie einen anderen also umstimmen wollen, achten Sie daher darauf, dass er seine Position vorher nicht öffentlich kundtut. Um ihn zu überzeugen, müssen Sie neue Argumente liefern. Denn mit neuen Informationen wirkt eine Meinungsänderung legitimer, auch vor der Öffentlichkeit5: »Das Rauchverbotsschild war wirklich kaum zu sehen. Darf ich Sie bitten, draußen weiterzurauchen?«6 Dazu muss die Information gar nicht neu sein. Mit anderen Worten: Präsentieren Sie Ihre Argumente neu und sagen Sie: »Die Sache stellt sich nun etwas anders dar, weil …«
Menschen geben gerne nach. Wie oben bereits besprochen, kann ein schlichtes »weil« schon genügen, um Ihrem Gegenüber eine Ausrede vor sich und anderen zu liefern, die sein Einlenken rechtfertigt. Geben Sie also dem anderen die Möglichkeit, seine Meinung zu revidieren ohne dabei sein Gesicht zu verlieren.
Auch wenn die Verhandlungen abgebrochen wurden, weil Sie sich nicht einigen konnten: Machen Sie den ersten Schritt und präsentieren Sie Ihre Argumente mit einer entsprechenden kleinen Veränderung. Wenn Ihr Gegenüber nun annimmt, verliert er nicht sein Gesicht. Er wird sich Ihnen verpflichtet fühlen, weil Sie über Ihren Schatten gesprungen sind und neigt eher dazu, Ihnen entgegenzukommen.
Wenn er über die goldene Brücke geschritten ist, bleiben Sie bescheiden. Beglückwünschen Sie ihn und sagen Sie ihm, was für ein harter Hund er war: »So viel wollte ich überhaupt nicht ausgeben, Sie sind wirklich ein guter Verhandler.« Andernfalls laufen Sie Gefahr, dass er nachträglich das Gefühl hat, sein Gesicht verloren zu haben. Ein gedemütigter Verhandlungspartner kann gefährlich werden. Ein warnendes Beispiel dafür ist wohl der Versailler Vertrag, ohne dessen niederschmetternden Bedingungen das Deutsche Reich wohl kaum den Zweiten Weltkrieg begonnen hätte.7
»Wie konnten Sie sich so einwickeln lassen?« – »Dafür haben wir Sie nicht gewählt!« – »Was ist mit unseren Bedürfnissen? Hast du die vergessen?« Ihr Gegenüber hat nicht nur seine eigenen Interessen im Auge, er hat auch stets Angst, seine Vorgesetzten, seine Wähler oder seine Freunde zu enttäuschen.8 Jeder Mensch strebt nach Anerkennung und jeder möchte nach der Verhandlung als Sieger gefeiert werden: »Das haben Sie toll ausgehandelt!« – »Wahnsinn, wie du das hinbekommen hast!«
Der Wunsch vor anderen als Sieger dazustehen, schwingt also in jeder Verhandlung mit und muss Ihnen bewusst sein. Stellen Sie sich dazu die Siegesrede (Victory Speech) Ihres Gegenübers vor: wie es auf einen Stuhl steigt und von seinen Leuten umjubelt wird. Warum ist es ein guter Abschluss für Ihr Gegenüber? Was sind die besten Gründe dafür, den Deal so abzuschließen? Was spricht gegen den Deal und wie könnten Sie diese Kritikpunkte entkräften?9 Es ist Ihre Aufgabe, den anderen mit den besten Argumenten auszustatten.
Wenn Ihnen wenig einfällt, hat nicht nur Ihr Gegenüber ein Problem, sondern auch Sie. Wer wird schon einem Abschluss zustimmen, für den man intern als Schlappschwanz gilt? Sogar wenn Ihr Gegenüber dennoch zustimmt, werden Sie mit dem Widerstand Ihres Verhandlungspartners zu kämpfen haben, der Ihrem Deal Steine in den Weg legen oder ihn gar stoppen wollen wird.
Wenn Sie zum Beispiel nach einer Gehaltserhöhung fragen und Ihre Chefin zustimmt, werden ihre Vorgesetzten ihr wahrscheinlich vorhalten, dass sie das Geld des Unternehmens verschleudert.13 Geben Sie ihr also gleich die Argumente mit – auch wenn sie Ihnen schon zugestimmt hat: »Ich habe im letzten Jahr einen Umsatz von fünf Millionen Euro generiert. Der Vorstand wird verstehen, dass man einen Arbeitgeber möchte, der das schätzt und einen ein wenig am Erfolg teilhaben lässt.«
Ebenso wie Sie den richtigen Weg durch ein Labyrinth besser vom Ziel zum Eingang hin skizzieren, beginnen Sie auch beim Planen Ihrer Strategie von hinten, ein Prozess der Backward Mapping genannt wird.14 Überlegen Sie, was Sie dem anderen geben müssen, um zum Ziel zu gelangen. Wen muss er alles überzeugen? Stellen sie sich vor, Sie möchten 10 Prozent mehr Gehalt. Die Planung beginnt mit dem Ziel: 10 Prozent mehr Gehalt ← Der Geschäftsführer stimmt zu ← Ihr Chef schlägt es dem Geschäftsführer vor ← Ihr Chef ist überzeugt davon ← Sie legen dem Chef einige gute Argumente vor.
Machen Sie es sich zur Gewohnheit, vor der Verhandlung die möglichen Kritikpunkte der Kollegen Ihres Verhandlungspartners niederzuschreiben und sich Antworten zurechtzulegen. Fassen Sie am Ende alles zusammen in einem konsensfähigen Vorschlag (Yesable Proposition).15 Dieser Vorschlag muss als Rede geeignet sein: Stellen Sie sich vor, Ihr Gegenüber hält sie vor seinen Kollegen, nachdem er den Deal abgeschlossen hat. Lassen ihn die Worte wie ein Held aussehen? Wirkt der Deal für sein Umfeld fair, gut und besser als jede Alternative?16
VERMITTLER
Einen Vermittler einzuschalten, kann durchaus sinnvoll sein.10 Gerade dann, wenn Sie emotional zu involviert sind und wenn es um viel geht, oder wenn sich der Vermittler im Markt besser auskennt als Sie und möglicherweise die andere Partei kennt.11
Ideal ist ein professioneller Verhandlungsberater, der als Mediator oder als Facilitator agiert. Es kann aber auch ein Agent, ein Makler oder – wie sehr häufig – ein Rechtsanwalt sein. Allerdings neigen gerade Anwälte häufig zu einem aggressiven Verhandlungsstil, der zu schlechteren Ergebnissen führt. Denn mit dem Blick auf das Gesetz zu verhandeln, führt nicht zu kreativen Lösungen, sondern eher zu Drohungen, einem Abbruch der Beziehungen und zu jahrelangen Prozessen. Juristen sind darin geschult, Rechtsprobleme zu lösen, nicht darin, sie zu vermeiden, und sie sind daher oft eher Deal Breaker als Deal Maker.12
Hinzu kommt, dass es im Interesse des Anwalts ist, den Streit lange am Leben zu halten, so wie es auch im Interesse eines Maklers ist, den Kaufpreis zu maximieren. Unter Principal-/Agent-Problem versteht man die sehr häufig auftretende Problematik, dass die Interessen des Vermittlers nicht unbedingt die Ihren sind. Sie müssen aber von Anfang an dafür sorgen, dass Ihre Interessen die gleichen sind: Einigen Sie sich mit dem Rechtsanwalt auf ein Zahlungsmodell, das Ihren Interessen am ehesten entgegenkommt. Stellen Sie dem Makler bei einem höheren Kaufpreis mehr Geld in Aussicht, wenn Sie verkaufen und weniger, wenn Sie kaufen. Wenn es bei einem Rechtsanwalt auch nicht immer leicht ist – allein
schon wegen der Gebührenordnung – so werden Sie doch kaum einen flexibleren Berufsstand als den des Maklers finden. Wichtig ist, dass Sie jedes Mal darauf achten, dass die Interessen derjenigen, die für Sie tätig werden, mit Ihren übereinstimmen.