Der am 12. Januar 1893 im damals russischen Reval (estnisch: Tallinn) geborene Alfred Rosenberg entstammte einer deutsch-baltischen Familie und siedelte nach seinem Architekturstudium in Riga und Moskau Ende 1918 ins von Weltkriegsniederlage und Revolutionswirren geschüttelte Deutschland über. In München schloss sich Rosenberg rasch dem völkischen Milieu an und reüssierte mit einigem Erfolg als Verfasser politischer Kampfschriften mit betont antisemitisch-antikommunistischer Spitze. In der noch jungen NSDAP gehörte er vor allem aufgrund seines Anspruchs, aus eigener Erfahrung die wahre Natur »jüdisch-bolschewistischer Herrschaft« offenzulegen, zum engeren Kreis um Hitler und zum Stammpersonal des Parteiorgans Völkischer Beobachter, dessen Herausgeberschaft er 1923 übernahm. Angesichts seiner Frühschriften attestiert ihm sein Biograph zu Recht einen »geradezu monomanischen Antisemitismus«;[1] zu den einschlägigen Titeln gehören Rosenbergs erstes Buch Die Spur des Juden im Wandel der Zeiten (veröffentlicht 1920), das wir in Teil III auszugsweise abdrucken;[2] »Unmoral im Talmud« (1920); Der staatsfeindliche Zionismus (1922); Die Protokolle der Weisen von Zion und die jüdische Weltpolitik (1923) sowie zahllose judenfeindliche Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, im von ihm seit 1924 herausgegebenen Periodikum Der Weltkampf sogar mit internationalem, an »die weiße Rasse« gerichtetem Anspruch.[3]
Seine weitere Karriere wäre ohne die beachtliche journalistische und konzeptionelle Produktivität dieser Jahre, die in der Parteileitung nur selten anzutreffen war, kaum vorstellbar. Sein publizistischer Fleiß glich offensichtliche Defizite als Propagandaredner und Organisator aus und untermauerte seine Stellung als Hitler-Vertrauter. Rosenbergs 1919 fertiggestelltes erstes Buch prägte zumindest teilweise die antisemitischen Passagen in Hitlers Mein Kampf.[4] Wahrscheinlich beeinflusste er auch indirekt das im Februar 1920 verkündete NSDAP-Programm, vor allem Punkt 4: »Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksicht auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.« Darauf deutet auch der Umstand hin, dass Rosenberg später als berufener Kommentator des Parteiprogramms fungierte.[5]
Als Hitler und andere NS-Größen nach dem gescheiterten »Marsch auf die Feldherrnhalle« am 9. November 1923 verhaftet wurden, versuchte Rosenberg, vom Parteiführer ermächtigt, die disparaten Flügel und Gruppen innerhalb der Organisation zusammenzuhalten. Zwar konnte er dazu beitragen, die Partei auf einen parlamentarischen Kurs hin auszurichten, doch fehlte es ihm an persönlicher Statur und interner Hausmacht, um sich in den Kompetenzkämpfen völkischer Fanatiker zu behaupten. Nach Hitlers Haftentlassung verlegte sich Rosenberg daher ganz auf seine schriftstellerische Tätigkeit. Neben seiner Schlüsselrolle als Herausgeber von und Autor für NS-Periodika gelang es ihm, sein Opus Magnum zu beenden, das als Der Mythus des 20. Jahrhunderts 1930 erschien und seinen Ruf als Spiritus Rector der Parteiideologie festigte. Anknüpfend an Houston Stewart Chamberlain und Paul de Lagarde konstruierte Rosenberg ein dichotomisches System, in dem sich »Rasse« und »Gegen-Rasse«,[6] Deutsche und Juden kategorisch gegenüberstanden; historisch angeblich tief verwurzelt, ließe sich dieser Gegensatz nur konfrontativ mit dem Sieg der einen oder anderen Seite überwinden. Kein anderer NS-Funktionär produzierte ein ähnlich ambitioniertes Denkmodell, und den Unterschied in der konzeptionellen Reichweite zu Hitlers Bestseller verdeutlicht schon der Vergleich der beiden Buchtitel. Nach 1933 wurde der Mythus trotz seines sperrigen Stils und eines esoterischen, über weite Strecken logisch kaum nachvollziehbaren Eklektizismus – beides Merkmale von Rosenbergs Konzeptschriften – bis Kriegsende mit mehr als einer Million Exemplaren zum Kassenschlager, der neben Mein Kampf als autoritativer Schulungstext, konformistischer Zitatensteinbruch oder zeitgemäßes Geschenk breite Verwendung fand.[7]
Rosenbergs Fähigkeit, ideologische Grundsatztreue mit taktischer Flexibilität und politischem Gespür zu kombinieren, zeigte sich seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre in seinem Bemühen, das Feld der Außenpolitik für sich zu reklamieren, das von anderen NS-Spitzen weitgehend ignoriert wurde. In seiner 1927 publizierten Schrift Der Zukunftsweg einer deutschen Außenpolitik erklärte er Russland zum Feind und betonte eine Übereinstimmung der deutsch-britischen Interessen. Er nahm damit Gedanken vorweg, die Hitler ein Jahr später in seinem zu Lebzeiten unveröffentlichten »zweiten Buch« zu Papier brachte.[8] Als Rosenberg nach dem Wahlerfolg der NSDAP von 1930 Reichstagsabgeordneter wurde, konnte er so als außenpolitischer Experte der Partei auftreten, was ihm kurz nach Hitlers Machtantritt die Leitung des Außenpolitischen Amts der NSDAP (APA) – eine inoffizielle Konkurrenzinstanz zum Auswärtigen Amt – einbrachte, gefolgt von seiner Ernennung zum Reichsleiter (2. Juni 1933) und »Beauftragten des Führers für die gesamte weltanschauliche Schulung und Erziehung der NSDAP« (24. Januar 1934).[9] Über alles, was im NS-Verständnis »jüdisch-bolschewistische« Angelegenheiten betraf, beanspruchte Rosenberg Mitspracherecht und konnte es nicht selten auch gegen mächtige Konkurrenten durchsetzen. Doch im Vergleich zu Göring, Ribbentrop oder Goebbels nahm Rosenberg bis 1941 in der Führungsriege des Regimes dennoch eine Randstellung ein, da ihm ein Ministeramt und damit staatliche Kompetenzen fehlten. Ehrgeiz besaß Rosenberg genug, doch machte er es sich durch seine kleinliche Streitsucht, geringe Kooperationsbereitschaft und Neigung zum Grundsätzlichen nicht eben leicht. So stimmte Hitler Mitte 1938 Rosenbergs Plan zur Schaffung eines nazifizierten Universitätsmodells in Gestalt der »Hohen Schule« zwar zu, schob die Gründung des als wissenschaftliches Pilotprojekt und politikbegleitenden Think-Tank konzipierten »Instituts zur Erforschung der Judenfrage« aber bis März 1941 hinaus, was den begrenzten politischen Einfluss des Reichsleiters verdeutlicht.[10]
Dies änderte sich jedoch im Lauf der ersten beiden Kriegsjahre. Im Oktober 1940 konnte Rosenberg den umkämpften Leitungsposten einer um die »Sicherung« jüdischer Kunstsammlungen, Archivbestände, Bibliotheken und anderer Werte bemühten Zentrale für sich verbuchen; in der Folgezeit wurde sein »Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg« (ERR) europaweit zur erfolgreichsten Rauborganisation des Regimes, aus dessen überreichem Fundus sich neben Hitler und Göring auch deutsche Museen bedienen konnten.[11] Den eigentlichen Karrieresprung markierte jedoch der Überfall auf die Sowjetunion, in dessen Planungen Rosenberg im Vorfeld eingebunden war. Am 20. April 1941 wurde er zum »Beauftragten für die zentrale Bearbeitung der Fragen des osteuropäischen Raumes« ernannt. Seine »große Stunde«, das spricht aus den Tagebuchnotizen dieser Zeit, war nun gekommen, und Rosenberg bemühte sich nach Kräften, Hitlers Vertrauen durch Nutzung neuer, radikaler Möglichkeiten zur Durchsetzung nationalsozialistischer Ziele im Osten gerecht zu werden. Mit seiner formellen, allerdings erst Monate später öffentlich bekanntgemachten Ernennung zum Reichsminister für die besetzten Ostgebiete am 17. Juli 1941 wurde Rosenberg Herrscher über eine Region, die von der Ostsee bis zum Kaspischen Meer reichen sollte. Sie war ausersehen, die Versorgung von Wehrmacht und »Heimatfront« zu gewährleisten, wertvollen »Siedlungsraum im Osten« zu erschließen und langfristig die Unangreifbarkeit der deutschen Machtstellung in Europa zu sichern. Das Scheitern der deutschen Offensive Ende 1941 vor Moskau setzte den NS-Visionen engere Grenzen, doch umfasste Rosenbergs Machtsphäre mit den Reichskommissariaten Ostland und Ukraine immer noch mehr als eine halbe Million Quadratkilometer mit rund 30 Millionen Einwohnern; Rosenberg sah hier den Raum, in dem »die nationalsozialistische Weltanschauung sich erprobt«.[12]
Wie unten näher ausgeführt, gehörte Alfred Rosenberg zu den Hauptverantwortlichen einer Politik, die die deutsche Strategie des »Vernichtungskriegs« hinter der Front in Besatzungsalltag umsetzte, mit fatalen Folgen für die Betroffenen. Wenngleich er in seinen Denkschriften im Vergleich zu anderen NS-Größen für eine moderate Herrschaftspolitik gegenüber Ukrainern und einigen anderen nichtrussischen Volksgruppen eintrat, um dem deutschen Kriegseinsatz Ressourcen leichter zu erschließen, unterstützte er real eine radikale Ausplünderungs-, »Befriedungs-« und »Germanisierungs«-Politik, die Millionen von Zivilisten in der besetzten Sowjetunion das Leben kostete.[13] Juden gehörten seit den ersten Tagen der deutschen Besatzung zu den Hauptopfern von Massenerschießungen durch Wehrmacht, Einsatzgruppen und Polizei; mit der Einrichtung der Zivilverwaltung ab Juli 1941 suchten sich Rosenberg und seine Vertreter vor Ort in die neue Gewaltlandschaft einzufügen und beschleunigten so den Übergang zum Genozid.[14]
Als sich die militärische Lage verschärfte und rivalisierende Instanzen an Macht gewannen, verlor Rosenberg langsam an politischem Einfluss. Seinem Führer bis zuletzt treu ergeben, wurde Rosenberg nach Kriegsende von der US-Armee verhaftet und vor dem Internationalen Militärtribunal (IMT) in Nürnberg zusammen mit anderen Spitzenfunktionären des »Dritten Reichs« wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Beteiligung an der Vorbereitung eines Angriffskriegs und Verbrechen gegen den Frieden angeklagt. In seiner Zelle setzte der einstige NS-Chefideologe seine emsige Schreibarbeit im Geiste der ihm ungebrochen gültig scheinenden Rassenutopie fort; bis heute finden seine »letzten Aufzeichnungen« in rechtsradikalen Kreisen Anklang.[15] Nach dem Schuldspruch in allen Anklagepunkten wurde das Todesurteil gegen Alfred Rosenberg am 16. Oktober 1946 vollstreckt.