Rosenberg und sein Tagebuch: Erkenntnisse und Probleme

Tagebücher von Zeitgenossen haben in den letzten Jahren das Verständnis des Nationalsozialismus und seiner Verbrechenspolitik besonders geprägt. »Zeugnis ablegen bis zum letzten« war Victor Klemperers erklärtes Ziel; auch andere Opfer der Judenverfolgung verstanden sich als Chronisten bedeutsamer Veränderungen, als sie ihre Erlebnisse, Gedanken und Gefühle in Gestalt von Tagebüchern dokumentierten. Dass diese Autoren die Ereignisse in ihren alltäglichen Dimensionen und noch unbestimmten Konsequenzen in keinen klaren Erklärungszusammenhang einbetten konnten, wie er sich erst aus größerer Distanz herstellen lässt, macht ihre Aufzeichnungen umso wertvoller für das Verständnis der Zeitläufte, von denen wir heute – aus der Rückschau – wissen, wo sie endeten.[16]

Tagebuchaufzeichnungen, in denen sich die subjektiven Perspektiven führender Nationalsozialisten auf das »Dritte Reich« widerspiegeln, sind dagegen extrem selten. Die Männer um Hitler gestalteten jene Zukunft, die ihre Opfer erleiden mussten. Deshalb geht von Egodokumenten aus der Hand führender Nationalsozialisten bis heute eine starke Faszination aus, scheinen sie doch die sinistre Aura ihrer Verfasser zu reflektieren und Aufschlüsse über die Triebkräfte der NS-Verbrechen zu liefern. Bei den führenden NS-Funktionären stand jedoch das Ahnen oder Wissen um den nächsten Schritt zur »Lösung der Judenfrage« oder anderer ideologischer Kernziele in eklatantem Missverhältnis zu der Bereitschaft, darüber persönlich Zeugnis abzulegen. Die meisten führenden Nationalsozialisten begriffen sich als »Männer der Tat«, die nicht zur Kontemplation oder gar kritischen Reflexion neigten, zumal diese Eigenschaften parteiintern nicht gerade geschätzt wurden. In der NS-Bewegung rangierte der »Draufgänger« stets über dem »Tintenritter«.

Darüber hinaus erzeugten die rapiden Veränderungen nach 1933 und die Dynamik der Ereignisse und Entwicklungen, angetrieben von der NS-»Bewegung« im Verein mit anderen gesellschaftlichen Eliten, eine Atmosphäre hektischer Betriebsamkeit und Atemlosigkeit, die mit innehaltendem Nachdenken kaum vereinbar war. Und während die offizielle NS-Propaganda das immer gleiche Bild monolithischer Geschlossenheit, Einigkeit und Konsequenz zu vermitteln suchte, wussten vor allem führende Nationalsozialisten um die Realität des »Dritten Reiches«, in der die verschiedenen Herrschaftscliquen um Einfluss rangen und einander heftig befehdeten.

Die offensichtliche Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität ließ sich deshalb in Tagebuchaufzeichnungen nur um den Preis des Selbstbetrugs ignorieren. Selbst wenn sie keinen Zweifel an der historischen Bedeutung, ja Präzedenzlosigkeit der Geschehnisse seit 1933 hatten, fehlte den meisten Männern um Hitler ein Geschichtsbewusstsein, welches das Gegenwartshandeln und den Ewigkeitsanspruch des Regimes hätte verbinden können. Begriffe wie »Endlösung« oder »Tausendjähriges Reich« dokumentierten einerseits das vermessene Postulat, Geschichte schlichtweg abschaffen und in einen Endzustand überführen zu wollen. Andererseits war die Gegenwartspolitik des Regimes durch überraschende und unvorhergesehene Wendungen geprägt, die selbst überzeugte Nationalsozialisten in massive Erklärungsnot brachten: zum Beispiel die Ausschaltung der SA 1934, der Pakt mit dem ideologischen Todfeind Stalin 1939 oder der Englandflug von Rudolf Heß 1941.

Aus all diesen Gründen haben die NS-Hauptakteure keine Tagebücher, sondern allenfalls – wie z.B. Heinrich Himmler – Kalendarien hinterlassen, die von ihrem ständigen Aktionismus zeugten.[17] Selbst die jüngst aufgefundenen privaten Briefe Himmlers[18] an Frau und Kinder lesen sich partiell wie ein verschriftlichter Taschenkalender. Die auf den ersten Blick lebhaften Gefühlsäußerungen des Reichsführers SS entpuppen sich bei näherem Hinsehen als sterile, sich ständig wiederholende Floskeln. Wenngleich Himmler in seiner dienstlichen Korrespondenz oder auch in seinen Reden gelegentlich durchaus gefühlsbetont agierte, gab sich der Reichsführer SS selbst dem engsten privaten Umfeld gegenüber zumeist empathielos und wenig reflexiv. Dies war sicher nicht nur dem Umstand geschuldet, dass ihm – anders als einigen seiner Untergebenen – die Praxis des Massenmords in ihren grausigen Details anscheinend als kaum vermittelbar und nur gegenüber ausgewählten Funktionsträgern zu erwähnendes Staatsgeheimnis galt. Vielmehr verspürte Himmler auch deswegen kein Bedürfnis nach Reflexion, weil er mit seinem Handeln im Reinen war und keinerlei Selbstzweifel hegte.[19]

Letztlich haben nur zwei führende Nationalsozialisten umfangreichere Tagebuchaufzeichnungen hinterlassen: Propagandaminister Joseph Goebbels, der über mehr als zwei Jahrzehnte ein persönliches Tagebuch führte – von 1924 bis 1945[20] –, und der NSDAP-Chefideologe und spätere Reichsminister für die besetzten Ostgebiete Alfred Rosenberg, dessen politische Notate aus dem Zeitraum 1934 bis 1944 wir mit dieser Publikation erstmals geschlossen und kontextualisiert vorlegen.[21] Beide waren fast über den gesamten Zeitraum des »Dritten Reiches« hinweg intim miteinander verfeindet, was ihren Aufzeichnungen auch die Funktion eines wechselseitigen Korrektivs gibt. So zeigt das Tagebuch Rosenbergs, der jede abfällige Bemerkung über Goebbels aus Parteikreisen registrierte und jede Demütigung seines Konkurrenten festhielt, dass Goebbels gerade bei der Kerntruppe der »alten Kämpfer« wenig beliebt war und seine Stellung im nationalsozialistischen Herrschaftssystem nicht überschätzt werden sollte.

Allerdings teilte der Propagandaminister mit seinem Rivalen die Neigung, ihm unliebsame oder zum Nachteil gereichende Vorkommnisse in seinen Notizen geflissentlich zu verschweigen. Insofern wäre es methodisch naiv, in den Tagebüchern von Goebbels oder Rosenberg etwas anderes als subjektive Perspektiven zu erwarten. Gewiss bieten sie keinen umfassenden Einblick in die NS-Herrschaft, wie dies Hans-Günther Seraphim behauptete, als er Mitte der 1950er Jahre einen Teil von Rosenbergs Tagebuch edierte: »Hier berichtet ein Eingeweihter über das Funktionieren des Parteiapparats, über das Agieren der NS-Regierung und ihrer Organe und gewährt in der nur für seine persönlichen Zwecke bestimmten, ungefärbten Niederschrift erregende Einblicke in die Denk- und Handlungsart Hitlers und seiner Gefolgsleute.«[22] Die Erwartung sensationsheischender Offenbarungen aus dem Zentrum der Macht mag naheliegen; sie ignoriert jedoch den problematischen Charakter derartig subjektiv gefärbter Quellen: Goebbels’ und Rosenbergs Tagebücher spiegeln die tatsächlichen Ereignisse nur sehr partiell wider, wenn sie nicht zentrale Elemente der historischen Realität ganz ausblenden.

Es war kein Zufall, dass gerade Goebbels und Rosenberg Tagebücher schrieben, gehörte es doch ohnehin zu beider Kernaufgaben, die Politik des »Dritten Reiches« reflektierend und deutend zu begleiten. Während Goebbels die NS-Politik in griffige tagespolitische Losungen übersetzen musste, konzentrierte sich Rosenberg eher auf das Weltanschaulich-Grundsätzliche, dessen Essenz er vor allem in Reden den versammelten NS-Parteifunktionären vortrug oder in der NS-Presse veröffentlichte. Dabei formulierte Goebbels wesentlich schneller und prägnanter als der schwerfällige Rosenberg, der oft wochen- oder monatelang keine Tagebuchzeile zu Papier brachte – auch deshalb, weil er in seinen diversen Funktionen mit dem Abfassen von »Meldungen an den Führer«, Denkschriften und Aktennotizen vollauf beschäftigt war. Seine Einträge zeichnen sich kaum durch längere narrative Passagen aus; es dominieren eher lakonische, skizzenhafte Bemerkungen. Zudem wimmelt es in Rosenbergs Aufzeichnungen von holprigen Formulierungen, Grammatikfehlern und schiefen Satzkonstruktionen, die die vorliegenden Einträge zu einer gelegentlich schwierigen Lektüre machen. Es mutet ironisch an, dass ausgerechnet dem Deutschbalten Rosenberg, der sich im »Dritten Reich« gerne zum Chefinterpreten deutschen Denkens und deutscher Kultur stilisierte, jegliches Einfühlungsvermögen in die deutsche Sprache fehlte.

Weder Goebbels’ noch Rosenbergs Tagebuchaufzeichnungen waren für die Öffentlichkeit bestimmt. Als Goebbels 1934 dennoch Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahre 1932/33 veröffentlichte, stieß er damit in weiten Parteikreisen prompt auf eisige Ablehnung, die dem Propagandaminister eine egozentrische Selbstbeweihräucherung vorwarfen.[23] Diese Einschätzung dürfte nicht ganz unzutreffend gewesen sein, und auch Rosenberg benutzte sein Tagebuch, um seine Erfolge in glänzenderem Licht erscheinen zu lassen. Im Falle Rosenbergs dienten die oft rudimentären Aufzeichnungen allerdings vermutlich primär als Erinnerungsposten für spätere Zeiten (»um einmal im Alter diese Zeit wiedererstehen zu lassen«)[24] und häufig auch als Frustrationsventil. Passagen, in denen er »Eitelkeit und levantinische Anmaßung«[25] anderer kritisierte, Goebbels (»Eiterproduzent«)[26] oder Ribbentrop (»richtig dummer Mensch mit der üblichen Arroganz«)[27] hasserfüllt abqualifizierte, erinnern eher an Formulierungen verschworener NS-Gegner als an Äußerungen eines führenden Repräsentanten des Regimes. Auch das ostentative Selbstmitleid Rosenbergs und der Nimbus des Einzelkämpfers innerhalb des Führerkorps der »Volksgemeinschaft«, die aus vielen Einträgen sprechen, hätten in einer weiteren Öffentlichkeit vermutlich für fassungsloses Erstaunen gesorgt. Sein Tagebuch schrieb Rosenberg also erkennbar allein für sich.

Auch wenn Rosenberg in der operativen Politik des »Dritten Reiches« spät zum Zug kam und oft – allerdings nicht so oft wie in der älteren Literatur behauptet – das Nachsehen hatte, stand seine Stellung im nationalsozialistischen Herrschaftssystem nie grundsätzlich in Frage. Sie beruhte vor allem darauf, dass Rosenberg, den Hitler wohl nicht ohne ironischen Unterton als »Kirchenvater des Nationalsozialismus« und später als »Torhüter des Ostens« bezeichnete,[28] der NSDAP und ihren führenden Funktionären stets das Gefühl gab, ihre ideologischen Grundsätze beruhten nicht auf Idiosynkrasien, Machtphantasien und Hassgefühlen, sondern seien im Gegenteil tiefenphilosophisch hergeleitet und wissenschaftlich grundiert. Rosenberg selbst war davon zweifellos überzeugt. Doch schon lange bevor er mit dem Tagebuchschreiben begann, bewegte sich sein Denken in weltanschaulichen Bahnen, die keinen Raum für kritische Analyse boten und die Wirklichkeit nur dann ins Bewusstsein dringen ließen, wenn sie seine bereits feststehenden Ansichten bestätigten.[29]

Rosenbergs ideologischer Rigorismus bestimmte die Grundrichtung seines politischen Handelns. Seine politischen Vorstellungen standen allerdings nicht von Beginn seiner Tätigkeit an unverrückbar fest, sondern veränderten sich partiell. Rosenbergs ideologische Grundsätze bestanden weniger aus einem prinzipiell unveränderbaren Katechismus als vielmehr aus basalen »Haltungen« in einem weltanschaulichen Feld, das nicht zuletzt durch Pragmatismus und Flexiblität gekennzeichnet war.[30] Dies gilt selbst für die »Judenfrage«. Da Juden für Rosenberg den ihm verhassten Internationalismus und Universalismus repräsentierten und er sie gleichermaßen für den Liberalismus und den Kommunismus verantwortlich machte, gehörte der Antisemitismus zu jenen grundsätzlichen Haltungen, an denen Rosenberg stets unerschütterlich festhielt. Sehr viel flexibler jedoch ging der NSDAP-Chefideologe mit der Frage um, wie Juden oder verschiedene Strömungen des Judentums konkret behandelt werden sollten. So verkehrte sich beispielsweise Rosenbergs anfänglich positive Einschätzung des Zionismus[31] schließlich ins Negative. Gestand Rosenberg den Juden zunächst noch grundsätzliche Rechte zu, gehörte er in den Kriegsjahren zu den Verfechtern eines rigorosen Vernichtungsgedankens. Die »christliche Kultur«, die Rosenberg noch in frühen Traktaten gegen die »jüdische Gefahr« mobilisieren wollte, verwandelte sich in späteren Ausgaben seiner »Werke« in eine »deutsche Kultur«.[32] Solche Transformationen gingen nicht zuletzt auf neue Möglichkeiten der politischen Praxis und auf Veränderungen der politischen Lage zurück, teilweise auch auf opportunistische Anpassung an den »Führer«.[33] Für Hitler wie für Rosenberg beruhte »Weltanschauung« zwar auf unveränderbaren Grundhaltungen, doch lieferte sie kein konkretes, ausgearbeitetes Handlungskonzept, das nach 1933 hätte umgesetzt werden können.[34]

In Rosenbergs Tagebuch artikulierte sich der mit unveränderlichen ideologischen Prinzipien einhergehende politische Pragmatismus in der wiederholten Äußerung, er habe eine bestimmte Idee schon immer verfolgt oder diese und jene Meinung tief verinnerlicht, nun aber seien die Bedingungen für ihre Umsetzung gegeben. Indem er jedoch die Politik des Regimes zugleich als Ausdruck vorgeblich ewiger, unverrückbarer Wahrheiten ausgab, legitimierte Rosenberg auch und gerade die verbrecherische Praxis nationalsozialistischer Herrschaft und erfüllte in der NS-Bewegung eine in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende Funktion. Auch wenn Rosenberg eine Aura des Selbstmitleids und der Unzufriedenheit umgab, konnten sich seine »Erfolge« beim Umsetzen der NS-Agenda – bei der Vorbereitung der deutschen Invasion Norwegens oder der Machtübernahme Marschall Antonescus in Rumänien, beim Plündern von Kunst- und Kulturgut im deutsch besetzten Europa, beim Verbreiten antisemitischer Parolen bis in den Nahen Osten und nicht zuletzt als Vordenker und Mitverantwortlicher der »Endlösung« – durchaus sehen lassen. Auf kaum einen anderen NS-Führer trifft der Begriff »Überzeugungstäter« so vorbehaltlos zu wie auf Rosenberg, der bis zuletzt glaubte, was er predigte, und unter Einsatz neuer, radikaler Methoden praktizierte, was er für selbstverständlich hielt.[35] Überdies zeigt sich an seinem Beispiel, dass nicht allein radikale Gedanken in eine radikale Praxis mündeten. Diese standen vielmehr in einem Wechselverhältnis, so dass die radikale Praxis auch die Radikalität der Gedanken beeinflusste.

Die vorliegende Edition und unsere Einleitung zielen nicht auf eine umfassende Biographie, die längst vorliegt,[36] oder eine Gesamtgeschichte der politisch-ideologischen Aktivitäten Rosenbergs, an der es weiter fehlt. Rosenbergs Aufzeichnungen bieten vor allem zahlreiche, oft punktuelle Einblicke in die verschiedenen Politikfelder des »Dritten Reiches« und deren subjektive Wahrnehmung durch den Verfasser, die stark durch ständige Kompetenzkonflikte geprägt ist. Dabei bilden die Außenpolitik des Regimes sowie vor allem das Verhältnis zu den Kirchen einen gewissen Schwerpunkt. Rosenbergs wie Hitlers ostentative Ablehnung christlicher Grundsätze tritt immer wieder deutlich hervor.

Angesichts der Vielfalt der im Tagebuch erwähnten Einzelaspekte wollen wir uns im Folgenden auf einige prägnante Aspekte des Tagebuchs und des historischen Kontextes konzentrieren. An erster Stelle wäre die Rekonstruktion und bedingte Neubewertung der Funktion zu nennen, die Rosenberg im »Dritten Reich« während jener Phase erfüllte, in der das Regime von der Judenverfolgung zur unterschiedslosen Judenvernichtung im Verlauf des Jahres 1941 überging. Deshalb haben wir über die Tagebucheintragungen hinaus auch Denkschriften, Reden und andere, zumeist von Rosenberg selbst verfasste (und einige hier erstmals publizierte) Schlüsseldokumente hinzugefügt, die seine Rolle in dieser entscheidenden Periode stärker verdeutlichen, als er dies in seinen Tagebuchnotizen tat. Zentrale ideologische Grundlagen für die sich kumulativ radikalisierende antijüdische Politik hatte Rosenberg bereits in den frühen zwanziger Jahren geschaffen. So gingen, wie eingangs erwähnt, die antijüdischen Ausführungen in Hitlers Buch Mein Kampf auch auf Rosenberg zurück, der bereits 1919 die Herrschaft der Bolschewiki in Russland als Reinform jüdischer Herrschaft bezeichnet hatte und mit der Fusion von Antisemitismus und Antibolschewismus die zweifellos wirkungsvollste Legitimation für den späteren Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion lieferte.[37]

An dem ideologischen wie taktisch-politischen Grundsatz, das »jüdische Parasitenvolk« an den »Bolschewismus zu ketten«, d.h. Bolschewismus und Judentum als vermeintlich untrennbare Einheit zu deklarieren, hielt Rosenberg, wie sein Tagebuch zeigt, hartnäckig fest.[38] Überdies blieb er davon überzeugt, dass es sich bei der unvermeidlichen Auseinandersetzung mit dem »Judentum« um einen »Weltkampf« handelte, wie auch der gleichnamige Titel der von ihm herausgegebenen Zeitschrift deutlich machte. Dabei stilisierte Rosenberg Deutschland stets zu einer hinterrücks angegriffenen Partei, die sich in ihrem Kampf gegen Juden im Recht befinde. Darüber hinaus förderte er antisemitische und völkische Bewegungen in den europäischen Ländern – mit dem Ziel einer antisemitischen Internationale und damit eines antiuniversalistischen Gegenentwurfs zum Gedanken der Vereinten Nationen. Nach dem Novemberpogrom 1938 fiel Rosenberg durch besonders radikale antisemitische Reden auf, obwohl er den Pogrom als unnütze Vernichtung von Sachwerten kritisiert hatte: ein prägnantes Beispiel für die Radikalisierung programmatischer Positionen durch die politische Praxis. Fast stereotyp tauchte in allen seinen Reden ab Januar 1939 die Formulierung auf, dass die »Judenfrage« in Europa erst dann gelöst sei, wenn der letzte Jude erst Deutschland, dann Europa verlassen habe, bis Rosenberg sich im November 1941, in bemerkenswerter Offenheit (wenngleich unter dem Siegel der Vertraulichkeit) vor der Presse für eine »biologische Ausmerzung des gesamten Judentums in Europa« aussprach.[39]

Nachdem Rosenberg im Frühjahr 1941 zentral in die geplante Neuordnung Osteuropas eingebunden worden war (Hitler: »Rosenberg, jetzt ist Ihre große Stunde gekommen.«[40]), wirkte er in der zweiten Jahreshälfte entscheidend daran mit, den »Ostraum« zum Schauplatz der »Endlösung« zu machen. Dass sich Rosenberg als Reichsminister für die besetzten Ostgebiete nicht allein mit der ideologisch-weltanschaulichen Orchestrierung des Holocaust befasste, zeigten seine diversen Initiativen, die auf Arbeitsteilung beim organisierten Massenmord abzielten. Auch bediente er sich aller verfügbaren Möglichkeiten weit jenseits seines eigenen Aufgabengebiets, als er beispielsweise die Deportation der deutschen und europäischen Juden in den Ostraum als Antwort auf die Verschleppung der Wolgadeutschen durch Stalin vorschlug. Vor seinen Nürnberger Richtern gab Rosenberg zu Protokoll, dass ihm »der Gedanke an eine physische Vernichtung von Slawen und Juden, also der eigentliche Völkermord, […] nie in den Sinn gekommen«, geschweige denn von ihm »irgendwie propagiert« worden sei;[41] damit war er so weit von der Realität entfernt wie bei seinem früheren Räsonieren über »deutsches Wesen« und »ewige Werte«. Rosenbergs Aufzeichnungen geben insgesamt Anlass, über das Verhältnis von Zentrum und Peripherie in der Genese des Holocaust neu nachzudenken und Ersterem wieder vermehrt Beachtung zu schenken. Dies gilt auch für das komplexe Wechselverhältnis zwischen NS-Ideologie und politischer Praxis, das in Rosenbergs Tagebuch deutlich wird.

Seine Aufzeichnungen ermöglichen darüber hinaus einen interessanten Einblick in die Strukturen und Netzwerke des NS-Herrschaftssystems. Rosenbergs Dauerklagen über das Verhalten von Konkurrenten und die nahezu permanenten Cliquenkämpfe zeugen einerseits von den polykratischen Herrschaftsstrukturen des »Dritten Reiches«, in denen verschiedenste Funktionsträger einander bitter bekämpften.[42] Andererseits unterstreichen seine Ausführungen die überragende Rolle Hitlers in diesem System. Fast hündisch war Rosenberg – ähnlich wie Goebbels – auf seinen »Führer« fixiert und notierte akribisch auch kleinste Gunstbeweise wie Händedruck, Schulterklopfen und aufmunternde Worte. Auch abschätzige Bemerkungen des »Führers« über gerade abwesende Rosenberg-Konkurrenten wurden eifrig registriert, wobei Rosenberg gar nicht in den Sinn kam, dass es sich hier um ein subtiles Herrschaftsmittel Hitlers handelte. Denn dieser äußerte sich – wie das Tagebuch Goebbels’ verrät – auch über Rosenberg in dessen Abwesenheit abfällig[43] und versicherte den jeweils Anwesenden seiner besonderen Wertschätzung: ein bewährtes Mittel der Loyalitätserzeugung, das zugleich die Konkurrenten gegeneinander ausspielte. Wenn Rosenberg ein Telegramm des »Führers« erhielt, bekam er bezeichnenderweise einen »Schreck« und erwartete angstvoll unangenehme Dinge, darin einem Schulbuben gleichend, der von seinem Lehrer eine Standpauke befürchtete.[44] Rosenberg setzte nie nach, wenn Hitler im direkten Gespräch die Argumente ausgingen oder sich in Gemeinplätze flüchtete. Er widersprach seinem »Führer« auch nicht, wenn dieser Rücksichten auf andere vorschob, wie beispielsweise bei Rosenbergs Ukraine-Plänen, die Hitler unter Verweis auf rumänische Interessen torpedierte. Seine Reden legte Rosenberg dem »Führer« häufig zur Genehmigung vor. Mit ähnlich unterwürfigem Gestus, ja kindlichem Stolz präsentierte Rosenberg die in ganz Europa zusammengeraubten Kunstschätze, aus denen sich Hitler persönlich Stücke für sein »Führermuseum« in Linz auswählen konnte.[45]

Im Vergleich zu Goebbels hielt sich Rosenberg deutlich seltener auf dem Obersalzberg auf oder war weniger häufig in der mittäglichen Runde um Hitler zugegen, die dieser meist zu ausgreifenden Monologen nutzte. Dennoch scheint an etlichen Stellen seiner Aufzeichnungen jener feixende Grundton der Männerrunden um den »Führer« durch, der nicht zuletzt der gegenseitigen Bekräftigung ideologischer Prinzipien und rücksichtsloser Absichten diente. Mitleidlos wurden dabei die Opfer des Nationalsozialismus verhöhnt, wenn sich Hitler ironisch als Bewahrer der »Humanität im Osten« gerierte und er Rosenberg scherzhaft als »Schriftführer eines von mir präsidierten Kongresses zur humanen Behandlung der Juden« vorschlug.[46] Bei seinen Monologen ließ Hitler seine Umgebung über grundlegende Auffassungen nicht im Unklaren; auch die anwesenden Personen stellten sich schnell darauf ein, indem sie sich in ihren Bemerkungen opportunistisch an dem orientierten, was der »Führer« gerne hören wollte: ein sehr effektives Mainstreaming der Meinungen, in dem abweichende Stellungnahmen kaum noch eine Chance hatten, Gehör zu finden.

Wenngleich Rosenberg in NS-Führungskreisen den Ruf eines prinzipienfesten Ideologen genoss, liefert er in seinem Tagebuch zahlreiche Beispiele dafür, dass sich Ideologie und Opportunismus keineswegs ausschlossen. So verwundert es kaum, dass Rosenberg 1939 den Nichtangriffspakt mit dem ideologischen Todfeind Stalin nicht goutierte. Er verkniff sich aber jeden Protest oder demonstrative Missfallensäußerungen gegenüber dem »Führer«, weil er es für »zwecklos hielt, über nicht zu Änderndes zu klagen«.[47] Hitler belohnte diese Grundhaltung sogleich, indem er sich »sehr warm« über Rosenberg äußerte, der doch »ein Politiker« sei und keinen offenen Widerstand geleistet habe.[48] Auch in der Behandlung der osteuropäischen Bevölkerung stimmten Hitler und Rosenberg keineswegs in allen Aspekten überein. Zwar waren sich beide in der radikalen Vernichtungspolitik gegenüber Juden und Bolschewiki vollkommen einig, differierten jedoch erkennbar in der Frage, wie und ob die verschiedenen Völker Osteuropas an der angestrebten deutschen Suprematie zumindest beteiligt werden sollten. Hitler verfolgte primär ein geopolitisches Konzept, das den künftigen »Lebensraum« bereits als letztlich leeren Raum definierte, in dem auf die dort lebende Bevölkerung keine besondere Rücksicht genommen werden müsse.[49] Rosenberg vertrat dagegen ein Herrschaftsmodell, das dem Nationalismus der osteuropäischen Völker Zugeständnisse machte, um vor allem Ukrainer und Balten, aber auch muslimische Gruppen langfristig gegen die russische Herrschaft in Stellung zu bringen. Hier brachte der Deutschbalte seine Kenntnisse osteuropäischer Mentalitäten ein, die in NS-Führungskreisen ansonsten äußerst dünn gesät waren. Wieder einmal drang Rosenberg mit seinem Ansinnen nicht durch, fügte sich jedoch opportunistisch, als er beispielsweise im Oktober 1941 in Erwartung eines kurz bevorstehenden »Endsieges«, aber auch aufgrund von Hitlers Rücksichtnahme auf die Interessen des rumänischen Bündnispartners, seine eigenen Pläne für einen ukrainischen Staat aufgab.[50]

Trotz seines Pragmatismus bei der Nutzung neuer Möglichkeiten und opportunistischer Anbiederei an den »Führer« hielt Rosenberg an wesentlichen ideologischen Grundhaltungen unbeirrbar fest, die er weder in seinem Tagebuch noch in seinen Aufzeichnungen im Nürnberger Gefängnis 1945/46 in Frage stellte.[51] In allen Angelegenheiten, die für ihn zu den ideologisch begründeten Notwendigkeiten zählten, zeigte Rosenberg einen auffallenden, mit Desinteresse gekoppelten Mangel an Empathie gegenüber ihren ebenso inhumanen wie verbrecherischen Konsequenzen – eine Mitleidlosigkeit, die den Leser immer wieder frappiert und die im Tagebuch ihren deutlichsten Ausdruck im fast völligen Verschweigen deutscher Vernichtungsmaßnahmen findet. Zwar demonstrieren Rosenbergs Aufzeichnungen, dass er in Einzelfällen zu menschlicher Anteilnahme und Mitgefühl sehr wohl in der Lage war, wenn er um gefallene Mitarbeiter trauerte oder Generalfeldmarschall Keitel zum Tod von dessen an der Ostfront getöteten Sohn kondolierte. Hält man sich jedoch vor Augen, dass dies in einer Sitzung geschah, in der sowohl Rosenberg wie Keitel implizit den Tod vieler Millionen Menschen in Osteuropa beschlossen und guthießen, dann wird deutlich, dass Rosenbergs Gefühlswelt durch eine höchst partikularistische Moral bestimmt wurde, die universal gültige Menschenrechte vehement ablehnte und dem Phantom eines ethnisch bereinigten, machtpolitisch abgesicherten »Tausendjährigen Reichs« verpflichtet war.[52]

Rosenbergs ideologisch determinierte Empathielosigkeit machte auch vor den eigenen »Volksgenossen« nicht halt: Symptomatisch dafür steht sein Tagebucheintrag zur weitflächigen Zerstörung Hamburgs durch die alliierte »Operation Gomorrha« im Juli/August 1943, der fast 40000 Einwohner zum Opfer fielen. Zynisch räsonierte Rosenberg über die Angriffe als »Wink des Schicksals« und bezeichnete sie als Chance zur »Wiederentdeckung des Ländlichen«.[53] Ähnliche Gefühlskälte und ideologische Verbohrtheit verrät Rosenbergs hartnäckiges Klammern an Durchhalteparolen, mit denen die steil ansteigende Todesraten unter deutschen Soldaten und Zivilisten als notwendige Opfer deklariert wurden, die auf dem Weg zum »Endsieg« nun einmal erbracht werden müssten. Die Schlacht von Stalingrad erschien ihm als »Heldentat so großen Ausmaßes wie keine andere« und als »Ausgangspunkt des Sieges.«[54] Da ist es nachvollziehbar, wenn Goebbels in anderem Zusammenhang über Rosenberg urteilte, dieser äußere sich »so kalt und provozierend, daß es einem davor graut«.[55]

In den letzten Kriegsjahren schlüpfte Rosenberg in seinem Tagebuch immer häufiger in die Rolle eines Kritikers der real existierenden Verhältnisse im »Dritten Reich«. Vor allem als ihm, dem Ostminister, ab 1943/44 das Herrschaftsterritorium sukzessive abhandenkam und sein Einfluss zusehends schwand, mutierte der NSDAP-Chefideologe zum Warner, der dem »Dritten Reich« insgesamt – nicht unzutreffend, aber auf das Private seines Tagebuchs beschränkt – einen Hang zur theatralisch-propagandistischen Selbstinszenierung attestierte, die politisches Handeln eher vorspiegele als realiter vollziehe. Dennoch erreichte Rosenbergs Kritik zu keinem Zeitpunkt eine Dimension, die das NS-System insgesamt in Frage gestellt hätte, was auf drei grundlegende Beschränkungen zurückzuführen war: Erstens fehlte Rosenberg – wie allen anderen NS-Führern auch – jegliches Sensorium für eine kritische Selbstwahrnehmung. Fehlentwicklungen entsprangen in seiner Perspektive immer dem Fehlverhalten anderer, während er die eigene Person, die ja durchaus Teil der kritisierten »Theatrokratie« war, stets jenseits aller Missstände verortete.[56] Zweitens hielt Rosenberg mit stoischer Konsequenz an seinen weltanschaulichen Grundüberzeugungen fest, die auch durch eine Konfrontation mit der Realität nicht erschüttert wurden. Vielmehr strukturierten die ideologischen Prinzipien auch die höchst selektive Realitätswahrnehmung, die wiederum im Zirkelschluss die Gültigkeit der ideologischen Norm bekräftigte. Wer wie Rosenberg das Phantasma eines »internationalen Judentums« als straff gegen Deutschland agierendes Kollektiv akzeptiert hatte und sich im Dauerstreit mit dunklen Mächten des Universalismus wähnte, sah – fern von jeder Realität – ständig Zusammenhänge, die die Geschlossenheit des Weltbildes bekräftigten und keineswegs dementierten. Und drittens nahm Rosenberg den Diktator von aller Kritik grundsätzlich aus. Wenn Hitler Fehlentscheidungen traf, war dies in Rosenbergs Perspektive nicht diesem selbst, sondern immer dem verderblichen Wirken und den falschen Ratschlägen anderer wie Bormann, Goebbels, Ribbentrop oder Himmler zuzuschreiben. Auf diese Weise hielt nicht allein Rosenberg am Gloriolenbild eines im Kern untadeligen »Führers« fest. Wie nicht zuletzt die regimeinternen Lageberichte zeigen, nahmen die meisten der damaligen Zeitgenossen Hitler von jeglicher Kritik aus und perzipierten zwar Missstände, waren jedoch davon überzeugt, dass diese den Wünschen Hitlers nicht entsprachen (»Wenn das der Führer wüsste«). Insofern verweist das Tagebuch Alfred Rosenbergs nicht nur auf typische Einstellungen und Verhaltensmuster des NS-Führungspersonals, sondern auch auf mentale Dispositionen, die in der gesamten deutschen Bevölkerung weit verbreitet waren.