Das Buch
Sie nennen mich „Siebenschläfer“.
Sie denken, ich sei eine Bestie.
Aber das bin ich nicht – Ich jage die wahren Bestien.
28 Jahre nach der grausamen Mordserie des Siebenschläfers wird wieder ein Bürgermeister ermordet – bei lebendigem Leib verbrannt. Die Indizien sprechen für eine erneute Tat des Serienmörders, dabei gilt der Täter längst als gefasst.
Einen Monat vor den Neuwahlen trifft die 16-jährige Julia im Kaufhaus einen Fremden, der ihr ein verlockendes Angebot macht. Für zwei Botengänge erhält sie genügend Geld, um ihren Führerschein zu machen und endlich ihre Heimat zu verlassen. Doch plötzlich interessieren sich nicht nur ihr neuer Mitschüler und der Sohn des ermordeten Bürgermeisters für sie. Auch der Mörder selbst scheint ihr auf den Fersen zu sein. Julia gerät in eine uralte Fehde, die lange vor den ersten Morden des Siebenschläfers begann.
Aber ist der wahre Siebenschläfer wieder aktiv? Oder treibt ein Trittbrettfahrer sein Unwesen? Und was verbindet den ominösen Fremden mit diesem Mörder?
Die Autorin
Anika Sawatzki wurde 1990 in der Altmark geboren und zog nach ihrem Abitur nach Leipzig. Dort lebt sie mit Jamie L. Farley in einer Autoren WG. 4 Jahre schrieb sie an ihrem ersten Roman, 4 Monate am zweiten und nur 4 Wochen am dritten. »Der Siebenschläfer erwacht« ist der erste Band der Siebenschläfer-Trilogie und ihr ältestes Projekt, das nach 9 Jahren endlich das Licht der Welt erblickt.
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Impressum
Die Namen der Personen und Einrichtungen in diesem Roman sind rein willkürlich gewählt. Zufällige Übereinstimmungen mit bekannten sowie unbekannten Personen oder Einrichtungen sind rein zufällig und drücken keinerlei Wertung des Autors aus.
Copyright © 2019 by Anika Sawatzki
anika_sawatzki@gmx.de
Herstellung und Verlag: Amazon Media EU S.à r.l., 38 avenue John F. Kennedy, L-1855 Luxemburg
Lektorat: Maria Rumler, Leipzig
Umschlaggestaltung und Kapitelverzierung: Sarah Buhr, Lage
www.covermanufaktur.de
unter Verwendung von Bildmaterial von
© Volodymyr Tverdokhlib (Frau); © Tanya Syrtsyna (Hörnchen)
Shutterstock
Liedzitat (Widmung): © Drakkar Entertainment GmbH
www.letzte-instanz.de
Autorenportrait: Nicole Ringswirth, Papenburg
www.facebook.com/WolfspfoteTierfotografie/
Gedicht (Kapitel 19): Stephan Ihlau
Widmung
» Wann wird’s geschehen, dass ich mich rächen kann? Wann wird’s geschehen?
Du wirst es sehen und wirst zerbrechen dran. Du wirst es sehen.«
( Letzte Instanz )
Ich widme dieses Buch meiner Mutter,
der wohl stärksten Frau der Welt.
Inhaltsverzeichnis
Ihr Sarg verschwand im pechschwarzen Erdloch. Eine große Gruppe dunkel gekleideter Menschen sah ihm stumm nach. Der Pastor ergriff das Wort und wie auf einen Wink Gottes öffneten sich die Schleusen des Himmels und gaben Bächen von kaltem Nass den Weg frei.
Die Leute spannten ihre Regenschirme auf. Noch in der Schule hatte ich von der Wetterfront gehört, doch die Botschaft war ungeachtet an mir vorübergezogen. Meine Mutter hielt ihren Regenschirm über mich. Nicht nur ich hatte einen Schirm vergessen.
Hector stand wenige Meter von mir entfernt, vermied es aber, mich anzusehen. Wie immer trug er einen schwarzen Anzug, jedoch keinen der teuren italienischen, die in seinem Schrank hingen. Sein graues Haar war ordentlich zurückgekämmt, als wäre er von einer Betriebsversammlung gekommen, er blickte unverwandt auf den Trauerredner.
Ein Schauer fuhr über meine Haut. Warum war er hier? Wer gab ihm das Recht, zu dieser Trauerfeier zu erscheinen? Sicher, er gehörte zur Familie, doch hier wollte ich ihn nicht haben. Das kam einer Schändung des gerade erst ausgehobenen Grabes gleich. Hatte sie nicht einmal nach dem Tod Ruhe vor diesem Bastard?
Hectors Frau hielt einen Regenschirm über ihn. Er blickte ausdruckslos auf den Pastor, wirkte dabei arrogant. Ich konnte seine Anwesenheit nicht länger ertragen. Ich musste weg.
Ohne Erklärung verließ ich noch vor dem Erdwurf den Friedhof, lief den schlammigen Weg zurück zum Parkplatz. Mutter hatte mich entgeistert angeblickt und den Mund geöffnet, als ich gesagt hatte, dass ich gehe. Jedoch ließ sie mich ohne Kommentar ziehen.
Unter einer riesigen Eiche stand er: der schwarze Ford Mustang. Gelbe Blätter klebten auf der Motorhaube. Eicheln zerbarsten unter meinen Stiefeln, als ich auf ihn zutrat. Getrieben von einem Zorn, den ich zum ersten Mal so intensiv spürte, trat ich gegen das Nummernschild. Es blieb hängen, hatte nicht einmal einen Kratzer abbekommen. Also ging ich um das Auto herum und zerschmetterte mit einem Tritt den Fahrerspiegel. Rasend trat ich weiter und weiter auf seinen einzigen Liebling ein.
Nachdem ich der ersten Woge der Wut Luft gemacht hatte, blieb ich schwer atmend auf die Motorhaube gestützt stehen. Ich sah zurück zum Friedhofstor. Er durfte es nicht mehr tun. Irgendjemand musste ihn daran hindern, Leute wie Abschaum zu behandeln und aus Egoismus zu verletzen. Nie wieder sollte er Gelegenheit dazu haben, seine Macht auszunutzen.
Ich stieg in das Auto meiner Mutter. Tränen verschleierten meine Sicht, während ich zu seiner Wohnung fuhr. Der Ersatzschlüssel lag immer noch unter der Fußmatte, weshalb ich unbemerkt das Haus betreten konnte.
Nach einer halben Stunde hörte ich sein Fluchen von draußen. Hector war offenbar noch nicht über den Makel an seinem geliebten Wagen hinweg. Als er den Schlüssel ins Schloss steckte und die unversperrte Tür öffnete, hielt er inne. Einige Sekunden vergingen, bis er weiterlief.
Ich saß in seinem Arbeitszimmer. Ich wusste, dass er zuerst hierherkommen würde. Natürlich musste er zuerst in diesen Raum. Hier, in der obersten Schublade seines Schreibtischs, lag seine Beretta.
Er drückte die Tür langsam auf und sog scharf die Luft ein, als er mich in seinem Ohrensessel entdeckte. Sein Blick wanderte an mir herab, zu seiner Waffe, die in meinem Schoß lag. Trotzdem verzog er keine Miene, behielt sein Pokerface. Wir starrten uns an, bis er das Schweigen brach.
»Danke für dein Markenzeichen. Ich habe es verstanden«, sagte er herablassend.
Mir fiel auf, dass er allein gekommen war. Seine Frau schien nicht in der Nähe zu sein. Sein Blick wäre sonst mindestens einmal zur Tür gewandert, in der Hoffnung auf Rettung. Doch er sah der Gefahr direkt ins Gesicht.
»Du hast sie sehr gemocht, nicht wahr ?«, fragte er leise.
»Sie war wie eine Mutter für mich. Das weißt du .«
»Du hast bereits eine Mutter. Hat sie ihren Dienst nicht erfüllt ?«
Egal, worum es ging, Hector hackte wieder und wieder auf ihr herum. Er wusste, dass es mich verletzte.
Mutter war alleinerziehend. Mein Vater hatte sie während der Schwangerschaft verlassen. Doch er trug nicht allein die Schuld daran, dass sie ganz auf sich allein gestellt war. Meine Großeltern hatten sie hinausgeworfen, als sie ihnen erzählt hatte, dass sie schwanger war. Wir wurden geradezu aus der Familie verstoßen.
»Sie ist eine gute Mutter. Aber das kannst du nicht beurteilen. Du warst ja nie da .«
»Und deshalb willst du mich nun bestrafen ?«
Abrupt erhob ich mich. Sein abschätziger Blick fiel auf die Beretta in meiner Hand.
»Nein. Hier geht es um etwas ganz anderes .«
»Worum? Um Anna?«
»Wag es nicht, ihren Namen auszusprechen !«, zischte ich.
Meine linke Hand ballte sich zur Faust, mein rechter Zeigefinger legte sich fester um den Abzug, doch ich hob die Waffe nicht hoch.
Hectors Miene versteinerte sich und seine Haltung wurde straffer. Ich hatte mein Ziel erreicht.
»Sie ist an Krebs gestorben, nicht durch meine Hand«, sagte er.
»Es geht auch nicht um ihren Tod. Rate weiter !«
Hector trat von einem Fuß auf den anderen. »Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst.«
»Ich gebe dir einen Tipp: Sie haben ein Bild aus Kindertagen für ihr Grab gewählt .«
Hector schüttelte verständnislos den Kopf.
»Wie hat sich das angefühlt? Hat es dich erregt ?«
Er spielte immer noch den Verwirrten. Nur ein leichtes Zucken des linken Augenlides verriet mir, dass er durchaus wusste, wovon ich sprach.
»Sie hat es dir erzählt ?«
»Alles, bis ins kleinste Detail. Als hätte sie nicht gewollt, dass dieses Geheimnis zusammen mit ihr stirbt .«
»Wer weiß noch davon ?«
Wie immer: Es ging ihm nur um sich.
»Seit Annas Tod zwei Personen. Du und ich.«
Ein überhebliches Grinsen huschte über sein Gesicht, doch er hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. Die geladene Waffe in meiner Hand erzielte ihre Wirkung. Sie verschaffte mir seinen Respekt.
»Und mit dem heutigen Tag wird es nur noch eine Person sein .«
Ich genoss den Moment, in dem sich sein Pokerface zu einer Grimasse verzerrte.
»Es war eine Dummheit von mir. Das stimmt. Aber du kannst nicht einfach …«
Seine Untertreibung traf mich hart. Ich zielte mit der Waffe auf seine Stirn.
»Du wirst es nicht glauben, aber das kann ich wohl .«
Hector hob seine Hände.
»Okay, du hast sie sehr geliebt«, sagte er und sah mich mitleidig an. »Aber sie war nur die Cousine deiner Mutter, eine entfernte Verwandte. Ich bin dein Großvater .«
»Das ist das erste Mal, dass dir das auffällt .«
»Blut ist dicker als Wasser. Wir sind eine Familie .«
»Blut ist dicker als Wasser ?«, schrie ich. »Dass ich nicht lache. Weißt du, was Blut ist? Blut ist das, was spritzt, wenn ich dir hiermit ins Gesicht schieße.«
Ich machte einen Satz vorwärts und drückte mit der Waffe sein Kinn nach oben. Er zuckte zusammen, seine Atmung beschleunigte sich. Sein Blick zum Schreibtisch blieb mir nicht verborgen.
»Sorry, schon in Gebrauch«, raunte ich und hielt ihm die Beretta unter die Nase.
Kalter Schweiß trat auf seine Stirn, als er erkannte, dass ich seine eigene Waffe auf ihn richtete. Er schloss die Augen und sah mich danach eiskalt an.
»Du wirst für deine Taten bezahlen«, flüsterte ich in sein Ohr.
Seine Pupillen weiteten sich. Mein Lächeln schmerzte mir in den Mundwinkeln. Ich rammte ihm mein Knie in den Magen und schlug mit der Beretta auf seine Schläfe. Er verlor das Bewusstsein und fiel zu Boden.
***
Geknebelt und an einen Küchenstuhl gefesselt kam er zu sich. Sofort begann er zu schreien, doch das Panzertape hinderte ihn daran. Als er mich entdeckte, verstummte er. Ich saß vor ihm auf dem Tisch und hatte sehnsüchtig auf sein Erwachen gewartet.
Ich spielte mit dem Feuerzeug in meiner Hand. Der Deckel klappte auf und zu, auf und zu. Das Geräusch schien Hector immer nervöser zu machen. Seine Mimik stellte eine unausgesprochene Frage, die ich ihm beantworten wollte.
»Weißt du, sie sagte, dass es sich wie ein brennender Schmerz anfühlte, wenn sie daran dachte. Wie eine Flamme, die sich durch ihren Körper frisst und alle Sinne betäubt. Es musste grausam für sie gewesen sein, jedes Mal daran zu denken, wenn sie dich sah .«
Mit einer schnellen Bewegung meines Daumens entzündete ich das Feuer. Hector sah wie hypnotisiert auf die kleine Flamme.
»Ich habe mir mal deine Geldbörse genauer angesehen. Ich finde, an den Bildern, die man bei sich trägt, zeigt sich, was man für ein Mensch ist. Die einzigen Bilder, die ich bei dir gefunden habe, sind deine Passfotos. Was sagt das über dich aus ?«
Ich klappte mein Portemonnaie auf und holte drei Fotos heraus.
»Hier sind meine Bilder. Das erste«, ich hielt es ihm vor seine Augen, »ist eines von meiner Mutter. Der Junge auf der Schaukel, das bin ich.
Das zweite zeigt meinen besten Freund Ben. Er geht auf meine Schule. Oh, und sieh nur an, wer auf dem letzten Foto ist!«
Ich hielt das Bild ebenfalls hoch.
Er verzog das Gesicht und wandte den Blick ab.
»Es ist das gleiche Bild, das sie für den Grabstein gewählt haben. Ich hab es aus dem Fotoalbum meiner Mutter. Komisches Gefühl, sie so jung zu sehen. Findest du nicht auch ?«
Ich hatte immer ein mulmiges Gefühl in der Magengegend, wenn ich mir das Foto von Anna ansah. Sie mochte vierzehn auf diese Aufnahme gewesen sein. Zu diesem Zeitpunkt war ich noch nicht einmal geboren. Das hier waren nicht meine Erinnerungen. Es waren die meiner Mutter. Ich hatte sie mir nur ausgeliehen. Als Mahnmal für seine Tat, als Erinnerung an ihre geschundene Kindheit.
»Sie lächelt so wunderbar. Als hätte sie nie etwas Schlimmes erlebt. Mit diesen Augen und den langen Haaren war sie sicher beliebt bei den Jungs in ihrer Klasse .«
Ich wollte, dass sie ihm in Erinnerung blieb, wie sie war, als er über sie herfiel.
Er hielt die Lider geschlossen, während ich redete und den Benzinkanister neben mir hochhob. Der erste Schwall traf auf seine Brust. Er riss die Augen auf und starrte mich an. Der scharfe Geruch des Benzins stieg mir in die Nase.
Ich grinste in sein entsetztes Gesicht und leerte den Kanister über seinem Kopf. Er begann, soweit es ihm möglich war, zu strampeln, mit dem Stuhl auf und ab zu hüpfen. Mit meinem Stiefel in seinem Schritt hielt ich ihn ruhig.
Ein wimmerndes Geräusch durchdrang das Panzertape auf seinen Lippen, als sich mein Hacken in seine Weichteile bohrte. Er sah mich flehend an. Mit der Linken griff ich seinen durchnässten Hemdkragen und zog ihn mit einem Ruck nach vorn.
»Ich tue das, was Anna hätte tun sollen .«
Ich zog das Feuerzeug wieder aus meiner Hosentasche und ließ es aufflammen. Seinen Blick werde ich niemals vergessen; diesen fassungslosen Blick. Und das Panzertape, das sich zum Zerbersten spannte, als er vor Schmerzen schrie.
Wer hätte das gedacht? Auch Vati schien einmal Glück im Leben zu haben. Sein regelmäßiges Glücksspiel hatte ihm diese Woche einen Dreier im Lotto beschert. Und anstatt das Geld mit seinen Kumpels zu versaufen, hatte er es mir zum Shoppen gegeben.
Im größten Kaufhaus von Neustadt führte mein erster Gang mich wie gewohnt zu den Sonderangeboten. Ich suchte nichts Ausgefallenes, nur einen neuen Sport-BH und eine schwarze Hose. Die alte war kaputt und ich persönlich stand nicht auf zerrissene Jeans wie so manche meiner Mitschüler.
Gezielt durchwühlte ich den Haufen nach der kleinsten Körbchengröße. Ich bevorzugte dunkle Farben. Vati nannte mich manchmal Emo, aber mit diesen Typen identifizierte ich mich auf keinen Fall. Mein Haar und meine Klamotten waren zwar stets dunkel, aber meine Seele war es nicht. So waren meine Haare naturgemäß schwarz und kurz.
Hinter mir hörte ich Gelächter, dann Getuschel. Meine Ohren waren sensibilisiert auf solche Klänge. Auf dem Schulhof war das alltägliche Geräuschkulisse.
Ich sah zur Seite.
Felicitas samt Clique hielt auf mich zu. Keine Chance mehr, in Deckung zu gehen. Meine Augen schmerzten schon vom Anblick ihrer grellen Outfits.
Felicitas war sehr dünn. Um das noch zu betonen, trug sie eine enge Hose, die ihr bis zum Bauchnabel ging; darüber ein kurzes Top und eine Jeansjacke. Draußen waren keine zwanzig Grad mehr, doch ihrem Style schien das Wetter nichts anzuhaben.
Kaum zu glauben, dass die behauptete, sie würde ständig von irgendwem flachgelegt. Der tat sich doch weh bei den spitzen Knochen. Aber sie übertrieb sowieso hundertpro; so wie sich auch sonst die Balken bogen, wenn sie nur den Mund aufmachte – nicht nur wegen der Schallüberlastung.
Tuschelnd kamen die drei Mädchen näher.
»Für mehr reicht das Geld diesen Monat wohl nicht mehr, was ?«, sagte Felicitas. »Guck doch mal in der Altkleidersammlung! Da findet sich schon noch was Passendes für dich.«
Ich drehte mich um.
»Da war ich vorhin. Aber es gab leider nur Klamotten in Kindergröße. Eher was für dich.«
Felicitas verzog das Gesicht. Der hatte besser gesessen als erwartet. Doch viel zu schnell fing sie sich und grinste überheblich, nachdem sie bei ihren Mitstreiterinnen anspornendes Nicken geerntet hatte.
»An deiner Stelle wäre ich lieber nicht so vorlaut, Julia. Wer steht denn vorm Wühltisch ?«
Mit einer Hand griff sie in den Haufen und ließ den erhobenen BH-Knoten mit einem angeekelten Gesichtsausdruck wieder fallen.
»Du«, sagte ich und drehte ihr den Rücken zu.
Mit schnellen Schritten ging ich zu den Toiletten. Ich musste irgendwohin, wohin mir niemand folgen konnte. Klos waren so herrlich einsam. Als ich den Raum betrat, streifte mein Blick eine rothaarige Frau, die am Waschbecken stand.
Schnurstracks ging ich in die erste Kabine. Ich brauchte einen Moment für mich. Felicitas und ihre Freundinnen waren sicher schon abgezogen und hatten sich einen neuen Laden gesucht, wo sie ihr Gift verspritzen konnten.
Wenige Minuten saß ich auf dem geschlossenen Klodeckel, spülte dann aus Gewohnheit und ging zum Waschbecken. Die Frau stand noch immer davor, doch etwas hatte sich geändert. Der Blick in den Spiegel offenbarte: Die Person neben mir war keine Frau.
Irritiert wandte ich mich der Gestalt mit den kräftigen Gesichtszügen direkt zu. Neben mir stand ein Mann. Ein Mann in Frauenkleidung.
Er sah konzentriert in den Spiegel und wischte sich den letzten Rest Schminke aus dem Gesicht. Wahrscheinlich war er zehn Jahre älter als ich.
Auf dem Waschbecken lagen die rothaarige Perücke und Schmuck. Ein herbes Männerdeo stieg mir in die Nase. Er stand in einem grünen Kleid vor mir; die schwarze Strumpfhose hatte er bereits ausgezogen, sodass ich einen wunderbaren Blick auf seine behaarten Beine hatte. Nachdem er sich die Hände gewaschen und sich damit durchs dunkelbraune Haar gefahren war, sah er mich an.
Ich hatte meine Hände so lange unter den laufenden Wasserhahn gehalten, dass sie nun froren. Der Mann lächelte mich an und hob die Augenbrauen. Schnell riss ich meinen Blick von ihm los und ging hinüber zum Handtuchspender. Mit dem Rücken zu ihm hörte ich, wie er den Reißverschluss des Kleides öffnete.
Ich konnte nicht anders, drehte meinen Kopf leicht und schielte zu ihm herüber. Er trug nur noch Boxershorts und legte die dunkelgrünen High Heels zu dem Kleid in eine braune Tasche. Auf diesen hohen Absätzen war er gelaufen? Er bemerkte meinen Blick und grinste mich süffisant an.
»Muss das sein ?«, fragte ich, während er sich eine schwarze Jeans anzog. »Das ist eine Damentoilette, falls es dir entgangen sein sollte.«
»Bis eben war ich noch eine .« Er griff sich ein weißes Hemd von der Armatur. »Ich verkleide mich nun einmal wahnsinnig gern.
»Auf Damentoiletten ?«, fragte ich. »Fetisch oder Masche?«
»Sag du mir, ob ich Erfolg habe !«
Es lag etwas Herausforderndes in seinem Blick. Oder interpretierte ich das nur hinein, weil ich Provokationen gewohnt war? Ein Zischen entwich meinem Mund und ich schüttelte den Kopf. Was für ein Idiot.
Im nächsten Augenblick war er schon an mir vorbei und zur Tür hinaus.
»Hey !«, rief ich. »Du hast deine Tasche vergessen!«
Ich drückte die Tür auf und zuckte zusammen, weil er direkt vor mir stand. Seine blauen Augen waren leicht geweitet. Mit einem Arm lehnte er sich neben mich an die Wand und sah zu mir hinab. Schritte ertönten am anderen Ende des Ganges.
Ich sah an seiner Schulter vorbei zwei in Schwarz gekleidete Männer, die kurz in unsere Richtung sahen, dann aber weiterliefen.
»Hast du was geklaut ?«
»Noch nicht«, behauptete er schmunzelnd.
Ich schnaubte leise.
»Und wenn, hättest du deine Beute auf dem Klo vergessen .«
Er zog sein Hemd glatt und machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Kannst du behalten .«
»Bitte? So einen Plunder zieh ich nicht an .«
»Würde dir aber sicher stehen«, sagte er.
»Tut mir leid. Nicht mein Stil.«
»Natürlich«, erwiderte er spöttisch und musterte mich von oben bis unten.
Bevor ich etwas erwidern konnte, lächelte er mich demütig an.
»Entschuldige! Aber du darfst die Sachen wirklich behalten .«
Ich versuchte mir meine Verwirrung nicht anmerken zu lassen.
»Ich werde dieses Geschenk, wenn man es so nennen darf, aber nicht annehmen. Wer weiß, was ich damit für ein Verbrechen vertusche? Vielleicht entsorge ich ja deine blutverschmierten Klamotten und die Tatwaffe ?«
»Keine Sorge! Meine Waffen trage ich immer bei mir«, sagte er grinsend und hob die Hand.
»Man sieht sich !«
Er verschwand am Ende des Ganges und ließ mich irritiert zurück. War das gerade wirklich passiert?
Schweigend aßen Carina und ich unsere Pausenbrote. Die zweite Unterrichtsstunde war vorüber. Carina wollte gerade in ihr dick belegtes Sandwich beißen, als sie meinen gierigen Blick bemerkte. Ich hielt wie so oft ein trockenes Salamibrot in der Hand. Beim Schmieren heute Morgen war mir die weiße Stelle am Rand nicht aufgefallen. Stöhnend ging ich zum Papierkorb und entsorgte es.
Ohne Kommentar kramte Carina in ihrem Rucksack und holte ein zweites Sandwich hervor, das sie mir reichte. Dankbar nahm ich es entgegen und biss genüsslich hinein. Meine Freundin verstand es, aus Salat, Schinken und Remoulade ein Meisterwerk zu erschaffen.
Carina trug einen kurzen, orangefarbenen Mantel und einen Schal, von dem sie steif und fest behauptete, er sei lavendelfarben. Kein Vergleich zu ihren Outfits vor wenigen Jahren.
Damals waren Felicitas und sie unzertrennlich gewesen, best friends forever. Nicht nur ihre blonden Haare, auch ihre blau-grauen Augen konnten zu der Annahme führen, dass beide Zwillinge waren.
Doch vor drei Jahren hatte sich für Carina alles geändert. Ihre Mutter war wegen einer vermeintlichen Erkältung zum Arzt gegangen, der ihr Lungenkrebs im Endstadium diagnostizierte. Von da an ging es sehr schnell.
Felicitas konnte nicht damit umgehen, dass ihre beste Freundin um ihre Mutter trauerte. Sie war nicht imstande nachzuvollziehen, warum Carina nicht mehr feiern gehen wollte und lieber daheimblieb. In dieser Zeit entfremdete sich Felicitas von ihr und ließ sie mit der Einsamkeit und dem Schmerz allein.
»Sind die neu ?«, fragte ich und zeigte auf Carinas braune Stiefel.
»Ja, hat mir Papa geschenkt .«
»Find ich toll«, sagte Alex hinter uns.
Carina quiekte auf, während unser Freund seine Tasche neben uns fallen ließ. Es sah aus, als würden sich Licht und Schatten gegenüberstehen. Alex trug einen weiten schwarzen Mantel und schwarze Stiefel. Seine kurzen, roten Haare hoben sich davon so sehr ab, sie strahlten förmlich in der Herbstsonne.
»Schön, dass du dich auch her traust. Du hast Geschichte und Physik verpasst«, sagte Carina vorwurfsvoll.
»Ich musste sicherstellen, dass es hell ist, bevor ich das Haus verlasse«, sagte Alex und sah uns mit seinen rehbraunen Augen unschuldig an.
»Warum? Weil Werwölfe unterwegs sind ?«, fragte Carina und legte ihren Zeigefinger ans Kinn. »Ist eigentlich Vollmond?«
»Nein, Vampire«, antwortete Alex schnippisch.
»Gut, dass auf meinen Sandwiches Knoblauch ist.«
Ich hörte auf zu kauen und sah Carina entgeistert an. »Fuck, jetzt stinke ich den ganzen Tag danach«, sagte ich mit vollem Mund.
Alex kicherte und ließ sich neben seinem Rucksack im Schneidersitz nieder, um sein Notizheft daraufzulegen. Er öffnete es und schob seine Brille hoch
»Was schreibst du ?«, fragte Carina.
»Hab auf der Tour hierher gesehen, dass in einem Monat ein Poetry Slam im Goethe-Saal stattfindet.«
»Willst du teilnehmen? «
»Weiß noch nicht. Vielleicht schau ich lieber nur zu .«
»Nimm doch teil !«, sagte Carina. »Irgendwann musst du auch mal was veröffentlichen. Wir sind die Einzigen, die deine Werke lesen, dabei sind die wirklich super.«
»Meinst du wirklich super? Oder nur super?«
»Übermegasuper«, antwortete sie. »Wir kommen auch mit, wenn du nicht wie immer verschläfst .«
»Der Poetry Slam ist erst abends«, sagte Alex und schloss sein Heft.
Schon seit ich ihn kannte, redete Alex davon, nach seinem Schulabschluss Schriftsteller zu werden. Wenn er zum Unterricht erschien, schrieb er ununterbrochen Gedichte in sein Notizheft statt die Formeln von der Tafel. Bisher hatten aber nur Carina und ich jemals seine Werke gelesen. Es wurde Zeit, dass er seine Gedanken mit der Welt teilte.
Carina sah ihn forschend an. »Was ist eigentlich heute deine Ausrede?«
Das Klingelzeichen ertönte und Alex erhob sich vom Boden.
»Ach, ich hab bis spät in die Nacht gelesen und dann den Bus verpasst .«
Auf dem Weg zur Sporthalle gab Carina Alex die Aufzeichnungen der ersten beiden Stunden. Nachdem wir uns umgekleidet hatten, verkündete unsere Sportlehrerin, dass aufgrund ihres kranken Kollegen heute Jungs und Mädchen gemeinsam Unterricht hatten. Wir sollten uns aufteilen und an Stationen Geräteturnen und Fitnessübungen absolvieren.
Für Carina und mich standen zuerst Kraftübungen auf dem Plan. Während ich einen Situp nach dem anderen vollführte, kämpfte meine Freundin mit den ersten fünf Zügen.
An der Station fürs Bockspringen hielten sich die Mädchen heute länger auf als üblich. Eine grundlegende Variable hatte sich geändert: Hinter dem Bock stand nicht wie üblich unser Sportlehrer sondern Liam Pilgrim. Seiner Familie gehörten nahezu alle Diskotheken und Spielhallen im Umkreis.
Mir war so etwas eigentlich egal, aber seit ich in Mathe vor Felicitas saß, bekam ich solche Informationen unfreiwillig mit. Beim nächsten Situp sah ich sie über den Bock und direkt in Liams Arme fliegen. Sie war nicht die Einzige, die heute ihre Angst überwand und nicht auf dem Sprungbrett stehenblieb.
Eine Gruppe Mädchen aus der Parallelklasse starrte Liam unverhohlen an statt Seil zu springen. Er war Anfang des Schuljahrs an unser Gymnasium gewechselt.
Seine Familie gehörte mit der Familie des Bürgermeisters zu den wohlhabendsten der Stadt. Es grenzte an ein Wunder, dass beide Unternehmen noch nicht fusioniert waren und ein Super-Imperium gegründet hatten wie Tony Stark aus Iron Man.
Liam schlug Felicitas auf den Hintern und zog sie anschließend in eine Umarmung. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, als er ihr einen feuchten Kuss gab. Angewidert verzog ich den Mund und sah Alex an, der an einer anderen Station stand, sich den Zeigefinger in den Mund hielt und würgte. Ich kicherte.
»Er ist so heiß«, schwärmte Carina und keuchte vor Anstrengung. »Dass der sich mit Felicitas einlässt …«
»Wieso? Passt doch .«
Ich beendete meinen letzten Situp und kniete mich neben Carina, um sie anzufeuern. Als Nächstes waren wir mit Bockspringen dran. Offensichtlich hatte unsere Sportlehrerin Liam gebeten, weiter auszuhelfen, denn er blieb trotz Wechsels am Bock stehen.
Carina bat mich, den ersten Sprung zu machen, aber ich lehnte ab. Ich hatte kein Interesse daran, von diesem Schnösel begrabscht zu werden.
Liam strich sich wie beiläufig eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht, bevor er Carina über den Bock half. Danach fuhr er sich mit dem Schweißband über die Stirn. Ein Seufzen ging durch die Mädchengruppe hinter mir.
Als ich dran war, suchte ich Liams Blick, um ihm zu verdeutlichen, dass ich keine Hilfe brauchen würde. Liam hatte sich jedoch abgewandt und quatschte mit einem Freund.
Ohne zu warten, lief ich los. Als meine Hände den Bock berührten, wurde sich der Neue seiner Aufgabe wieder bewusst und griff nach meiner Taille. Noch im Flug wich ich ihm aus und verlor das Gleichgewicht. Ich drehte mich in der Luft und landete rücklings auf dem Boden.
Schockiert riss Liam die Augen auf und sagte: »Sorry.«
»Ich brauch keine Hilfe, okay ?«, sagte ich wütend und schlug seine Hand weg, die er mir reichte.
Er hielt ergeben die Hände in die Höhe und sah seine Freunde mit erhobenen Augenbrauen an.
»Die ist immer so«, kommentierte ein Klassenkamerad.
Ohne weitere Worte stand ich auf und ging zurück in die Reihe. Ich bemerkte, dass mich alle in der Halle anstarrten. Von Felicitasʼ Gruppe her drang Kichern an mein Ohr.
Carina sah mich besorgt an und fragte, was gewesen sei.
»Nichts«, antwortete ich.
Bei meinem zweiten Anlauf entfernte sich Liam demonstrativ zwei Schritte vom Bock. Ich vollführte einen sauberen Sprung und erntete ein anerkennendes Nicken von ihm.
***
Nach den Sommerferien hatten Vati und ich ausgemacht, jeden Freitag einen Actionfilm anzusehen. Er hatte neuerdings das Bedürfnis, mehr Zeit mit mir zu verbringen, als ausschließlich bis nachts in seiner Stammkneipe zu hocken und sturzbetrunken nach Hause zu kommen. Ich tat ihm den Gefallen, denn immerhin war ich die Ferien über fast permanent bei Alex oder Carina gewesen.
Also machte ich mich erst Samstagvormittag auf den Weg zu Alex. Ich hatte ihm schon in der Schule von dem Fremden erzählt, der mir auf der Damentoilette begegnet war. Heute wollte ich Alex die Tasche zeigen.
»Im Ernst ?«, fragte Alex amüsiert, nachdem ich ihm noch einmal die Szene geschildert hatte.
»Wenn ichʼ s doch sage. Da stand ein halbnackter Kerl vor mir. Auf dem Damenklo.«
»Krasse Scheiße.« Mein Freund griff nach dem Reißverschluss, hielt jedoch inne. »Und du bist dir sicher, dass da kein abgetrennter Kopf drin liegt? «
»Spinnst du? Ich hab die Tasche gecheckt, bevor ich sie mitgenommen habe. Was denkst du von mir ?«
Der Gedanke war mir gekommen, als ich auf das Damenklo zurückgekehrt war, um die Tasche zu holen. Ich kannte die Tricks von Leuten, die fremde Menschen als Kuriere für gestohlene Waren oder Drogen nutzten. Nichts anderes hatte ich früher gemacht, wenn das Taschengeld knapp wurde. Man jubelte das Diebesgut einem Unwissenden unter und wenn derjenige unbeschadet an der Kasse vorbeikommt, klaut man es ihm wieder.
»Also kein Blut, keine Waffen. Nichts, woran ich mich verletzen kann«, zitierte Alex seinen Vater.
Herr Hartmann war Kriminalpolizist. Heute war er arbeiten, nur deshalb trafen wir uns bei Alex Zuhause. Sein Vater meinte, ich sei ein schlechter Umgang, seit wir beide einmal beim Stehlen von Kaugummis erwischt wurden. Vati mochte grundsätzlich keine Jungs in meiner Umgebung. Für gewöhnlich trafen wir uns bei Carina – auf neutralem Boden. Doch die packte gerade ihre Sachen für die bevorstehende Kur.
»Wenn du von den Haarklammern absiehst«, sagte ich und boxte ihm aufmunternd gegen die Schulter.
Langsam öffnete er die Tasche, zog das Kleid heraus und untersuchte es.
»Der hat extra Einlagen einnähen lassen .«
»Oder selbst eingenäht«, gab ich zu bedenken.
»Hier. Die darfst du anprobieren«, sagte er und hob die grünen High Heels in die Höhe.
»Leck mich !«, konterte ich, riss ihm die Schuhe aus der Hand und schmiss sie auf sein Kopfkissen.
Alex schmunzelte.
Die rote Perücke weckte mein Interesse. Es war kein grelles Rot, eher ein natürliches Herbstrot. Ich bewunderte die Frauen, die solche Haarfarben hatten. Meine schnöden, schwarzen Haare waren langweilig. Aber Vati hätte mir garantiert den Hals umgedreht, wenn ich mir die Haare gefärbt hätte.
»Was willst du mit den Sachen anfangen ?«, fragte Alex.
»Keine Ahnung. Die Perücke ist schick, aber der Rest ?«
»Cari wird das auch nicht tragen .«
»Wir sollten ihr ohnehin nichts davon erzählen«, stellte ich fest. »Sie macht sich nur unnötig Sorgen. Und behalten werde ich das Zeug auch nicht .«
»Warum hast du die Tasche dann überhaupt mitgenommen ?«
Ich zögerte, wusste selbst keine Antwort. War es reine Neugierde oder wollte ich ein Andenken an diese seltsame Begegnung haben?
»Keine Ahnung. Vati hab ich davon wenigstens nichts erzählt .«
»Besser so«, sagte Alex. »Weißt du noch, wie er reagiert hat, als er erfahren hat, dass du dich mit Jungs geprügelt hast ?«
»Er hat mir gezeigt, wie man sich aus einem Schwitzkasten befreit und wo ein Tritt wirklich wehtut .«
»Ja. Und er wollte sie eigenhändig krankenhausreif prügeln .«
Ich lächelte. Ja, das hatte Vati wirklich in einem seiner Rauschzustände gesagt. Ob er es auch gemacht hätte? Vielleicht früher einmal. Mittlerweile war er zahm geworden.
»Findest du eigentlich, dass mir das steht ?«, fragte Alex unvermittelt.
Er hielt das grüne Kleid vor sich und schwang es hin und her, als würde es im Wind wehen. Ich lachte. Er konnte Themen wechseln wie Kleidungsstücke.
»Aber sicher. Obwohl ich finde, dass der mysteriöse Unbekannte damit attraktiver aussah .«
»Hast du mich gerade fett genannt ?«
»Nein«, sagte ich. »Hässlich, mein Lieber. Hässlich.«
Empört sah Alex mich an. Sein offenstehender Mund verzog sich bald zu einem Grinsen und er stürzte sich auf mich.
»Du …«
Ich krachte rücklings aufs Bett, verfehlte mit dem Kopf nur knapp die High Heels und wehrte mich gegen Alex, der seine Finger in meine Seiten stach. Lachend rollten wir uns hin und her, bis wir nebeneinander auf dem Bett liegenblieben und atemlos zur Decke starrten.
»Der Kerl ist doch schwul, oder ?«, fragte Alex.
»Wir werden es nie erfahren .«
»Schade eigentlich .«
Er richtete sich auf und strich sein Haar zurecht, aber es hatte keinen Effekt. Sein Haar stand immer zu allen Seiten ab. Carina und ich nannten ihn nicht zu Unrecht Pumuckl.
Alex stopfte die Sachen zurück in die Tasche und warf sie auf den Boden. Durch die Zimmertür duftete es verführerisch nach Pfannkuchen. Hoffentlich ging Frau Hartmann nicht davon aus, dass wir hier aßen. Wir hatten geplant, mit Carina gemeinsam Mittag zu essen und sie anschließend zum Bahnhof zu bringen.
Da sich ihr Asthma nach dem Tod ihrer Mutter verstärkt hatte, fuhr sie über die Herbstferien zur Kur. Die Ärzte sagten, dass es am Stress lag und sie nach den zwei Wochen Auszeit besser damit umgehen würde.
Als wir uns im Flur die Schuhe anzogen, kam sein Vater herein. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, zog Alex seine Schuhe an und ging zur Tür .
»Alex?«
Kurz hielt mein Freund inne. Er zog die Schultern zurück und starrte ins Nichts.
»Wo willst du hin ?«, fragte sein Vater eindringlich.
»Raus.«
»Ich denke nicht .«
Alex blieb auf der Türschwelle stehen und ballte die Faust, ohne sich umzudrehen.
»Und warum nicht?«, fragte er zwischen zusammengebissenen Zähnen.
»Du hast Hausarrest .«
»Seit wann ?«, fragte Alex überraschend laut und drehte sich abrupt um.
Ich begab mich aus der Schusslinie und lehnte mich gegen die Wand.
»Weil deine Noten unter aller Würde sind. Und seit ich erfahren habe, dass du dich lieber mit deinen Freunden triffst als zur Nachhilfe zu gehen, die wir extra für dich organisiert haben.«
»Und das ändert sich, indem ich zu Hause bleibe ?«
»Ja«, antwortete sein Vater. »Wir werden ein ernstes Wörtchen miteinander reden müssen, bevor der Unterricht weitergeht .«
Sein Vater hatte im Grunde recht. Alexʼ Noten waren im letzten Jahr nicht nur wegen der vielen Fehlstunden abgerutscht. Wenn Carina oder ich ihn darauf ansprachen, antwortete er nur, dass man als Autor nicht unbedingt einen Abschluss bräuchte, ein Abitur schon gar nicht.
Ich gab mich im Gegensatz zu Carina damit zufrieden. Schließlich wollte ich auch nur meinen erweiterten Realschulabschluss schaffen und dann arbeiten gehen.
Die beiden stierten sich grimmig an, als Frau Hartmann in der Küchentür erschien. In ihrem Gesicht spiegelte sich weniger die Frage, warum die beiden stritten, sondern warum die beiden das ausgerechnet vor einem Gast ausdiskutieren mussten.
»Sag deiner Freundin auf Wiedersehen !«, sagte sie resigniert.
Fassungslos sahen Alex und ich zuerst seine Mutter, dann einander an. Ich schlug ihm kräftig auf die Schulter und lächelte ihn an. Er sah gequält drein.
»Grüß Cari !«, sagte er zum Abschied.
»Und du bring morgen die Tasche mit !«
»Wir werden sehen .«
Alex rollte mit Blick zu seinem Vater mit den Augen. Ich nickte seinen Eltern aus Höflichkeit zu und ließ die Tür hinter mir ins Schloss fallen. Direkt ging das Gezeter weiter. Und ich hatte gedacht, nur mein Vati und ich würden uns so laut streiten.
Mitten in der Nacht wachte ich auf. Mein Körper hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass ich Herbstferien hatte. Mit geschlossenen Augen setzte ich mich auf. Ich fühlte einen unangenehmen Druck im Kopf. Licht würde es nur schlimmer machen, also bewegte ich mich im Dunkeln durchs Zimmer.
Ich tastete mich an meinem Schreibtisch vorbei und stieß mit meiner Hüfte einen Stapel Papier auf den Boden. Was hier herunterfiel, blieb für gewöhnlich so lange liegen, bis es wieder gebraucht wurde. Andere würden sagen, dieses Zimmer sei im Chaos versunken; ich sagte, ich beherrsche das Chaos. Auch meine Möbel waren bunt zusammengewürfelt. Der Schreibtisch war vom Trödelmarkt, das kleine Bett vom An- und Verkauf um die Ecke, die dunklen Regale, der alte Küchenstuhl und mein Kleiderschrank aus Kindertagen.
Nichts wollte recht zusammenpassen, aber das war typisch für mich. Ich wollte auch nicht zu meinem Umfeld passen. Schon allein, weil ich nicht auf EDM stand. Mir gefiel Punkrock. Unmengen von Postern zierten meine Wände. Sum41 war meine absolute Lieblingsband. Schon Vati hatte sie gehört, genauso wie Die Ärzte und The Offspring.
Nach meinem sechzehnten Geburtstag hatte ich in den Sommerferien in einem kleinen Café gekellnert, um mir die neueste CD von Sum41 in der Extended Edition zu kaufen. Der Rest war für T-Shirts und Hoodies draufgegangen.
Auf Zehenspitzen durchquerte ich Flur und Wohnzimmer. Vati saß noch immer auf dem Sofa, den Kopf zur Seite geneigt. Wahrscheinlich döste er nur.
Beim Betreten der Küche offenbarte sich mir das gewohnte Bild. Die Reste unseres Abendbrots lagen noch auf dem Tisch. Natürlich hatte Vati es nicht mehr angerührt, nachdem er sich vom Stuhl erhoben hatte. Zuerst schloss ich die Küchentür langsam, dann betätigte ich den Lichtschalter. Ich nahm die beiden Teller, schüttete die Reste in den Müll und stapelte sie auf das dreckige Geschirr in der Spüle.
Getreu unserem Motto »Wen’s stört, der macht’s« führten wir unseren Haushalt und unsere Hemmschwelle war mit der Zeit gestiegen. Es konnte vorkommen, dass der Abwasch gut und gerne zwei Wochen auf sich warten ließ. Fertiggerichte waren eben nicht nur vor dem Verzehr einfach zu handhaben.
Mein Mathetest, auf dem eine Kaffeetasse stand, hatte endlich Beachtung gefunden. Mein Vater hatte einen willkürlichen Kringel neben die rote Fünf gekritzelt.
Im Gegensatz zu anderen Eltern machte mir Vati keinen Stress. Dennoch musste ich mir seit Beginn des zehnten Schuljahrs immer öfter die Frage anhören: »Was willst du nach deinem Abitur machen?«
Hallo? Falsche Frage! Die Frage lautet: »Kommst du bis zu den Abschlussprüfungen?« Das stand noch offen, zumal ich mir nicht einmal sicher war, ob das Abitur für mich überhaupt relevant sein würde. Immerhin wollte ich nicht studieren. Ich war in einigen Fächern gut, aber in anderen wiederum so schlecht, dass ich keinen Überblick mehr über die Bilanz hatte. Wo würde ich am Ende landen? Beim Arbeitsamt, wieder in der Schule oder gar im Berufsleben?
Ich öffnete den Schrank, in dem das Aspirin lag. Die Packung lag gut erreichbar neben den Gewürzen und Vatis Whiskeyflasche. Er löste seine Probleme mit Alkohol, mir reichte eine winzige, weiße Tablette – platzsparender und wesentlich preiswerter. So hatte jeder sein Mittelchen gefunden.
Bis die Tablette wirkte, setzte ich mich an den Küchentisch, um das Altpapier zu sortieren. Ein Haufen uralter Zeitungen stapelte sich auf der Sitzbank. Darunter war neben den Sonntagszeitungen auch ein Boulevardblatt, das Vati sicherlich aus seiner Stammkneipe mitgebracht hatte.
Auf der Titelseite prangte die Headline:
Bestialischer Mord an Bürgermeister.
Ist der Siebenschläfer wieder erwacht?
Nach dem grausamen Mord am Bürgermeister von Neustadt gehen die Ermittlungen weiter.
Bruce McMillan (54) wurde am 15. August tot aufgefunden. Seine Sekretärin hatte seine bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Leiche im Büro entdeckt und die Polizei alarmiert.
Der Fall erinnert an die Ermordung seines Vorgängers Hector McMillan vor 28 Jahren. Sein Tod bildete den Auftakt einer brutalen Mordserie, der auch die Abiturientin Yvonne J. und das Ehepaar Neumann zum Opfer fielen.
Da zwischen dem ersten und zweiten Mord exakt sieben Monate vergingen, wurde der Serienmörder bundesweit als Siebenschläfer bekannt. Seine Reihe endete im September vor 27 Jahren. Sascha R. wurde für den Doppelmord an Familie Neumann verurteilt. Die Morde an Hector McMillan sowie an Yvonne J. konnten ihm bis zu seinem Tod vor zwölf Jahren nicht nachgewiesen werden.
Ist ein Trittbrettfahrer am Werk? Oder ist womöglich der wahre Siebenschläfer aus seinem jahrzehntelangen Winterschlaf erwacht?
Die Nachricht über den Tod war auch an mir nicht vorbeigegangen. Bei den bevorstehenden Neuwahlen Ende Oktober würde ich zum ersten Mal mitwählen dürfen. Die Entscheidung würde zwischen Theodor McMillan und Vincent Pilgrim fallen. Den dritten Kandidaten konnte man geflissentlich ignorieren. Soweit ich wusste, waren bisher sowieso nur McMillans ins Amt gewählt worden.
Im Geschichtsunterricht hatte Carina einmal über die zwei Familien referiert. Sie waren in Zuge der Industriellen Revolution nach Deutschland gelangt. Die McMillans waren aus Schottland eingewandert, die Pilgrims aus Irland. In unserer Hafenstadt hatten sie ihre Imperien aufgebaut und waren bis heute allgegenwärtig.
Langsam erwachte mein Bewusstsein und ich kehrte in mein Zimmer zurück. Unter meinem Bett lag die Tasche des Unbekannten, als warte sie darauf, abgeholt zu werden. Als ob dieser Typ wüsste, wo ich wohnte.
Ich setzte mich aufs Bett und holte sie hervor. Neugierig zog ich das Kleid aus der Tasche und wog es abwägend in der Hand. Ich stellte mich vor meinen Spiegel und hielt es vor mich.
Da ertönte ein lautes Geräusch. Ich fuhr zusammen. Es war aus Richtung des Fensters gekommen. Ein zweites Mal donnerte es. Etwas Hartes traf die Scheibe.
Vorsichtig ging ich zum Schreibtisch, um hinauszusehen. Unter der Straßenlaterne stand jemand. Es war der Mann aus dem Kaufhaus. Er winkte mir zu.
Schnell wich ich vom Schreibtisch zurück und hockte mich auf den Boden. Woher wusste dieser Kerl, wo ich wohnte? War er tatsächlich gekommen, um die Tasche abzuholen? Waren die Sachen darin so wertvoll für ihn?
Ich überlegte, ob ich es wagen sollte hinunterzugehen und schob meine Bedenken beiseite. Stattdessen stopfte ich das Kleid zurück in die Tasche, zog mir meinen Pullover über und schlich in den Flur. Doch Vati hatte sein Nickerchen bereits beendet.
»Prinzessin? Wo willst du denn hin ?«, kam es aus dem Wohnzimmer.
Ich hasste meinen Kosenamen. Nicht einmal im Kindergarten hatte ich mit den Barbies im Märchenschloss gespielt. Ich war vielmehr eine Räubertochter statt einer Prinzessin. Doch für Vati würde ich immer das kleine, süße Mädchen bleiben.
Mit genervtem Tonfall antwortete ich: »Mann, Vati. Der Müll hier stapelt sich echt ins Unermessliche. Voll berstig. Ich bring mal ein bisschen was runter, sonst erstickst du noch an den Gasen.«
Es kam nur ein Schnauben. Um die Täuschung aufrechtzuerhalten, ging ich an ihm vorbei in die Küche und packte schnell ein paar Müllbeutel zusammen. Dann zog ich mir meine roten Chucks an und verließ mit der Tasche die Wohnung.
Als ich schließlich auf der Straße stand, war der Typ nicht mehr da. Ich sah mich um, entdeckte jedoch keine Spur von ihm. So ging ich hinter das Haus, um den Müll in die Tonnen zu schmeißen.
Warum hatte der Kerl mich herunterbestellt, wenn er seine Tasche doch nicht wiederhaben wollte? Mich überkam ein mulmiges Gefühl.
Als ich die Tür aufschließen wollte, durchbrach ein Motorengeräusch die Stille der Nacht. Ein langgezogenes Heulen war zu hören, dann war es wieder völlig still. Ich drehte mich um. Aus der Dunkelheit schoss ein rotes Motorrad hervor. Ich sprang zurück. Direkt vor mir kam es zum Stehen. Mein angstverzerrtes Gesicht spiegelte sich im Visier des Fahrers.
»Steig auf, Julia !«, sagte der Fremde ruhig aber bestimmt.
Ich schüttelte eingeschüchtert den Kopf. Woher kannte er meinen Namen?
»Es ist wirklich kein Problem«, sagte er und hielt mir einen zweiten Helm hin.
Ich schüttelte abermals den Kopf. »Nein, ich kann nicht. Mein Vati denkt, ich bringe nur schnell den Müll runter.«
»Oh … na dann … treffen wir uns morgen in der Stadt. So gegen sechzehn Uhr?«
Er zog einen Stift aus der Brusttasche seiner Lederjacke und griff nach meinem Arm, den ich ihm sofort entzog.
»Wer bist du? Und wie kommst du darauf, dass ich mich mit dir treffen will ?«
»Ich hab ein Angebot für dich. Und du brauchst die Adresse der Bar, in der ich dir davon erzählen will .«
Er sah auf die Tasche, die ich in der Hand hielt, und lächelte mich breit an.
»Wenn du magst, kannst du das Kleid anziehen«, sagte er.
»Vergiss es !«
»Willst du die Adresse haben ?«
Ich zögerte, hielt ihm aber schließlich den linken Arm hin und er notierte eine Adresse. Danach startete er das Motorrad und gab Gas.
Mit einem eigenartigen Gefühl im Bauch ging ich nach oben. Dieser ominöse Kerl hatte mit mir geredet, als ob ich ihm gehören würde. Einerseits machte mich das wütend, andererseits war dieser Mann so anders als alle Personen, die ich bisher kennengelernt hatte.
Zitternd steckte ich den Schlüssel ins Schloss, wobei mein Blick auf meinen Arm fiel. Bismarckstraße 76. Das war die Kneipenstraße von Neustadt. Ich öffnete die Wohnungstür und spähte hinein. Aus der Küche hörte ich Geschirr klirren. Nachdem ich die Tasche unbemerkt in mein Zimmer gebracht hatte, ging ich den Geräuschen nach.
»Was machst du da ?«, fragte ich meinen Vater, der die Teller schrubbte.
Er lehnte sich an die Spüle. »Du kannst mir ruhig sagen, wenn die Wohnung dir zu dreckig ist.«
»Vati, das meinte ich nicht so«, sagte ich.
Abrupt wandte er sich zu mir um, sodass der Waschlappen in seiner Hand Wasser auf die Fliesen tropfte. Mit einer Hand fuhr er sich durchs schwarze Haar und machte es nur noch strubbeliger.
»Es wäre alles ganz anders, wenn deine Mutter hier wäre .« Tränen standen in seinen braunen Augen. Mein Herz befand sich in einer Schraubzwinge. »Ich bin ein schlechter Vater.«
»Das stimmt nicht !«
»Doch. Andere bekommen es viel besser hin. Sieh dir nur Caris Vater an!«
»Das ist etwas Anderes. Caris Mutter ist tot.«
Er erwiderte nichts. Es machte aber einen himmelweiten Unterschied, ob jemand freiwillig oder unfreiwillig gegangen war. Früher hatten meine Eltern ein freies Leben geführt. Sie waren mit dem Motorrad durch Europa gereist, hatten jeden Tag woanders übernachtet. Aus dieser wilden Zeit hatte Vati die Tattoos an seinen Armen und auf seinem Rücken.
Als meine Mutter dann mit mir schwanger war, wurden sie sesshaft. Doch sie hatte es nur vier Jahre ausgehalten, dann war sie geflohen – vor diesem Leben, dieser Beziehung und der Verantwortung.
Vati redete nicht gern über sie. Jedes Mal, wenn er an sie dachte, war er zutiefst traurig. Mich interessierte nicht, wo sie war, und Vati wusste es wohl auch nicht. Von Fotos wusste ich, dass ich ihr extrem ähnlich sah. Von Vati hatte ich seiner Aussage nach nur die Sturheit geerbt.
Ich griff mir ein Geschirrtuch und nahm ihm den gespülten Teller aus der Hand. Er wischte sich mit dem Ärmel die Tränen von den Wangen und legte die Stirn in Falten. Sein Blick war auf meinem Arm gerichtet. Schnell wischte ich wie zufällig mit dem feuchten Tuch über den Schriftzug. Vati fuhr stumm mit dem Abwasch fort.
»Du bist ein cooler Vati. Verstanden? Wer wäscht sonst mitten in der Nacht Geschirr ab ?«
»Und welche Tochter bringt nach Mitternacht den Müll runter ?«
Ich stieß ihn sacht mit dem Ellenbogen an. »Exakt.«
Der Tag seiner Beerdigung war trüb. Der Wind schob die dunklen Wolken vor sich her und ließ die Baumwipfel wiegen. Doch der Regen ließ auf sich warten. Wozu auch Wasser verschwenden für so eine verabscheuungswürdige Person? Im Grunde war ich nur hier, weil ich absolute Gewissheit haben wollte. Ich wollte sehen, wie sein Sarg hinabgelassen wurde und Tonnen von Erde auf ihm lagen.
Mutter und ich saßen in der Kapelle des Nordfriedhofs. Unmengen von Kränzen waren extra für die Andacht geflochten worden und lagen wohl sortiert um den Sarg. Riesige Kerzenständer waren aufgestellt und Stabkerzen verströmten eine andächtige Stimmung.
Dutzende von Verwandten hatten teils hunderte Kilometer zurückgelegt, um hier sein zu können und den Namen unserer Familie zu feiern. Jeder wollte ein Stück vom Kuchen abhaben. Manche hatten erst durch die Zeitung erfahren, dass Hector McMillan gestorben war.
In der ersten Reihe saß sie. Ihr graues Haar war hochgesteckt und ein schwarzer Schleier verbarg ihr Gesicht. Sie war die Erste, die sich erhob, als vier Männer den Sarg zum ausgehobenen Grab trugen. Meine Mutter und ich folgten ihr unmittelbar. In den Reihen sah ich betrübte Gesichter. Manche sahen mich verstohlen an, andere tuschelten miteinander.
Am Grab war sie es, die die erste Rose ins Loch warf. Sie war es auch, die mit gefalteten Händen ein Gebet anstimmte. So wie sie immer die Erste gewesen war: die First Lady. Nachdem sie Erde auf seinen Sarg gestreut hatte, waren meine Mutter und ich an der Reihe. Als ich vor seinem Grab stand und auf den Sarg sah, hätte ich am liebsten auf ihn gespuckt. Doch ich riss mich zusammen und knallte ihm drei Fuhren Erde auf den Kopf.
Im Anschluss hatte Großmutter im Goethe-Saal einen Empfang organisiert. Ein Cateringservice brachte warme Speisen und hunderte von Menschen, darunter Verwandte und betroffene Bürger, saßen beisammen und konnten ihrem Voyeurismus frönen.
Beim gestrigen Abendessen hatte ich mit Mutter diskutiert, ob wir wirklich kommen sollten. Mutter hatte gesagt, es sei Hector recht geschehen, ermordet zu werden. Doch wirkte sie dabei unzufrieden. Schließlich hatte ich mich überzeugen lassen. Es wäre auffällig gewesen, wenn ich als einziger Enkel nicht erschienen wäre. Und bei der aktuellen Ermittlungslage wollte ich lieber nicht ins Visier geraten.
An unserem Tisch saß ein entfernter Cousin, der während der Andacht in unserer Nähe gesessen hatte. Auch er wirkte nicht sonderlich betroffen, ließ die Prozedur genauso wie ich einfach über sich ergehen. Beim Essen sprach er mit anderen Bürgern des Ortes über den Tod meines Großvaters.
»Ich hab gehört, Marco Pilgrim hat sich als Kandidat für den Posten des Bürgermeisters aufstellen lassen ?«, fragte mein Cousin in die Runde.
»Ist nicht einer seiner Söhne vor ein paar Monaten gestorben ?« Ich schaute zu der Frau mir gegenüber auf und stoppte die Gabel auf dem Weg zum Mund. »In der Zeitung stand, er wurde auf der Straße erschossen. Einfach so.«
»Es sind schreckliche Zeiten«, sagte ein Mann kopfschüttelnd.
»Der Täter ist noch nicht gefasst«, fuhr die Frau fort und schwenkte ihr Weinglas. »Vielleicht denkt Marco, dass Hector etwas mit dem Tod an seinem Sohn zu tun hat? Es ist ja ein schwieriges Verhältnis zwischen den Familien .«
Die Anwesenden nickten. Ich schwieg genauso wie meine Mutter, die seit Minuten in ihrem Hähnchensalat stocherte. Fünf Monate lang schon ermittelte die Polizei und hatte noch keine verwertbaren Ergebnisse geliefert. Marcos Sohn war genauso alt wie ich gewesen.
»Wird einer von Annas Söhnen kandidieren ?«, fragte mein Cousin an mich gewandt nach einer langen Pause.
»Kann sein«, antwortete ich nach kurzem Zögern.
Ich wusste genau, wer kandidieren wollte, doch das ging ihn nichts an. Sollte er seine Informationen genauso beziehen wie alle anderen Bürger auch – durch die Presse.
»Ich finde ja, Bruce McMillan hat das Zeug dazu, Bürgermeister zu werden«, sagte ein Mann. »Er ist anständig. Und hat er nicht gerade erst eine Tochter von Marco Pilgrim geheiratet? Das könnte doch endlich für Ruhe zwischen den Familien sorgen .«
»Ich hab gehört, Marco hat mit seiner Tochter gebrochen, noch bevor sein Sohn ermordet wurde«, sagte mein Cousin. »Es bringt ihm nur etwas, wenn er selbst an die Macht kommt. Wahrscheinlich sieht seine Tochter nicht einmal von seinem Erbe etwas .« Mein Cousin sah erst meine Mutter, dann mich an. »Apropos. Warum bist du eigentlich nicht auf die Idee gekommen, deinen Großvater umzubringen? Das Erbe ist gigantisch und du der einzige Nachkomme.«
Mir blieb beinahe das Stück Kassler im Hals stecken. Nachdem ich mich geräuspert hatte, antwortete ich:
»Wer weiß, vielleicht war ich es ja ?«
Einen Moment herrschte angespannte Stille. Mutter sah mich mit geweiteten Augen an. Dann begann mein Cousin zu lachen und die übrigen stimmten ein.
»Das hätte dir auch nichts gebracht«, antwortete ein Mann. »Du erbst wahrscheinlich gar nichts. «
Doch, es hatte mir etwas gebracht: Rache. Das Erbe war mir egal. Ich schwieg mit einem Lächeln auf den Lippen. Und da wusste ich: Ich komme ungestraft davon.
***
Ich saß in Hectors hohem Ohrensessel und wartete. Wie geplant kam sie nach der Beerdigung in sein Büro. Ich hatte ihr während der Trauerfeier über ihren Enkel mitteilen lassen, dass jemand sie hier sprechen wolle. Es ginge um den Nachlass ihres Mannes.
Als sie das Zimmer betrat, fiel ihr Blick zuerst auf mich im schwach beleuchteten Sessel. Wenn ich eines von meinem Großvater gelernt hatte, dann den Auftritt.
»Du ?«, entfuhr es ihr.
Irina weitete die Augen. Ihre Angst verriet mir, dass sie die Wahrheit kannte. Sie wich einen Schritt zurück und drückte sich gegen die Wand. Dort blieb sie starr stehen und beobachtete, wie ich aufstand und mir ein Glas aus der Bar griff. Ich goss mir Whiskey ein und setzte mich auf die Schreibtischkante.
»Kommen wir zum Wesentlichen .«
»Was willst du? Das Erbe steht fest«, sagte sie mit schwacher Stimme.
»Du denkst, das ist der Grund ?«
»Das ist immer der Grund .«
»Sicher?«
Sie stutzte.
»Deswegen bin ich nicht hier. Weißt du, was Großvater getan hat ?«
»Was meinst du? Dass er dich und deine Mutter verstoßen hat? Dass er Menschen in den Ruin gestürzt hat? Dass er neben mir noch andere … Mätressen hatte ?«
»Ich dachte eher an … Anna .«
Annas Namen sprach ich langsam und deutlich aus. Die Gesichtszüge meiner Großmutter verhärteten sich.
»Du weißt …«, begann sie und verstummte sogleich.
»Ja«, sagte ich. »Ich weiß alles .«
Ihr Blick schweifte ab. Suchte sie nach Ausflüchten? Einer Strategie zur Verteidigung? Einer Begründung für ihr schäbiges Verhalten? Sie schwieg und löste sich von der Wand. Mit gesenktem Blick kam sie zu mir, nahm das Glas aus meiner Hand und ließ sich damit in den Sessel fallen.
Sie leerte es mit einem Zug. Erstaunt sah ich ihr dabei zu und wartet.
Der Alkohol löste ihre Zunge: »Ich habe sie erwischt. Kannst du dir vorstellen, wie es für mich war, meinen Mann mit einem Kind vögeln zu sehen?«
Das Wort »vögeln« hallte in meinem Kopf wider.
»Ich konnte es unmöglich jemandem sagen. Ich hätte mich scheiden lassen müssen. Und dann erst das Kind.«
»Patrick«, sagte ich.
Ich wollte, dass sie seinen Namen aussprach. Doch sie schwenkte lediglich das Whiskeyglas in ihrer Hand hin und her, nur um festzustellen, dass es bereits leer war.
»Dieser Bastard. In unserer Familie. Das durfte nicht sein .«
»Und trotzdem hast du ihn geduldet .«
»Was blieb mir anderes übrig? Und niemand ahnt, dass er Hectors Sohn ist .« Sie stand auf, um sich nachzuschenken.
»Und doch ist er es. An sich gehört ihm das Erbe .«
Sie stand mit dem Rücken zu mir. Ihre Schultern strafften sich, während sie die Whiskeyflasche lautstark abstellte.
»Diesem Bastard? Ich hatte erwartet, dass du das Erbe antreten willst. Aber er? Das ist lächerlich .«
Ich sprang auf und zog Hectors Waffe aus der Jackentasche. Eigentlich hatte ich sie hier in einer Schublade hinterlassen wollen, nachdem ich sie gesäubert hatte.
»Pass auf, was du sagst !«, zischte ich.
Mit Wucht donnerte ich die Waffe auf den Tisch. Ein stechender Schmerz fuhr durch meinen Arm, an dem die Flammen, in denen Hector verbrannt war, geleckt hatten. Schnell brachte ich meine Gesichtszüge unter Kontrolle.
Irina drehte sich um und hielt sich am Glas fest, während sie die Waffe taxierte.
»Willst du mich umbringen ?«
»Wozu die Hände dreckig machen ?«, konterte ich. »Dein Schicksal ist besiegelt.«
Ich schob die Waffe langsam über den Tisch. Es waren keine brauchbaren Fingerabdrücke mehr daran und die Handschuhe, die ich über meinen Verbänden trug, verhinderten frische Spuren.
»Morgen wird jeder wissen, was er getan hat. Was meinst du, was das für dich bedeutet? Morde sind das Eine, aber Vergewaltigung und Inzucht ist etwas ganz Anderes .«
Sie schluckte geräuschvoll.
»Entscheide dich! Entweder du änderst dein Testament zugunsten von Patrick oder die Medien werden ab morgen über deinen kinderfickenden Ehegatten berichten .«
Mit diesen Worten stand ich auf und verließ das Haus.
***
Am nächsten Abend war Onkel Patrick zu uns eingeladen. Ich nannte ihn seit meiner Geburt Onkel, auch wenn er eigentlich nur der Sohn meiner Großtante war. Dennoch war er genauso alt wie Mutter. Und wie ich seit einigen Wochen unfreiwillig wusste, war Onkel die korrekte, wenn auch inoffizielle Bezeichnung.
»Es tut mir so leid«, sagte Patricks Frau zur Begrüßung.
Veronica umarmte meine Mutter und sah sie dann mitleidig an.
»Danke .«
»Nach deinem Vater nun auch deine Mutter. Es scheint wie ein Fluch .«
»Schatz !«, sagte Patrick und warf seiner Frau einen tadelnden Blick zu. Sie hielt sich eine Hand vor den Mund. »Tut mir leid. Aber ich finde es so schrecklich. Deine Mutter Anna, und jetzt auch noch deine.« Veronica sah meine Mutter mitleidig an. »Aber du hast recht. Wir sollten über etwas anderes reden.«
Mutter nickte, während Patrick sie mit einer Umarmung begrüßte. Schon am Mittagstisch war der erste Anruf gekommen, gefolgt von unzähligen weiteren Beileidsbekundungen.
Irina war tot in ihrer Wohnung aufgefunden worden. Sie hatte den Konflikt gelöst, wie sie immer Probleme löste: strategisch. Ihr Testament hatte sie nicht geändert, sondern sich mit einer Überdosis Schlaftabletten und Whiskey umgebracht. Als würde sie mir noch über ihren Tod hinaus ins Gesicht lachen.
Unser Abendessen verlief im Großteil harmonisch. Ich redete mit meinem Cousin über die Schule und angesagte Bands, während unsere Eltern über Patricks Lederwarenladen redeten. Die Investitionen hatten sich offenbar gelohnt und das Geschäft lief gut.
Nach dem Essen räumten die Frauen den Tisch ab. Mein Cousin verabschiedete sich, um sich mit Freunden zu treffen. Patrick und ich blieben im Wohnzimmer zurück, während meine Mutter und Veronica in der Küche das Geschirr spülten.
»Wie geht’s dir damit ?«
»Mit dem Tod meiner Großeltern ?«, fragte ich.
Patrick nickte. »Ich fass es nicht, dass die Polizei seit einem Monat auf der Stelle tritt. Haben sie dich auch befragt?«
»Sie haben jeden aus der Familie befragt. Auch Mutter und mich.«
»Dass sie ausgerechnet uns verdächtigen. Eine Frechheit. Es kann jeder gewesen sein. So viele hatten ein Motiv. Aber wer verbrennt einen Mann bei lebendigem Leib ?«
Ich hatte bislang niemandem von meiner Tat erzählt. Nur Mutter hatte mich unmittelbar nach Hectors Mord im Bad gefunden.
Ich saß mit einem Handtuch um der Hand auf einem Hocker neben dem Waschbecken. Mein Gesicht war vom Weinen aufgedunsen. Ich hatte bereits vor Schmerzen die gesamte Hausapotheke geplündert und eine Paracetamol nach der anderen geschluckt.
Mutter musste denken, ich hätte einen missglückten Selbstmordversuch unternommen, so wie ich hier saß: die leeren Tablettenschachteln auf dem Boden, ein Handtuch um Hand und Gelenk.
Panisch kniete sie sich hin und untersuchte meine Hand. Entgeistert schaute sie auf, als sie wider Erwarten eine Brandwunde vorfand statt eines Schnitts an der Pulsader. Doch sie fragte mich nicht nach meiner Verletzung an diesem Abend. Sie fragte mich auch nicht danach, als die Nachricht über Hectors Flammentod bekannt wurde.
Ich wusste, dass sie es wusste. Sie wusste, dass ich es wusste. Es war ein stillschweigendes Übereinkommen zwischen Mutter und Sohn. Wir würden niemals darüber reden. Stattdessen half sie mir, die Verbrennungen geheim zu halten.
Seit einem Monat schwieg ich eisern. Die Leute redeten über Hectors Wert für die Gemeinde und die Tragödie für die Familie. Niemandem konnte ich sagen, dass er ein vermaledeiter Vergewaltiger gewesen war und einen unehelichen Sohn hatte, der nichts von dem Erbe sehen würde, selbst nicht einmal wusste, dass es ihm zustand.
»Ich«, sagte ich nach einer langen Pause. »Ich habe ihn getötet .«
Patrick stoppte das Glas Rotwein auf dem Weg zu seinem Mund und sah mich über den Rand hinweg an. Seine Stirn legte sich in Falten, dann prostete er mir lachend zu.
»Guter Witz.«
»Anna hat mir im Krankenhaus erzählt, was er getan hat«, fuhr ich fort. »Wie er sie auf der Geburtstagsfeier von Opa Edward …«
Patrick ließ sein Weinglas mit Wucht auf den Tisch aufschlagen, sodass der Hals brach. Rote Tropfen spritzten mir entgegen, während er sich mit erhobenem Zeigefinger vorbeugte.
»Junge! Schscht.«
Er wagte einen Blick über die Schulter in Richtung Küche. Veronica schaute gefolgt von meiner Mutter durch die Tür.
»Alles in Ordnung?«
Patrick lächelte seine Frau an. »Ja, alles hervorragend.«
»Was ist mit dem Glas passiert ?«
Wir sahen uns über die Flammen der Kerze zwischen uns an, dann kippte er den restlichen Inhalt seines Glases in meins und erhob sich.
»Ich bin ungeschickt, Schatz. Tut mir leid. Besser wir beide gehen kurz spazieren, so lange ihr hier aufräumt .«
Veronica war zu uns hinübergegangen und hatte sich die Rotweinflecken angeschaut.
»Besser ist das .«
Patrick gab mir mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass ich mich anziehen solle. Gemeinsam liefen wir hundert Meter schweigend die Straße hinunter. Dann bog er in eine Seitengasse ab, in der wir ungestört waren.
»Sie hat es dir also auch erzählt .«
»Auch ?«, fragte ich.
Patrick blieb abrupt stehen und unsere Blicke trafen sich.
»Meine Mutter hat mir gesagt, wer mein leiblicher Vater ist, kurz bevor sie starb«, sagte er. »Mein Stiefvater weiß es bis heute nicht .«
»Aber warum weiß es dann keiner? Du bist der rechtmäßige Erbe von Hectors Vermögen. Mutter und mich hat er enterbt, aber du …«
»Sei kein Narr! Wenn bekannt werden würde, dass ich aus einer Beziehung zwischen Anna und ihrem Onkel entstanden bin .«
»Es war keine Beziehung«, korrigierte ich ihn.
»Vergewaltigung«, sagte Patrick. »Das macht es nicht besser. Ich wäre wochenlang in den Schlagzeilen. Die Presse würde sich nicht auf Hector stürzen. Im Gegenteil: Die Polizei würde wahrscheinlich sogar ein Motiv darin wittern. Und erst mein Unternehmen. Denkst du, die Auftraggeber mögen solch eine Publicity ?«
Ich blinzelte mehrmals. Darüber hatte ich nicht nachgedacht, als ich von Irina die Änderung des Testaments verlangte.
»Sollen ruhig meine Brüder Bruce oder Lowell das Erbe bekommen«, sprach Patrick weiter. »Ist mir egal. Ich brauche Hectors Geld nicht. Und erst recht nicht sein Ansehen. Er hat meine Mutter vergewaltigt. Denkst du, ich hätte nicht darüber nachgedacht, ihn dafür zu töten ?«
»Warum hast du’s nicht getan ?«
»Weil ich Familie habe, Junge. Ich kann meinem Sohn nicht gegenübertreten in dem Wissen, dass ich seinen Opa getötet habe. Egal wie verabscheuungswürdig er war.«
Ich schluckte trocken. »Also willst du, dass wir einfach schweigen?«
»Ja. Ich will, dass du niemandem von Annas Geheimnis erzählst«, sagte Patrick. »Und ich schwöre dir, dass ich niemandem von deinem Geheimnis erzähle. Die Welt ist besser dran ohne diesen Wichser. Und wir sind besser dran, wenn die Welt die Wahrheit über ihn nicht kennt. Einverstanden?«
Er reichte mir seine rechte Hand. Aus Gewohnheit schlug ich ein. Der Schmerz ließ mich zusammenfahren. Stöhnend riss ich meine Hand zurück, wobei sie aus dem Handschuh glitt, den Patrick in seiner Hand behielt. Verwundert besah er meine Finger, die ich an der Brust barg.
Die meisten Dinge konnte ich mit links erledigen. Beim Essen hielt ich das Messer zwar steif, aber niemandem fiel die Veränderung auf. Weil die dauerhaften Schmerzen langsam wichen, vergaß ich die Verbrennungen an meiner rechten Hand jedoch zu oft.
»Du solltest dringend in mein Geschäft kommen«, sagte Patrick und hielt mir meinen Handschuh entgegen. »Diese Dinger sehen aus wie Wischlappen. Wir McMillans haben ein wenig mehr Stil .«
»Das kann sich Mutter nicht leisten .«
»Aber ich. Sieh es als Geburtstagsgeschenk !«
Ich stand vor einem Laden, auf dessen Fassade in großen Lettern »Pont Neuf« stand. Aus dem Französisch-Unterricht wusste ich, dass dies eine Brücke in Paris war. Die Bar verströmte jedoch keinerlei französisches Flair. Die Rollläden waren runtergelassen, die Fenster und Türen mit rustikalen Balken gesäumt.
Als ein Pfeifen hinter mir ertönte, wirbelte ich herum. Der Unbekannte stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite, sah sich kurz nach herannahenden Autos um und begab sich zielstrebig auf die Eingangstür zu. Er nickte mir zu, dann hob er seine Faust und trommelte einen Rhythmus, der mir sehr vertraut vorkam. War das »Come As You Are« von Nirvana? Aus dem Inneren der Bar ertönten leise Schritte. Ein Schlüssel wurde ins Schloss gesteckt und mehrfach herumgedreht.
Als sich die Tür öffnete, wich ich automatisch zurück. Zum Vorschein kam ein Mann mit zerzaustem, schwarzen Haaren und einem sauber gestutzten Oberlippen bart. Ich schätzte ihn auf Mitte Dreißig. Er blickte erst mich, dann meinen Begleiter ausdruckslos an und ließ uns eintreten.
Drinnen war es stickig. Es roch nach kaltem Zigarettenqualm und Bier. Bevor der Mann die Tür hinter uns schloss, schaute er noch einmal hinaus, wie um zu prüfen, dass uns keiner beobachtet hatte.
Anschließend begrüßte er meinen Begleiter mit einem lässigen Handschlag. Danach gaben sie sich wie selbstverständlich einen Kuss auf die linke und rechte Wange. Ich schüttelte den Kopf und blinzelte.
»Ça va?«
»Ça va bien.«
Die folgenden französischen Floskeln verstand ich wegen meines begrenzten Wortschatzes nur teilweise. Es schien so, als würden die beiden sich nach einer Ewigkeit wiedersehen und in kürzester Zeit die verstrichene Zeit aufholen wollen.
»Ünd wen ‘ast dü da Schönes mitgebracht«, fragte er mit starkem französischen Akzent, während er mir die Hand reichte. »Deine Chérie sah anders aus.«
»Nur eine Bekannte.«
» Mickael, sehr erfreut«, stellte sich der Franzose vor. »Dü kannst misch Mika nennen.«
»Julia«, erwiderte ich.
»Kann isch dir etwas anbieten, Julia?«
»Ähm, was gibt es denn ?«
»Alles, was dein ‘Erz begehrt, ma petite«, sagte er.
Sein Akzent zauberte ein Lächeln auf mein Gesicht, das sofort beim Wort »petite« erstarb. Ich wusste, er hatte mich soeben Kleine genannt, dabei war er selbst nicht viel größer als ich, vielleicht 1,75 Meter. Mein Begleiter hatte mittlerweile seine Jacke ausgezogen und sich an einen Tisch gesetzt.
»Ich würde gern einen Saft trinken .«
»Orangensaft ?«, fragte Mika.
»Ja, bitte.«
Er grinste breit und drehte sich zu seinem zweiten Gast um.
»Wie immer?«
»Wie immer«, echote es vom Tisch her. Ich setzte mich. Der immer noch namenlose Mann lehnte sich zurück und musterte mich. Von der Bar her kam ein Klirren.
Mika servierte ein großes Glas Orangensaft und einen Pott mit schwarzem Kaffee, während meine Begleitung sich eine Zigarette anzündete.
» Isch mach die Rollos ‘och.«
Ich liebte diesen Akzent. Erst als mein Gegenüber zugestimmt hatte, ging er zu den Fenstern. Licht durchflutete den dunklen Raum. Augenblicklich wandelte sich auch meine Stimmung. Alles um mich herum wirkte wesentlich freundlicher. Ich entspannte mich langsam.
»Stell deine Fragen !«, sagte der Unbekannte.
»Fragen?«
»Du hast sicher eine Menge«, sagte er und zog an seiner Zigarette. »Also, schieß los !«
»Wie heißt du ?«
»Spike.«
»Na klar .«
»Ist nicht mein Geburtsname, das stimmt«, gestand er. »Aber im Moment nennen mich alle so .«
»Und woher kennst du meinen Namen und meine Adresse ?«
»Einwohnermeldeamt.«
»Bitte ?«, fragte ich entsetzt.
»Ein Foto von dir, eine Software. Schon hatte ich deinen Namen. Übers Einwohnermeldeamt habe ich alle weiteren brauchbaren Informationen erfahren .«
»Zum Beispiel?«
»Geburtsdatum, Familienverhältnisse. Als ich deine Schule wusste, hatte ich sogar deinen Notendurchschnitt. Halt alles, was ich wissen wollte .«
»Die nehmen’s mit dem Datenschutz wohl nicht so genau, was?«
»Was ist heute schon sicher ?«, fragte er. »Wenn ich Informationen will, dann bekomme ich sie auch.«
»Was willst du von mir ?«
»Wie gesagt, ich habe ein Angebot für dich. Du könntest mir behilflich sein .«
»Wobei soll ich dir behilflich sein ?«
»Du sollst für mich etwas erledigen .«
Ich lehnte mich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
Spike legte einen gefalteten Zettel auf den Tisch und schob ihn mir zu.
Zögerlich griff ich danach und faltete ihn auseinander. Es standen lediglich ein Datum und eine Uhrzeit darauf. Ich legte die Stirn in Falten.
»Zu dem Zeitpunkt musst du ankommen .«
»Wo ?«, fragte ich.
»An der Justizvollzugsanstalt Süd.«
»Was?«
»Du sollst für mich einen Häftling besuchen .« Er ignorierte meinen verwunderten Gesichtsausdruck. »Er heißt Christian Schmidt. Du wirst ihm in einem Raum gegenübersitzen. Es werden Wachleute dabei sein. Dort wirst du …«
»Du willst, dass ich ins Gefängnis gehe und dort mit einem deiner Freunde ein Schwätzchen halte ?«, fragte ich irritiert.
Er lächelte angespannt. »Habe ich irgendetwas über unseren Beziehungsstand gesagt?«
»Warum gehst du nicht selbst ?«
Seine Fassade bekam einen leichten Riss. »Sagen wir: Die Besuchszeit ist überschritten. Und es ist sicher langweilig für ihn, immer die gleichen Gesichter zu sehen.«
»Und ich soll als Abwechslung dienen ?«
»Eine Frau ist immer eine Abwechslung in einem reinen Männergefängnis, wenn du verstehst«, sagte er mit einem anzüglichen Grinsen.
Forschend sah ich ihn an. »Was genau soll ich mit ihm bereden?«
Ein triumphierender Ausdruck überzog Spikes Gesicht. Er faltete die Hände vor seinem Mund und stellte die Ellenbogen auf den Tisch.
»Du wirst mit ihm reden, als wärt ihr euch schon mal begegnet .«
»Ich kenne den Typen gar nicht«, sagte ich.
»Aber er wird dich kennen .«
Verschwörerisch grinste er mich an. Seine hundert verschiedenen Sorten von Lächeln gingen mir auf den Senkel. Keines davon wirkte ehrlich. Die Partie um seine Augen blieb unberührt, wenn sich sein Mund verzog.
»Du wirst das Gespräch mit ‚Hey Chris‘ beginnen. Und dann lass ihn reden! Wichtig ist, dass du dir alles merkst, was er sagt, auch wenn du denkst, es ist völlig unbedeutend. Wenn er fertig ist, wirst du ihm folgende Frage stellen .«
Er zog einen weiteren Zettel aus der Hosentasche und reichte ihn mir. Ich entfaltete ihn und las. Ich runzelte die Stirn.
»Du musst die Frage genauso stellen, Wort für Wort. Das ist wichtig. Meinst du, dass du das schaffst ?«, fragte Spike herausfordernd.
»Willst du mich verarschen ?«, konterte ich. »Klar schaff ich das. Ist nur der bekloppteste Satz, den ich je gelesen habe.«
»Das sollte nicht deine Sorge sein .«
»Was, wenn ich es nicht machen will ?«, fragte ich.
»Dann finde ich jemand anderen, der es macht. Dauert nur unbedeutend länger .«
»Hast du keine Bedenken, dass ich dich verpfeife ?«
»Bei wem und mit welchem Verdacht? Du kennst nicht einmal meinen richtigen Namen .«
Er hatte recht. Ich hatte nichts gegen ihn in der Hand. Und strafbar würde ich mich mit diesem Gefängnisbesuch nicht machen.
Eine Frage brannte mir nach wie vor auf der Seele.
»Warum ich?«
Spike sah mich endlose Sekunden lang schweigend an. Ich hörte, wie Mika in einem anderen Raum mit Töpfen hantierte.
»Weil ich glaube, dass du es kannst«, brach er das Schweigen schließlich.
Mit hochgezogenen Augenbrauen fragte ich: »Und andere können es nicht?«
»Du bist tough und ich traue dir zu, dass du in dieser Umgebung keine Angst hast. Und sicher wolltest du schon immer ein Gefängnis von innen sehen.«
»Witzig«, sagte ich mit genervtem Unterton.
»Hey, sieh es einfach als Erfahrung an, die du hoffentlich nie wieder machst! Bei deiner Karriere.« Er lächelte mich an. »Außerdem springt auch was für dich raus .«
Ich frage mich, ob im Einwohnermeldeamt auch meine Polizeiakten einsehbar waren? Zweimal hatte ich mich beim Stehlen erwischen lassen.
»Wie viel willst du ?«, fragte Spike.
»Na ja, die Tickets für den Bus wollen bezahlt werden. Und eine Aufwandsentschädigung ist ja wohl drin .« Ich schaute auf den Zettel. »Das ist an diesem Wochenende und noch vor dem Aufstehen.«
Er zog seine Geldbörse aus der Hosentasche. Nach einem Blick ins Innere sagte er:
»Fünfhundert Euro hab ich dabei. Reicht das ?«
Mir klappte die Kinnlade herunter. Das war genügend Geld für einen ganzen Monat in unserem Haushalt.
Ich musste mich zwingen, den Mund wieder zu schließen. Erstaunen war immer eine schlechte Verhandlungsbasis.
»Machen wir es so«, sagte Spike. »Fünfzig Euro bar auf die Hand«, er reichte mir einen orangefarbenen Schein, »und den Rest bekommst du, wenn du mir brauchbare Informationen bringst .«
»Woran erkenne ich brauchbare Informationen ?«
»Daran, ob du anschließend Geld bekommst oder nicht. Dann ist die Sache also abgemacht ?«
Er hielt mir die Hand hin, doch noch zögerte ich.
»Und dieser Christian weiß, was ich meine, wenn ich diesen Satz sage«, fragte ich und wedelte mit den beiden Zetteln.
»Hundertprozentig.«
»Okay.«
Ich schlug so kräftig ein, wie ich konnte. Spike lächelte triumphal.
»Dann gib mir dein Handy !«
»Wozu ?«, fragte ich irritiert.
Er hielt mir unbeeindruckt die Hand entgegen, bis ich es ihm reichte. Ich gab ihm mein altes Nokia, ein normales Tastenhandy.
»Ich wollte mir bald ein neues kaufen«, bluffte ich.
»Wieso? Das hier ist perfekt. Prepaid und sicher auf deinen Vater registriert. Daran habe ich rein gar nichts auszusetzen .«
Er legte es vor mir auf den Tisch und wünschte mir viel Erfolg für Samstag, bevor er sich erhob und sich mit einem lauten »Au revoir« verabschiedete.
Die ganze erste Oktoberwoche über hatte ich darüber nachgedacht, ob ich fahren sollte oder nicht. Die Fragen, wie das Gefängnis wohl von innen aussehen würde, wen ich dort zu erwarten hatte und was ich noch alles über Spike herausfinden konnte, hatten mich schließlich hierhergezogen. Laut Internet lag die Justizvollzugsanstalt abgeschottet von der Außenwelt.
Mein Weg führte mich durch eine typische Vorstadtsiedlung – ruhig und gemütlich, beinahe paradiesisch. Der MP3-Player spielte gerade »Junge« von Die Ärzte, als in einem der Gärten eine Mutter mit ihrer Tochter auftauchte. »Und du warst so ein süßes Kind«, drang Farins Stimme in meine Ohren, mein Schritt verlangsamte sich. Das Mädchen rannte zu einer Schaukel und ließ sich von seiner Mutter anschubsen. Das Mädchen lachte ausgelassen und strampelte mit den Beinen.
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Ich hatte das Gefühl, fehl am Platz zu sein. Ich eilte weiter, verließ das Viertel und stand bald vor einem dichten Wald. Die Bäume schluckten den letzten Rest Licht, der von der Siedlung einfiel. Auf dem Boden lagen gelbe Blätter. Ich musste mich rechts halten, also folgte ich einem Trampelpfad, der mich ins Nichts zu führen schien.
Nach einer halben Ewigkeit hörte ich Autolärm. Ich kam an eine Straße ohne Fußgängerweg. Ich folgte ihr und sah nach der nächsten Kurve das Gefängnis, das sich hinter einer hohen Betonmauer verbarg. Stetig von Kameras beobachtet, ging ich zum Parkplatz. Von dort aus sah ich eine Tür, die in Anbetracht des massiven Komplexes winzig erschien. Darüber hing das Schild mit der Aufschrift »Besuchereingang«.
Ein letztes Mal atmete ich in Freiheit tief ein und erschrak, als die Tür vor mir von selbst aufschwang. Verunsichert betrat ich die JVA. Zu meiner Rechten war eine Art Rezeption.
Die Frau hinter der Glasscheibe ignorierte mich anfangs, schien noch mit jemandem zu reden, der sich im Raum nebenan befand. Ihre blonden Haare waren streng nach hinten gekämmt und in einen Zopfgummi gezwängt.
Endlich wandte sie sich mir zu und fragte mich durch ein Mikrophon, was ich wolle. Ich zögerte, sammelte die Worte zusammen, die ich mir zurechtgelegt hatte.
»Ich habe eine Verabredung mit Christian Schmidt«, sagte ich unsicher.
»Dann brauche ich Ihren Personalausweis .« Die Frau sah auf einen Zettel vor sich. »Die Einverständniserklärung Ihres Vaters liegt uns bereits vor. Müssen Sie etwas einschließen?«
Ich sah sie irritiert an. »Einschließen?«
»Ja. Handy, Portemonnaie. Irgendwelche Wertsachen, die sie nicht mit hineinnehmen dürfen?«
Ich musste nur kurz überlegen. Es war besser einfach alles hier zu lassen, um kein Risiko einzugehen, etwas Verbotenes zu tun.
Die Frau zog meinen Personalausweis ein und gab mir einen Besucherausweis, an dem ein Schlüssel mit einer Ziffer befestigt war. Per Knopfdruck öffnete die Frau mir die Tür, hinter der die Spinde standen. Nachdem ich alles verstaut hatte, begab ich mich in den angrenzenden Warteraum, in dem ein Mann saß. Er trug eine schwarze Lederkluft und einen gestutzten Bart, der sich von der Oberlippe bis zum Kinn zog. Seine muskulösen Oberarme hatte er vor der Brust verschränkt.
Zuerst setzte ich mich ihm gegenüber, doch ich konnte seinem forschenden Blick nicht lange standhalten. Meine Aufregung steigerte sich und wie üblich reagierte meine Blase ebenso nervös, also verschwand ich auf die Besuchertoilette.
Als ich wiederkam, stand ein Vollzugsbeamter im Türrahmen. Sein Gesicht war ausdruckslos, seine kalten Augen sahen mich nichtssagend an.
»Frau Morawetz, folgen Sie mir bitte! Ich führe Sie in den Besucherraum.«
Es dauerte mehr als fünf Minuten, bis wir ankamen. Jede Tür und jedes ihr folgende Gitter musste auf- und wieder zugeschlossen werden.
Meine Nervosität stieg ins Unermessliche. Und weil es so lange dauerte, der Mann kein einziges Wort sagte und ich ihm einfach folgen musste, kamen die Bedenken und die Blasenaktivität zurück.
Was hatte Spike bloß erzählt, wer ich bin? Dem Gefängnispersonal sowie besagtem Christian? Hier kam man sicher nicht so einfach rein. Hierfür brauchte ich einen guten Grund. Genauso wie Spike einen guten Grund haben musste, mich hierherzuschicken.
Der Beamte öffnete die letzte Tür und ließ mich vorausgehen. Vier Tische mit jeweils zwei Stühlen standen im Raum verteilt. An dreien saßen Personen und redeten gedämpft miteinander. Naturbilder sollten wohl das bedrückende Ambiente auflockern, aber schafften es nur bedingt. Es gab keine Fenster. Neonlicht erfüllte den Raum.
Ein glatzköpfiger Mann saß am vierten Tisch und schaute abwesend auf den leeren Stuhl vor sich, ein Wachmann hatte sich hinter ihm an der Wand positioniert. Sein Blick war auf den ersten gerichtet, seine Hände hatte er vor dem Körper verschränkt.
Mein Begleiter nickte mir zu und ich setzte mich an den Tisch. Christian bedachte mich mit einem schmalen Lächeln. Er trug wie die übrigen Häftlinge um uns eine schwarze Jogginghose und ein weißes T-Shirt. Sein Kopf war kahlgeschoren. Für den Bruchteil einer Sekunde meinte ich einen enttäuschten Zug in seinem Gesicht wahrzunehmen.
»Kein Körperkontakt«, blaffte der Mann hinter ihm, sodass ich zusammenfuhr.
Ich versuchte die Wachmänner auszublenden und konzentrierte mich auf meinen Auftrag. »Hey Chris«, sagte ich wie verabredet.
»Hey Julia.«
Ich atmete tief ein. Es war ein merkwürdiges Gefühl, als er meinen Namen aussprach.
»Schön, dass du mich endlich mal besuchst. Nimm das Franky Boy nicht übel, aber er hat heute früh seinen dritten Kaffee noch nicht bekommen.« Mit dem Daumen deutete er hinter sich. »Da herrscht er immer ein bisschen rum.«
Ich lächelte verlegen. Der Mann hinter ihm zog seine Nase verächtlich kraus, verzerrte seinen Mund dann aber zu einem Grinsen und schüttelte den Kopf.
»Wie geht es deinem Vater ?«
Der plötzliche Themenwechsel war abrupt. Ich stutzte.
»Gut. Er ist gerade arbeitslos und hängt überwiegend in der Kneipe rum .«
»Typisch Ole«, sagte Christian, wobei er schmunzelnd den Kopf schüttelte.
Mir blieb der Atem stehen. Woher kannte er den Namen meines Vatis? Offenbar hatte Spike ihn irgendwie informiert.
»Du trägst die Haare kürzer als damals «, sagte Christian. »Steht dir gut .«
Ich spielte mit. »Oh, danke«, antwortete ich und fuhr mir durchs Haar. »Die hat meine Freundin mir geschnitten. Je kürzer, desto pflegeleichter.«
Ich versuchte ihn ebenso vertraut anzuschauen wie er mich.
Ich fragte mich, weshalb er hier einsaß. Oder war es normal, dass zwei Männer in seiner unmittelbaren Nähe standen und ihn nicht eine Sekunde aus den Augen ließen? Es machte den Anschein, Christian würde wegen etwas Schwerwiegendem einsitzen. Körperverletzung? Mord? Vergewaltigung? Mit seinem muskulösen Körper und den Tattoos auf seinen Armen schien er zumindest hierher zu gehören. Obwohl mein Vater früher auch so ausgesehen hatte und niemandem etwas zu Leide tun könnte.
»Wie läuft’s in der Schule ?«, fragte Christian.
»Ach, alles in Butter. Vielleicht mache ich nur den erweiterten Realschulabschluss, aber ansonsten sind meine Noten okay .«
»Doch kein Abitur ?«, fragte er.
»Nein. Ich will schnell auf eigenen Beinen stehen .«
Christian wechselte in einen fürsorglichen Tonfall. »Weißt du schon, was du machen willst?«
»Nein. Zu viele Möglichkeiten.«
»Mach dir mal keine Sorgen! Da findet sich schon was Passendes für dich. Wie wär’s mit der Gastronomie ?«
»Nee, hatte ich schon. Das ist nicht so mein Ding. Außerdem bekommt man da nicht allzu viel Geld .«
»Ah, muss also was Lukratives sein ?«, fragte er.
»Natürlich.«
Er schien amüsiert. Für mich war es einfacher, ihm wahrheitsgemäß zu antworten, da ich mir so nichts ausdenken musste.
Seine linke Hand lag an seinem rechten Handgelenk und sein Daumen fuhr unentwegt über die Haut, als würde er mit einem Kettchen herumspielen.
Dabei erkannte ich einen goldenen Ring an seinem Ringfinger. Ich war mir sicher, dass Insassen keinen Schmuck tragen durften. Christian folgte meinem Blick und seine Finger hielten inne.
»Meine Frau besucht mich gleich. Deshalb haben wir heute leider nicht so viel Zeit. Ich musste dich irgendwie dazwischenschieben .«
Ich sah auf die Uhr, die sich über dem Bild eines Wasserfalls befand. Wir saßen schon knapp drei Minuten hier. Ich hatte nur zehn, dann war die Besuchszeit für mich zu Ende.
Ich wurde nervös. Wie in alles auf der Welt sollte ich diesen Satz einbringen? Ich hatte gehofft, dass Christian mir dafür eine Vorlage liefern würde.
Ich räusperte mich, um ihm zu signalisieren, dass mir nichts einfiel, was ich hätte sagen können. Er verstand es.
»Wie geht’s eigentlich deinen Freunden ?«
»Gut. Carina ist gerade auf Kur wegen ihres Asthmas. Vor einer Woche musste sie mit ihrem Hasen zum Tierarzt. Sie ist komplett ausgerastet. Du weißt ja, dass ihre Mutter vor zwei Jahren gestorben ist. Sie hat ihn ihr geschenkt .«
Christian nickte wissend.
»Jetzt frag ich mich«, sagte ich und machte eine Pause. »Hat das Tier überlebt ?« Ich hatte es geschafft. Nervös sah ich zum Wärter hinter Christian, der seinen Blick gerade abgewandt hatte, um den Häftling am Nachbartisch zu beobachten.
Allein Christians gefurchte Stirn zeigte mir, dass er über die Bedeutung des Satzes Bescheid wusste.
Ein eigenartig gequältes Lächeln umspielte Christians Mund, bevor er weitersprach.
»Der Hase hat mit Sicherheit überlebt. Er ist robust und schon viele Jahre alt. Da solltest du dir keine Sorgen machen .« Ich nickte. »Wenn er doch tot sein sollte – und ich sage nicht, dass er das ist – dann hat Carinas Familie sicher schon einen Neuen für sie geholt.«
Christian lehnte sich nach vorn und legte eine Hand an sein Kinn. Der Wachmann sah ihn streng an. Ich verschränkte die Arme vor mir auf dem Tisch.
»Die Familie ist und bleibt ein fester Zusammenschluss. Ich denke, dass der alte Hase und der neue sich da genauso wohlfühlen werden .«
Ich nickte, auch wenn ich es nicht verstand. Spike würde schon wissen, was sein Partner damit meinte.
Plötzlich räusperte sich der Wachmann neben mir.
»Die Besuchszeit ist fast um .«
»Wir sind schon fertig«, sagte Christian und stand auf.
»Dann begleite ich Sie hinaus .«
Er verabschiedete sich mit einer Verbeugung, was mich so sehr überraschte, dass ich nur stammelte:
»Dann … auf Wiedersehen.«
Er zwinkerte mir zu und sagte: »Grüß deinen Freund von mir!«
Der Wachmann führte mich hinaus. Beim Gang zurück zum Warteraum sah ich drei Inhaftierte, die einen Nebenraum säuberten.
Sofort fiel mir der schwarze Irokesenschnitt eines Häftlings auf, der den Boden wischte.
Beim Vorbeigehen grüßte der Beamte die Drei.
»Bald ist Schluss, was ?«
»Ja«, sagte der Punk und begleitete seine Worte mit einem Victory-Zeichen. »Es grüßt die Freiheit.«
Er grinste. Als er sich meiner bewusst wurde, zwinkerte er mir zu.
»Hey, Süße. Warst du deinen Freund besuchen ?«
Der Wachmann forderte mich mit einer Handbewegung auf weiterzugehen. »Wenn nicht, ruf mich an! Bin bald raus.«
Die Drei amüsierten sich über seinen Kommentar, während mich der Wachmann bis vor die Tür brachte. Nachdem ich meine Sachen aus dem Spind geholt hatte, begab ich mich zur Rezeption. Statt der blonden Frau saß eine recht junge, braunhaarige Frau vor mir.
Sie forderte mich freundlich auf, den Schlüssel samt Besucherausweis in die Schale zu legen. Als ich meinen Personalausweis aus der Retoure-Schale nehmen wollte, fiel mir auf, dass noch etwas anderes darin lag.
»Ähm, Entschuldigung. Das gehört nicht mir«, sagte ich.
»Es gehört Ihnen«, stellte die Frau mit fester Stimme klar und nickte auffordernd.
Irritiert griff ich nach dem silbernen Kettchen und steckte es in meine Hosentasche. Ich fühlte mich wie eine Schmugglerin.
Als ich hinaustrat fühlte ich mich eigenartig schwerelos. Ich war erleichtert, das bedrückende Gebäude wieder verlassen zu dürfen. Als ich mich weit genug von den Überwachungskameras an der Betonmauer entfernt hatte, zog ich das Kettchen aus meiner Tasche.
Es trug eine Gravur: »Wenn du springst, dann spring ich auch.« Daneben standen die Buchstaben C. T. P., wobei der erste und letzte Buchstabe das mittlere T umspielten.
Ob Christian wollte, dass ich es Spike übergab?
Spike hatte mir per SMS mitgeteilt, dass wir uns am kommenden Montag treffen würden. Ich hinterfragte nicht mehr, woher er meine Handynummer hatte. Als ich an der vereinbarten Stelle ankam, stand er bereits an sein Motorrad gelehnt und hielt eine Zigarette in der linken Hand. Verwundert stellte ich fest, dass sein Äußeres sich verändert hatte. Sein Haar war schwarz und kürzer. Es stand ihm wild zu Berge und ließ ihn verwegen wirken. Seine Augen waren im Gegensatz zum letzten Mal braun. Scheinbar hatte er nicht gelogen, als er meinte, er verkleide sich gern.
Sein Motorrad war metallic-rot. Eine Fazer, wie auf der Seite zu lesen war. Ein ähnliches Modell war in einem Buch abgebildet, das ich als Kind zigtausendmal durchgeblättert hatte. Es stand in Vatis Regal, bis er es vor über zehn Jahren mitsamt Urlaubsbildern, die ihn und meine Mutter zeigten, in die Mülltonne schmiss. Ich hatte alles wieder hervorgeholt und im untersten Schubfach meines Kleiderschranks verstaut.
Ich träumte seit Jahren von einem eigenen Motorrad. Den Führerschein wollte ich sofort nach meinem siebzehnten Geburtstag machen. Dafür suchte ich aktuell einen neuen Nebenjob. Vatis Stammkneipe war keine Option, da ich nicht von ihm beobachtet werden wollte bei der Arbeit. Und das Café, in dem ich gekellnert hatte, bot nur Jobs während der Saison an.
Ein letztes Mal zog Spike an der Kippe und warf sie auf den Boden. Er entließ den restlichen Qualm aus seinem Mund und wandte sich von mir ab, um den Zweithelm hervorzuholen.
»Das ist eine Fazer von Yamaha«, sagte Spike, dem mein faszinierter Blick offenbar nicht entgangen war. »150 PS.«
»Wie schnell kann die werden ?«, fragte ich.
»Bis auf 200 km/h hab ich sie schon bekommen. Aber da geht noch mehr bei den richtigen Bedingungen .«
Meine Hand fuhr über das Metall. Vati hatte mich früher auf seinem Motorrad zur Grundschule gefahren. Dann wurde er gekündigt und konnte sich kein Fahrzeug mehr leisten. Schweren Herzens hatte er es verkauft.
Zu gern wollte ich wieder die Straße unter mir spüren, die Landschaft an mir vorbeirauschen sehen und das Brummen des Motors hören.
»Achtung«, sagte Spike und zog mir den Helm sachte über den Kopf. Er schloss den Gurt und fragte, ob es okay sei. Ich nickte. Der Helm war schwerer als ich es in Erinnerung hatte.
Spike setzte seinen Helm auf und schwang sich aufs Motorrad. Ich zögerte. Sollte ich wirklich mit ihm gehen? Er deutete auf den Sitz hinter sich und fragte: »Noch nie mitgefahren? Keine Angst! Ich bin ein guter Fahrer.«
Dieser Kommentar war keinesfalls hilfreich. Guter Fahrer hin oder her: Gute Fahrer konnten auch gute Mörder sein. Dennoch wollte ich das Wagnis eingehen. Es ging um viel Geld – Geld, dass ich gut in meinen Führerschein investieren konnte. Spike hielt mir seinen Arm hin, an dem ich mich hinaufziehen konnte.
»Bereit ?«, fragte er. Ich legte meine Hände an seine Hüfte. Er lehnte sich nach vorn, startete den Motor und gab mit einem Ruck Gas. Wie von selbst schlang ich meine Arme fester um seine Taille, um nicht herunterzufallen. Die Maschine heulte auf und schon waren wir auf der Straße.
Spike nahm die Kurven recht eng und bremste überdurchschnittlich oft ab.
Guter Fahrer, he? Gut war ein viel zu schwammiger Ausdruck für einen Fahrstil, wurde mir bewusst. Vielleicht reichte dieser gerademal dafür aus, keine Punkte in Flensburg zu bekommen.
Wir verließen den Ort in Richtung Osten. Hier gab es kilometerweit nichts außer Wald und Wiesen. Nebelschwaden zogen sich entlang der Waldränder und schränkten zeitweilig unsere Sicht ein.
Als wir in einen einsamen Feldweg einbogen, überkam mich ein mulmiges Gefühl. Was wollte Spike hier an diesem entlegenen Ort?
Mitten auf dem Weg machte er Halt. Er stellte den Motor aus und wir stiegen ab. Während wir unsere Helme abnahmen, fielen mir seine Ohrringe auf. An seiner Nase trug er ein Septum.
Ich setzte mich auf eine Bank am Wegesrand. Von hier sah man unmittelbar auf ein Feld. Die Ernte war bereits vorüber. Spike zündete sich eine Zigarette an und schaute wie ich auf die violetten und gelben Blüten.
»Kann ich auch eine haben ?«, fragte ich.
Spike sah zu mir hinüber und ein Schauer durchfuhr mich. Mir kam es so vor, als ob er mich zum ersten Mal richtig wahrnahm.
»Rauchen ist ungesund. Unterdrückt das Wachstum .«
»Sehe ich etwa klein aus ?«
»Du bist kleiner als ich .«
Er nahm einen Zug, hielt den Rauch etwas länger im Mund und blies ihn mit einem Mal gen Himmel.
»Erzähl !«
»Was soll ich erzählen ?«
»Alles«, antwortete er.
»Tja, wo fange ich da nur an ?«, fragte ich ironisch.
Er ignorierte meinen Scherz und sah mich eindringlich an. Ich ließ das Gespräch mit Christian Revue passieren.
»Er hat die Frage mit Ja beantwortet .«
Spikes Augen weiteten sich für den Bruchteil einer Sekunde.
»Dann hat er was über die Familie gesagt .«
»Was ?«, hakte er nach.
»Er meinte, die Familie ist ein fester Zusammenschluss. Der alte und neue Hase fühlen sich da wohl .«
Spike sah mich stirnrunzelnd an. Ich erklärte ihm den Zusammenhang von Christians Frage und Carinas Hasen.
Mein Gegenüber nickte während meiner Ausführungen beständig.
Als ich geendet hatte, fragte Spike: »Und wie war seine erste Reaktion?«
»Er hat gesagt, dass der Hase sicher überlebt hat«, antwortete ich. »Er ist robust und schon sehr alt. Und selbst wenn er tot sein sollte, dann hat Carinas Familie schon einen neuen Hasen für sie. Und dann sagte er eben, dass die Familie zusammenhält und der alte und neue da Zuhause sind .«
»Hast du ihn gefragt, ob er einen aus der Familie kennt ?«
»Das war nicht meine Aufgabe«, sagte ich. »Hättest du mir mehr Informationen gegeben, wäre ich auch vorbereiteter an das Gespräch herangegangen. So konnte ich kaum reagieren .«
Es kam wieder keine Antwort. Diese Pausen machten mir langsam zu schaffen. Außerdem fand ich es hier gruselig. Die Sonne stand tief am Himmel und würde bald untergehen. Das Zirpen der Grillen wurde lauter und auf der Straße, die hinter uns lag, war schon lang kein Auto vorbeigefahren. Es machte mich nervös, dass ich bald all meine Informationen aufgebraucht hatte.
»Sonst noch etwas ?«, fragte Spike.
»Nein. Nicht wirklich.«
»Hat er dir etwas gegeben ?«
Spikes Frage warf mich aus dem Konzept. Bis jetzt hatte ich das Gefühl gehabt, das Gespräch unter Kontrolle zu haben.
»Nein«, log ich. Sein klarer Blick durchbohrte mich, ich hielt ihm stand. Diese Augen. Sie waren so kalt – kaltblütig.
Spike machte einen Schritt auf mich zu und stellte sich vor mich. Mein Kampfgeist regte sich in mir. Ich würde mich nicht einfach so überwältigen lassen. Bevor sich unsere Nasenspitzen berührten, griff er mit einer Hand in die Innentasche seiner Jacke. Mein erster Gedanken kreiste um eine Waffe und ich wich zurück.
Doch zum Vorschein kam nur seine Geldbörse. Schon hatte er meinen Lohn in der Hand und reichte mir den violetten Schein. Ich konnte mich nicht entsinnen, schon irgendwann so viel Geld auf einmal in der Hand gehabt zu haben, geschweige denn diese Art von Schein.
»Was soll ich damit ?«, fragte ich und Spike hob eine Augenbraue. »Mit dem kann ich nirgendwo vernünftig zahlen.«
»Zahl ihn auf dein Konto ein! Du gibst ihn eh nicht auf einmal aus .«
»Ich hab kein Konto«, sagte ich.
Erst in diesem Moment schien ihm aufzufallen, dass ich minderjährig war.
»Wenn ich ihn dir wechseln soll, musst du mir die Information geben, die du zurückhältst .«
Ich dachte darüber nach, was ich ihm noch anbieten konnte.
»Zum Abschied hat er mir aufgetragen dich zu grüßen .«
»Hat er das so gesagt ?«, fragte Spike. Mit einem Mal machte er einen schockierten Eindruck.
»Nein, aber das meinte er .«
»Lass lieber mich entscheiden, was Christian meint oder nicht !«
»Na, er hat gesagt, ich soll meinen Freund grüßen«, sagte ich. »Bin davon ausgegangen, dass er dich meint .«
Spike legte den Kopf schief. »Etwa nicht?«
»Doch, doch«, erwiderte er hastig.
Er trat wieder einen Schritt zurück und sah auf seine Armbanduhr.
»Das war’s«, sagte Spike, ging zu seinem Motorrad und setzte den Helm auf.
Verwirrt folgte ich ihm. Er hielt mir fünf grüne Scheine entgegen.
»Falls du es nicht ohnehin schon getan hast«, sagte er. »Erzähl deinen Freunden besser nichts von unseren Treffen !«
»Ich hab nichts erzählt .«
»Nichts?«
»Okay. Einem Freund hab ich von unserer ersten Begegnung erzählt. Im Kaufhaus.«
Spike nickte langsam. Ich steckte die Geldscheine in meine Hosentasche und spürte das Kettchen.
»Dann ist gut«, sagte Spike und reichte mir den zweiten Helm.
Durch die Fensterfront, die sich den gesamten Schulflur entlang erstreckte, sah ich die drei Jungs auf dem Hof. Sie drängten einen Mitschüler gegen die Eisenstange des Basketballkorbs. An seinem blauen Mantel erkannte ich ihn: meinen besten Freund Ben.
Er musste wohl auf dem Weg zu unserem Treffpunkt an der Sporthalle gewesen sein. Dort war es ruhiger als auf dem Schulhof, sodass wir ungestört miteinander reden konnten.
Seit dem Tod meiner Großeltern vermied ich größere Ansammlungen von Menschen. Es widerte mich an, dass der Mord am Bürgermeister scheinbar ein brisantes Thema zum Zeitvertreib war. Und dann erst diese mitleidigen Blicke. Jedes Mal musste ich aufs Neue bestürzt wirken, musste so tun, als würde ich ihren Tod bedauern.
Nur Ben verschonte mich damit und lenkte mich ab. Er war nicht der Beste in der Schule und das Attribut cool war wohl das letzte, das mir zu ihm eingefallen wäre. Sein Vater war ein hohes Tier am Gericht, was jedoch entgegen aller Vermutungen nicht der Grund unserer Freundschaft war. Wir waren seit der Grundschule miteinander befreundet.
Damals war Ben wie heute von drei Jungen umzingelt gewesen, die ihn gegen die Wand drängten. Ich hatte ihm geholfen und die Jungs aufgemischt. Seitdem waren wir beste Freunde. Ben behandelte mich wie einen normalen Jungen, nicht wie einen McMillan, und im Gegenzug hielt ich ihm die Idioten vom Leib.
Ich lief den Gang entlang und wich den Schülern aus, die zu ihren Klassenräumen unterwegs waren. Ich musste verhindern, dass Ben wieder mit einem blauen Auge nach Hause ging wie vor einigen Wochen. Sie hatten eine Zigarette auf seinem Handrücken ausgedrückt und ihn anschließend verprügelt. Ich hastete die Treppe hinunter und übersprang die letzten Stufen. Schnell riss ich die Tür nach draußen auf und blieb abrupt stehen, als ich unsere Direktorin Frau Wagner sah.
Sie beobachtete teilnahmslos die Szene am Basketballkorb. Verärgert drängte ich mich durch die Schüler hindurch und an ihr vorbei. Ein durchdringender Pfiff ertönte. Ich drehte mich um und sah, dass Frau Wagner mich wütend, die Finger zwischen den Lippen, anstarrte. Widerwillig ging ich zur ihr. Sie deutete mir, ihr zu folgen, und öffnete die Tür. Wir entfernten uns vom Lärm des Schulhofs und des Eingangsbereich.
In einer Nische vor den Toiletten erläuterte sie mir, dass auf dem Schulgelände nicht gedrängelt wurde. Ihr Vortrag klang, als habe sie ihn in den letzten zehn Minuten schon zwanzig Mal heruntergerattert.
Ich nickte ergeben und beteuerte meinen Willen zur Besserung. Nachdem Frau Wagner ihre Moralpredigt beendet hatte, bedachte sie mich mit einem einfühlsamen Gesichtsausdruck. Ich ahnte, dass diese Unterhaltung länger dauern würde.
Nervös schaute ich hinaus, doch am Basketballkorb war niemand mehr zu sehen.
»Wie geht es dir?«, fragte die Rektorin bekümmert.
»Wie soll’s mir schon gehen?«
»Du bist sehr aufsässig und eigenbrötlerisch seit … dem Vorfall.«
Sie sah zu Boden. So reagierten die meisten Menschen, wenn sie mit mir über den Tod meiner Großeltern reden wollten. Sie umgingen Vokabeln wie Tod, Beerdigung und Trauer und verwendeten lieber blumige Umschreibungen.
»Sie waren auf der Beerdigung«, stellte ich nüchtern fest.
»Ja. Dein Großvater war ein sehr ehrenwerter Mann.«
Ich fragte mich, ob wir von derselben Person sprachen. Den versonnenen Blick, den sie nun auflegte, konnte ich nicht deuten.
Sie wandte den Kopf kurz ab und sagte: »Du sahst an seinem Grab sehr angespannt aus. Fast so, als mache dich sein Tod sehr wütend.«
»Das kann man wohl sagen.«
Sie schien verunsichert und sah mich prüfend an, bevor sie fortfuhr.
»Und dann der Tod von Irina. Wirklich tragisch.« Frau Wagner stockte. »Ich will mich nicht aufdrängen, aber weiß man schon, wie es dazu kam?«
»Nein.«
»Also meines Erachtens ist die Sache klar. Ich denke«, flüsterte sie und kam einen Schritt näher, »Irina hat deinen Großvater ermordet und dann sich selbst, weil sie mit der Schmach nicht umgehen konnte.«
Ich war erleichtert. Auch sie hatte das Gerücht geschluckt, das Patrick und ich in die Welt gesetzt hatten. Selbst die Polizei hatte die Ermittlungen mittlerweile eingestellt.
»Aber dass sie zu so etwas fähig war … Wer hätte das gedacht?«
Ich hob den Blick und nickte. In ihrem linken Auge entdeckte ich eine ungeweinte Träne.
»Sie kannten die beiden sehr gut, nicht wahr?«, fragte ich kühl.
»Nun, ja. Nicht mehr als andere auch«, stammelte sie. »Die beiden haben unsere Schule jahrelang unterstützt.«
»Und wie lange haben Sie schon mit Hector geschlafen?«
Die Farbe entwich aus ihrem Gesicht und sie sah mich entsetzt an. Ihr Schweigen bestätigte meinen Verdacht. Ich fragte mich, wie lang die Affäre gedauert hatte. Hatten sie sich etwa geliebt oder lediglich versucht, eine Lücke in ihren Leben zu füllen?
»Das … das ist nicht wahr«, stotterte Frau Wagner viel zu spät.
»Das tut ohnehin nichts zur Sache«, sagte ich.
Wenn ich nicht sofort verschwand, würde sie diesen Tag nicht überleben. Das Messer in meiner Hosentasche wurde mit jedem Wort, das sie sprach, verlockender.
»Ich muss weiter. Sonst noch was?«
Sie antwortete nicht, sah mich nur angsterfüllt an. »Keine Sorge! Ich behalte Ihr Geheimnis für mich. Bis morgen, Frau Wagner.«
Ich ging zurück zur Eingangstür und ließ sie verunsichert zurück. Mir wurde klar, warum die Rektorin seit gut einem Jahr einen Ford Mustang fuhr. Hector musste wirklich ein Casanova sondergleichen gewesen sein. Obwohl die Wahl meiner Lehrerin nicht gerade von Geschmack zeugte. Vielleicht hatte mein Großvater auch anderweitig von der Affäre profitiert. Sie hatte immerhin viel Einfluss auf das Privatgymnasium, das von allen McMillans besucht wurde.
Ich fand Ben an unserem Treffpunkt. Er zog an einer Zigarette und hüstelte, als er den Rauch ausstieß. Meines Wissens hatte er noch nie geraucht. Neben ihm stand ein Junge, den ich nicht kannte.
»Hey«, sagte er und reichte mir die Hand. »Ich bin Emil.«
Stirnrunzelnd schaute ich zu Ben, der erklärte, dass Emil ihm geholfen hatte. Er ging in seine Klasse. Ich nickte und dankte unserem Mitschüler.
»Kein Ding. Die Typen um diesen Burkhardt sind einfach nur feige«, sagte Emil. »Greifen sich immer nur ein Opfer, wenn keiner hinsieht. Feige und erbärmlich.«
Er hielt mir seine offene Zigarettenschachtel hin. Ich griff nach der letzten Zigarette und ließ mir von ihm Feuer geben.
»Burkhardt ist nicht der Einzige, der es auf mich abgesehen hat«, sagte Ben, während er seine Zigarette an der Wand ausdrückte.
»Die Wagner ist auch eine doofe Schnepfe«, warf Emil ein.
»Ich musste heute in Mathe an die Tafel «, begann Ben, »hab die Aufgabe aber nicht lösen können.«
Emil ergänzte: »Da hat sie ihn vor der ganzen Klasse zur Schnecke gemacht; rumgezetert und geschrien; gesagt, sein Vater nehme ihn nicht richtig ran; da würde selbst der Rohrstock nichts mehr helfen.«
»Und als ich mich wieder hingesetzt habe, hat sie mir den letzten Test hingeknallt und gemeint, eine Vier sei noch viel zu gut für einen wie mich.«
»Warst du in Mathe nicht sonst immer so gut?«, fragte ich bestürzt.
»Seit ich mit der Wagner hab, nicht mehr.«
»Das geht jedem so«, sagte Emil.
»Ja. Aber Väter anderer Söhne schauen ihnen nicht so über die Schulter wie meiner.«
Ich warf meine Zigarette auf den Boden und wollte sie austreten, als Emil mich zurückhielt.
»Nicht auf dem Boden«, sagte er. »Mach das an der Wand! Und dann steckst du sie ein und entsorgst sie im Mülleimer.«
Ich zögerte, kam seiner Aufforderung aber nach.
»Sobald die herausfinden, dass wir hier rauchen, stellen die Wachpersonal ab.«
»Wagner hat mich eben schon beim Rennen erwischt«, sagte ich.
»Tja. Gewusst, wie«, verkündete Emil und grinste. »Fall nur nicht auf, sonst hast du’s schlecht!«
Ben nickte, warf seinen Rucksack über die Schulter und sagte:
»Auf in den Kampf!«
***
Drei Tage später stand ich im leeren Klassenzimmer vor Frau Wagners Tisch. Ich hatte das Gebäude nicht wie die anderen zur großen Pause verlassen, sondern war zu meinem Spind gegangen und hatte ein Tütchen herausgeholt. Ich ließ drei rote Beeren in meine Hand fallen. Vor mir stand ihr Kräutertee. Sie brühte ihn täglich vor der ersten großen Pause auf und ließ ihn hier ziehen, um ihn während der folgenden 45 Minuten genüsslich zu schlürfen.
Ich sah zur Tür, um sicherzugehen, dass ich allein war. Dann zog ich das Tee-Ei aus der Glastasse und öffnete es nach kurzem Abkühlen. Schon im vergangenen August hatte ich eine Handvoll Früchte des Maiglöckchens getrocknet. Zunächst hatte ich vorgehabt, sie meinem Großvater während Annas Beerdigung ins Essen zu mischen, doch der Tag war anders verlaufen.
Drei Beeren sollten reichen, um Frau Wagner Sehstörungen und Erbrechen zu bescheren. Sie sollte für ein paar Tage zu Hause bleiben, um die Schüler und vor allem Ben nicht terrorisieren zu können.
Das Schrillen der Schulglocke ließ mich zusammenfahren. Hastig ließ ich das Tee-Ei wieder in die Tasse gleiten und steckte die Tüte in meine Jackentasche. Ich verließ den Raum, um mich den anderen Schülern anzuschließen. Durch das Gedränge begab ich mich zum Chemieraum, in dem ich mit meiner Klasse die nächsten zwei Stunden verbringen würde.
Nach gut einer Stunde hörten wir die Sirenen. Wir stürmten an die Fenster und beobachteten, wie ein Krankenwagen auf den Schulhof fuhr. Zwei Sanitäter stürmten ins Gebäude.
In der nächsten großen Pause traf ich Ben und Emil auf dem Hof. Auf dem Weg dorthin hörte ich ein Mädchen vor mir zu einer Mitschülerin flüstern:
»Ein Anaphylaktischer Schock, glaube ich. Sie war die Stunde über irgendwie benommen. Kurz vor Ende der Stunde hat sie über Krämpfe und Sehstörungen geklagt. Dann ist sie einfach zusammengebrochen. Benjamin ist direkt ins Sekretariat und hat Bescheid gegeben.«
Tatsächlich hatte Bens Klasse unmittelbar nach meiner Aktion mit Frau Wagner Unterricht gehabt. Ich wollte, dass er ihre Symptome sah. Er sollte sicher sein können, dass sie für die nächsten Tage keine Bedrohung mehr für ihn war.
»Vielleicht war etwas mit ihrem Tee? Kann doch sein?«, sagte Emil gerade zu Ben, als ich zu ihnen stieß und meinen Rucksack auf den Boden gleiten ließ.
»Das hätte sie doch gemerkt«, antwortete Ben.
»Hab gehört, du hast den Helden gespielt«, sagte ich. »Vielleicht hast du jetzt was gut bei ihr?«
»Wenn sie das überlebt.«
Ich musterte ihn. In seinem Blick erkannte ich Furcht.
»Sie sah nicht gut aus. Wirklich nicht. Sie hat nicht mehr geatmet, als sie sie weggetragen haben.«
Ich schluckte schwer.
»Wer macht sowas?«
»Wie? Wer macht sowas?«, fragte Emil und schien ehrlich überrascht.
»Ich glaube, sie wurde vergiftet«, sagte Ben.
Mein Herz setzte einen Schlag aus. »Wie kommst du darauf?«
»Kann schon sein«, sagte Emil. »Viele haben was gegen sie. Vielleicht hat einer es nicht mehr ausgehalten und wollte sie loswerden?«
»Wenn das stimmt«, fuhr Ben fort, »dann kann es jeder gewesen sein. Selbst einer von uns.«
Emil legte Ben eine Hand auf die Schulter. »Hoffen wir einfach, dass deine schnelle Reaktion sie gerettet hat. Stell dir vor: Vielleicht wirst du noch zum Helden der Schule?«
Jeden Morgen nahm ich Christians Kettchen aus meiner Schublade und dachte an Spike. Ich hatte schon eine Woche lang nichts von ihm gehört. Irgendwie hatte ich das Gefühl, ihn um dieses Kettchen betrogen zu haben.
Es war Mitte Oktober. Der erste Schultag nach den Herbstferien war bisher ruhig verlaufen. Die Bäume machten sich auf den Winter gefasst und färbten ihre Blätter in den schönsten Farben.
Ich saß am Fenster und beobachtete das Treiben der Blätter im Wind. Die Stimme des Lehrers drang kaum zu mir durch, sie war gefiltert wie durch einen Wattebausch. Carina saß neben mir und bemalte den Rand ihres Blocks mit bunten Blumen, während wir dem Gefasel von Felicitas hinter uns folgen mussten. Ihre Stimme übertönte die des Lehrers bei Weitem.
»Und dann ist er einfach aufgestanden, hat seine Hose angezogen und ist gegangen. Kannst du dir das vorstellen?«
»Nicht dein Ernst«, sagte Neele und pfiff verächtlich.
»Ja. Ich hab mich wie eine billige Nutte gefühlt.«
»Du bist eine billige Nutte«, flüsterte Carina neben mir abwesend und schüttelte den Kopf. Ich lachte.
»Er hat nicht mal auf meine Nachrichten geantwortet. Okay, ich bin vielleicht auch ein wenig zickig geworden …«
Felicitas zückte ihr Smartphone und zeigte ihrer Freundin offenbar den Chatverlauf. »Als ich ihn angerufen habe, ist er nicht rangegangen. Dabei ist er mir eine Antwort schuldig.«
»Also seid ihr nicht mehr zusammen?«
»Ich denke nicht. Aber solange ich dazu keine Äußerung von ihm habe, ist die Sache für mich nicht erledigt.«
»Zumal man sich so einen nicht durch die Lappen gehen lässt«, sagte Neele. »Er ist ein Pilgrim. Du bist wochenlang kostenlos in die angesagtesten Clubs gekommen. Und der Sex war ja wohl auch nicht der schlechteste …«
Die beiden kicherten. Ich rollte mit den Augen. Carinas Hand zitterte, was ihren Stift zum Vibrieren brachte. Durch das Kichern war unser Lehrer auf die beiden aufmerksam geworden.
»Felicitas, was haben Sie denn bei der Aufgabe Nummer sechs für ein Ergebnis?«
»Ich glaube …«, stotterte sie.
»Wir sind hier nicht im Religionsunterricht. Wir glauben nicht«, unterbrach sie der Lehrer schroff.
Er drehte sich zu Carina um, dem klassenbekannten Mathegenie, und ließ sie die Gleichung an die Tafel schreiben.
Als Carina zurück an ihren Platz kam, konnte sie sich ein überlegenes Lächeln zum Platz hinter mir nicht verkneifen.
»Sieht dumm aus, redet dumm, läuft dumm«, sagte Carina an mich gewandt. »Ich weiß nicht wie man dumm atmet, aber sie tut es.«
Ich kicherte und fing mir einen mahnenden Blick des Lehrers ein. Gerade schrieb ich die nächste Formel von der Tafel ab, als mein Handy in meiner Hosentasche vibrierte.
»Neues Angebot. Treffen: Siebzehn Uhr im Pont Neuf«, las ich unterm Tisch.
Carina sah mir neugierig auf die Finger. Ich erklärte ihr einsilbig, dass mein Vati eine Frage zur Mülltrennung hatte, und sie nahm die Ausrede kommentarlos hin.
Die letzte Doppelstunde Geschichte war endlich zu Ende und Alex lief lamentierend neben Carina und mir her.
»Das ist der blanke Hoden. Gibt es irgendeinen plausiblen Grund, weshalb ich heute überhaupt gekommen bin?«
Während der Geschichtsstunde hatte unser Lehrer wie üblich irgendwelche Floskeln fallen lassen. Umgangssprachliche Füllsätze, die ihn weiser erscheinen lassen sollten. Doch hätte ihm klar sein müssen, dass es nur lächerlich wirkte.
»Er hat Hohn gesagt«, korrigierte Carina ihn. »Das ist der blanke Hohn.«
»Exakt. Und ich sage Hoden. Das ist der blanke Hoden, was der labert. Wer braucht den Scheiß?«
Alex trabte zur Haltestelle, um seinen Bus zu bekommen, der nur alle zwei Stunden kam.
Carina verabschiedete sich an den Fahrradständern von mir und machte sich auf den Weg zu einer Nachsorgeuntersuchung.
»Wie läuft’s zu Hause?«, fragte ich, als ich Alex eingeholt hatte.
Alex atmete angestrengt aus und schüttelte den Kopf.
»Hab meinem Vater erzählt, dass ich überlege nach diesem Jahr abzugehen.«
»Und?«
»Ich denke, wär meine Mutter nicht dagewesen, hätte er mir eine verpasst. Er war außer sich.«
»Krass.«
»Wie hast du das deinem Vater beigebracht?«, fragte er.
»Gar nicht. Er hat es einfach akzeptiert«, sagte ich schulterzuckend. »Meinte, dass er nur das Beste für mich will. Und wenn ich kein Abitur möchte, dann sei das halt so.«
»Dein Vater ist sau cool.«
»In dem Punkt vielleicht.«
Mir war unwohl zumute, weil ich meinem besten Freund weder von dem Treffen mit Spike noch von dem Gefängnisbesuch erzählt hatte.
Ich nahm mir vor, meine Freunde nach dem Treffen im Pont Neuf einzuweihen. Nachdem ich Alex zu seinem Bus gebracht hatte, machte ich mich auf den Weg zur Kneipe. Als ich vor der beschmierten Eingangstür stand und überlegte, ob ich klopfen sollte, öffnete sie sich wie von Geisterhand. Mika grinste und bat mich herein. Bevor ich reagieren konnte, hatte er mir zwei flüchtige Küsse auf die Wangen gegeben und erklärte, dass Spike noch nicht da sei.
Er wies mich an einen Tisch und verschwand hinter der Theke, um Eimer und Mob zu holen. Ich setzte mich und sah ihm dabei zu, wie er einem Fleck vor der Bar zu Leibe rückte.
Ob die dickflüssige Masse von einem Cocktail oder Erbrochenem herrührte, konnte ich nicht erkennen. Der Gestank von kaltem Zigarettenrauch war allgegenwärtig und übertünchte vielleicht den möglicherweise ätzenden Geruch.
Ich fragte mich, ob er eine Aushilfe beschäftigte oder alles alleine stemmte. Die Kneipe machte nicht den Anschein, als kämen sanfte Gemüter zum Cocktailtrinken hierher. Davon zeugten unzählige Kerben auf dem Holztisch. Mein Zeigefinger fuhr eine größere nach, die vielleicht von einem Messer kam. Ich vernahm ein leises Klopfen. Mika ging zur Tür und öffnete. Spike begrüßte ihn mit zwei Küssen, dann lief er auf mich zu und setzte sich mit einem knappen Hallo.
»Schön, dass du auch noch zu deiner eigenen Verabredung erscheinst«, sagte ich.
»Ich musste noch einkaufen«, sagte er und kramte zur Demonstration eine weiße Bluse aus seinem Rucksack.
Ich grinste. »Die passt dir sicher ausgezeichnet.«
»Ich dachte eher an dich«, entgegnete Spike und hielt mir die Bluse hin. »Größe M müsste passen, oder?«
»Nein.«
»Doch eher eine S?«
»Nein. Das zieh ich nicht an.«
Er rollte mit den Augen und zum ersten Mal verstand ich, warum Vati diese Geste so ätzend fand.
»Aber du bist zu einer Feier eingeladen.«
»Die Einladung muss mir entgangen sein«, wandte ich ein.
»Es gibt keine schriftliche Einladung. Aber ich weiß zufällig, dass dich jemand auf dieser Party sehr gern besser kennenlernen würde.«
»Und wer?«
»Das kann ich leider noch nicht sagen.«
»Sorry, aber dann kann ich dir nicht helfen«, sagte ich. »Ich will dieses Mal wissen, was ich mache. Und warum oder besser für wen.«
Spike zögerte. Sein Blick huschte in Richtung Bar, an der Mika Kisten hin und her schleppte.
»Du hast sicher schon von den McMillans gehört.«
»Bürgermeister McMillan?«, fragte ich.
»Dann hast du mit Sicherheit auch von seiner Ermordung gehört.«
Ich nickte.
»Ich habe den Auftrag, seinen Mörder zu finden.«
»Bist du Polizist?«
»Mein Vater war einer.« Er lächelte reserviert. »Ich bin privater Ermittler, wenn du so willst.«
Ich war erstaunt und sah Spike sofort mit anderen Augen. Gleichzeitig fragte ich mich, ob private Ermittler eine Art Erlaubnis brauchten, denn seine Methoden kamen mir sehr fragwürdig vor.
»Und es ist nun enorm wichtig für meine Arbeit«, fuhr er fort, »dass ich so viel wie möglich über die Verhältnisse innerhalb der Familie herausfinde.«
»Und dafür brauchst du ausgerechnet mich?«
»Ich weiß, dass du jemanden von ihnen kennst.«
»Bitte? Ich und die Familie McMillan? Die gehen alle aufs Privatgymnasium und sind immer unter sich. Sehe ich so aus, als würde ich in deren Milieu gehören?«
Spike lehnte sich auf den Ellenbogen zu mir vor. »Dann formuliere ich um: Einer von ihnen kennt dich. Vielleicht hast du einen heimlichen Verehrer?«
Ich schnaubte verächtlich.
»Fakt ist: Der Bürgermeister wurde ermordet. Entweder aus Gier nach Macht oder aus Rache. Ich will wissen, wer ein Interesse an seinem Tod hatte.«
»Du meinst, Theodor McMillan hat seinen eigenen Vater umgebracht?«
»Das hab ich so nicht gesagt. Natürlich, er profitiert von seinem Tod. Aber das heißt noch lange nicht, dass er der Mörder ist. Du sollst für mich lediglich Kontakt zur Familie McMillan herstellen. Alles Weitere überlässt du mir!«
»Und wie genau soll ich das machen?«
»Lass das meine Sorge sein«, antwortete Spike und schob die weiße Bluse über den Tisch. »Halt dir einfach den Mittwochabend frei und geh mit mir auf diese Party! Okay? «
Ich zögerte. Meine Neugier war geweckt, denn es ging immerhin um die reichste Familie der Region. Ihr Machtbereich erstreckte sich nicht nur aufs Bürgermeisteramt. Sie handelten auch mit Autoteilen und Immobilien. Sogar eine Lederwarenkette war nach ihnen benannt.
»Du bekommst natürlich auch etwas als Gegenleistung«, sagte Spike.
»Das dachte ich mir. Du überlegst dir sehr gut, wie du dein Gegenüber ködern kannst.«
»Hab ich bei dir Erfolg?«
»Kommt drauf an.«
Spike sah mich forschend an. »Wo hast du das Geld vom letzten Mal?«
»Geht dich nichts an.«
»Du hast kein eigenes Konto. Also gehe ich davon aus, dass du es in deinem Zimmer versteckt hast. Dein Vater soll nichts davon wissen.«
Es war gruselig, dass er mit seinen Vermutungen immer wieder ins Schwarze traf. »Ich eröffne ein Konto auf deinen Namen. Dann kannst du dein Geld darauf verwalten.«
»Brauche ich dafür nicht die Einverständniserklärung meines Vaters?«
»Die brauchst du auch für einen Besuch im Gefängnis.«
Spike grinste schelmisch. Ich hatte noch niemals die Unterschrift meines Vaters gefälscht. Es war nie nötig gewesen, weil ich im Gegensatz zu Alex keinen Hausarrest zu befürchten hatte. Aber Spike schien sowohl seine Unterschrift zu kennen, als auch perfekt imitieren zu können.
»Wenn du mir bedeutende Hinweise lieferst, die mich auf die Spur des Mörders bringen, zahle ich auf das Konto Geld für deinen Führerschein ein.«
»Du bezahlst mir meinen Führerschein?«
»Man kann nicht früh genug mobil sein«, sagte Spike und hielt mir seine Hand über den Tisch hin, als wolle er mit mir Armdrücken. »Bist du dabei?«
Ich schlug ein.
»Dann sehen wir uns übermorgen pünktlich neunzehn Uhr vor deiner Haustür. Und zieh die Bluse an!«
Spike hatte mich nicht wie erwartet mit seinem Motorrad abgeholt. Stattdessen war ein silberner Mercedes vorgefahren. Ich hatte ihn nur wahrgenommen, weil es in unserem Viertel selten passierte, dass man solch einen teuren Wagen zu Gesicht bekam. Und wenn, dann war er schnell wieder verschwunden.
Wir fuhren quer durch die Stadt und hielten im westlichen Villenviertel.
Er parkte den Wagen vor einer blau verputzten Villa, die von einer dichten Hecke umgeben war. Bevor wir ausstiegen, erinnerte er mich daran, kein Aufsehen zu erregen, mich nur mit meinem Vornamen vorzustellen, mir notfalls einen Nachnamen auszudenken und dass ich heute offiziell volljährig war. Zuvor griff er jedoch nach meinem Dekolleté und öffnete mit einer geschickten Handbewegung den oberen Knopf meiner Bluse. Sofort schlug ich nach seiner Hand, die er ergeben hob.
»Ganz ruhig!«
Er deutete mit dem Zeigefinger auf einen kleinen, schwarzen Stick in seiner Hand.
»Was ist das?«, fragte ich und knöpfte meine Bluse wieder zu.
»Eine Wanze. So bekomme ich mit, was du mitbekommst, und kann notfalls eingreifen. Außerdem müssen wir das Treffen im Anschluss nicht auswerten.«
»Warum hast du mir sowas nicht schon im Gefängnis gegeben?«
»Ich wusste nicht, ob sie dich durch den Metalldetektor schicken. Da wäre sie sofort aufgefallen.«
»Okay«, sagte ich. »Wo muss sie hin?«
Spikes Hand näherte sich langsam wieder meinem Dekolleté. Er öffnete erneut den Knopf und befestigte das winzige Kästchen mit einem Klebestreifen an der Innenseite der Bluse. Dann knöpfte er sie wieder zu.
»Also, bist du bereit?«
Ich nickte und stieg aus. Ein gelber Sportwagen, der mich an Bumblebee aus Transformers erinnerte, steuerte die Parklücke neben uns an. Er war tiefergelegt. Die Felgen waren schwarz umrahmt und erst im Stehen erkannte ich, dass auf ihnen ein Emblem prangte: ein geschwungenes P. Die Beifahrertür öffnet sich und eine Frau stieg aus. Zuerst nahm ich ihre knallroten High Heels wahr, dann das grellrote Kleid.
Der Wasserfallausschnitt umspielte ihr Dekolleté und bedeckte nur knapp ihren Bauchnabel. Ihre grünen Augen strahlten mich an und ihr blondes Haar fiel glänzend über ihre Schultern.
Das Zufallen der Fahrertür ließ mich aus meiner Trance erwachen. Das Gesicht des Fahrers kam mir bekannt vor. Als er vor mir stehen blieb, erkannte ich: Es war der Besucher aus dem Gefängnis. In diesem Aufzug hätte ich ihn fast nicht erkannt. Er trug ein dunkelblaues Hemd, das er weit offen gelassen hatte, wodurch man sein silbernes Kettchen und das Brusthaar darunter erkennen konnte.
»Hey, ich bin Damian Pilgrim.«
»Steven Malec«, sagte Spike und gab ihm die Hand.
Sie nickten einander zu. Gleich darauf griff Damian nach meiner Hand und gab mir einen Kuss darauf. Meine Hand spannte sich unweigerlich an.
»Und du musst Julia sein. Freut mich«, sagte er und stellte mit einem Seitenblick seine Begleitung vor. »Das ist Maja.« Ich reichte ihr die Hand und war überrascht, als sie diese ergriff und mir jeweils einen Kuss auf jede Wange gab.
»Hey Julia. Schön dich kennenzulernen«, sagte sie mit weicher Stimme.
Damians Hand war unterdessen an ihre Taille gewandert. Als er ihre Hüfte zu fassen bekam, drückte er sie an sich und rief euphorisch: »Dann lasst uns mal feiern!«
Ich spürte Spikes Hand an meinem Arm. Sofort zog ich ihn weg, doch er hakte sich bei mir unter und führte mich den beiden hinterher zum Eingang.
Mir wurde bewusst, dass ich mehr Dekolleté zeigte als gewohnt, und fühlte mich unangenehm freizügig. Noch nie war ich auf eine Party mit Kleiderordnung gegangen. Spike hingegen schien wie gemacht für seinen Aufzug. Er trug ein einfaches, weißes Hemd und eine graue Anzughose. Als wir die Stufen hinaufstiegen, schien es, als würde Spike jede Bewegung von Maja verfolgen. Auch ich konnte meinen Blick nicht von Majas Po lassen.
Damian hielt uns die Tür auf. Wir betraten das Foyer, in dessen Mitte ein gigantischer Kronleuchter von der Decke hing. Im hinteren Bereich gab es eine Bar, an der eine Handvoll Gäste ohne Ende Getränke ausschenkte. Die angeregten Gespräche der Leute übertönten nur bedingt die alternative Rockmusik, die aus diversen Boxen klang. Mich nahm offenbar niemand wahr. Nur zwei Männer gingen sofort auf Damian zu und begrüßten ihn samt Begleitung.
Spike und ich setzten uns auf zwei Barhocker. Neben uns führte eine riesige Schiebetür auf den Hof, auf dem sich ein meterlanger Pool erstreckte. Ich war fasziniert vom Luxus und gleichzeitig abgeschreckt davon.
Ich musterte die Leute, die in Grüppchen zusammenstanden, sich unterhielten und an ihren Gläsern nippten.
Mein Blick blieb an einer blonden Frau mit einem Baby hängen, die neben der Bar auf einem dick gepolsterten Sofa saß. Es war in ein blaues Tragetuch gepackt und spielte mit seinen Fingern am Mund. Seine Mutter strich zärtlich über seine Wange, während sie sich mit umstehenden Gästen unterhielt.
Ein lautes Klirren ließ mich aufmerken. Ich folgte Spikes alarmiertem Blick und sah einen Mann die Treppe hinuntertorkeln, der sein Glas wohl gegen die Eingangstür geschmissen hatte. Er ging durch die Tür, gefolgt von zwei breitschultrigen Männern.
Spike stieß mich leicht mit dem Ellenbogen an und reichte mir ein Glas.
»Sie haben für Security gesorgt«, erklärte er mir.
Ich schaute zur Tür und nahm einen Schluck aus dem Glas. Sprite. Natürlich, ich war noch minderjährig. Es wunderte mich, dass er sich an derartige Vorschriften hielt.
Nach ein paar Minuten kamen die zwei Männer zurück und positionierten sich mit verschränkten Armen an der Tür.
Kurz darauf betraten zwei weitere Männer das Haus und ich zuckte erschrocken zusammen, als die Gäste Jubelschreie ausstießen. Einige erhoben sich von ihren Sitzplätzen und fingen an zu klatschen. Ein Kellner reichte den Neuankömmlingen Sekt und als der Applaus abgeebbt war, stieß man miteinander an. Als sich einer der Männer in unsere Richtung drehte, erkannte ich ihn. Es war dieser Punk aus dem Gefängnis. Irritiert sah ich Spike an.
»Du kennst ihn?«
»Ja«, antwortete ich. »Eigenartiger Zufall.«
»Zufälle – an solchen Quatsch glaube ich nicht«, antwortete Spike, trank einen kräftigen Schluck und rutschte vom Barhocker. »Lass uns rübergehen!«
»Spinnst du? Ich denke, wir beobachten nur?«
»Richtig, aber von dort drüben kann man hören, was sie sagen.«
Wir stellten uns ein paar Meter von den beiden Männern entfernt an die Wand und warteten.
Ich wagte einen zweiten Blick auf den Punk, der gerade von der Mutter mit dem Baby begrüßt wurde. Seine Haare waren dunkelrot gefärbt. Er trug ein rotkariertes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln.
Als er einem Mann die Hand gab, erkannte ich ein Tattoo auf der Innenseite seines Unterarms: ein grüner Stern.
Der Mann neben dem Punk hatte damals die Fenster im Gefängnis geputzt. Ich erkannte ihn an seinen hellgrünen Augen, mit denen er die Umstehenden beobachtete. Doch auch wenn Leute mit ihm redeten, kehrte seine Aufmerksamkeit immer wieder zu seinem Begleiter zurück.
»Ich hab die beiden im Gefängnis gesehen«, sagte ich an Spike gewandt. »Aber ich kenne sie nicht näher. Was soll ich also hier?«
Spike räusperte sich vernehmlich, weshalb der Blick des Punks auf mich fiel.
»Ist ja nicht wahr«, rief er.
Die Leute um ihn her drehten sich zu mir um. Mit einer Handbewegung verschaffte er sich Platz.
»Du hast mich also nicht aus dem Kopf bekommen, was?«
Seine braunen Augen funkelten und auf seinen Lippen lag ein süffisantes Lächeln. Ich grinste zurück und bemerkte, dass Damian zusammen mit Maja zu uns gestoßen waren.
»Ihr kennt euch?«, fragte sie überrascht.
Der Punk sah sie irritiert an. »Ja. Und woher kenne ich dich?«
»Sie gehört zu mir.«
Damian begrüßte ihn mit einem Handschlag, gefolgt von einer Umarmung. Spike taxierte mich kurz, als wolle er von meinem Gesichtsausdruck auf meine Gedanken schließen.
Unterdessen hatte sich die Traube vor der Tür aufgelöst. Der Mann aus dem Gefängnis redete mit einem der Security-Männer, wobei er sich durchs kurzgeschorene Haar strich. Ab und zu warf er uns einen warnenden Blick zu, als wäre er jeden Moment dazu bereit, seinen Freund zu beschützen.
»Mann, Damian!«, sagte der Punk. »Schön, dass du da bist.«
»Man kommt nicht jeden Tag aus dem Knast, oder?«
»Musst du ja am besten wissen.«
Damian lachte zwar, doch es klang ein wenig bitter. Als sich der Punk abrupt zu mir drehte, wich ich automatisch zurück.
»Hey, wir kennen uns ja noch gar nicht«, sagte er und reichte mir die Hand. »Ich bin Arthur. Arthur McMillan.«
»Ich heiße Julia«, antwortete ich.
Er sah zu Spike und seine Gesichtszüge verhärteten sich. Obwohl ihre Blicke etwas Rivalisierendes an sich hatten, begrüßten sie sich höflich.
»Willst du was trinken?«, fragte Arthur.
Ich stimmte mit einem Seitenblick auf Spike zu, obwohl ich noch das Glas Sprite an der Bar stehen hatte. Spike folgte uns, sah dann aber auf das Display seines Handy und nahm einen Anruf an. Maja und Damian verschwanden in der Menge. Arthur bestellte zwei Bier, trank einen großen Schluck und fragte:
»Und? Wie hast du von der Feier erfahren?«
»Ach«, antwortete ich, »über Freunde.«
»Krass. Bis vor einer Stunde wusste ich noch gar nichts von der Fete. Voll die Überraschung.«
»Das war ja auch der Sinn.«
»Aber dass du auftauchst«, sagte er mit süffisantem Grinsen. »Echt nett.«
Er stieß mit mir an. Ich nippte an dem Bier und musste mich zusammenreißen, um mein Gesicht nicht zu verziehen. Dieses Gesöff trank außer meinem Vater nur Alex, aber nicht weil es schmeckte, sondern weil es billig war.
»Wie geht’s deinem Onkel?«
»Onkel?«, echote ich.
»Na, Christian. Wann kommt der eigentlich raus?«
»Ach, … der sitzt noch lange.«
»Willst nicht drüber reden, was?«
»Nein, nicht wirklich.«, sagte ich.
»Ich kenne das.«
»Und weshalb musstest du den Boden schrubben?«
Ein Lächeln trat auf sein Gesicht. »Verdacht auf Rauschmittelmissbrauch.«
»Verdacht?«
»Ja, war in U-Haft. Riley hätten sie auch beinahe hopsgenommen, aber er konnte sich rausreden.«
Er nickte zu seinem Begleiter, der uns an die Bar gefolgt war und in einigem Abstand von uns entfernt stand. Seine jadegrünen Augen durchdrangen mich förmlich, sodass ich den Blick schnell abwandte.
»Dein Bodyguard?«
»Nee, eigentlich mein Patenonkel. Er weicht mir aber nicht von der Seite, seit …« Er beendete seinen Satz nicht, sondern sah an mir vorbei. »Man weiß ja nie, was passiert.«
Während Arthur die Augenbrauen zusammenzog und das Bier ansetzte, hupte ein Wagen vor der Tür. Ich blickte zur Tür und sah ein Mädchen mit weißblonden Haaren den Raum betreten. Sie trug ein schlichtes, schwarzes Kleid mit blickdichter Stumpfhose. Ihr unnahbarer Blick glitt über die Menge, bis sie auf einen jungen Mann mit hellbraunen Haaren zuging.
»Auch der noch«, sagte Arthur, der die Szene ebenfalls verfolgt hatte, und betrachtete den mir Unbekannten wie ein Insekt, das es zu zertreten galt. »Darf ich vorstellen: mein kleiner Bruder.«
»Du magst deinen Bruder nicht besonders, sehe ich das richtig?«
»Er ist okay. Wir haben im Moment nur ein paar … Meinungsverschiedenheiten. Justin ist der Einzige, der noch bei unseren Eltern …« Er stutzte und korrigierte: »meiner Mutter wohnt.«
»Und euer Vater?«
»Der ist tot«, brachte Arthur mühsam hervor, nachdem er tief eingeatmet hatte. »Und statt zu trauern oder sich um sein Erbe zu kümmern, hurt er durch die Gegend.«
Vor mir saß also der Sohn unseres ehemaligen Bürgermeisters Bruce McMillan. Ich sah erneut zu Arthurs Bruder. Das Mädchen stritt sich offenbar mit Justin. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und schüttelte abwehrend den Kopf.
»Wie heißt sie?«, fragte ich.
»Sandra, Selina, Saskia … irgendwas in dem Dreh. Ich habe es aufgegeben, mir all die Namen zu merken. Aber ich denke …« Arthur legte seinen Daumen ans Kinn. »Ja, sie heißt Saskia.«
Langsam zogen die beiden die Aufmerksamkeit der umstehenden Gäste auf sich. Ihre Stimmen wurden lauter und Saskia begann zu weinen.
»Willst du nichts unternehmen?«, fragte ich.
»Das geht mich nichts an.«
Gerade als ich mich von der Szene abwandte, nahm ich im Augenwinkel wahr, dass Justin Saskia mit der Faust ins Gesicht schlug. Sie taumelte zurück und fiel auf den Boden. Die Menge verstummte. Eine Welle der Wut überkam mich und ich ging mit festen Schritten auf Justin zu. Dieser baute sich vor Saskia auf und schrie:
»Du kannst mit jedem anderen gevögelt haben.«
Abrupt riss ich ihn an seiner Schulter zu mir herum und schlug ihm mit voller Wucht ins Gesicht. Meine Faust traf auf seine Nase.
Justin torkelte rückwärts, blieb an die Wand gelehnt stehen und hielt die Hände an sein schmerzverzerrtes Gesicht. Blut quoll aus seinen Nasenlöchern. Augenblicklich umfassten mehrere Hände meine Arme und zogen mich zurück. Ich wehrte mich dagegen. Justin ließ die Hände sinken, sodass das Blut ungehindert an ihm herabfloss. Er ging auf mich zu und ein kaltes Grinsen verzerrte sein Gesicht.
»Aufhören!«, schrie Arthur hinter mir. Riley stellte sich Justin in den Weg und sagte mit fester Stimme: »Das reicht!«
»Diese kleine Schlampe«, fluchte Justin und versuchte an Riley vorbeizukommen.
»Keine Gewalt gegen Frauen! Verstanden, Justin?«, sagte Riley.
»Sie ist mein Gast«, sagte Arthur, der sich neben mich gestellt hatte. »Fass sie noch einmal an und ich schwöre, ich schlag dich grün und blau!«
»Du bist dran!«, schrie er seinem Bruder entgegen und drückte sich mit der Schulter gegen Riley.
Dieser nahm ihn in den Schwitzkasten und führte ihn in Richtung Tür. Justins Gesicht war rot angelaufen. Er zog und zerrte, konnte sich aber nicht aus dem Griff befreien. Er biss in Rileys Hand, der das Gesicht vor Schmerz verzog.
»Ich krieg dich noch, du Schlampe!«, brüllte Justin. »Und dich auch, Bruder!«
Die Security-Männer ließen mich los und nahmen Abstand – auch Arthur. Saskia lag noch immer am Boden und rieb sich die Schulter.
Ich ging zu ihr.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich und bot ihr meine Hand an.
Sie schlug sie weg und erhob sich aus eigener Kraft. Dabei hatte sie eine Hand auf ihren Bauch gelegt. Dann blickte sie mich abschätzig an und ging zur Haustür hinaus. Spike umfasste mein Handgelenk und zog mich unsanft aus dem Foyer bis auf den Parkplatz. Saskia war bereits verschwunden.
Als wir an dem silbernen Mercedes angekommen waren, ließ er mich los und schrie:
»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«
»Wieso? Man schlägt keine Frauen.«
»Aber wir wollten kein Aufsehen erregen.«
»Ist mir Schnuppe«, keifte ich. »Der hat sie geschlagen, der kriegt eine aufs Maul. So mach ich das eben. Sorry, wenn es dir nicht passt.«
Spike schüttelte den Kopf und hielt mir die geöffnete Hand hin.
»Die Wanze!«
Ich riss das Klebeband von der Bluse und hielt ihm den Gegenstand hin. Er steckte ihn in die Hosentasche, dann lief er um den Mercedes herum.
»Du hast es versaut«, sagte er beim Öffnen der Fahrertür. »Ich bring dich nach Hause.«
Auf dem Rückweg sprachen wir kein Wort miteinander und ich war heilfroh, als Spike in meiner Straße hielt und ich aussteigen konnte.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle schauten Alex und ich einen der Flyer an, die Liam heute auf dem Schulhof verteilt hatte. Es zeigte das Gesicht seines Vaters, der sich zu Bürgermeisterwahl aufstellen ließ. Er hatte ebenso wie sein Sohn strohblondes Haar, das er jedoch zu einem langen Zopf gebunden hatte. Seinen Mund umgab ein ähnlich frisierter Bart wie der von Damian.
»Cholera oder Pest – McMillan oder Pilgrim«, sagte Alex. »Ich wähl den dritten Typen. Den … wie hieß er noch gleich?«
»Keine Ahnung. Der wird’s eh nicht.«
»Na, und? Meine Stimme bekommt keiner dieser Bonzen. Erst recht nicht der Vater dieses blondhaarigen Schnösels.«
Wir waren an der Haltestelle angekommen und blickten auf zwei Wahlplakate. Eines zeigte Vincent Pilgrim, der mit verschränkten Armen und harten Gesichtszügen in die Kamera stierte. Von der anderen Seite lächelte uns Theodor McMillan entgegen. Im Gegensatz zu Liams Vater wirkte er aufgeschlossen und freundlich. Zudem machte er mit seinem roten Hemd und der schwarzen Weste einen weniger steifen Eindruck als Pilgrim im Nadelstreifenanzug.
»Wär der alte Bürgermeister nicht tot, müssten wir uns darüber eh keine Gedanken machen«, sagte Alex. »Obwohl mein Vater dann vielleicht mehr Zeit Zuhause verbringen würde und das wäre auch nicht der Burner.« Ich runzelte die Stirn und Alex erklärte weiter. »Mein Vater ermittelt wegen des Mordes.«
»Ach, wirklich?«
»Ja. Wegen des Bürgermeisters und der bevorstehenden Wahl wird ein riesen Gewese gemacht.«
»Und wie gehen die Ermittlungen voran?«
Noch während ich die Frage aussprach, merkte ich, dass die Frage untypisch für mich war. Alex hob kurz die Augenbraue, antwortete mir jedoch gleich:
»Keine Ahnung. Sie befragen seit Wochen ein Familienmitglied nach dem anderen. Es gibt offenbar tausend Verdächtige. Und dann noch diese Scheiße von wegen: Ist der Siebenschläfer wieder aktiv? Ich mein: Der hat vor Jahrzehnten gemordet. Als ob der jetzt noch immer morden würde. Wie alt mag der sein? Sechzig? Ist doch lächerlich, oder?«
Ich nickte. Mir fiel die Frage ein, die ich Christian im Gefängnis stellen sollte: »Hat das Tier überlebt?« War damit der Siebenschläfer gemeint? Suchte Spike den Siebenschläfer bei den McMillans? Ich war versucht, Alex alles zu erzählen. Es war ein beklemmendes Gefühl, ihm verheimlichen zu müssen, was mich seit Tagen beschäftigte.
Aber ich wollte meine Freunde aus der Sache raushalten, um sie nicht zu gefährden. Alex riss mich aus meinen Gedanken: »Wo ist Cari eigentlich so schnell hin? Wieder ins Krankenhaus?«
»Ja, zur Nachsorge. Überprüfen, was die Kur gebracht hat.«
»Schon wieder ein Belastungstest?«, fragte er besorgt.
»Das sind nur Kontrolluntersuchungen«, beschwichtigte ich ihn. »Sie ist ohne Symptome. Die Kur hat ihr offenbar gut getan.«
Er blickte zu Boden. »Na, hoffen wir’s.«
Von unseren Mitschülern wusste niemand etwas von Carinas Asthma und der Kur. Felicitas mochte den Anfang ihrer Erkrankung noch mitbekommen haben, bis Carina sich von ihrer Clique gelöst hatte.
Gleich nach dem Tod von Carinas Mutter hatten die Untersuchungen begonnen. Der Krebs schien genetisch bedingt zu sein und so ging Carina regelmäßig zum Arzt und ließ sich durchchecken. Ein Asthmaspray hatte sie nun seit der Kur immer bei sich. Nachdem Alex in seinen Bus gestiegen war, steckte ich mir meine Kopfhörer ins Ohr und setzte mich auf die Haltestellenbank. Ich hatte noch keine Lust nach Hause zu gehen, wo ich mit meinen Gedanken völlig allein war.
Neben dem Hauseingang gegenüber stand ein Mann, der rauchte und mich dabei anstarrte. Es war Riley McMillan. Mich überkam eine Gänsehaut und ich fragte mich, wie lang er mich wohl schon beobachtete. Ich stand auf, schulterte meinen Rucksack und ging zu ihm. Während ich die Straße überquerte, folgten seine grünen Augen jeder meiner Bewegungen.
Als ich ihm gegenüber stand und ihm die Hand reichen wollte, ließ mich ein Rascheln aus dem Busch neben mir zusammenfahren.
Verdutzt blickte ich Arthur an, der hervorgesprungen war und laut lachte.
»Dich kann man wohl nicht so leicht aus der Ruhe bringen, was?«
»Die Aktion auf jeden Fall nicht«, bestätigte ich. »Was machst du hier?«
»Ich wollte dich einladen. Am Montag findet ein Rennen am Hafen statt.«
»Ein Rennen?«
Arthur beugte sich leicht vor und flüsterte: »Mehr oder weniger legal. Aber wenn jemand fragt, testen wir nur die Reifen, bevor die Wagen verschifft werden.«
Er zwinkerte mir zu und erhob sich wieder zur vollen Größe. Vielleicht war er zehn Zentimeter größer als ich.
Ich fragte mich, wie er mich gefunden hatte, traute mich aber nicht, ihn darauf anzusprechen. Wahrscheinlich würde er ohnehin eine Lüge erzählen. Spike hatte meine Daten übers Einwohnermeldeamt herausbekommen. Vielleicht hatte Arthur als Sohn des ehemaligen Bürgermeisters und Sprössling des McMillan-Clans ähnliche Informationsquellen?
»Bist du dabei?«, fragte Arthur.
Wenn ich zusagte, konnte ich Spike vielleicht doch noch die erhofften Informationen verschaffen? Das Treffen in der Villa war wegen mir wenig aufschlussreich verlaufen.
»Klar. Wann soll ich da sein?«
»Ich hol dich ab. Wo wohnst du?«
Ich zögerte und Arthur disponierte um. »Du kannst mir auch einfach deine Nummer geben und ich ruf dich an. Dann sagst du mir, wo du gerade bist und ich komm zu dir.«
Er zückte sein Smartphone und ich gab ihm meine Handynummer.
»Alles klar. Dann sehen wir uns am Montag. Ich freu mich.«
Riley hatte unterdessen seine Zigarette aufgeraucht und am Boden zertreten. Wortlos verabschiedete er sich, während Arthur das Victory-Zeichen bildete und seinem Onkel grinsend folgte.
Ich wollte Spike schleunigst von dem Treffen mit Arthur erzählen und machte mich auf den Weg zu Mikas Bar. Wenn ich ihn dort nicht traf, könnte ich zumindest fragen, wo ich ihn finden konnte.
Dumpfe Musik und Gegröle drang an meine Ohren, als ich die Tür des Pont Neufs öffnete. Obwohl die Sonne erst in etwa einer Stunde unterging, sah es durch die heruntergelassenen Rollos aus, als wäre hier tiefste Nacht. An der Bar saßen sechs Männer mit erhobenen Gläsern, die eine unverständliche Hymne brüllten. Wie bei Hooligans endete der Gesang in einem lauten Aufschrei.
Die Tische der Kneipe waren ebenfalls besetzt. Manche Frauen saßen auf dem Schoß ihres Begleiters. Alle waren ins Gespräch vertieft. Ein unverständliches Rauschen, das ab und zu von einem lauten Lachen übertönt wurde, war allgegenwärtig. Am Billardtisch standen drei Männer, die einem vierten dabei zusahen, wie er sich konzentriert über den Tisch beugte.
In all diesem Chaos erblickte ich Mika, der vor einem Tisch hockte und Scherben vom Boden auffegte. Ich wartete, bis er die Scherben aufgelesen hatte und auf dem Weg in die Küche war. Neben dem Tresen fing ich ihn ab. Er runzelte die Stirn.
»’allo. Was machst dü ’ier?«
»Ich suche Spike. Kannst du mir helfen?«
»Im Moment ganz schlecht.«
»Aber …«, begann ich, doch Mika ging an mir vorbei und verschwand hinter einer Tür.
Ich griff mir ein Tablett vom Tresen. Damit ging ich zu den Tischen und sammelte die leeren Gläser ein.
Die Gäste verlangten Nachschub. Ein ganzer Tisch brüllte im Einklang und hob die Hände. Ich eilte zur Bar, stellte das Tablett klirrend ab und suchte nach sauberen Gläsern. Nachdem ich erfolglos die Schränke der Theke durchsucht hatte, begann ich die Gläser abzuspülen. In diesem Moment kam Mika aus der Küche.
»Was machst dü?«, fragte er erschrocken.
»Ich rette dir den Arsch«, sagte ich. »Der Tisch da vorn will zehn Bier; deine Gläser sind alle dreckig.«
Ohne weiter zu fragen, schnappte er sich ein Glas, das ich gespült hatte, und begann zu zapfen. Als er das Bier am Tisch verteilte, hörte ich, wie ein Gast zu ihm sagte:
»Hey, Mika, hübsche Aushilfe. Wurde auch Zeit für eine Neue.«
»Merci«, sagte er und kam mit dem Tablett leerer Gläser zu mir zurück. »Bleibst dü ’ier?«
Ich nickte ihm zu und nahm das Tablett entgegen. Ein heruntergekommener Mann mit fleckigem Hemd hatte sich neben mich an die Spüle gestellt und fragte mich unablässig nach meinem Namen. Schließlich sagte ich den erstbesten Namen, der mir einfiel: Bea. Ich sagte ihm, er solle sich selbst überlegen, ob es eine Abkürzung für Tabea, Beatrice oder sonst einen Namen stand.
»Bist du in nächster Zeit öfter hier?«, fragte er.
»Nein«, antwortete ich.
»Das ist aber schade. Bist voll nett«, sagte er, nahm sein Bier und setzte sich an einen Tisch.
Ich war froh, ihn losgeworden zu sein, und richtete meinen Blick starr auf die Spüle, um weiteren Gesprächen aus dem Weg zu gehen.
Kurz vor Mitternacht stand ich immer noch an der Bar. Viele Gäste hatten die Kneipe bereits verlassen. Nur ein paar Schnapsleichen hingen an der Bar und zwei Grüppchen waren auf die Tische verteilt. Mika trat hinter mich an die Bar. Das Klicken der Kasse erklang, dann legte er einen Fünfzig-Euro-Schein neben mir ab.
»Dein Trinkgeld«, sagte er lächelnd.
»Danke.«
»Isch ’abe zu danken. Gerne wieder.«
Er stellte sich neben mich und trocknete die abgewaschenen Gläser ab. Tatsächlich konnte ich mir gut vorstellen, hier zu arbeiten. Vielleicht kam ich auf sein Angebot zurück.
»Wegen vorhin«, begann ich. »Weißt du, wo ich Spike finde?«
»Spike, ’e? Was willst dü von ihm?«
»Ich hab Neuigkeiten für ihn.«
»Ah, je comprends«, sagte er und warf sein Spültuch über die Schulter.
»Kannst du mir nicht einfach verraten, wo Spike steckt?«
»Non, ma chérie«, antwortete er.
Ich stöhnte genervt auf.
»Er findet disch.«
Ich gab es auf, brauchbare Informationen zu bekommen und trocknete meine Hände. In diesem Moment öffnete sich die Ladentür und Saskia trat ein. Ihr linkes Auge hatte eine bläuliche Färbung angenommen, die sie mit ihrem schräg gekämmten Pony nur schwer verbergen konnte. Sie sah mich irritiert an, dann ging sie schnurstracks auf Mika zu und begrüßte ihn mit zwei Wangenküssen.
»Ça va?«
»Bien. Sag mal, Mika.« Saskia schaute flüchtig zu mir hinüber und sprach leise weiter. »Könntest du mir vielleicht meinen Rest Lohn bar auszahlen?«
»Pourquoi?«
»Weil …«, sie sah mich erneut an. »Ich muss mir ein Zimmer für die Nacht nehmen.«
Mika wartete einige Augenblicke und ging zur Kasse hinter mir. Um den beiden genügend Freiraum zu geben, lief ich zur Garderobe und zog meine Jacke an. Er nahm eine Handvoll Geldscheine aus dem Kassenfach und reichte sie Saskia.
»Was ist passiert?«
Saskia wandte ihren Blick ab und strich über ihre linke Augenbraue.
»Das ist halb so wild. Nichts, eigentlich.«
Mika legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Dü kannst mir alles erzählen. Das weißt dü!«
Sie nickte. Als ich zur Bar zurückkehrte, um meinen Rucksack zu holen, standen ihr Tränen in den Augen.
»Ich hatte einen Streit mit meinen Eltern.«
»Haben sie …?«
Saskia schüttelte schnell den Kopf.
»Es war Justin«, sagte ich und erntete einen vorwurfsvollen Blick von ihr.
»McMillan?«, fragte Mika. »Dein Freund?«
Sie senkte den Kopf, nickte dann aber.
»Pourquoi?«
»Ich bin schwanger.« Sie schluchzte. »Er will es nicht. Meine Eltern auch nicht. Niemand will es.«
Mika schloss sie wortlos in die Arme und die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus.
»Meine Freundin ist nicht online. Ich kann keinen erreichen. Ich weiß nicht wohin, Mika. Wo soll ich hin?«
Die Gäste starrten in unsere Richtung und ich starrte zurück. Das war ein privates Gespräch. Mich gingen Saskias Probleme schon wenig an, doch diese Leute überhaupt nicht.
»Du bleibst hier«, sagte Mika.
Er löste sich von ihr und schob sie zu mir hinter die Bar. Sie wich meinem Blick aus und nahm Abstand. Mika trat in den Raum und verkündete, dass das Pont Neuf nun leider schließen musste. Es gab vereinzelte Proteste, doch letztlich zückten alle ihr Portemonnaie.
»Hast du irgendwas dabei?«, flüsterte ich. »Schlafsachen? Zahnbürste? Falls du was brauchst …«
»Ich brauch deine Hilfe nicht«, blaffte Saskia.
Ich zog die Augenbrauen hoch und wandte den Blick ab. »Okay.«
Als Mika die Gäste abkassiert hatte und alle sich auf den Weg machten, kam er wieder hinter die Bar zu Saskia. Er schrieb ihr einen Zettel und drückte ihn ihr mit einem Schlüsselbund in die Hand.
»Isch mach ier alles fertig, dann komme isch zu dir. Tu as compris?«
Sie besah sich den Zettel und nickte. »Das find ich.«
Mika lächelte einfühlsam. »Isch beeile misch.«
Saskia bedankte sich bei ihm mit einer Umarmung. Dann verließ sie die Kneipe. Wir sahen ihr nach.
»Hilfst dü mir?«
»Aber sicher doch«, sagte ich schmunzelnd.
Ich legte meinen Rucksack wieder hinter die Bar und begann die Tische abzuräumen. Mika putzte die Spüle, während ich ihm die restlichen Gläser brachte.
»Woher kennst du Saskia?«, fragte er.
Ich fegte gerade vor der Theke und rückte die Barhocker an die richtige Position.
»Ich war dabei, als Justin ihr vor zwei Tagen eine reingehauen hat. Hab ihm sofort eine dafür verpasst.«
Mika spitzte anerkennend die Lippen.
»Dass sie schwanger ist, ist mir aber auch neu.«
Wir schauten beide zur Tür, als würde Saskia dort noch immer stehen.
»Isch werd mit ihr reden. Wischtig ist nür, dass sie eine Bleibe ’at.«
Ich nickte und fegte weiter. Zehn Minuten später verkündete Mika, dass es genüge. Er müsse nur noch die Kasse abrechnen.
»Dann kann ich ja gehen«, sagte ich.
»Wenn dü noch eine Augenblick warten würdest?«
»Okay? Wenn du mir verrätst, wie du Spike kennengelernt hast?«
»Wir ‘aben üns eine Zelle geteilt.«
»Im Gefängnis?«, fragte ich. »Was hast du gemacht?«
»Drogen vertickt.«
»Und Spike?«
»Je ne sais pas. Er ist sehr schweigsam in diese ’insicht.«
»Ja, so ist er.«
Mika schmunzelte abwesend auf meinen resignierten Kommentar und fragte dann: »Woher kennt ihr eusch?«
»Och, wir sind uns zufällig im Kaufhaus begegnet.«
Mika fragte nicht weiter nach, sondern nickte nur wissend.
»Wurde Spike verurteilt?«
»Pardon, wenn isch misch falsch ausgedrückt ’abe. Wir waren zusammen in Ü-’Aft.«
»Untersuchungshaft? Ach, so. Aber du meintest doch, dass du Drogen vertickt hast.«
»Rischtig, aber dafür wurde isch nie verürteilt.«
»Handelst du noch?«, fragte ich.
Sein Blick fuhr durch den Raum und traf dann wieder auf mich. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er mich abwartend an. Ich verstand. Die Bar war tatsächlich ein Umschlagplatz für Drogen.
»Und das fällt denen nicht auf?«, fragte ich. »Nachdem du schon einmal inhaftiert warst?«
»Den Policiers? Non. Die sind auf beiden Augen blind. Ünd solange isch die rischtigen Freunde ’abe …«
»Ist Spike ein Freund von dir? Also, handelt er auch mit Drogen?«
Mir war bewusst, dass ich zu viele Fragen stellte. Aber solange Mika mir Auskunft hab, wollte ich die Gelegenheit ausnutzen, um mehr über Spike zu erfahren.
»Wo denkst dü ’in?«, fragte Mika entsetzt, »Der würde sisch doch nischt mit sowas befassen. In Ü-’Aft werden niemals Leute zusammen in eine Zelle gesteckt, die wegen ähnlische Vergehen inhaftiert sind. Man könnte die falschen Kontakte knüpfen. Non, Spike war nür zwei Wochen drin. Dann hatte sisch das erledischt.«
Mika schwieg. Ich konnte an seinem Gesicht nicht ablesen, ob er nachdachte oder entschieden hatte, mir keine weiteren Informationen zu geben. Das stetige Drucken der Bons war das einzige Geräusch, das ich wahrnahm.
Die Stille machte mich nervös und als es an der Ladentür klopfte, wandte ich mich erschrocken um.
»Es kommen auch wieder bessere Zeiten.«
Das war der mit Abstand schlimmste Satz, den ich kannte. Eine hohle Phrase, die mich aufmuntern sollte, doch genau das Gegenteil bewirkte. Sie hielt mir nur vor Augen, was ich für ein Wrack war.
Nach einer Katastrophe diesen Ausmaßes, die mein ganzes Leben torpediert hat, sind die letzten Worte, die ich hören wollte, dass es irgendwann besser wird.
Ich nahm den letzten Schluck Whiskey aus meinem Glas. Der Barkeeper tauschte es gegen ein volles. Ich nannte ihn Jack. Wie er wirklich hieß, vergaß ich für gewöhnlich nach dem fünften Glas Whiskey. Er war der Einzige, mit dem ich mich unterhielt. Ich mochte ihn schon deswegen, weil er es mit dem Alter nicht so eng nahm.
»Hat dir jemand ausgegeben«, erklärte er und nickte in Richtung der Fensterfront.
Dort saß ein mir sehr bekanntes Mädchen. Es kam zu mir und setzte sich auf den Barhocker neben mir.
»Komischer Zufall, dich hier zu treffen«, sagte sie.
Ich nickte und sah weg. Auf diesen Zufall musste ich mein Glas in einem Zug leeren.
»Du bist öfter hier?«
»Ja«, sagte ich, »seit seinem Tod fast täglich.«
Ich nahm ihr verhaltenes Schweigen wahr. Gut so. War sie eben still. Aber sie wäre nicht die gewesen, für die ich sie hielt, wenn sie nicht weitergebohrt hätte.
»Das war eine schlimme Sache.«
Meine Ablehnung war ihr nicht verborgen geblieben, was sie offenbar verunsicherte. Sie bestellte sich einen Gin Tonic und drehte ihn nervös in der Hand.
»Wie geht’s dir damit?«
Gewöhnlich antwortete ich darauf mit einem ehrlichen »beschissen«. Die Leute waren damit oft überfordert und ließen mich anschließend in Ruhe.
»Womit?«, fragte ich sie. »Meinst du damit, dass mein bester Freund tot ist? Oder dass er so viele Menschen mit sich in den Tod gerissen hat?«
Sie schluckte und starrte auf ihr Glas. Seit seinem Tod wollten meine Mitschüler – ob sie mich persönlich oder nur vom Sehen her kannten – ihr Gewissen bei mir erleichtern; sie wollten wissen, wie sie selbst damit umgehen konnten. Ich hatte keine Antwort – für niemanden. Meine Schuldgefühle ließen mich nicht mehr klar denken. Ben war gestorben, weil ich einen Fehler gemacht hatte.
Ich wollte Frau Wagner nicht töten. Ja, ich wollte, dass ihre Haut juckte, sie Durchfall bekam oder sich erbrach. Ich wollte doch nur, dass sie für ein paar Tage keine Schüler mehr tyrannisieren konnte. Ich hatte nicht gewollte, dass ihre Atemwege zuschwollen.
Nach ihrem Tod gingen die meisten von einem Unfall aus, doch es waren auch Gerüchte in Umlauf. Viele hatten ein Motiv gehabt, Frau Wagner aus dem Verkehr zu ziehen, allein aus machtpolitischen Gründen, schließlich bot die Rektorenposition eine enorme Machtgrundlage. Manche Schüler behaupteten sogar, Ben hätte sie vergiftet. Er hatte ein Motiv, er war vor Ort, er hatte die Gelegenheit, ihr etwas ins Glas zu kippen. Ich hätte den Gerüchten nicht einfach freien Lauf lassen und schweigen dürfen. Ich hätte Ben einweihen oder mich stellen müssen.
Und nun machte ein Geständnis keinen Sinn mehr. Ben war tot. Ich hätte merken müssen, wie sehr ihn ihr Tod beschäftigte. Es machte mich verrückt, dass niemand um Ben trauerte. Er war kein Opfer für die anderen, er war der Täter.
»Nun, die Antwort ist: Ich trauere um meinen Freund, genauso wie du um deinen trauerst.« Ich erhob das Glas und stieß damit gegen ihres. »Oh, Moment. Ihr wart ja gar nicht mehr zusammen. Wie konnte ich das nur vergessen?«
Yvonne war sechs Monate mit ihm zusammen gewesen. Ich hatte sie nie leiden können.
»Von der Freundin eines Amokläufers hätte ich auch mehr erwartet. Die hätte schließlich vorher was merken müssen.«
»Spiel hier nicht den Moralapostel! Du bist schließlich auch mit ihm befreundet gewesen«, sagte sie mit bebender Stimme. »Du weißt, dass er sich immer mehr zurückgezogen hat, seit er von den Bullen befragt worden war. Man kam am Ende doch kaum mehr an ihn ran.«
Yvonne war während ihrer Beziehung wie eine Spinne gewesen, hatte Ben in ihrem Netz eingehüllt und festgehalten. Man kam immer schwerer an ihn heran, da hatte sie recht, doch das war nicht erst seit Wagners Tod so.
»Und das gab dir das Recht, einfach mit ihm Schluss zu machen?«, fragte ich.
»Was hätte ich machen sollen? Weiterhin mit einem Typen zusammen sein, dem ich scheißegal bin?«
»Wenn du ihm so scheißegal gewesen wärst, dann hätte er die Trennung von dir wohl besser verkraftet. Warum hat er dann in seinem Abschiedsbrief einen ganzen Absatz allein dir gewidmet?«
Sie sah mich schockiert an. Es irritierte mich, dass sie davon nichts gewusst haben sollte. Hatte die Polizei sie nicht verhört?
In seinem Abschiedsbrief hatte Ben von seinen Mitschülern nur Yvonne, Emil und mich beim Namen genannt. Sein Ton war rabiat. Er gab allen die Schuld an seiner Lage. Lehrern, Schülern, Politikern und vor allem seinem Vater. Am Ende des Briefs widmete er einen Absatz Emil und mir, seinen besten Freunden. Er dankte uns für die Stunden auf dem Schulhof – die einzig schöne Zeit seines Lebens.
Vor seinem Amoklauf waren Gerüchte aufgekommen, Frau Wagner sei vergiftet worden. Man suchte nach einem Motiv und Ben als eines ihrer Lieblings-Opfer kam da nur recht. Immer öfter tuschelten unsere Mitschüler hinter seinem Rücken, bis sie ihm offen vorwarfen, ihr Mörder zu sein. Sie machten sich einen Spaß daraus, ihn aufzuziehen und mussten nun mit den Konsequenzen klarkommen.
Dabei lagen diese Stümper so falsch. Ich war es gewesen. Ich allein war schuld an dieser Katastrophe, nicht er. Doch während ich mich mit Yvonne unterhielt, war mir klar, dass nicht mich allein die Schuld für sein Ende traf.
»Die Polizei hat mir seinen Brief gezeigt. Aber keine Angst: Sie sucht die Schuld nicht bei dir, auch wenn du offensichtlich Mitschuld trägst.«
»Willst du mir die Schuld an all den Toten geben?«, fragte sie entsetzt.
»Natürlich. Du hast ihn so sehr benebelt mit deinen Reizen«, ich deutete abfällig auf ihre Brüste, »dass er nur noch Augen für dich hatte. Und als du ihn verlassen hast, hat ihn das fertig gemacht. Er ist nicht einmal zu mir gekommen, um zu reden. Ich habe versucht ihn anzurufen. Ich habe ihn zu Hause besucht, aber er wollte mich nicht sehen. Und dann komme ich in die Schule und mein bester Freund steht mit einer Waffe vor mir. Weißt du, was das für ein Gefühl ist?«
»Warum hast du ihn nicht aufgehalten?«
»Warum hat er dich nicht erschossen?«, gab ich zurück. »Richtig. Er hat dich nicht gefunden. Du hast schließlich mit deinen Freunden den Unterricht geschwänzt.«
Sie sah mich verunsichert an. Wusste sie wirklich nicht, wie alles passiert ist? Die Zeitungen hatten natürlich ein völlig verzerrtes Bild gezeichnet. Nur im Polizeibericht stand die Wahrheit und auch nur einseitig aus der Sicht des SEK-Teams.
»Hätte er dich vor all den anderen gefunden, wären vielleicht einige Leben gerettet worden. Aber stattdessen stand er plötzlich vor mir. Ich werde niemals sein Gesicht vergessen. Die Verzweiflung, die Schuld, die Scham. Und als ich auf ihn zugehen will, um ihm die Waffe abzunehmen, wird er vor meinen Augen erschossen. Weißt du, was das für ein Gefühl ist? Weißt du, wie sich das anfühlt?«, schrie ich.
Yvonne zitterte. Tränen liefen über ihr verzerrtes Gesicht. Eine Hand packte meinen Arm und ich sah Jack an, der mir riet, die Bar zu verlassen. Ich zückte einen Schein und knallte ihn auf den Tresen, ohne meinen Blick von Yvonne zu lösen. Dann verließ ich die Bar.
Nach wenigen Metern bog ich in eine Seitengasse ein und schlug mehrmals mit der Hand gegen die Mauer. Die Flamme in meinem Inneren wollte nicht erlöschen.
Ich erinnerte mich an die Worte meiner Therapeutin. Sie war kurz nach Bens Tat mit zwei Kollegen an unsere Schule geschickt worden, um mit jedem Schüler ein Gespräch zu führen.
»Wie sind Sie denn sonst mit stressigen Situationen umgegangen?«, hatte sie gefragt. »Wenn Sie wütend waren oder traurig?«
Ich dachte an meinen Tritt gegen Hectors Autospiegel und den anschließenden Mord an meinem Großvater.
»Ich hab meinen Emotionen freien Lauf gelassen«, hatte ich geantwortet.
Daraufhin hatte die Therapeutin mir vorgeschlagen, ein Hobby anzufangen, um meinen Emotionen Ausdruck zu verleihen. Sie dachte sicher an Malen oder Sport, doch meine Therapie sollte anders ablaufen.
Ich zog meine Jacke an und sah hinab auf meine Handschuhe. Sie waren aus weichem Wildleder. Ich wollte sie nicht durch sinnlose Schläge gegen Wände kaputtmachen. Wenn schon, dann sollten sie ein würdiges Opfer finden.
Ich saß hinter Spike auf der Fazer. Er war in der Bar aufgetaucht und hatte mich gebeten, ihm zu folgen. Wir fuhren durch die halbe Stadt, vorbei am Kaufhaus, in dem wir uns kennengelernt hatten. Die Ladenflächen und Reklamen spendeten genügend Licht, sodass man die Grüppchen auf dem Weg zur nächsten Disco erkennen konnte. Fernab der Innenstadt flogen nur noch die weißen Lichtkugeln der Straßenlaternen an uns vorbei, bis wir vor einem riesigen Tor aus Metall hielten. Es gehörte zu einer Einfahrt. Durch die geschwungenen Eisenstangen erkannte ich hinter dem Durchgang einen Innenhof.
Spike steckte einen Schlüssel ins Schloss und öffnete das Tor. Automatisch ging ein Licht über dem gegenüberliegenden Eingang an, das eine rote Ziegelsteinmauer offenbarte. Eine Tafel mit riesigen Firmenlogos hing am Durchgang, durch den Spike mich vorangehen ließ. Nachdem er das Motorrad abgestellt hatte, lief er zurück zu mir. Erst als er auf einen Knopf drückte, wurde mir bewusst, dass neben mir kein Hauseingang war, sondern ein Fahrstuhl. Als wir ihn betreten hatten, hielt er eine Chip-Karte an ein Feld neben den Stockwerknummern und drückte die Nummer Sechs.
Der Aufzug setzte sich in Bewegung. Als die Tür sich öffnete, ging ich automatisch vorwärts und kollidierte fast mit einer zweiten Tür. Im letzten Moment hielt ich an.
»Darf ich?«, fragte Spike amüsiert und schob mich sachte zur Seite.
Mit einer Handbewegung zückte er eine zweite Karte und zog diese durch das elektronische Schloss, woraufhin die Tür sich mit Druck öffnen ließ.
Vor uns erstreckte sich ein langer Flur, der in einem großen Wohnzimmer endete. Geradezu befand sich eine geschlossene Tür. Spike zog seine Schuhe aus und ich tat es ihm gleich. Ich stellte sie in das Regal, in dem sich neben zwei Paaren schwarzer Lederschuhe grellblaue Pumps befanden. Vielleicht hatte er Damenbesuch? Womöglich gehörten sie auch ihm selbst. Wer wusste das schon genau bei ihm?
Ich folgte Spike ins Wohnzimmer. Eine weiße Couch nahm den hinteren Teil des Raums ein, gegenüber hing ein Flachbildfernseher an der Wand. Das Parkett wurde in der Mitte des Raums von einem weißen Teppich bedeckt, auf dem ein rechteckiger Glastisch stand. Nur die großblättrigen Palmen gaben dem Zimmer etwas Farbe.
»Mach’s dir gemütlich«, sagte Spike und deutete auf die Couch.
Ich betrachtete das Bild über dem Sofa, das eine Frau in Schwarz-Weiß zeigte. Sie warf ihren Kopf nach hinten, wobei ihre langen Haare ihr Gesicht teilweise verdeckten. Sie kam mir bekannt vor.
Während ich überlegte, ob ich sie aus einem Katalog kannte, nahm ich im Augenwinkel eine Bewegung war. Ich drehte mich um und sah eine Frau in der Tür stehen. Sie trug einen langen Strickpullover, der kaum ihre Oberschenkel bedeckte. Ihre langen Haare fielen in großen Locken über ihre Schultern.
Ich sah wieder zum Foto an der Wand, dann zu Maja. Der Fotograf hatte ihren verführerischen Blick perfekt eingefangen. Wahrscheinlich war es ein professionelles Shooting gewesen. Ob man dieses Foto in irgendeinem Katalog sehen konnte?
Maja lächelte mich sanft an und löste die roten Lippen voneinander, um etwas zu sagen, doch Spike kam ihr zuvor.
»Schöne Locken. Gefällt mir.«
Er grinste Maja an, ging zu ihr und küsste sie. Es war ein merkwürdiges Gefühl, ihnen dabei zuzusehen. Spike war mir vorher nie so ausgeglichen vorgekommen. Mit einer Hand strich er ihr durchs blonde Haar.
»Danke. Und Was verschafft uns die Ehre?«, fragte Maja freundlich.
Spike erklärte ihr, dass er einen Anruf von Mika erhalten hatte, woraufhin er mich im Pont Neuf abgeholt habe. Er erzählte, dass ich Arthur wiedergetroffen hatte, von dessen Einladung ich ihm noch in der Bar berichtet hatte.
»Grandios«, rief Maja und klatschte in die Hände. »Was machen wir jetzt?«
Spike sah zu mir hinüber. »Natürlich nutzen wir diesen glücklichen Zufall.«
»Ich dachte, du glaubst nicht an Zufälle«, sagte ich und Maja pflichtete mir bei.
»Zufall? Das war doch vorhersehbar. Hast du nicht gesehen, wie fasziniert Arthur von ihr war? Der hat einen Narren an ihr gefressen.«
Irritiert schaute Spike sie an. Mein Blick konnte nicht weniger Überraschung ausdrücken.
»Ich meinte damit«, sagte sie, »was genau wir jetzt mit Julia anstellen.«
Als sekundenlang keine Antwort von Spike kam, fragte sie:
»Kaffee?«
Ich nickte schwach und Maja verschwand durch die Tür, durch die sie gekommen war. Spike setzte sich auf einen Hocker neben den Glastisch und ich ließ mich in die weiche Couch fallen. Da Spike nichts sagte, entschied ich abzuwarten, und wir schwiegen, bis Maja mit dem Kaffee zurückkam und drei Tassen abstellte.
»Voilà«, sagte sie und machte einen Knicks. Sie setzte sich neben mich. »Milch und/oder Zucker?«
Ich nahm Maja die Milch ab und füllte die Tasse bis zum Rand. Maja griff zum Zucker, den sie massenhaft in ihrem Kaffee versenkte. Spike sah ihr dabei zu und schmunzelte.
»Sie trinkt ihren Zucker immer mit Kaffee.«
Ich erkannte Spike fast nicht wieder. Zum ersten Mal, seit ich ihn kennengelernt hatte, zeigte er sich entspannt und nichts in seinem Verhalten deutete auf irgendeine Manipulation hin.
Spike und Maja diskutierten darüber, wie sie verfahren sollten. Arthur hatte mich explizit allein eingeladen. Das interpretierte Maja als Date und bestand darauf, mit mir am nächsten Tag einkaufen zu fahren. Spike interessierte sich eher für die Möglichkeiten, mich während des Treffens zu beschatten. Die Gästeliste dieser illegalen Autorennen, von denen die beiden offensichtlich schon wussten, war streng geheim. Als Außenstehender kam man nicht hinein.
Während ich ihnen zuhörte, wurden meine Lider trotz Kaffee schwer. Das Letzte, was ich sah, waren Spikes Lippen, die sich stumm bewegten, und seine strahlend blauen Augen, die mich ruhig ansahen.
***
Ich erwachte in einem Himmelbett, das mit pinkfarbenen Tüchern behangen war. Langsam setzte ich mich auf und kniff die Augen zusammen, als mich das Sonnenlicht traf. Über mir lag eine flauschige Decke mit Leopardenmuster, eine Menge Kissen waren um mich herum verstreut.
Wie war ich hier hergekommen? Und wer um alles in der Welt hatte mich ausgezogen? Ich trug nur noch meine Unterwäsche. Ich hörte ein Plätschern aus dem Raum hinter der halboffenen Tür zu meiner Rechten. Ich wickelte die Decke um mich und stieg aus dem Bett.
Nervosität wich der Neugierde. Ich sah mich in dem Raum um, dessen Wände mit Blüten und Blättern bemalt waren. Auf den Fensterbrettern standen Vasen mit duftenden Blumensträußen. Daneben lagen vereinzelte Grußkarten mit französischen Schriftzügen. Auf einem Frisiertisch waren zum Teil noch verpackte Parfumflakons verteilt.
An dem Spiegel darüber war ein Passbild befestigt. Es zeigte eine Frau mit straßenköterblondem Haar, die mit rotbemalten Lippen in die Kamera lächelte. In ihrem Haar steckte eine Magnolienblüte. Eine gewisse Ähnlichkeit zu Maja war nicht zu leugnen.
»Endlich wach?«
Erschrocken fuhr ich herum. Maja stand nackt in der Badezimmertür. Sofort schaute ich weg.
»Warte! Ich zieh mir schnell was an.«
Im Augenwinkel registrierte ich, wie sie eine Schranktür öffnete und etwas hervorkramte. Als ich mich zu ihr umdrehte, hatte sie sich lediglich einen Tanga angezogen.
»Sorry, nicht viel besser«, sagte ich.
»Du stellst dich ja an wie eine Nonne.«
Als ich das nächste Mal aufblickte, hatte sie sich einen Spitzen-BH angezogen, der nicht viel verdeckte.
»Besser?«, fragte Maja mit einem scheuen Lächeln.
Ich nickte. Mein Blick streifte Majas perfekte Proportionen. An den Innenseiten ihrer Schenkel und Arme erkannte ich blaue Flecken. Sie waren nicht groß, schienen dafür aber recht frisch.
»Gefällt dir mein Zimmer?«, fragte Maja.
»Nun ja, du magst Pink.«
»Fällt das so sehr auf?«, fragte sie mit einem gestellt entsetzten Gesichtsausdruck und schritt an mir vorbei.
»Minimal«, erwiderte ich grinsend.
Sie setzte sich an den Frisiertisch und begann sich zu pudern.
»Du warst gestern ziemlich fertig, bist direkt vor unseren Augen eingeschlafen«, sagte Maja und musterte mich im Spiegel. Ich setzte mich, noch immer in die flauschige Decke gehüllt, auf den Hocker vor ihrem Bett.
»Ja, ziemlich peinlich.«
»Verständlich um ein Uhr morgens«, sagte Maja. »Da konnte der Kaffee auch nichts retten.«
Abrupt sprang ich auf. Mein Vater war mir eingefallen. Ich hatte ihm nicht Bescheid gesagt, wo ich war. Doch Maja sagte: »Keine Panik! Es ist erst elf Uhr. Wir haben noch Zeit bis zum DVD-Abend.«
»DVD-Abend?«, fragte ich irritiert.
»Ja, den mit deinem Vater.«
»Ich weiß. Aber warum weißt du davon?«
Sie schaute mich wie ein geschlagener Hund aus den Augenwinkeln an.
»Wir mussten schauen, ob dich jemand vermisst«, erklärte sie. »Aber offenbar hattest du dich schon selbst um ein Alibi gekümmert. Und es ist gut, dass wir keinen zusätzlichen Puffer brauchen.«
»Puffer?«
»Na, wir haben bis heute Abend Zeit. Genug, um alles zu erledigen, was wir wollen.«
»Was wollen wir denn erledigen?«
Maja drehte sich zu mir um. Sie erhob ihren Zeigefinger und bewegte ihn wie einen Scheibenwischer hin und her.
»Erst einmal duschst du.«
»Okay, wo sind meine Klamotten?«
»Die haben so sehr nach Kneipe gestunken, dass wir sie in die Reinigung gegeben haben. Du bekommst sie später wieder.«
»Und was soll ich jetzt anziehen?«, fragte ich entsetzt.
»Warte kurz!«
Sie stand auf und öffnete eine Tür, hinter der sich ein begehbarer Kleiderschrank versteckte. An den Einlegeböden waren Leuchtstoffröhren befestigt, die unzählige Klamotten und Accessoirs offenbarten.
Auf der obersten Etage standen Kunststoffköpfe, die mit Perücken von jeder Haarfarbe bestückt waren. Einer war jedoch leer. Maja verkleidete sich offenbar genauso gern wie Spike. Obwohl es aussah, als herrsche hier das totale Chaos, griff Maja zielstrebig in eine Kiste und zog ein hellblaues Shirt hervor.
»Das habe ich nie getragen. Aber es passt wunderbar zu deinen Augen.«
Ich nahm es ihr ab.
»Wonach sortierst du das alles?«
»Och, nach getragen und ungetragen. Teuer und billig. Eben wie es so kommt.«
»Du trägst manches davon gar nicht?«, fragte ich vorwurfsvoll.
»Nicht mehr.« Sie griff nach einem blau-weiß gestreiften Kleid. »Das zum Beispiel ist sehr hübsch, passt aber nicht mehr zu meiner Frisur. Zu roten Haaren hat es wunderbar gepasst. Aber jetzt …«, sie stutzte und hielt es vor mich. »Vielleicht steht es dir?«
»Nein, danke. Nur über meine Leiche«, wehrte ich ab.
Als sie erwähnte, dass sie früher rote Haare hatte, fiel mir sofort die Szene im Kaufhaus ein. Ein Blick zu den Perücken offenbarte: Die rote fehlte. Wenn Spike nun Majas Sachen getragen hatte und eine Perücke, die genauso aussah wie ihre damalige Frisur? Aber warum sollte er sich als Maja ausgeben? Und wer würde ihn ernsthaft für sie halten?
»Was trägst du denn sonst so?«, fragte Maja. »Nur Jeans und Shirts?«
»Das ist halt bequem.«
»Sicher, aber willst du nicht vielleicht nur für das Date mit Arthur mal was anderes ausprobieren?«
»Was denn?«, fragte ich skeptisch.
»Na, zum Beispiel«, Maja zauberte einen kurzen Jeansrock und eine schwarze Strumpfhose aus dem Schrank hervor, »das hier.«
Ich zog beides umständlich unter der Leopardendecke an und ließ sie anschließend zu Boden sinken.
»Oh, und das, Schätzchen«, sie deutete auf meinen Sport-BH, »das müssen wir dringend ändern.«
»Bitte?«, fragte ich entsetzt.
»Nachdem du geduscht hast, müssen wir auf jeden Fall shoppen gehen«, sagte sie und schob mich ins Bad. »Bis gleich.«
Maja reichte mir noch ein schwarzes Shirt, dann schob sie mich förmlich ins Bad. Als ich das Zimmer wieder betrat, las sie eine Illustrierte.
»Das steht dir total«, sagte sie aufmunternd. »Da fehlen nur noch Accessoires.«
Sie ging zum Frisiertisch und wurde an einem Schmuckständer, der den Korpus einer Frau darstellte, fündig. Triumphierend hielt sie mir eine silberne Kette mit glitzerndem Herzanhänger hin.
»Echte Kristalle. Dreh dich um!« Sie legte mir die Kette an. »Und nun noch eine Jacke.«
Ich dachte sehnsüchtig an meinen Hoodie, der mein Dekolleté verdeckt hätte.
»Warum habt ihr meine Klamotten in die Reinigung gebracht? Habt ihr keine Waschmaschine?«
»Nein. Wir haben eine Haushälterin. Sie wäscht die Wäsche, putzt Bäder und Küche, geht einkaufen. Sie macht einfach alles.«
»Wow«, sagte ich und fragte mich, woher die beiden das Geld dafür nahmen. Spike kam ohne zu klopfen herein und ich war froh, dass ich meine Klamotten im Bad angezogen hatte. Maja hingegen setzte sich, halbnackt wie sie war, aufs Bett und begrüßte ihn freudestrahlend.
»Soll ich euch in die Innenstadt fahren? Ich müsste für übermorgen sowieso noch ein paar Dinge besorgen.«
»Oder ich nehme den Mercedes und du fährst mit der Fazer?«, fragte Maja vorsichtig.
»Oder du nimmst den Audi. Wie auch immer.«
Maja grinste mich an. »Wir nehmen den Mercedes. Ich liebe seine neue Lackierung.«
»Okay. Ich mach mich dann schon mal auf den Weg. Bis später«, sagte Spike und verschwand.
Maja wandte sich wieder mir zu, um weiter zu erzählen, als wären wir nie unterbrochen worden.
»Spike hat die Wohnung ausgesucht. Damit alles sauber bleibt, haben wir jemanden engagiert, der alles sauber hält. Dieses Zimmer hier gehört mir, genauso wie das Bad und das Ankleidezimmer. Er hat extra darauf geachtet, dass ich genügend Platz habe für mich allein.
Unsere letzte Unterkunft war gerade mal halb so groß. Aber da, wo wir bis vor wenigen Monaten gewohnt haben, sind die Mieten auch bedeutend teurer. Da kann man sich eben weniger leisten.«
Während sie erzählte, zog sie sich eine schwarze Lederhose an und streifte einen roten Pullover über, den sie mit einem Gürtel fixierte. Sie begutachtete sich im Spiegel und nickte zufrieden.
»Ihr schlaft also nicht zusammen?«, fragte ich.
»Nein. Warum sollten wir?«
»Na, ja … ich dachte …«
Maja lächelte mich kopfschüttelnd an, als wäre ich ein Quizkandidat auf der falschen Spur.
»Spike hat sein eigenes Schlafzimmer plus Arbeitszimmer«, sagte sie. »Wir teilen nicht alles.«
Sie verschwand noch einmal in dem begehbaren Kleiderschrank und kam mit einer dunkelbraunen Lederjacke zurück, die sie mir reichte.
Ich runzelte die Stirn.
»Gefällt sie dir nicht?«
»Was? Nein, im Gegenteil«, sagte ich. »Die ist der Hammer.«
Mit einem mütterlichen Grinsen auf dem Gesicht, antwortet Maja: »Okay. Geschenkt.«
Maja führte mich in eine Passage, vor deren Eingang ein Sicherheitsmann stand. Wir gingen an noblen Boutiquen und Cafés vorbei, bis Maja vor einem Friseursalon mit dem Schild »Ulrikes Salon« stehenblieb.
»Was wollen wir hier?«, fragte ich.
Eine Frau mit Kurzhaarfrisur und überschminktem Gesicht öffnete die Ladentür und bat uns herein. Sie führte uns zum Tresen, wo sie ein Buch aufschlug und uns fragte, für wann wir einen Termin bräuchten.
»Ich möchte bitte mit Ulrike sprechen«, sagte Maja.
»Tut mir leid, aber Ulrike ist gerade nicht zu sprechen. Sie hat«, begann die Frau, doch in diesem Moment rief eine schrille Stimme aus dem Hinterzimmer aufgeregt dazwischen.
»Maja, ist etwas nicht in Ordnung?«
»Quatsch«, wehrte sie ab. »Ich liebe die Locken. Aber ich habe eine neue Kundin für dich.«
Maja schob mich vor sich her.
»Darf ich vorstellen, meine Hair-Stylistin Ulrike. Und das ist meine Freundin Julia, sie braucht dringend …«
»Seh schon, seh schon«, unterbrach Ulrike.
Schon hatte sie einen Stuhl herangezogen, auf dem ich widerstrebend Platz nahm. Ulrike wühlte in meinen Haaren herum; nahm Strähnen hoch und verdeckte andere Stellen mit der Hand.
»Die Haare sind zwar schön dicht, aber sie sind schlecht geschnitten. Schau dir nur die Spitzen an!«
»Was schlägst du vor?«, fragte Maja.
»Erst einmal die Nester entfernen und sehen, wie die Struktur dann ist«, antwortete Ulrike und begann mit einem Kamm das Haar zu glätten. »Sie hat wunderbare Augen. Man sollte die Haare unbedingt kurz lassen, keine Extension oder ähnliches.« Ulrike wühlte durch meinen Pony. »Ich würde die Haare auch nicht färben. Das Schwarz passt gut zu ihr.«
Maja pflichtete ihr bei. Dann sah sie mich durch den Spiegel an.
»Was hältst du davon? Hast du irgendeinen bestimmten Wunsch?«
»Ich wollte schon immer einen Iro.«
Ulrike sah verdutzt drein, während Maja sie abwartend musterte und meinen Kommentar dann mit einem Nicken bestätigte.
Ulrike ließ das Haupthaar etwas länger und rasierte dafür die Seiten auf ein paar Millimeter ab. Maja saß während der gesamten Prozedur neben mir.
Zum Schluss zeigte mir Ulrike, wie ich den Undercut richtig zur Geltung brachte, und schenkte mir obendrein mehrere Gels zum Stylen. Maja fotografierte mich mit ihrem Smartphone aus verschiedenen Perspektiven, um eine Erinnerung an mein Umstyling zu haben.
Nach dem Friseurbesuch kam auf dem Gang der Passage ein Mann auf uns zu.
»Wo wollt ihr denn hin, meine Süßen?«
»Mädchensache«, antwortete Maja kurz angebunden.
Er ließ uns ohne weiteren Kommentar passieren. Als die Tür des nächsten Geschäfts hinter uns ins Schloss fiel, schaute Maja mich schmunzelnd von der Seite an.
Mit einem Augenzwinkern sagte sie: »Hast du gesehen, wie lüstern der dich angesehen hat? Wäre ich nicht gewesen, hätte der dich nach deiner Nummer gefragt.«
»Was?«, antwortete ich. »Hör auf! Der hat vielleicht auf deinen Busen gestarrt. Ich hab doch nichts.«
Majas Lächeln wollte einfach nicht weichen. Zwar zeigte sie aufgrund ihres hohen Kragens kein Dekolleté, doch ihr Busen trat voluminös hervor.
»Ah, du glaubst, die Männer schauen nur auf Titten?«
»Worauf sollen die denn sonst achten?«, fragte ich.
»Liebling, die achten auf alles. Du bist das Objekt ihrer Lust, der Gegenstand ihrer schlaflosen Nächte, das …«
»Gut, gut. Ich habe es verstanden«, unterbrach ich sie. Trotz unserer Gegensätzlichkeit genoss ich die Zeit mit Maja, die mich in das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stellte.
»Weißt du, irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass du gar nicht weißt, wie du auf Männer wirkst.«
Ich beäugte sie hämisch und sagte: »Ich weiß, wie du auf Männer wirkst.«
Maja sah hinab auf ihre Oberweite und griff sich an die Brüste.
»Weil ich so einen Riesenbusen habe? Schätzchen, das ist nur ein Aspekt. Männer sind so leicht um den Finger zu wickeln. Aber du lernst die Tricks schon noch.«
»Du willst mir also Nachhilfe geben?«
»Von Nachhilfe kann keine Rede sein. Nennen wir es: Einführung ins wahre Leben.«
Wir grinsten uns breit an und Maja führte mich in eine Boutique. Dort suchte sie mir gezielt ein Outfit heraus. Zwar versuchte sie auch, mir einen Spitzen-BH zu kaufen, doch ich lehnte vehement ab. Schließlich gab sie es auf und wir gingen in ihr Lieblingscafé.
Dort setzten wir uns vor die Glasfront. Der Kellner servierte den Frauen neben uns Burger, der Labrador unterm Tisch wedelte mit dem Schwanz. Während wir unseren Kaffee schlürften, fragte ich, was die beiden sich von dem Treffen mit Arthur erhofften.
»Nun, wir sind vor zwei Monaten nach der Ermordung des Bürgermeisters in diese Stadt zurückgekehrt.«
»Zurückgekehrt?«
»Ja. Vor zwei Jahren mussten wir die Stadt leider verlassen und haben in Paris gewohnt, bis wir von Bruce McMillans Tod gehört haben.«
»Und ihr denkt, der Siebenschläfer hat ihn ermordet?«
Maja riss die Augen auf.
»Das hat Spike so nicht gesagt. Aber ihr denkt es, oder?«
Maja schüttelte den Kopf. »Nein. Wir denken, dass es ein Trittbrettfahrer ist.«
»Klar. Weil es unwahrscheinlich ist«, sagte ich, »dass ein und derselbe Mörder nach gut dreißig Jahren noch aktiv ist.«
»Nein. Der Mord an Bruce McMillan war genauso nachgestellt wie der des damaligen Bürgermeisters Hector McMillan. Es ist naheliegend, dass ein Trittbrettfahrer am Werk ist. Außerdem nehmen wir an, dass der wahre Siebenschläfer bereits vor Jahren gestorben ist.«
Ich hob die Augenbrauen, während Maja ihren Milchkaffee umrührte. »Schon vor zwei Jahren waren wir hinter diesem Serienmörder her. Wir hatten mehrere Verdächtige. Mittlerweile sind alle tot.«
»Wen hattet ihr in Verdacht? … Wenn ich fragen darf.«
Maja sah sich verstohlen um, bevor sie sich leicht vorbeugte und mit gedämpfter Stimme antwortete.
»Du hast bereits Riley McMillan kennengelernt.«
»Ja, Arthur hat ihn als seinen Patenonkel vorgestellt.«
»Genau, jeder Sohn des ehemaligen Bürgermeisters hat einen Patenonkel aus der Familie. Theodor McMillan, der aktuelle Anwärter aufs Bürgermeisteramt, zeigt sich seit dem Tod seines Vaters ausschließlich in Begleitung seines Patenonkels Simon. Würde Justins Pate noch leben, hättest du ihm mit Sicherheit keine verpassen können. Er war Bodybuilder, starb aber vor gut drei Jahren an Krebs. Selbst wenn er der Siebenschläfer gewesen sein sollte, ist er damit nicht der Mörder des aktuellen Bürgermeisters. Auf Platz zwei unserer Liste stand damals Richard Hanssen, Oberstaatsanwalt.«
»Der Name Hanssen kommt mir bekannt vor.«
»Du kennst sicher Ben Hanssen, seinen Sohn.«
Maja ließ mir einige Sekunden lang Zeit, bis die Erkenntnis wie ein Blitzschlag kam.
»Der Amokläufer«, entfuhr es mir.
Vor 28 Jahren hatte es am Privatgymnasium einen Amoklauf gegeben. Ein Junge aus dem Abschlussjahrgang war mit einer Pistole in die Schule gestürmt und hatte mehr als zehn Menschen erschossen. Am Ende wurde er von der Polizei gestellt und erschossen.
In der vierten Klasse hatten wir die Tafel zum Gedenken an die Opfer des Amoklaufs vor dem Privatgymnasium zum ersten Mal besichtigt. Man kam an dem Thema nicht vorbei in dieser Region. Der Name Ben Hanssen wurde hinter vorgehaltener Hand gemurmelt und manche Schüler machten abfällige Witze darüber.
»Damals wurden an jedem Tatort Fotos gefunden. Der Sohn von Richard Hanssen und Anna McMillan, die Mutter des ehemaligen Bürgermeisters waren darauf abgebildet. Am aktuellen Tatort wurde dieses Mal nichts dergleichen nachgewiesen.«
Ich runzelte die Stirn. »Davon stand gar nichts in der Zeitung.«
»Es wurde auch vor der Öffentlichkeit geheim gehalten aus ermittlungstechnischen Gründen. Wir vermuteten vor zwei Jahren, dass Richard Hanssen aus Rache für den Amoklauf seines Sohnes gemordet hatte. Was er gegen den damaligen Bürgermeister Hector McMillan hatte, haben wir bis zuletzt nicht herausgefunden.«
»Habt ihr ihn überführt?«
»Er starb, bevor wir es tun konnten.« Majas Blick senkte sich und einige Sekunden verstrichen, bis sie wieder aufsah. »Er und sein Chauffeur wurden in einer Gasse erschossen.«
»Von wem?«
Maja schluckte. »Von Christian.«
Ich riss die Augen weit auf. Dass der Mann, der so vertrauensselig auf mich gewirkt hatte, ein Mörder sein sollte, konnte ich mir nicht vorstellen.
»Warum?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
Maja hob ihre Kaffeetasse an den Mund und nippte daran. Sie wollte offenbar nicht darüber reden. Nachdem mich die Stille zwischen uns nervös machte, brach ich das Schweigen.
»Warum wolltet ihr, dass ich mit auf Arthurs Party gehe?«
Maja antwortete nicht sofort, also wurde ich konkreter. »Woher wusstet ihr, dass ich ihn im Gefängnis gesehen habe? Hat Damian was damit zu tun?«
»Du bist wirklich aufmerksam«, sagte sie. »Nachdem wir aus Paris wiedergekommen sind, habe ich Damian aufgesucht. Wir standen schon während Christians Verhandlung in Kontakt. Damian geht davon aus, dass ich Christians Ex-Freundin bin.«
»Und das bist du nicht?«
Maja schmunzelte. »Nein. Ich fange grundsätzlich nichts mit Teammitgliedern an.«
»Und Spike? Ist er nicht dein …?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wir haben viel gemeinsam erlebt in den letzten Jahren. Und wir vertrauen einander bedingungslos. Aber da läuft nichts.«
Ich spitzte die Lippen, während Maja einen Schluck von ihrem Kaffee nahm. So intime Beziehungen hatte ich bisher nur bei Liebespaaren erlebt. Ihre Partnerschaft war aber wohl von anderer Natur.
»Bist du mit Damian zusammen?«
Maja lachte auf. »Du meinst, ob wir Sex haben?« Ich zuckte mit den Schultern. »Ja, das haben wir. Aber wir sind nicht zusammen im eigentlichen Sinne.«
»Was hält Spike davon?«
»Wir haben es vorher abgesprochen. Es bringt uns einen Vorteil, wenn ich in der Nähe der Pilgrims bin. Und Damian ist durchaus eine gute Partie. Du glaubst nicht, was Männer alles preisgeben, wenn sie mit dir schlafen. Ich hab Erfahrung damit.«
»Dann prostituierst du dich für den Job?«, fragte ich schockiert.
»Ich bekomme kein Geld von Damian, bis vielleicht auf eine bezahlte Rechnung. Wir verknüpfen einfach das Schöne mit dem Nützlichen. Ich bekomme Informationen über die Pilgrims, er hat eine hübsche Frau an seiner Seite.«
Sie schüttete ein weiteres Päckchen Zucker in ihren Kaffee. »Glaub mir! Ich hatte schon eine Beziehung zu einem echten Wichser. Er hat nicht nur mich wie eine Nutte behandelt. Ich würde nichts tun, was mir persönlich unangenehm ist. Und Damian ist ein wirklich zärtlicher Liebhaber. Auch wenn man es ihm vielleicht nicht ansieht.«
»Und Damian hat über Christian die Verbindung zwischen uns beiden gezogen? Wie das?«
»Damian hat direkt bei unserem ersten Treffen gefragt, ob ich Christians Nichte kenne. Natürlich wusste ich davon, dass Spike dich ins Gefängnis geschickt hat.«
Das erklärte noch lange nicht, warum Arthur sich für ein Mädchen interessierte, dass er einmal im Gefängnis gesehen hatte. Aber vielleicht würde sich dieses Rätsel ja beim Treffen mit ihm lösen lassen?
»Und als Damian mich im Gefängnis sah, wusste er, dass ich Christian aufsuchen würde?«
»Offenbar. Er war dort, um Arthur zu besuchen. Er muss Christian parallel im Besucherraum gesehen und seine Schlüsse gezogen haben. Die Initiative ging zumindest von Damian aus. Er erhoffte sich einen Vorteil, wenn er dich zu Arthurs Überraschungsparty einladen würde. Und den hat er wohl auch erhalten, nachdem ich Spike gebeten hatte, dich erneut zu kontaktieren.«
»Will sagen: Ich bin nur sowas wie ein Prestigeobjekt?«
Maja schüttelte beschwichtigend den Kopf. »Nein. Nach der Ermordung von Bruce McMillan gibt es aber ein Machtvakuum. So wie es aussieht, kommt entweder ein Pilgrim oder ein McMillan an die Macht. Wir konnten herausfinden, dass sich die drei Söhne des ehemaligen Bürgermeisters nicht sonderlich gut verstehen. Arthur wird seinen großen Bruder Theodor nicht bei der Wahl unterstützen. Damian hofft darauf, dass er Arthur für die Werbekampagne der Pilgrims mit ins Boot holen kann.«
»Apropos Pilgrims: Seit diesem Schuljahr geht Liam Pilgrim in meine Parallelklasse.«
»Der Sohn von Vincent Pilgrim?«, fragte Maja. »Das ist ja interessant. Damian und Vincent sind Cousins. Sie sind nahezu gemeinsam aufgewachsen.«
»Ich frag mich, warum er auf meine Schule und nicht auf das Privatgymnasium geht, wenn er doch aus so einer reichen Familie kommt.«
»Das kann eben aus diesem Grund der Fall sein.« Ich runzelte die Stirn und Maja fuhr fort. »Auf dem Privatgymnasium haben die McMillans das Sagen. Die Pilgrims hüten sich, ihre Kinder auf dieselbe Schule zu schicken.«
»Wieso?«
»Das ist eine lange Geschichte«, winkte Maja erneut ab.
Ich senkte frustriert den Blick. Dabei fiel mir das silberne Kettchen an ihrem Handgelenk auf. Als Maja den Arm sinken ließ, erkannte ich die Gravur.
Gerade als ich sie darauf ansprechen wollte, hörte ich jemanden meinen Namen rufen. Mein Kopf schwang zur Seite und ich blickte meinen besten Freunden direkt ins Gesicht. Sofort wandte ich mich wieder Maja zu, die mich ausdruckslos musterte.
»Was machst du hier?«, fragte Carina.
Alex stand hinter ihr und beäugte Maja unverhohlen.
»Was macht ihr hier?«, echote ich.
»Wir sind gerade auf dem Weg in das neue Katzencafé. Und ihr?«
Ich sah Maja hilfesuchend an. Sie erhob sich und reichte meinen Freunden die Hand. Alex furchte die Stirn.
»Hallo, ich bin Maja. Julias Stylistin.« Carina und Alex sahen mich fragend an. »Ihr Vater hat neulich in einer Ausschreibung gewonnen. Deshalb haben wir heute ein Umstyling mit ihr gemacht. Seht nur!«
Sie zückte ihr Handy und präsentierte die Aufnahmen vom Friseur. Einerseits war ich froh, dass ihr so schnell eine gute Lüge eingefallen war, andererseits war es mir peinlich, dass meine Freunde mich mit ihr sahen. Spätestens am Montag hätte ich ihnen jedoch Frage und Antwort stehen müssen, wie ich zu der neuen Frisur gekommen war.
»Davon hast du uns gar nichts erzählt«, sagte Carina skeptisch.
»Ja, es war so spontan. Und ich wusste auch nicht, ob ich es wirklich machen soll.«
Maja nahm den letzten Schluck aus ihrer Kaffeetasse, dann griff sie nach ihrer Tasche.
»Ich mach mich dann mal wieder auf den Weg. Waren wirklich schöne Stunden mit dir, Julia. Bis irgendwann.«
Sie gab mir einen Kuss auf jede Wange und drückte mir dabei etwas in die Hand. Während Carina und Alex ihr nachsahen, lief ich zum Kellner und bezahlte unsere Getränke. Mit einem Geldschein hatte Maja mir eine Handvoll Guthabenkarten für mein Prepaidhandy übergeben.
Meine Freunde führten mich in das neueröffnete Katzencafé. Carina hatte es bereits vor Tagen auf dem Schulhof erwähnt, doch die Einladung war irgendwie an mir vorübergegangen.
»Ich finde es zwar schade, dass du sie nicht von mir hast schneiden lassen, aber die Frisur steht dir total«, sagte Carina.
Sie kraulte die Siamkatze, die es sich auf dem Kissen neben ihr bequem gemacht hatte. Alex schüttelte den Kopf.
»Ich finde, es passt nicht zu dir.«
»Warum? Darf ich etwa nicht zum Friseur?«
»Das mein ich nicht. Aber diese Klamotten.«
Er zeigte mit dem Kinn auf meine Brust. Ich hatte in der Boutique direkt das petrolfarbene Oberteil angelassen. Es passte, wie Maja sagte, perfekt zu meinen Augen und dem Jeansrock, den ich noch immer trug.
»Das bist nicht du.«
»Ich finde, es steht dir ausgezeichnet«, sagte Carina. »Du gönnst dir ja sonst nichts. Soll sie immer in ihrem alten Fummel rumrennen?«
Alex sah finster drein, gab aber keine Widerworte mehr. Stattdessen griff er zu seinem Latte Macchiato und rührte gedankenverloren darin herum, ehe er einen Schluck nahm. Nachdem er seine Brille gerichtet hatte, fiel sein Blick auf Carinas Teetasse.
»Wie bekommst du diese Plörre eigentlich runter?«
»Ich verbitte mir jegliches Urteil.« Die Katze neben Carina sprang erschrocken auf. »Ich hab dir immerhin dabei geholfen, die besten Bioläden der Stadt zu finden, also vertrau mir! Minze ist das Geilste, egal in welcher Form.«
»Aber das schmeckt wie abgestandenes Wasser mit Tic Tac. Sowas trinkt keiner.«
»Tja, ich trinke das seit meiner Kindheit, also Schnauze!«
»Also ich bin von Pfefferminztee auch nicht so begeistert«, sagte ich.
»Der ist aber super gesund.«
»Ist mir Schnuppe«, wandte Alex ein, »Ich bleib bei Cola.«
»Du Pseudo-Öko.«
Alex und Carina stierten sich an.
»Es stimmt also«, sagte ich. »Vegetarier sind aggressiver als Allesfresser.«
Beide schauten mich giftig an. Alex hielt seinen ausgetreckten Zeigefinger hoch. Ich riss theatralisch den Mund auf und legte die Hand auf die Brust. Carina lachte auf.
Sie hatte mit dem Tod ihrer Mutter begonnen, auf Fleisch zu verzichten. Alex war ihr aus Solidarität gefolgt. Bei seinen Eltern aß er nach wie vor alles. Zu sehr fürchtete er unnötige Reibungen mit seinem Vater.
»Ich hoffe, dass bald mehr solche alternativen Cafés aufmachen«, sagte Carina. »Mein Vater hat gesagt, dass Theodor McMillan bereits ein Konzept entwickeln lässt, um Touristen in die Stadt zu locken. Er will weg von der Industrie- zur Touristenmetropole.«
»Ist das nicht kontraproduktiv für sein Unternehmen?«, fragte Alex. »Immerhin handeln die McMillans vorwiegend mit Autos.«
»Ja. Aber auch mit Immobilien. Da stehen sie mit den Pilgrims in direkter Konkurrenz. Trotzdem beharrt Vincent Pilgrim in seinem Wahlprogramm auf den Ausbau des Frachthafens. Theodor könnte das verhindern. Das käme auch der Umwelt zugute.«
»Dazu muss er erstmal gewählt werden«, sagte ich zweifelnd.
Es schien mir immer unwahrscheinlicher zu sein, dass Theodor McMillan gewählt werden würde. Letztlich schauten die Leute alle aufs Geld. Er musste schon einige Überredungskunst aufbringen, um die Bürger von der Nachhaltigkeit seines Wahlprogramms zu überzeugen.
»Herr McMillan sitzt schon seit einem Jahr im Stadtrat«, fuhr Carina fort. »Neulich hat er meinen Vater darauf angesprochen. Er will wohl Architekturwettbewerbe ausschreiben lassen, um die Stadtparks auszubauen.«
»Und dein Vater soll einen Entwurf machen?«
»Er wollte erst einmal nachfragen, wie das Ausschreiben von Wettbewerben abläuft. Und vielleicht bekommt die Firma meines Vaters tatsächlich den Zuschlag. Das wäre gut für ihn, denn im Moment läuft es nicht so gut, glaube ich.«
In einer Woche war schon die Wahl und ich war mir noch immer nicht sicher, wem ich meine Stimme geben sollte. Nach dem, was Carina aber sagte, hatte McMillan eindeutig gute Gründe auf seiner Seite.
»Als wenn der seine Wahlversprechen einhält«, sagte Alex.
»Mehr als das Wahlprogramm haben wir leider nicht.«
»Keiner dieser Bonzen bekommt meine Stimme. Weder Pilgrim, noch McMillan.« Er schnaubte. »Ich hab den Brief längst abgegeben. Ihr könnt euch gern weiterhin eure Gedanken machen.«
Der dritte Kandidat war die einzige Alternative. Aber er war so unbedeutend, dass ich mir nicht einmal seinen Namen gemerkt hatte. Letztlich war meine Stimme für ihn eine vergeudete. Er würde es in keinem Fall werden. Die Entscheidung fiel zwischen McMillan und Pilgrim.
»Wen wählst du?«, fragte Carina an mich gewandt.
Ich schüttelte mit dem Kopf. »Keine Ahnung. Das überleg ich mir in der Wahlkabine.«
Sie grinste. »Impulswähler.«
»Dafür gibt es sogar einen Begriff?«
»Klar. Ich hab mich im Vorfeld viel belesen. Das ist unsere erste Wahl. Unsere Entscheidung ist wichtig.«
Ich zog eine Augenbraue hoch. »Letztendlich wird es sowieso der Sohn des alten Bürgermeisters, allein wegen seines Nachnamens.«
»Oder vielleicht nicht«, wandte Carina ein.
»Es läuft doch immer gleich ab«, sagte Alex mit einem Stöhnen. »Unter den oberen Zehntausend herrschte Vetternwirtschaft. Bei den unteren Zehntausend Armut. Das wird sich nach der Wahl auch nicht ändern, egal wer es wird.«
»Du elender Pessimist.«
»Realist, Carilein. Realist.«
Sie schüttelte den Kopf und sah an ihm vorbei zum Kratzbaum unter der Decke. Eine Perserkatze balancierte darauf und folgte dem Seil, das ihr der Kellner hinhielt.
»Oh«, rief Carina. »Schon so spät?«
Ich sah auf die Wanduhr neben dem Kellner. Der kleine Zeiger hielt auf die drei zu.
»Ich muss los. Rufst du mich heute Abend an, Julia? Sag mir, ob ich eine Kopie meiner Arbeit machen soll, damit du Montag nicht ohne Hausaufgaben dastehst!«
»Du machst es mir echt zu einfach«, sagte ich.
»Bei euch Nachtschattengewächsen weiß man ja nie, ob ihr nicht etwas unglaublich Wichtiges mitten in der Nacht zu erledigen habt. Und dann erhält man um fünf Uhr morgens erst Nachricht und muss das hektisch mit dem Toast in der Hand erledigen.«
Ich senkte schuldbewusst den Blick und sah im Augenwinkel, dass Alex es mir gleichtat.
»Also, für euch beide gilt: Carina ist nur bis 23 Uhr erreichbar, weil sie ihren Schönheitsschlaf braucht. Dann ist Schicht im Schacht. Egal welche Notfälle eintreten.«
»Geht klar«, sagten Alex und ich einstimmig.
Am Montag stand ich kurz nach acht auf einem Parkplatz unweit des Einkaufszentrums. Eine Frau packte ihre Einkaufstasche in den Kofferraum, dann fuhr sie davon. Die übrigen Wagen schienen verlassen.
Gerade als ich mein Handy aus meiner Jackentasche ziehen wollte, um Arthur zu kontaktieren, ging neben mir das Licht eines Autos an. Die Scheinwerfer waren direkt auf mich gerichtet. Es raste auf mich zu und blieb nur wenige Zentimeter vor mir mit Reifenquietschen stehen. Ich sprang mit erhobenen Händen zurück.
Die Fahrertür öffnete sich und Arthur stieg laut lachend aus dem Wagen.
»Sorry, Süße. Ich konnte einfach nicht wiederstehen.«
Missmutig blickte ich ihn an, zwang mich dann aber zu einem Lächeln. Langsam beruhigte sich mein Herzschlag und ich atmete tief durch. Ich nahm auf dem Beifahrersitz Platz und ließ mich von Arthur zum Hafen fahren.
Riesige Flutanlagen wiesen uns den Weg vorbei an den meterhoch gestapelten Frachtcontainern. Das Ufer war gesäumt von Kränen. Gerade, als wir Kurs auf die Halle mit der Nummer Acht nahmen, schnitt uns ein blauer Bugatti den Weg ab. Arthur legte eine Vollbremsung hin, sodass mir der Gurt in die Brust schnitt. Arthur stieg aus dem Wagen. Mit zitternden Händen öffnete ich die Tür einen Spalt breit und atmete tief durch, um mich zu beruhigen.
»Bist du bescheuert, Mann?«, schrie Arthur einen Mann an, der ihm mit erhobener Hand stumm gegenüber stand.
Die Beifahrertür des Wagens öffnete sich und Theodor McMillan stieg aus. Neben ihm erkannte ich den Fahrer als seine Begleitung in Mikas Bar.
Langsam schritt Theodor um den Mercedes und blieb vor seinem Bruder stehen. Er trug wie auf dem Plakat ein weinrotes Hemd mit schwarzer Weste, als sei er gerade von einer Wahlveranstaltung gekommen. Arthur musterte seinen Bruder.
»Was hat das hier zu bedeuten?«
Theodor deutete mit dem Daumen hinter sich zum Hallentor.
»Ach, das. Ein Rennen. Was sonst?«
»Das ist Firmeneigentum«, sagte Theodor. »Eigentum der Firma, der ich vorsitze.«
»Weil unser Vater ermordet wurde«, fügte Arthur hinzu.
Die Miene des Fahrers verfinsterte sich und er trat einen Schritt vor. Theodor hob eine Hand, um ihm Einhalt zu gebieten. Dann ging er auf Arthur zu und sagte kaum hörbar für mich:
»Mutter hat mir die Geschäfte übertragen, weil Justin minderjährig ist und du …« Sein Blick wanderte an Arthur herab und wieder hinauf. »… weder zum Bürgermeister gewählt werden würdest noch imstande wärst, in Vaters Fußstapfen zu treten.«
»Aber du oder was?«, schrie Arthur und stieß seinen Bruder an den Schultern von sich.
Der Fahrer stützte Theodor mit einer Hand und griff mit der anderen nach Arthur. Sofort schlug dieser nach ihm.
»Simon! Ich schwör dir beim Grab meines Vaters: Fass mich an und ich bring dich um!«
Simon hatte wie sein Neffe dunkelbraune Haare. Sein Mantelkragen war hochgeklappt, darunter erkannte ich einen gestutzten Dreitagebart. Seine Hand schloss sich immer wieder zur Faust.
»Wann warst du das letzte Mal bei Mutter?«, fragte Theodor gefasst.
Arthur strich sich mit der Hand übers Gesicht.
»Sie würde sich freuen, wenn du mal heimkommen würdest.«
»Sie hat Justin.«
»Du weißt, wie Justin ist. Er ist keine Stütze für sie.«
»Aber ich?«, fragte Arthur auflachend. »Sei ehrlich! Du bist doch glücklich mit der aktuellen Situation. Vater ist aus dem Weg. Du machst Karriere. Du wirst Bürgermeister. Du übernimmst die Firma. Du hast alles im Leben erreicht … Manchmal frag ich mich, ob nicht du derjenige bist, dem sein Tod am meisten nützt.«
»Nennst du mich einen Mörder?«
Arthur hob den Blick. »Hast du ihn umgebracht?«
»Dass du mir sowas zutraust …«
»Hast du?«
Theodor schüttelte den Kopf. »Das hab ich schon der Polizei gesagt: Ich war zur Tatzeit mit Freunden feiern.«
»Die dir natürlich alle ein Alibi geben …«
»Ja, das tun sie. Wie lautet dein Alibi?«
Arthurs Mundwinkel zuckten.
»Du hast stoned in deinem Zimmer gelegen, während unser Vater verbrannt ist«, sagte Theodor leise.
»Und du mit deinen Freunden einen draufgemacht. Als wenn ihr nicht auch was genommen hättet.«
»Ich nehme keine Drogen«, zischte Theodor.
»Ja, genau. Weil du schon immer der Vorzeigesohn der Familie warst.«
»Vater hat mich immer am härtesten rangenommen. Ich war ihm nie gut genug. Meine Freundinnen waren ihm nie gut genug. Justin und dir hat er alles in den Arsch geblasen, aber ich … Ich musste studieren. Ich musste mich engagieren. Ich musste zu allen Familienfeiern. Ich musste ständig Praktika machen … Denkst du, ich mach das hier alles freiwillig? Weil es mir auf eine kranke Art einen Kick bereitet, meine Freizeit mit Presseterminen und Firmenmeetings zu verbringen? Denkst du, ich will Bürgermeister werden?«
Die letzten Sätze hatte Theodor geschrien.
»Warum machst du’s dann?«, fragte Arthur. Er klang ehrlich überrascht.
Theodor sah Simon an. »Weil Mutter es so will. Weil unsere Familie nicht zerbrechen darf. Weil da draußen ein verschissener Mörder rumläuft, der nicht nur unseren Vater auf dem Gewissen hat.«
»Du glaubst diesen Schwachsinn? Dass dieser Serienmörder wieder aktiv ist?«
»Es ist mir egal, ob es dieser ominöse Siebenschläfer ist oder sonst wer. Fakt ist: Er hat unserer Familie erheblichen Schaden zugefügt. Und du wirst unsere Familie nicht auch noch durch deine Aktionen in Gefahr bringen.«
Theodor deutete auf die Halle.
»Das ist das letzte Rennen. Danach wirst du nie wieder ohne meine Erlaubnis einen Firmenwagen benutzen. Und du kommst jeden Sonntag zum Mittag nach Hause und isst mit unserer Mutter. Verstanden?«
»Was sonst?«, fragte Arthur.
»Sonst siehst du keinen einzigen Cent mehr. Ich verwalte Mutters Geld und du wirst nicht mehr jeden Tag stoned in deiner Bude hocken. Du wirst deine Ausbildung beenden oder studieren, wie ich es auch getan habe. Dann siehst du, was es bedeutet, Vaters Erbe anzutreten. Nimm du ruhig die Bürde auf dich! Aber solange du es nicht kannst, trage ich sie. Also, sei zufrieden mit dem, was du hast und komm einfach einmal pro Woche zum Essen! Mehr erwarte ich gar nicht von dir.«
Theodor und Simon stiegen in den Wagen und fuhren davon. Arthur schlug mit geballter Faust gegen die Motorhaube und verharrte einige Sekunden lang in dieser Position.
Als er sich neben mich setzte, wagte ich es nicht, ihn anzusehen. Er fuhr in die Halle hinein und parkte zwischen zwei offenbar fabrikfrischen Wagen.
Die Deckenleuchten fluteten den Raum mit Licht. Ich folgte Arthur in die Mitte der Halle, wo sich bereits ein Dutzend Männer versammelt hatten. Sie umringten zwei tiefergelegte Autos mit auffällig bunten Felgen. Riley saß im grünen Ferrari und demonstrierte das Motorengeräusch, während drei Männer am schwarzen Lamborghini lehnten.
Auf einer Tribüne aus Europaletten standen mehrere junge Frauen in schwarzen Minis und hohen Stiefeln. Am Straßenrand hätte man sie für Prostituierte halten können mit ihren übermäßig stark geschminkten Gesichtern und den hochgesteckten Haaren.
Unter ihnen erkannte ich Saskia. Ihr schulterfreier Pullover war über den schwarz-weißen Schottenminirock gezogen, wodurch ihre Beine meterlang erschienen. Arthur schenkte weder ihr noch den anderen Frauen Beachtung, doch Saskia behielt ihn genau im Visier.
Als wir die beiden Autos in der Mitte der Halle erreichten, drehten sich die Männer geschlossen zu uns um. Ein Freudenschrei entfuhr einem Anwesenden und er sprang Arthur geradezu in die Arme. Ich wich aus und prallte gegen jemanden.
Liam Pilgrim sah mich aus seinen grünen Augen ebenso verblüfft an wie ich ihn. Wie üblich trug er seinen grauen Blazer, als wolle er im Anschluss an das Rennen zu einem Meeting gehen. Arthur hatte sich von seinem Freund gelöst und strich sich durch den roten Iro. Er hielt kurz inne und musterte mich und Liam. Erst dann gab er Liam die Hand und sagte nachdrücklich:
»Das ist meine Freundin Julia.«
Liam nahm meine Hand und küsste sie, bevor ich sie zurückziehen konnte. Arthur rollte mit den Augen.
»Schön, dich kennenzulernen, Julia«, sagte Liam und grinste. Bevor ich reagieren konnte, sagte er zu Arthur.
»Ich bin wieder im Lande. Hab die Rennen echt vermisst. Fahren wir heute gegeneinander?«
»Hast du deinen Papi dabei?«
»Nein. Der ist damit beschäftigt deinem Bruder beim Wahlkampf mächtig in den Arsch zu treten.«
Arthur zog die Augenbrauen nach oben und sah seinen Patenonkel an. »Ich denke nicht, dass wir Minderjährige mitmachen lassen.«
Riley zuckte mit den Schultern und sagte. »Von mir aus kann ich mitfahren, aber ich bin zusätzlicher Ballast. Das Risiko ist Liams Onkel damals aber auch eingegangen, als er ihn hat mitfahren lassen.«
»Deshalb hat er sicher auch immer gegen uns verloren«, feixte Arthur. Liam lächelte nur.
Ein schwarzhaariger Mann mit Hornbrille zog grinsend sein Portemonnaie aus der Tasche und zupfte ein paar Geldscheine heraus. »Ich wette auf den kleinen Pilgrim. Der macht seinem Vater auf jeden Fall alle Ehre.«
Liam zückte ebenfalls zwei grüne Scheine aus seiner Hosentasche und gab sie Riley. Einige weitere Geldscheine gingen von Hand zu Hand. Schließlich verkündete Arthurs Patenonkel, dass die Markierungen auf der Route noch gesetzt werden müssten, dann könne das Rennen beginnen.
Liam begab sich zu den Mädels an den Rand der Halle und unterhielt sich mit ihnen. Ich versuchte ihn bestmöglich zu ignorieren, während ich unentwegt seinen Blick auf mir spürte. Riley und der schwarzhaarige Mann stiegen in die Wagen ein und verließen die Halle durchs Haupttor. Gerade als Arthur und ich uns auf eine Hebebühne setzen wollten, kam Saskia zu uns.
»Arthur, könnte ich dich mal sprechen?«
Die beiden entfernen sich nur wenige Schritte von mir, sodass ich jedes Wort hörte.
»Er will, dass ich abtreibe«, flüsterte sie mit verschränkten Armen.
»Damit habe ich nichts am Hut«, sagte Arthur. »Nur weil er mein …«
»Ich will es aber behalten«, fiel Saskia ihm ins Wort.
Arthur hob die Hände.
»Vergiss es!«
Er ging zu Riley, mit dem er sich unterhielt, bis die Autos zurückkehrten. Arthur stieg in den grünen Ferrari, Liam in den schwarzen Lamborghini. Die beiden ließen die Motoren aufheulen, bis der Mann mit Hornbrille auf eine Holzkiste stieg und den Arm hob. Die Motoren verstummten, er ließ den Arm sinken, und die Autos verließen mit Volldampf die Halle. Ich wandte mich Saskia zu, die den Wagen trotzig hinterhersah und energisch an einer Zigarette zog.
»Dein Kind erstickt«, sagte ich.
»Quatsch. So groß ist es noch gar nicht.«
Sie drehte sich von mir weg, ließ die Zigarette nach dem nächsten Zug jedoch auf den Boden fallen.
»Lass dir von dem Idioten nicht sagen, was du zu tun hast!«
»Du hast doch keine Ahnung.«
»Nein. Ich weiß nur, dass er kein guter Vater wäre. Immerhin hat er dich geschlagen.«
Ich hatte die Aufmerksamkeit der Frauen erweckt, die sich auf die Hebebühne hinter uns gesetzt hatten.
»Das war ein Versehen«, sagte sie.
»Sah aber nicht so aus.«
»Er ist eben ausgetickt. Er kommt nicht damit klar, dass ich von ihm schwanger bin.«
»Du bist schwanger?«, fragte eine Blondine mit violettem Lippenstift kleinlaut. Saskia antwortete in harschem Tonfall:
»Ja, von Justin McMillan.«
In diesem Moment fuhr der schwarze Mercedes in die Halle, kurz danach der Ferrari. Alle jubelten. Arthur stieg aus und schlug aufs Autodach. Riley händigte Liam ein paar Scheine aus und sie gaben sich die Hände.
Statt zu uns hinüberzukommen, winkte Arthur mir mit ernster Miene zu. Bevor ich zu ihm ging, sagte ich zu Saskia:
»Er will es nicht. Wenn du es willst, liegt es an dir. Es ist dein Kind.«
Arthur verließ die Halle durch eine Seitentür und ich folgte ihm. Als er stehenblieb, schüttelte er den Kopf. Durch die gestapelten Container pfiff der Wind und hob sein schwarzes Hemd an.
»Was wird unsere Mutter nur sagen?«, fragte er unvermittelt, »nach allem, was passiert ist?«
Er sah mich finster an und spielte mit dem schwarzen Tunnel in seinen linken Ohr. Dann ging er mir voraus zu einer Leiter, die an einem blauen Container befestigt war. Als er diese erklomm, hielt ich kurz inne. Sollte ich wirklich hinaufgehen? Dort oben gab es kein Zurück mehr.
Ich atmete einmal aus, dann folgte ich ihm stumm. Die Leiter endete auf einem roten Container. Von hier oben hatte man freien Blick auf den Fluss und einen Großteil des Hafens. Riesige Scheinwerfer bestrahlten das Wasser und die Anleger. Wir setzten uns an den Rand und ließen die Beine baumeln, während unter uns die Autos rasten.
»Sitzt du öfters hier?«, fragte ich.
»Vater ist mit mir immer zum Hafen gefahren. Er hat mit mir an Autos geschraubt und mir das Fahren beigebracht. Abends, wenn Mama und Justin schliefen. Theodor war da schon längst aus dem Haus.« Er machte eine Pause. »Er ist mit sechzehn ausgezogen, hat nach seinem Abi BWL studiert und hat dann gearbeitet. Jetzt ist er so gut wie Bürgermeister.«
»Was hast du gelernt?«
»KFZ-Mechatroniker, genauso wie Onkel Simon. Hat mir eigentlich Spaß gemacht, aber die Ausbilder … als McMillan behandelt man dich eben anders. Theo ist genau deswegen abgehauen. Und jetzt kommt er daher und spielt den Retter der Familie. Die Rennen sind das Einzige, was er nie hatte. Und jetzt nimmt er die mir auch weg.«
»Echt unfair«, sagte ich.
Arthur sah den beiden vorbeirasenden Autos nach. Ich lehnte mich vor. Der Wind trieb mir Majas blauen Schal ins Gesicht.
»Wie kam es eigentlich, dass Damians Freundin mich zu deiner Feier eingeladen hat?«
Arthur runzelte die Stirn. »Eigentlich hab ich Damian gegenüber damals nur erwähnt, dass ich ein schwarzhaariges Mädchen auf dem Weg in den Besucherraum getroffen habe. Wir haben kurz über Frauen im Gefängnis erzählt und … na ja, dann hat er eben seine Kontakte spielen lassen, denke ich.« Er zuckte mit den Schultern. »Woher kennst du Maja?«
»Sie ist eine Freundin meiner Mutter«, log ich und sah hinab auf Arthurs Unterarm, den er neben mir aufgestützt hatte.
»Der Stern ist mir schon im Gefängnis aufgefallen. Was bedeutet er?«
»Eigentlich nichts Bestimmtes. Ich fand ihn einfach nur schön. Und ich steh auf Farbe, wie man vielleicht sieht.« Er deutete auf seinen roten Iro und grinste. »Übrigens: hübsche Frisur.«
Er strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. Bevor ich reagieren konnte, legte er seine Lippen auf meine. Überrumpelt ließ ich es geschehen und öffnete vor Schreck den Mund. Sofort fuhr seine Zunge in meine Mundhöhle.
Arthur lehnte sich über mich und fuhr mit der Hand unter mein Shirt. Ich versuchte ihn daran zu hindern, doch je mehr ich ihn zurückdrängte, desto fordernder wurde er. Seine linke Hand hielt meine rechte fest, mit der anderen fuhr er mir über die Brust.
Ich versuchte etwas zu sagen, doch er drückte seine Lippen so fest auf meine, dass ich kaum Luft bekam. Ich biss ihm in den Mundwinkel, an dem er ein Piercing trug. Fluchend wich er zurück. Schnell krabbelte ich rückwärts von ihm weg, bis ich weit genug vom Rand entfernt war, um aufzustehen.
»Hör auf!«
Arthur hielt sich die blutende Lippe. »Verdammte Schlampe!«
Er stand auf und stellte sich mir in den Weg.
»Lass mich runter!«, schrie ich.
Er breitete die Arme aus wie ein Torwart beim Elfmeter. Der einzige Weg hinunter war die Leiter. Meine Angst steigerte sich zu Panik.
Ich verpasste Arthur einen Ellenbogenhieb in den Magen. Er ließ sich auf die Knie sinken und ächzte. Dennoch griff seine Hand meinen Knöchel und riss mich zu Boden. Bevor er sich erneut auf mich werfen konnte, rollte ich zur Seite und stemmte mich hoch. Wieder standen wir uns gegenüber.
Ich stürmte auf Arthur zu, der einen Ausfallschritt in Richtung Leiter machte. Doch ich rannte an ihm vorbei und sprang meterweit auf den gelben Container auf der anderen Seite. Als ich mich aufgerappelt hatte, sah Arthur mich wutschnaubend an. Sein Kampfgeist schien nicht gebrochen. Ich drehte mich um, nahm Anlauf und sprang von Container zu Container.
Meine eingeschlagene Richtung führte mich auf eine Halle zu. Hinter mir hörte ich Arthur, der die Verfolgung aufgenommen hatte.
An der Halle angekommen, sprang ich vom Container aufs Dach und kletterte an der Feuerleiter herab. Ich lauschte. Etwas schlug wenig später mehrere Male dumpf auf. Wahrscheinlich war Arthur die gestapelten Container hinuntergesprungen.
»Eins, zwei, drei, vier, Eckstein, …«, vernahm ich seine Stimme einige Meter entfernt.
Zitternd sah ich mich um. Ich war in einer Sackgasse. Prompt erschien ein roter Haarschopf am anderen Ende des Durchgangs. Arthur ging grinsend auf mich zu. Ich wich zurück, bis ich gegen einen Container stieß.
Ich wollte ihm meine Faust ins Gesicht schlagen, doch er hielt meinen Arm fest. Er drückte mich mit seinem Körper gegen die Wand. Seine Zunge glitt über mein Schlüsselbein. Mir lief ein Schauer über den Rücken und ich verzog das Gesicht. Seine Hand ruhte auf meiner Brust, sein Atem kribbelte unangenehm auf meiner Haut.
»Arthur!«
»Stör mich nicht!«, fluchte er und sah über die Schulter nach hinten.
Ich nutzte seine Unaufmerksamkeit und rammte ihm mein Knie in den Schritt. Er keuchte und lockerte seinen Griff. So schnell ich konnte, rannte ich zu Riley und nahm hinter ihm Deckung.
»Was ist hier los?«
»Ach, sie spinnt ein bisschen«, sagte Arthur und kam lächelnd näher. »Eben wollte sie noch.«
»Einen Scheiß wollte ich!«, schrie ich.
Tränen schossen mir in die Augen und die letzten Silben konnte ich nur krächzen. Arthur sah Riley an und schüttelte den Kopf.
»Reiß dich zusammen, Arthur!«, sagte sein Patenonkel. »Du kannst nicht einfach über eine Frau herfallen. Zumal in der Öffentlichkeit.«
»Hey, sie will mich. Alle Weiber wollen mich.«
»Sie will dich offenkundig nicht«, sagte Riley mit einem Blick zu mir. »Es wäre besser, wenn du jetzt gehst. Ihr beide.«
»Warum sollte ich?«, fragte Arthur.
»Ich kann auch anders, Junge.«
»Du drohst mir?«
Riley schob mich hinter sich und bedeutete mir mit einer Kopfbewegung zu gehen. Ich rannte los.
Der Schuss löste sich wie von selbst.
Das Tablett mit den drei Teetassen fiel scheppernd zu Boden. Sie sackte zusammen, hielt sich mit der blutigen Hand den Bauch. Herr Neumann schrie und sprang auf. Ich richtete die Waffe auf ihn, sodass er in seiner Bewegung erstarrte. Sein Blick huschte zur Garderobe.
»Es war eine dumme Idee, deine Waffe nach der Arbeit abzulegen«, sprach ich seinen Gedanken laut aus.
Mit ruhiger Stimme sagte er: »Sie braucht einen Notarzt. Unverzüglich.«
»Ich weiß.«
Ich zeigte mit der Waffe auf die Couch, von der er hochgesprungen war. Er setzte sich mir gegenüber ans andere Ende. Schweißperlen traten auf seine Stirn.
Das Licht fiel durch die Glasfensterfront hinter uns und blendete ihn. Es wäre ein Leichtes gewesen durch die Fenster einzusteigen, doch es war nicht nötig gewesen. Frau Neumann hatte mich aus freien Stücken in die Wohnung gelassen. Während sie mich aus der Presse erkannt hatte, tat ihr Mann sich noch schwer. Dabei hätte ich ihm seit jenem Tag in der Schule besser in Erinnerung bleiben müssen.
Seine hellblauen Augen fokussierten mich, während er seine muskulösen Arme auf der Couch abstützte. Er war erst Mitte Zwanzig, doch zeigten sich bereits einzelne weiße Haare zwischen den sonst braunen. Der Kronleuchter über uns war nicht angeschaltet, weshalb es zusehends dunkler wurde im Raum. Frau Neumann war nur noch ein Schatten auf der Schwelle zum Flur. Ihr Mann setzte sich so, dass er mich, seine Frau und die Wohnungstür im Blick hatte.
»Was willst du, Junge?«
»Im Grunde wollte ich nur Antworten«, sagte ich. »Aber jetzt macht es mir viel zu viel Spaß Ihnen dabei zuzusehen, wie Ihre Frau vor Ihren Augen verblutet.«
Eigentlich war es nie mein Plan gewesen, der Frau etwas anzutun. Ursprünglich wollte ich nur ins Haus kommen und diesen Bastard ohne Umschweife erschießen. Doch seine Frau war offenbar früher von ihrem Job zurückgekehrt.
»Was willst du wissen?«
»Ich will wissen, welcher Mann hinter dem Schützen steckt, der einen minderjährigen Jungen ohne Vorwarnung hinrichtet?«
Herr Neumann prüfte stirnrunzelnd mein Gesicht.
»Du bist der Junge aus der Schule«, flüsterte er.
»Ja, und der Junge, den Sie erschossen haben, war mein bester Freund.«
»Ich musste ihn aufhalten. Er hätte noch mehr Menschen umgebracht.«
»Diese Menschen haben ihn dazu gebracht«, sagte ich.
»Mord ist niemals die Lösung für ein Problem. Es macht alles nur noch schlimmer«, sagte er. »Würden wir hier sonst sitzen? Mit einer Waffe zwischen uns?«
»Sie haben ihn einfach erschossen«, bellte ich.
»Ich hatte keine Wahl. Er trug eine Waffe bei sich und war eine Gefahr für andere.«
»Er war kurz davor sie abzulegen.«
»Das war aus meiner Position nicht ersichtlich«, verteidigte er sich im besten Beamtendeutsch.
»Ich war dabei. Er hatte die Waffe gesenkt.«
»Das hat nichts zu bedeuten. Denkst du wirklich, du hättest ihn davon überzeugen können aufzuhören? Nachdem er über zehn Schüler getötet hatte?«
»Er war kurz davor, mir die Waffe zu geben.«
»Bist du dir sicher, dass das nicht nur dein Wunsch war?«
Ich wusste, dass mich Herr Neumann nur dazu bringen wollte, ihm die Waffe zu geben. Doch ich konnte nicht verhindern, daran zu denken, wie es geschah.
Ben stand mir gegenüber. Er setzte gerade ein neues Magazin in seine Pistole ein. Wenige Meter weiter verschwand ein Mädchen in einem Raum und schloss die Tür hinter sich mit einem Knall. Ich blieb wie angewurzelt stehen und sah hinab auf ein blutendes Mädchen. Sie bewegte sich nicht. Vor Schock konnte ich mich nicht rühren.
Als ich die Schüsse gehört hatte, war ich ihnen entgegengelaufen. Ich hatte diesen kranken Bastard kaltstellen wollen. Nun musste ich feststellen, dass es Ben war.
Ich riss die Hände nach oben, als er die Waffe abrupt auf mich richtete. Erst dann schien er mich zu erkennen und schaute mir direkt in die Augen. Er blinzelte mehrmals, als würde er aus einem langen Albtraum erwachen, und sah hinab auf die Waffe in seiner Hand. Seine Stirn legte sich in Falten und langsam senkte er den Arm. Ich wollte einen Schritt auf ihn zu machen.
Da ertönte ein Knarzen nur wenige Meter von mir entfernt. Erst in diesem Moment nahm ich die zwei Männer in schwarzer Einsatzkluft wahr. Die Gesichter waren durch Helme verborgen.
Ben wandte sich ihnen zu und brachte die Waffe wieder in Anschlag. Sie war auf den Mann gerichtet, der sein Mörder sein sollte.
»Phil-ipp«, ertönte es schwach. Er sah zum dunklen Flur. Sie war kaum zu erkennen. Ich hörte, wie sie röchelte.
»Sie stirbt. Wir müssen einen Notarzt rufen«, sagte er und ich erkannte Panik in seiner Stimme.
»Für Ben habt ihr auch keinen gerufen.«
»Er war tot«, schrie er und stand auf. »Ich habe ihm in den Kopf geschossen. Er war sofort tot.«
Durch den Rückstoß fuhr ein Schauer durch meinen Körper. Die Kugel traf ihn direkt ins Gesicht. Er sank auf der Couch leblos nieder.
Erschrocken über den unbeabsichtigten Schuss sprang ich auf. Es war vorbei. Ich hatte ihn tatsächlich erschossen. Doch statt Erleichterung, wie ich sie vor zwei Monaten neben Jacks Pub gespürt hatte, ließ mich der Drang nach Rache nicht los. So hatte er nicht sterben sollen. Es ging viel zu schnell. Er hätte mehr leiden müssen. Ich verfluchte den Typen, der mir die Waffe besorgt hatte.
Sie löste viel zu schnell aus. Oder lag es an meinen Brandnarben? Seit dem Tod meines Großvaters hatte ich weniger Empfindung in der rechten Hand.
Ich zog das Foto aus meiner Hosentasche. Bens Haar lag unordentlich auf seinem Kopf und er lächelte verschmitzt in die Kamera. Ich legte es neben die Leiche.
Dann ging ich zu Frau Neumann und kniete mich neben ihr hin. Sie blickte mich angsterfüllt an. Tränen liefen aus ihren Augenwinkeln und tropften auf den Boden, wo sie sich mit dem dunklen Blut vermischten, das aus ihrem Bauch gesickert war.
»Pssst, kein Wort!«, befahl ich mit erhobenem Zeigefinger.
Ich umgriff ihr Handgelenk und fühlte ihren Puls. Ihr Herz schlug ungleichmäßig und schwach. Das Haustelefon stand auf der Kommode nur einen Schritt weit von mir entfernt. Doch es war eine törichte Idee, selbst den Notruf zu wählen.
Ein flehender Ausdruck trat auf ihr Gesicht, der sich in einen panischen verwandelte, als ein Geräusch aus dem ersten Stock ertönte. Es war der Schrei eines Babys – ihres Babys.
Ich fand das Baby im Holzbettchen liegend. Es strampelte mit den Beinen und schrie. Behutsam nahm ich es auf den Arm und strich über seinen Rücken, doch es beruhigte sich nicht. Ich hielt das Baby vor mich und es verstummte.
Es sah mich mit seinen strahlend blauen Augen an und ich wusste, dass ich sein Gesicht nie wieder vergessen könnte. Als würde es bis tief in meine Seele schauen und sehen können, was ich getan hatte.
»Das verstehst du noch nicht«, flüsterte ich. »Das wirst du nie verstehen.«
»Prinzessin? Steh auf!«
Ich wälzte mich auf die andere Seite des Bettes und schlang die Bettdecke um mich. Es klopfte erneut an der Zimmertür.
»Du musst zur Schule.«
Heute nicht. Ich wollte weder Liam begegnen noch meinen Freunden. Außerdem wusste Arthur, wo ich zur Schule ging und ich wollte das Risiko nicht eingehen, ihm in die Arme zu laufen.
Vorsichtig öffnete Vati die Tür und blieb einige Sekunden auf der Schwelle stehen. Dann trat er langsam an mein Bett, als nähere er sich einer freilaufenden Wildkatze.
»Was ist los?«
»Ich geh heute nicht zur Schule.«
»Warum? Ist was passiert?«
Er setzte sich auf die Bettkante und legte eine Hand auf meine Schulter. Ich schüttelte den Kopf und legte mich auf den Rücken, damit ich ihm in die Augen sehen konnte.
»Nein. Ich hab nur … Frauenprobleme, weißt du?«
»Oh.« Vati sah auf die Bettdecke. »Kann ich dir irgendwas bringen? Wärmflasche? Tee?«
»Das wäre echt nett.«
Vati erhob sich sofort und verließ mein Zimmer. Ich hasste es, wenn ich ihn anlog, aber die Wahrheit würde er nicht verkraften. Genauso wenig wie meine Freunde. Carina machte sich immer unnötige Sorgen. Wahrscheinlich würde sie mich dazu drängen, Arthur anzuzeigen. Alex hingegen wusste bereits zu viel. Außerdem hatte er schon mein Treffen mit Maja nicht gut aufgenommen. Was sagte er erst, wenn er erfuhr, dass der Mann in Frauenklamotten nach dem Siebenschläfer suchte und mich diesem Punk vorgestellt hatte?
Ich wollte den gestrigen Tag einfach vergessen.
Wenige Minuten später stellte Vati eine Tasse mit Kamillentee auf meinem Nachttisch ab. Ich nahm ihm die Wärmflasche ab und legte sie auf den Bauch.
»Ich bin in der Stube. Falls du mich brauchst«, sagte Ole, wich jedoch meinem Blick aus. »Wenn es dir besser geht, kannst du ja zum Arzt.«
Ich nickte. Frauenprobleme waren das Totschlagargument, um lästige Fragen meines Vaters zu umgehen. Eigentlich hatte ich so gut wie nie Probleme mit meiner Regel, aber Vati dachte es. Mehrmals hatte ich schon Beschwerden vorgetäuscht, um nicht zur Schule gehen zu müssen. Zum Glück kannte Ole nicht meinen Regelkalender.
Leider hatte ich einmal den Krankenschein vergessen, weshalb bereits ein unentschuldigter Fehltag auf meinem Zeugnis stand. Um einen weiteren zu vermeiden, ging ich mittags zum Arzt und schob Kreislaufbeschwerden vor. Ich bekam ohne Probleme mein Attest und lief in Richtung Bushaltestelle.
Ich wollte einfach nicht mehr. Ich wollte nicht in die Schule, um diesen Schein abzugeben. Ich wollte nicht nach Hause, um Vatis unsicheren Blick zu sehen. Ich wollte nicht noch einmal auf diesen Wichser treffen. Und ich wollte nicht noch einmal für Spike was auch immer erledigen.
Ich wollte einfach nur noch weg aus dieser Stadt. Mir ein Motorrad kaufen und irgendwo anders eine Ausbildung anfangen. Vielleicht begleitete Alex mich und wir konnten eine WG gründen? Obwohl sein Vater ihn wahrscheinlich daran hindern würde, solange er nicht volljährig war. Aber danach?
Kurz vor der Haltestelle kreuzte ich die Bismarckstraße. Mein Blick folgte einem blauen Wagen, der in Richtung Pont Neuf fuhr. Wenn ich die zehnte Klasse abschließen und nächsten Sommer die Stadt verlassen wollte, brauchte ich dringend Geld. Spikes Lohn war ein Anfang, aber reichte lange nicht für eine eigene Wohnung.
Ich überquerte die Straße und lief die Straße entlang bis zu Mikas Bar. Natürlich war sie geschlossen. Zögerlich legte ich die Fingerknöchel an die Eingangstür und klopfte die Melodie von Nirvana. Sekundenlang war nichts zu hören. Gerade als ich mich abwenden wollte, öffnete Mika und sah mich verdutzt an.
»Hey Mika. Ich wollte dich nicht stören, aber … hast du vielleicht ’ne Minute?«
Er sah sich kurz auf dem Gehweg um, dann ließ er mich ein. Nach dem obligatorischen Wangenkuss fuhr ich fort.
»Ich hab über dein Angebot nachgedacht. Ich könnte tatsächlich einen Job gebrauchen. Kann ich hier arbeiten?«
Mika nickte. »Mais bien sûr. Wann kannst dü anfangen?«
»Sofort. Ich hab heute nichts weiter vor.«
»’ast dü Ferien?«, fragte er mit zusammengezogenen Augenbrauen.
Ich fuhr mir durch den Iro. »Nicht direkt. Ich bin krankgeschrieben.«
»Dann kannst dü ’eute sowieso nischt arbeiten.«
»Muss doch keiner wissen«, sagte ich stöhnend. »Ich hab schon mal schwarzgearbeitet. Wir können das auch ohne meinen Vater regeln.«
Mika sah mich skeptisch an und antwortete nach kurzem Zögern: »Wenn dü mir versprichst, dass dü tagsüber zur Schule gehst. Dann kannst dü abends ’ier aus’elfen.«
»Ernsthaft?«
Er nickte. Wenn ich unter der Hand arbeiten konnte, würde ich die erhoffte Summe sogar noch vor meinem erweiterten Realschulabschluss zusammenhaben. Ich strahlte übers ganze Gesicht und wollte gerade dem Impuls nachgeben, Mika zu umarmen. Da klingelte ein Handy.
Mika griff in seine Hosentasche und nahm ab. Ohne Kommentar starrte er mich an und hörte dem Anrufer zu. Seine Augen weiteten sich, während er in eine Ecke starrte.
»Qui est mort?«
Er nickte hektisch. In seinem Gesicht spiegelte sich Panik und Sorge. Er wandte sich abrupt von mir ab und ging zur Bar.
»Où es-tu?«
Mit dem Ellenbogen fixierte er einen Notizblock, auf dem er etwas notierte. Dann nickte er wieder zustimmend.
»Isch komm zü dir. Bleib, wo dü bist!«
Mika legte auf und riss den Zettel vom Block. Mit dem Schlüssel in der Hand eilte er in Richtung Eingangstür. Als er an mir vorüberging, blieb er stehen. Sein Blick traf auf mich. Seine Gedanken schienen zu rasen.
»Kannst dü doch schon ’eute anfangen?«
»Klar. Was soll ich machen?«
Er übergab mir den Schlüssel. »In dix minutes kommt ein Lieferant. Kannst dü warten und Getränke annehmen? Er braucht nür eine Ünterschrift ünd jemand, der ihm öffnet.« Er griff nach seiner Jacke und lief bereits in Richtung Tür. »Ich schicke eine Bekannte, der sich auskennt. Übergib ihm einfach den Schlüssel! Ünd öffne niemandem sonst die Tür! M’as-tu compris?«
»Klar.«
Er lächelte mich dankbar an und verschwand durch die Tür. Ich schloss hinter ihm ab und wartete zwanzig Minuten, bis es an der Tür klopfte. Schon an der Melodie erkannte ich, wer es war. Einige Sekunden verstrichen, in denen ich darüber nachdachte, ob ich öffnen sollte. Doch ich war es Mika schuldig und ich wollte beweisen, dass ich diese einfache Aufgabe erledigen konnte.
Spike sah mich abwartend an und ging kommentarlos an mir vorbei, um seine Jacke an die Garderobe zu hängen. Dann verschwand er in der Küche und kam zwei Minuten später wieder. In der Zwischenzeit hatte es erneut an der Tür geklopft.
Ein blondhaariger Mann mit Dreitagebart fragte, wo die Getränke angeliefert werden müssten. Spike erschien genau im richtigen Moment, um ihm den Ablauf zu erläutern. Der Mann verschwand in Richtung seines weißen Lieferwagens und parkte ihn um die Ecke in einer Gasse. Während sein Kollege die Kisten mit einer Sackkarre in einen Lagerraum verfrachtete, nahm Spike das Formular entgegen und zeichnete es gegen. Der blondhaarige Mann sah ihn stirnrunzelnd an.
»Ich bin Mikas Bruder«, sagte Spike. »Wir haben verschiedene Mütter.«
Der Mann verzog einen Mundwinkel und nickte. Er steckte das Formular wieder ein und verabschiedete sich. Schon war ich mit Spike wieder allein in der Bar. Spike schloss den Lieferanteneingang ab und lief zurück zu mir an die Bar. Kurz sahen wir uns einfach nur an, dann lehnte Spike sich gegen die Spüle. Seine blauen Augen taxierten mich forschend.
»Du gehst nicht an dein Handy.«
Ich wich seinem Blick aus. »Hab dir nichts zu sagen.«
»Ich hab mir Sorgen gemacht.«
»Dass ich vielleicht vergewaltigt worden bin? Keine Sorge! So einfach bin ich nicht unterzukriegen.«
Spike zögerte einige Augenblicke. »Wie bist du heimgekommen?«
»Hab den letzten Bus genommen.«
Er stieß sich von der Spüle ab und schaute mich eindringlich an.
»Du hättest auf mich warten sollen.«
»Worauf? Dass du mich wie verabredet abholst? Du warst nicht da, als er …«
»Es ging zu schnell«, sagte er sofort. »Ihr seid weggerannt. Ich wusste nicht wohin. Arthur hab ich auch nur gefunden, weil er lauthals mit seinem Patenonkel gestritten hat. Du wart längst über alle Berge.«
»Du hättest mich orten können.«
»Die Wanze hat keinen Peilsender. Den hätte ich dir extra geben müssen.«
»Hast du aber nicht getan«, blaffte ich.
»Du hast schon die Wanze nur widerwillig genommen.«
»Richtig. Und du kannst sie dir gern bei mir Zuhause abholen. Sie liegt in meiner Schreibtischschublade. Für mich ist das hier«, ich zeigte zwischen uns hin und her, »erledigt.«
Ich wandte mich von ihm ab und ging zur Garderobe.
»Es tut mir leid, dass du in diese Situation gekommen bist«, sagte er leise.
»Passt schon.«
Ich rollte mit den Augen und hob eine Hand, um ihm Einhalt zu gebieten. Er konnte jetzt sagen, was er wollte. Es änderte nichts an der Tatsache, dass dieser Hurensohn mich beinahe vergewaltigt hätte. Die Wanze hätte mir Sicherheit geben sollen. Spike hatte geschworen, dass er in meiner unmittelbaren Nähe sein würde. Aber er hatte lediglich zugehört, wie ich mit Arthur kämpfte, ohne einzugreifen.
Gerade als ich nach meiner Lederjacke griff, klopfte es an der Tür. Spike ging an mir vorbei und öffnete. Mika führte Saskia herein. Ihr Blick war zu Boden gerichtet. Erst als sie mit der rechten Hand durch ihr zerzaustes Haar strich, erkannte ich die getrockneten Blutflecke an ihren Armen. Auch am Bund ihrer grauen Hose waren Streifen.
»’olst dü ein Glas Wasser, s’il te plaît?«, bat Mika.
Spike öffnete den Mund, doch Mika brachte ihn mit einer einfachen Handbewegung zum Schweigen. Sie warfen sich einen vielsagenden Blick zu, danach folgte Mika Saskia zu einem Tisch. Ich füllte das erste Glas, das ich greifen konnte, mit Leitungswasser.
Als ich es vor Saskia abstellte, wischte sie sich über die tränenunterlaufenden Augen und schluchzte. Ihr Make-up verwischte. Mika zog ein Taschentuch aus seiner marineblauen Hemdtasche und reichte es ihr. Sie ließ das durchnässte Tuch auf den Tisch fallen. Mit ausdruckslosem Blick betrachtete sie Mikas Brust.
»Was mach ich jetzt?«
»Je ne sais pas«, antwortete Mika mit besorgtem Blick.
»Ich kann das Kind nicht ohne Vater aufziehen. Und ich kann es nicht mehr abtreiben. Dafür ist es zu spät.«
»Trink eine Schlück!«
Sie schnäuzte sich und folgte Mikas Anweisung. Als sie das Glas Wasser an die roten Lippen hob, wurde sie sich bewusst, dass noch jemand neben ihnen stand. Sie sah zu mir auf und in ihren Blick trat Panik, als würde sie dem Tod selbst ins Auge sehen. Ihre Hand hob sich an den Mund, doch sie konnte die Worte nicht zurückhalten, die sich ihre Kehle hinaufkämpfte.
»Er ist tot«, rief sie schrill. »Er ist tot.«
Mika sprang auf und zwängte sich an mir vorbei auf den Platz neben Saskia. Er umarmte sie und Saskia hielt sich an ihm fest, als würde sie drohen, in einen Abgrund zu stürzen.
»Da war so viel Blut … das Appartement war vollkommen verwüstet … Wer macht sowas, Mika? Wer macht sowas?«
Mika strich ihr beruhigend übers weißblonde Haar. »Die Policier wird ihn finden. Bien sûr! Dü ’ast ihnen alles gesagt, was dü weißt. Sie finden seinen Mörder.«
Ich nahm Abstand vom Tisch. Mika kannte Saskia wesentlich länger als ich. Wie sollte ich ihr schon helfen können? Weder wusste ich, wie es war schwanger zu sein, noch wie es war eine Leiche zu finden.
Sie tat mir unendlich leid, doch ich fühlte mich unfähig ihr beizustehen. Zumal ich keinerlei Mitleid mit Justin empfand. Wie es sich anhörte, war er ermordet worden. Dennoch wollte mir das Bild des Jungen nicht aus dem Kopf gehen, der seine Freundin zu Boden schlug. Mein Gewissen schalt mich dafür, seinen Tod als gerechte Strafe anzusehen.
Da Mika mir seinen Rücken zugewandt hatte, konnte ich mich nicht ordentlich von ihm verabschieden. Er würde es wahrscheinlich verstehen, wenn ich einfach ging.
Spike stand nach wie vor an der Garderobe und sah unverhohlen zu den beiden hinüber. Als ich meine Lederjacke anzog, sah er mich fragend an. Ich erwiderte schließlich seinen Blick.
»Justin McMillan ist tot«, sagte ich kommentarlos und ging.
Am Mittwoch standen Carina und ich auf dem Schulhof. Meine Freundin biss von ihrem belegten Brot ab und fragte mit vollem Mund: »Sag mal, hast du die Hausaufgaben für Bio?«
»Hausaufgaben?«
Carina gluckste und erläuterte, dass wir einen Text über Embryonalentwicklung lesen sollten, um daran die verschiedenen Furchungstypen herauszuarbeiten.
»Willst du abschreiben?«
Ich nickte.
Carina sah abwesend in Richtung der gegenüberliegenden Hofmauer, an der für gewöhnlich Felicitas und ihre Clique standen. Heute waren sie nicht da, verschanzten sich wohl wieder wie eine Clan Hyänen lachend auf der Toilette.
Stattdessen befand sich Liam zusammen mit seinen Kumpels an der Stelle. Während ihm einer seiner Freunde lachend auf die Schulter schlug, wandte er sich ab und unsere Blicke trafen sich. Schnell sah ich weg und schaute in Carinas aufgerissene Augen.
»Er sieht her«, flüsterte sie aufgeregt.
»Und wenn schon. Solange er nur guckt, brauchst du dir keine Sorgen machen.«
»Schaut er immer noch?«
»Nein«, log ich nach einem flüchtigen Blick.
»Ich glaub, ich geh vor Bio noch mal aufs Klo.«
Carina packte den Rest ihres Schulbrotes in den Rucksack und setzte ihn auf.
»Grüß Felicitas von mir!«, rief ich ihr nach.
Meine Freundin grinste schelmisch und verschwand im Schulgebäude. Ich aß mein Brot auf und beugte mich zu meinem Rucksack, um meine Wasserflasche herauskramen, als mich eine Stimme zusammenzucken ließ.
»Hey, wie geht’s dir?« Es war Liam.
»Gut«, antwortete ich.
»Du warst gestern nicht in der Schule.«
»Ja. Ging mir nicht so gut.«
»Ach, wir haben doch alle schon mal blaugemacht, um mit unseren Freunden ungestört abzuhängen. Musst mir nichts erklären.« Er zwinkerte mir zu. »Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet Arthurs Freundin in meine Parallelklasse geht?«
»Ich bin nicht seine Freundin.«
»Oh, dann hab ich mich vielleicht verhört. Oder habt ihr gestern am Hafen direkt Schluss gemacht?« Liam verzog gequält die Lippen. »Übel.«
Ich schüttelte den Kopf. Beim Gedanken an diesen Kotzbrocken schnürte sich mir der Hals zu. Meine Unterarme waren übersät von blauen Flecken, weshalb ich in den Klassenräumen darauf achtete, meine Pullover nicht hochzukrempeln. Automatisch begann ich damit, mir über die Arme zu fahren, um zu überprüfen, dass Liam nichts sehen konnte.
»Wie lange wart ihr zusammen?«
»Wir waren nicht zusammen.«
»Das sag ich über meine Ex-Freundinnen auch immer.« Er lachte. »Aber ernsthaft: Ihr seid nicht zusammen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Das trifft sich gut. Ich bin auch gerade frei.«
Liam lehnte sich neben mir an die Wand. Intuitiv wollte ich ausweichen, zwang mich aber dazu, ihm in die Augen zu sehen. Er legte den Kopf schief.
»Ich weiß nicht, wieso ihr Schluss gemacht habt, aber Arthur ist ein Idiot, wenn er eine Schönheit wie dich einfach gehen lässt. Vielleicht hast du ihn aber auch abblitzen lassen, nachdem du meine Fahrkünste gesehen hast? Glaub mir, ich bin nicht nur hinterm Steuer ein Profi.«
Liam zwinkerte. Die Schulglocke ertönte und ich nutzte die Gelegenheit, um mich von ihm abzuwenden und in Richtung Eingang zu gehen.
»Hey, wir haben jetzt Bio zusammen, oder?«, rief Liam mir nach.
Ich drehte mich zu ihm um. Er warf sich seine Tasche über die Schulter und folgte mir.
Als er mich eingeholt hatte, reichte er mir die Hand: »Julia, richtig? – Ich bin Liam Pilgrim.«
Ich sah zu ihr hinab, dann zu ihm auf. Ohne ihm meine Hand zu reichen. Wer wusste, ob er mir nicht vor versammelter Schülerschaft wieder einen Handkuss gab?
»Das eben sollte nur ein kleines Kompliment sein, okay?«, erklärte er und zog seine Hand zurück.
»Schon okay.«
»Eure Trennung ist noch frisch. Tut mir leid, wenn ich zu weit gegangen bin.«
»Schon okay.«
»Mein Cousin ist ein Idiot, egal warum ihr auseinander gegangen seid. Das war er schon immer.«
»Ihr seid verwandt?«, fragte ich und wandte mich ihm zu.
»Okay. Wenn man es genau nimmt, dann bin ich sein Neffe zweiten Grades oder so. Aber ich nenn ihn einfach Cousin, sonst checkt das eh keiner. Ist ziemlich kompliziert«, sagte er, »aber wenn du willst, zeichne ich dir ’ne Skizze in Biologie.«
»Wenn du meinst.«
»Das wird nicht einmal auffallen. Wo wir schon bei der Entwicklung von Embryonen und Babys sind, da sind Stammbäume nicht weit.«
In der dritten Etage wartete bereits Carina vor dem Biologieraum auf mich. Mit aufgerissenen Augen starrte sie Liam an, der ihr die Hand zur Begrüßung reichte.
»Hi, ich bin Liam Pilgrim.«
»Ich … ich bin Carina.«
Liam ließ ihre zitternde Hand los und wandte sich wieder mir zu. »Sag mal: Hast du die Hausaufgaben?«
»Nein, aber Cari.«
»Könnte ich vielleicht mal reinschauen?«
Liam lächelte Carina schmeichlerisch an. Augenblicklich wühlte sie in ihrem Rucksack und zog ihren Hefter hervor. Er nahm ihn entgegen und blätterte darin herum.
»Die vorletzte Seite«, sagte Carina.
Er überflog das Blatt, dann schlug er den Hefter zu.
»Du hast sie nicht?«, fragte Liam an mich gewandt.
»Hab ich doch schon gesagt.«
»Dann schreib schnell ab!«, sagte Liam. »Ich schreib dir auch.«
Mit einem Zwinkern verschwand er im Klassenraum. Carina sah mich fragend an, doch ich konnte ihr keine Erklärung geben. Stattdessen folgten wir ihm schweigend und setzten uns an unsere Bank auf der rechten Seite des Raums. Unauffällig schob Carina mir ihre Hausaufgaben herüber und ich schrieb ab. Doch die Schulklingel läutete viel zu früh, als dass ich hätte fertig werden können. Der Unterricht begann und wie immer wurden zuerst die Hausaufgaben eingesammelt.
Die Lehrerin ging durch die Reihen und sammelte wahllos Zettel ein. Als sie beinahe bei uns angekommen war, meinte sie, dass sie nur noch eine bräuchte.
»Entschuldigung«, meldete sich Liam zu Wort. »Ich würde meine Hausaufgaben heute gern abgeben.«
Die Schüler drehten sich zu Liam um. Ein paar Mitschüler kicherten.
»Wenn Sie meinen, Liam. Her damit! Aber Sie beide geben nächste Stunde ab, verstanden?«
Carina und ich nickten.
In der großen Pause gesellte sich Liam zu uns. Obwohl ich Alex bereits auf dem Schulflur gesehen hatte, kam er merkwürdigerweise nicht zu uns. Entweder er saß mit mächtigen Verstopfungen auf dem Klo oder irgendetwas anderes hielt ihn vom Schulhof fern. Ich hoffte inständig, dass nicht wieder irgendein Mistkerl Cola in seine Tasche geschüttet hatte, und er nun versuchte, seine Schulsachen zu retten.
»Jetzt seid ihr beide mir was schuldig.«
»Warum das denn?«, fragte ich.
»Weil ich euch gerettet habe.«
»Vor unserer Lehrerin?«
Liam nickte.
»Das wäre nicht nötig gewesen«, wandte Carina ein.
»Kannst du dir denn eine schlechte Note leisten?«
»Wieso?«
»Weil du etwas Wichtiges vergessen hast.«
»Ernsthaft?«, fragte sie.
Liam erklärte ihr, dass sie einen Teil der Aufgabenstellung übersehen hatte, wodurch ihre Ausgangsrechnung bereits lückenhaft war. Der Fehler zog sich durch den gesamten Lösungsansatz. Ich verstand davon nur die Hälfte.
»Und das hast du alles mit einem Blick in meinen Hefter gesehen?«
»Ich bin eher der visuelle Lerntyp«, sagte er. »Bei dir war irgendwas total anders als bei mir, also musste einer von uns einen Fehler haben. Erst als ich in meinen Hefter gesehen habe, fiel mir auf, was anders war.«
»Was machst du nur hier an unserer Schule? Du solltest auf ein Internat für Hochbegabte gehen«, sagte ich und schnaubte.
»Hätte ich gewusst, dass hier so hübsche Mädels rumrennen, wär ich viel früher auf die Staatliche gewechselt.«
»Dann stimmt es also?«, fragte Carina. »Du kommst vom Internat? Wie ist es da so?«
Liam berichtete von den vielen Angeboten auf seiner ehemaligen Schule. Alles klang danach, als seien Leute vom Internat besser als normale Gymnasiasten.
»Ich habe schon in der Grundschule den Mädchen die Türen aufgehalten. Das machte man so an unserer Schule.«
»Charmeur«, sagte ich abfällig.
Liam sah mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an und sagte: »Ich hoffe doch, das war ein Kompliment.«
Ich zuckte mit den Schultern und Carina warf mir einen strengen Blick zu.
»Du hättest aber auch aufs Privatgymnasium gehen können«, sagte Carina.
»Das hat meine Mom auch gesagt, aber das war nicht möglich.«
»Warum?«, hakte ich nach.
Liam wich meinem Blick aus. »Mein Dad ging aufs Privatgymnasium.«
»Meiner auch«, sagte Carina.
»Rein formal wäre es gegangen, aber ich wollte dort nicht hin. Ich kenne da niemanden und ich brauche keine fancy Fächer, um später Karriere zu machen. Mir reicht ein stinknormales Abi. Und Dad hatte recht: Hier gibt es mit Abstand die schönsten Mädels.«
Liam legte einen Arm um Carina und zog sie an sich. Sofort wurde sie steif und riss die Augen weit auf. Er grinste und sah mich dann herausfordernd an.
Ich wandte mich ab und kramte in meinem Rucksack nach dem Pausenbrot. Mein Blick streifte den Hof und blieb an Felicitas hängen, die zu uns hinüberstarrte.
Plötzlich zog etwas an meinem blauen Shirt. Erschrocken fuhr ich herum. Liam entfernte seine Hand von meinem Nacken. Mit einer Bewegung ließ er etwas Glänzendes in seiner rechten Hosentasche verschwinden und hielt mir einen Zettel entgegen. Maja hatte dieses Oberteil tatsächlich nie getragen, wenn sie sogar vergessen hatte das Preisschild zu entfernen.
»War das ein Messer?«, fragte Carina und Liam nickte unschuldig.
»Waffen sind hier verboten«, ergänzte ich.
»Und warum hat Felicitas dann immer eine Nagelfeile dabei?«
»Das ist keine Waffe«, sagte ich.
»Wenn man es richtig anstellt, kann man auch damit jemanden lebensgefährlich verletzen.«
Carina sah ihn entsetzt an.
»Nicht, dass ich das jemals vorgehabt hätte. Es ist einfach praktisch.«
Die Sicherheitsvorkehrungen an den Schulen im Umkreis waren überdurchschnittlich hoch. Es gab Überwachungskameras und am Eingang Metalldetektoren. Meines Wissens wurden die jedoch selten eingesetzt.
»Bei der Vorgeschichte der Stadt sollte man meinen, sie würden einen größeren Aufwand betreiben, um die Schüler zu schützen. Aber die Detektoren sind nur Attrappen genauso wie die Überwachungskameras.«
»Das ist nicht wahr«, sagte Carina mit Nachdruck.
»Warum stehe ich dann mit einem Messer hier? Doch nur weil es niemanden interessiert. Vorschriften hin oder her. Ich könnte sonst etwas damit anstellen.«
Er holte das Messer aus seiner Hosentasche und klappte es mehrmals auf und zu. Carina wich zurück. Ich griff nach Liams Arm. Er rollte mit den Augen, steckte das Messer dann jedoch zurück.
»Dad hat herausgefunden, dass dieses Gymnasium nicht wirklich etwas für die Sicherheit der Schüler tut. Es fehlt überall an finanziellen Mitteln. Er hat gesagt, dass er etwas dagegen unternehmen wird, sobald er Bürgermeister wird.«
»Und er meint, damit ist es getan?«, fragte ich.
»Etwa nicht?«
»Amokläufe kann man nicht verhindern, indem man nur das Mitführen von Waffen verbietet«, sagte Carina. »Es fängt schon viel früher an. Es liegt am Umgang der Schüler untereinander. Schüler werden von ihren Mitschülern gehänselt und gedemütigt, bis sie keinen anderen Ausweg mehr sehen, als sich mit Gewalt zu wehren.«
»Und ihre Mitschüler und Lehrer erschießen?«, fragte Liam. »Das ist doch krank.«
Carina ließ den Kopf hängen und schwieg. Ich legte meine Hand auf ihre Schulter.
»Dieser Amoklauf war eine Tragödie, die sich nicht noch einmal wiederholt. Nicht in dieser Stadt und an keiner anderen Schule«, beschwichtigte ich sie.
»Wahrscheinlich hast du recht.«
Liam lächelte sie aufmunternd an. »Dann stimmt mein Horoskop für dieses Jahr wohl. Ich werde ab Herbst meine persönlichen Überzeugungen für die Liebe einschränken. Und was soll ich sagen? Für euch verzichte ich gern auf mein Messer.«
Carinas Miene erhellte sich. Bei ihr mochte sein Charme wirken, aber bei mir hatte er damit keine Chance. Als die Schulglocke ertönte, verabschiedeten wir uns von Liam, der nun wieder mit seiner Klasse Unterricht hatte. Carina und ich liefen zum Deutschraum. Davor stand bereits Alex.
»Guten Morgen, Alex«, sagte Carina in übertrieben freundlichem Tonfall. »Was ist heute deine Ausrede?«
»Wofür? Ich hab schon zwei Stunden Physik hinter mir.«
»Aber du warst nicht auf dem Schulhof«, sagte ich.
»War ich schon, nur nicht bei euch. Was wollte der Schnösel denn?«
»Ach, so. Liam? Er hat sich einfach zu uns gestellt. Keine Ahnung, warum.«
Carina sah mich stirnrunzelnd an und ich antwortete ihm: »Er wollte Hilfe bei den Biohausaufgaben.«
Alex runzelte die Stirn und Carina schien mir auch nicht zu glauben.
An unserem Platz angelangt legte ich den Zettel mit Liams Stammbaum auf den Tisch. Er hatte ihn mir auf dem Schulhof überreicht.
»Jetzt schreibt ihr euch also schon Zettelchen?«, fragte Carina und besah sich das Gekritzel.
Bis auf Arthurs und Liams Eltern waren alle Personen lediglich mit ihrem Verwandtschaftsgrad zu Liam angegeben. Sein Urgroßvater schien viel herumgekommen zu sein. Er hatte Kinder mit zwei Frauen bekommen. Aus der einen Beziehung ging Liams Oma hervor, aus der anderen Arthurs Mutter. Und deutlich hervorgehoben war Liam, der offenbar eine Generation unter Arthur und seinen Brüdern war.
»Liams Stammbaum?«, fragte Carina und tippte auf eine Figur. »Und wer ist dieser Arthur?«
»Ein Bekannter von meinem Vater«, log ich. »Hab ihn in der Kneipe kennengelernt. Und irgendwie ist er wohl mit Liam verwandt.«
Als sie den Zettel zurück auf meinen Platz schob, deutete sie auf das Ende des Blatts. Dort stand Liams Handynummer.
»Zettelchen schreiben und Nummern tauschen. Ich wusste gar nicht, dass du so flirty drauf bist, Jule.«
»So bleibt man eben in Kontakt«, sagte ich. »Haben wir genauso gemacht.«
»Nur dass ich kein Kerl bin.«
»Ich hätte dir meine Nummer auch gegeben, wenn du ein Mann wärst.«
Carina gab mir einen Stoß gegen die Schulter und lachte. Alex beobachtete uns mit skeptischem Blick.
Als ich an unserem Neubaublock ankam, öffnete ich den Briefkasten. Ein unfrankierter Umschlag lag darin, auf dem in roter Schrift mein Name stand.
Verdutzt drehte ich ihn um: kein Absender. Ich öffnete ihn und zog eine graue Karte heraus. Die rote Schrift hob sich vom blanken Hintergrund ab und war an einigen Stellen wie Blut verlaufen. Der Verfasser musste Feder und Tinte verwendet haben.
Mein Magen krampfte sich zusammen, während ich Wort für Wort las:
Julia Morawetz,
Wenn du dich nicht von meiner Familie fernhältst,
wirst du mein nächstes Opfer.
Ich hab dich im Auge!
gez. der Siebenschläfer
Mein Puls beschleunigte sich, als ich merkte, dass sich im Umschlag eine weitere Karte befand. Es war ein Foto von mir. Ich schluckte trocken, als ich mich selbst erkannte, wie ich nach der Schule auf den Bus wartete. Ich lief zurück zur Bushaltestelle, um in die Innenstadt zu fahren. Maja hatte mir gesagt, dass ich jederzeit vorbeikommen konnte.
Als sie die Tür öffnete, begrüßte sie mich mit einem Kuss auf jede Wange und zog mich an der Hand hinter sich her in ihr Zimmer. Ich wusste nicht, wie ich das Gespräch beginnen sollte. So riss Maja direkt das Gespräch an sich.
»Du hast Glück, dass ich schon vom Training zurück bin.«
»Training?«, fragte ich.
»Ich tanze Poledance. Vor über zehn Jahren hab ich das mal professionell gemacht mit meiner Schwester. Aber seither bin ich mächtig aus der Übung, muss ich zugeben. Und meine Haut sieht aus, als hätte mein Freund mich verprügelt.«
Sie grinste mich verlegen an und öffnete die Tür zu ihrem Kleiderschrank. »Schau dir das an!«
»Du hast neue Klamotten?«
»Scherzkeks«, sagte sie. »Ich habe Klamotten, und zwar für dich.«
Sie zeigte mir eine lange Kleiderstange mit Sachen.
»Ich hab sie aussortiert. Du kannst dich bedienen! Du kannst die Sachen auch hier lassen. Immer wenn du willst, kannst du herkommen und dir was holen.«
»Ich will sie nicht haben«, sagte ich bestimmt.
Bei Arthurs Übergriff hatte ich mich unfassbar nackt gefühlt. Natürlich lag es auch an der Situation, dass ich ihm ausgeliefert war. Doch ich war mir sicher, dass ich mich in meinen eigenen Klamotten wesentlich sicherer gefühlt hätte.
Ich war kein Mädchen, das körperbetonte Kleidung trug. Alex hatte recht gehabt. Das war nicht ich. Vielleicht hatte genau das Arthur sogar dazu ermutigt, über mich herzufallen. Diesen Gedanken versuchte ich zwar zu verdrängen, doch er schlich sich immer wieder in meinen Kopf.
»Nicht einmal die Schals oder Mützen?«
Ich durchstrich einmal die Kleiderbügel und überblickte die Auswahl. »Vielleicht eine Jacke oder eine Jeans. Aber das meiste kannst du wirklich weggeben.«
»Okay. Du suchst dir ein paar Sachen aus und ich lagere sie hier zwischen.«
Maja zückte einen einzelnen Schlüssel und eine Chipkarte aus ihrem BH, als hätte sie nur auf die Gelegenheit gewartet. An Daumen und Zeigefinger hielt sie mir beides hin, zog aber weg, als ich danach griff. Ihr Blick wurde ernst.
»Du musst mir dafür aber das Kettchen geben. Christian hat es dir gegeben. Ich weiß es.«
»Ich hab’s nicht dabei.«
»Hast du es gut verwahrt?«
Ich nickte. Maja hob ihre Hand nach oben, an der das silberne Kettchen hing.
»Hat er dir erzählt, was es damit auf sich hat?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe uns dieses Kettchen damals gravieren lassen. Uns allen dreien. Es ist wie ein Freundschaftsarmband. Kindisch, nicht wahr? Aber ich fand es toll.«
Sie betrachtete das Schmuckstück verträumt.
»Spike hat auch eins?«
»Ja. Er fand es erst zu kindisch. Damals war er auch noch ein Kind.« Sie lächelte bitter. »Aber die Männer haben’s beide immer getragen. Spike hat es einmal verloren und sich nicht getraut, es mir zu sagen. Christian und er haben es schließlich in unserer letzten Unterkunft wiedergefunden. Das waren noch Zeiten … Heute gibt es nur noch Spike und mich. Ich darf Christian nicht einmal im Gefängnis besuchen. Mir bleiben nur Briefe.«
»Ich habe einen Drohbrief erhalten«, platzte es aus mir heraus.
»Einen … was?«
»Einen Brief. Er lag heute im Briefkasten.«
Sofort ergriff sie die Karte, die ich aus meiner Tasche gekramt hatte, und las. Sie runzelte die Stirn, als ich das Foto hinhielt. Sie hob den Blick und ich erkannte eine Spur Mitleid.
»Du bist dem nicht gewachsen«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu mir.
Maja schüttelte den Kopf und schickte mich mit dem Drohbrief ins Wohnzimmer. Sie verschwand kurz in der Küche, dann setzte sie sich mir gegenüber auf einen Hocker und tippte auf ihrem Smartphone herum.
Auf dem gläsernen Wohnzimmertisch lag eine aufgeschlagene Tageszeitung. Ein Artikel war mit gelbem Textmarker hervorgehoben. Der Name von Alex’ Vater fiel mir sofort ins Auge.
Sonderkommission »Siebenschläfer« gegründet
Während einer Pressekonferenz gab Kommissar Hartmann bekannt, dass sich bereits vor einer Woche eine neunköpfige Sonderkommission gebildet habe. Diese soll den Begebenheiten vor 28 Jahren in der Region nachgehen und eventuelle Verbindungen zu aktuellen Fällen ziehen. Neue forensische Erkenntnisse gäben Aufschluss darüber, dass der Fall »Siebenschläfer« noch nicht abgeschlossen sei.
»Wir können noch keine Aussage dazu machen, ob ein Trittbrettfahrer am Werk ist oder die Taten rein zufällig ähnliche Züge haben«, sagte Kommissar Hartmann während des Interviews. »Genauso wenig können wir ausschließen, dass der Mörder des ehemaligen Bürgermeisters Hector McMillan in den aktuellen Todesfall seines Nachfolgers Bruce McMillan involviert ist. Das werden erst die Ermittlungen der Sonderkommission näher beleuchten können.«
Die Tür fiel ins Schloss und ließ mich auffahren. Spike kam ins Wohnzimmer und blieb neben dem Couchtisch stehen. Zuerst sah er auf den Zeitungsartikel, dann auf mich. Irgendetwas war in seinem Blick; Traurigkeit mischte sich mit Erschütterung.
»Du hast einen Brief erhalten?«, fragte er angespannt.
»Ja.«
Ich gab ihm die Karte. Während er sie las, verhärteten sich seine Gesichtszüge und die Traurigkeit wich Zorn.
»Verdammter Bastard!«, schrie Spike und feuerte den Drohbrief auf den Tisch.
Mit einem Seufzer ließ er sich neben mich auf die Couch fallen.
»Meinst du, es war der Siebenschläfer?«, fragte Maja tonlos.
»Der Siebenschläfer ist tot. Er ist vor zwei Jahren gestorben.«
»Oder wir haben den Falschen erwischt und er ist noch immer aktiv.«
»Ausgeschlossen.« Sie sahen sich durchdringend an, bis Maja schließlich sagte: »Wir müssen reden.«
Spike richtete sich auf. Unruhig erforschte er weiter ihre Augen, während sie auf ihn zuschritt und sich vor ihm auf die Knie fallen ließ. Beide Hände deponierte sie auf seinen Knien und blickte zu ihm hoch.
Ich rückte ein wenig zur Seite.
Maja sah kurz zu mir herüber, bevor sie zu Spike gewandt sagte: »Julia ist ziemlich tief in unsere Angelegenheiten eingetaucht. Selbst wenn es ein Trittbrettfahrer ist und nicht derselbe Siebenschläfer wie vor über zwanzig Jahren …«
»Es ist nicht der Siebenschläfer«, beharrte Spike.
»Der Drohbrief zeigt, dass wir Julia zu viel aufgebürdet haben. Wir hätten sie nicht allein mit Arthur lassen dürfen, sie nicht allein ins Gefängnis schicken sollen. Du hättest nicht mit ihr auf diese Party gehen dürfen.«
Sie hatte recht. Im Grunde war Spike an allem schuld. Er hatte mich mit Arthur bekannt gemacht. Wegen ihm war ich in das Visier dieses Serienmörders gekommen. Aber auch Maja hatte ihren Teil dazu beigetragen, indem sie mir ihren Kleidungsstil aufgeschwatzt hatte.
»Worauf willst du hinaus?«
»Julia hat Leute gegen sich aufgebracht.« Maja deutete auf die Karte. »Ob Siebenschläfer oder nicht … sie ist zu sehr verstrickt. Aber es ist schwer sie jetzt noch herauszuhalten.«
»Was meinst du?«
»Christian hat sein Kettchen weitergegeben.«
Wie in Zeitlupe sah Spike erst mich und dann wieder Maja an, die geräuschvoll schluckte.
»Wie meinst du das?« Er kicherte nervös.
»Er hat es ihr im Gefängnis geben lassen«, erklärte Maja.
»Und du«, presste Spike zwischen den Zähnen hervor und wandte sich mir zu, »hast mir das verschwiegen?«
Wut brannte in seinen Augen. Hätte Maja ihre Hand nicht noch immer auf seinem Knie gehabt, wäre er wohl auf mich losgegangen.
»Sie wollte es behalten als Sicherheit, dass ihr nichts passiert«, sagte Maja und traf damit ins Schwarze.
»Dafür kann ich jetzt nicht mehr garantieren.«
Spike taxierte mich. Seine Nasenflügel zitterten. Ich rückte bis ans Ende der Couch.
»Hör mir zu, Spike!«, sagte Maja eindringlich. »Christian hat das Team endgültig verlassen.«
»Nein«, wehrte Spike heftig ab. »Das hat er nicht.«
»Doch, Spike. Er ist raus.«
Seine Mundwinkel verzogen sich. Maja senkte erneut den Blick und sah erst nach einer längeren Pause auf.
»Er hat es mir geschrieben. Im letzten Brief.«
Es herrschte absolute Stille. Ich wagte es nicht zu atmen, vernahm sogar das leise Rauschen der Hi-Fi-Anlage.
»Du schreibst ihm Briefe?«, fragte er entsetzt und Maja nickte. »Wo ist das Kettchen?«
Spike stieß Maja von sich weg und sprang von der Couch auf. Mit einem Satz war er bei mir und riss mich am Kragen hoch.
»Wo ist es?«, schrie er mich an. Sein Gesicht war rot angelaufen und wutverzerrt.
Maja rappelte sich auf und packte ihn am Arm. »Spike, beruhig dich!«
Als er sie von sich schubste, stolperte sie und fiel auf den Couchtisch. Erst ihr Schmerzensschrei ließ Spikes Griff erschlaffen. Ich schlug ihm mit der einen Hand ins Gesicht und riss mit der anderen seinen Arm von mir los.
Spike starrte mich erstaunt an. Er hob seine linke Hand und legte sie sich an die Wange. Sein Blick ruhte auf Maja, die sich die Schulter hielt. Ich rieb mir den Hals.
»Wag es nicht, mir näherzukommen!«, brachte ich mühsam hervor.
Spike sah mich für einen Augenblick entsetzt an, dann ließ er die Hand sinken. Er sah hinab zu dem Kettchen an seinem Handgelenk. Es war mir vorher nie aufgefallen.
Mit einem Ruck wandte er sich ab und eilte aus dem Wohnzimmer. Erst als das Knallen der Wohnungstür verhallt war, traute ich mich, Maja die Hand zu reichen, um ihr aufzuhelfen.
»Was für ein Arsch.«
»Ach, schon okay«, sagte Maja. »Nur ein kleiner Unfall.«
»Du kannst ihn doch nicht in Schutz nehmen!«
»Er hat mich noch nie zuvor geschlagen. Außerdem war es nötig, dass er es endlich erfährt.« Sie machte eine Pause und setzte sich auf die Couch. »Er muss Christians Entscheidung akzeptieren. Genauso wie ich es akzeptieren musste.«
»Was ist das für ein Team?«, fragte ich. »Für wen arbeitet ihr eigentlich?«
Maja lächelte verlegen. »Wir arbeiten im Moment für niemanden.«
»Und warum seid ihr dann hinter dem Siebenschläfer her?«
»Das ist was Persönliches.« Sie seufzte schwer. »Das Team, so wie es bis vor unserer Zwangspause vor zwei Jahren existierte, entstand vor sechs Jahren. Christian hat Spike von der Straße geholt, als er noch minderjährig war. Er war für ihn sowas wie ein Ziehvater. Und mich … mich hat er vor meinem Exfreund gerettet. Es war eine missbräuchliche Beziehung. Mehr will ich darüber nicht sagen.«
Ich schüttelte den Kopf, um ihr zu verdeutlichen, dass ich sie zu nichts zwingen würde. Auch ich wollte nicht über die Details vom Autorennen reden. Glücklicherweise hatten weder Spike noch Maja mich danach gefragt.
»Damals haben Spike und ich uns die heutigen Namen gegeben.«
Sie hielt den Arm mit dem Kettchen hoch. Die Initialen waren C für Christian, sowie T und P. Ich fragte Maja nicht nach der Bedeutung der Buchstaben, weil ich das Gefühl hatte, damit zu weit zu gehen.
»Wir haben unser altes Leben hinter uns gelassen«, fuhr sie fort, »und haben ein Team gebildet.«
»Wozu?«
»Wir sind Teil einer Organisation. Ich kann dir nicht viel mehr darüber erzählen. Nur dass wir besondere Aufträge annehmen. Uns rufen Leute zur Hilfe, denen die Polizei oder Justiz nicht mehr helfen kann.«
»Sowas wie Kopfgeldjäger?«, fragte ich.
»Sowas in der Art, ja.«
»Und Christian ist ausgestiegen, weil er im Gefängnis gelandet ist?«
»Wenn er gewollt hätte, wäre er längst draußen. Wir haben Mittel und Wege.« Maja sah mich verschwörerisch an. »Aber er hat es selbst abgelehnt. Wir durften ihn nicht im Gefängnis besuchen. Es war zu gefährlich, dass uns jemand in Verbindung mit seiner Tat bringt. Also haben wir Deutschland verlassen und sind vorübergehend nach Frankreich gegangen, um dort Aufträge zu erledigen.«
»Und als der Siebenschläfer angeblich wieder aktiv war, seid ihr zurückgekommen«, stellte ich fest.
»Wir mussten erfahren, dass Christian mittlerweile einen neuen Anwalt hatte. Sonst konnten wir ihm immer Informationen über seinen alten überbringen, aber so … so waren wir auf Hilfe angewiesen.«
»Und habt mich zu ihm geschickt.«
Sie nickte. »Schon in Paris habe ich Christian Briefe geschrieben unter einem Pseudonym. Er hat nur einmal geantwortet. Damals hat er mir erklärt, dass wir Abstand halten sollten. In seinem und unserem Interesse. Er wollte unser Team schützen. Schon da wusste ich: Das ist ein Abschiedsbrief.«
»Und trotzdem hat er mir Informationen gegeben.«
»Dass er ein Treffen überhaupt akzeptiert hat, war eine Überraschung. Ich glaube, dass Spike allein deshalb Hoffnung hatte, Christian würde wieder zurückkehren. Aber wir haben uns über die Jahre so viele Feinde gemacht. Es gibt für ihn kein Zurück.«
»Was für Feinde?«
Maja seufzte. »Nun. Wir agieren nicht offiziell. Da macht man sich keine Freunde, weder bei den Behörden noch im Umfeld der Täter. Haben sie deinen Namen und dein Gesicht, haben sie ein Ziel. Was denkst du, warum wir unser Aussehen geändert haben? Wir haben sogar den Wagen umlackieren lassen nach unserer Rückkehr. Das machen wir seit Jahren.«
»Das klingt nach einem anstrengenden Leben.«
»Ja, das ist es.« Sie lachte gequält auf. »Aber ich weiß, wofür ich es mache. Ich habe gesehen, was Christians Hilfe bewirkt hat. In meinem und in Spikes Leben. Er war der Mittelpunkt unseres Lebens bis vor zwei Jahren. Es war schwer, ihn gehen zu lassen. Für Spike noch mehr als für mich.«
»Aber wie habt ihr Informationen über mich zu ihm bekommen, wenn doch der Anwalt raus war?«
»Spike hat einen normalen Brief mit deinen Daten geschickt. Ich weiß nicht, was er reingeschrieben hat, um das Personal zu täuschen. Nur dass es ihm unsagbar schwer fiel, Christian überhaupt zu kontaktieren.« Maja lächelte mich mit einer Spur bitterer Trauer an. »Weißt du, Spike hat einen schlimmen Fehler gemacht, wegen dem Christian jetzt im Gefängnis sitzt.«
»Richard Hanssen war es nicht«, sagte ich. »Er ist nicht der Siebenschläfer gewesen, richtig?«
Maja blickte hinab auf ihr silbernes Kettchen. Mit dem Daumen schob sie es auf der Handfläche hin und her.
»Nein. Offenbar haben wir uns geirrt.« Sie sah auf und in ihren Augen schimmerten Tränen. »Aber sollte der Siebenschläfer nach so vielen Jahren wieder erwacht sein, können wir uns auf einen harten Winter gefasst machen.«
»Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was Sie schon wieder hier wollen.«
Ich lief den beiden Polizisten voraus ins Wohnzimmer und bot ihnen aus Höflichkeit einen Platz am Tisch an. Es waren dieselben Polizisten wie letzten Monat. Der hagere Polizist hatte sich als Kommissar Reuter vorgestellt, sein bulliger Kollege hieß Friedrich. Sein Nachname war mir gut bekannt.
»Wann kommt Ihre Mutter heim?«
»Kann sich nur um Minuten handeln«, antwortete ich und nahm ihnen gegenüber auf der Couch Platz.
Meine Mutter war vor etwa einer halben Stunde zum Einkaufen aufgebrochen. Wenn sie sich nicht vor dem Laden mit jemandem verquatscht hatte, müsste sie jeden Augenblick zurückkehren. Die ungebetenen Gäste würden ihr sicher nicht gefallen.
Beim letzten Verhör hatte sie zwar die Ruhe bewahrt, doch beim Abendbrot hatte sie sich wahnsinnig über die Methoden der Polizei aufgeregt. Sie hatten viele McMillans nach dem Tod meines Großvaters vernommen, einschließlich Patrick und meiner Mutter. Als dann Yvonne tot in einer Gasse gefunden wurde, kamen die Ermittler ans Privatgymnasium. Sie befragten zunächst sämtliche Mitschüler, auch mich.
Der Amoklauf war noch frisch. Dass nun noch eine Mitschülerin zusätzlich tot aufgefunden wurde, riss die Wunden wieder auf. Die Therapeuten, die unmittelbar nach der Katastrophe an die Schule gekommen waren, rieten davon ab, die Schüler solchem Stress auszusetzen. Deshalb waren sowohl meine Mutter als auch eine Therapeutin anwesend beim ersten Gespräch dieser Art.
Emil hatten sie ebenso befragt. Zu unserer Beziehung zu Ben und unserem Umgang mit seinem Amoklauf. Irgendwer musste ihnen gesteckt haben, dass wir beide mit ihm befreundet gewesen waren. Während Emil nicht verstand, weshalb sie gerade auf unsere Beziehung anspielten, wusste ich: Es lag an Bens Foto, das ich neben Yvonnes Leiche zurückgelassen hatte.
Die Polizei hatte mittlerweile den Bezug zwischen Hector und der toten Schülerin gezogen, wegen der Fotos am Tatort. Ich war höchst verdächtig. Nicht nur weil ich Bens Freund gewesen war, sondern auch Kontakt zu Anna McMillan gehabt hatte. Offiziell waren die Fotos jedoch nicht bekanntgegeben worden. Deshalb hatte ich schon beim ersten Verhör wohlweißlich verschwiegen, dass ich von den Fotos wusste.
Mein Blick hob sich zur Wanduhr über der Tür und folgte dem Sekundenzeiger. Im Augenwinkel sah ich, wie Kommissar Weinert mich stur anstarrte.
»Wenn Sie wollen, können wir auch ohne Ihre Mutter beginnen.«
»Nein, danke«, sagte ich lächelnd.
Netter Versuch, aber ich wollte Zeugen haben für das, was auch immer geschah. So stand es letztlich Aussage gegen Aussage, sollte ich mich verplappern.
Wenige Sekunden nach Reuters Vorschlag hörten wir einen Schlüssel im Schloss klicken. Die Haustür wurde geöffnet. Ich rief meine Mutter sofort ins Wohnzimmer. Als sie die Polizisten sah, spannten sich ihre Schultern augenblicklich an und sie stöhnte einmal. Dann ließ sie die Einkaufstasche neben der Tür stehen und stellte sich neben mich.
»Was wollen Sie?«
»Wir haben noch ein paar Fragen an Ihren Sohn«, sagte Kommissar Reuter.
Er hatte sich erhoben und reichte meiner Mutter die Hand zur Begrüßung. Sie sah abschätzig auf seine Finger. Ihre Mundwinkel zuckten angespannt, doch sie griff zu. Dann setzte sie sich den Männern gegenüber neben mich.
»Fangen Sie schon an! Es gibt gleich Abendbrot. Und ich muss noch Gemüse schneiden.«
Kommissar Reuter nickte und sah auf seinen Notizblock hinab.
»Wo waren Sie am Sonntag?«
»Warst du da nicht den ganzen Tag zu Hause?«, sagte meine Mutter.
Das war ich tatsächlich. Ich hatte mich nur für circa eine Stunde hinausgeschlichen. Pünktlich zum Abendbrot war ich zurück.
»Was haben Sie den Tag über gemacht?«
»Ich war auf meinem Zimmer und habe Hausaufgaben gemacht. Was man halt so macht. Wahrscheinlich gelesen und abends mit meiner Mutter zusammen ferngesehen.«
Mutter nickte heftig. »Tatort. Wie jeden Sonntag. Davor haben wir zusammen gegessen.«
»Wann genau war das?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Neunzehn Uhr?«
Wir schauten auf Kommissar Reuter, der seine Notizen machte und lange auf das Blatt Papier starrte. Dann kratzte er sich an der Schläfe.
»Vor drei Tagen wurden Herr und Frau Neumann ermordet«, erklärte er. »Kennen Sie das Paar?«
Ich schüttelte den Kopf. »Wer soll das sein?«
»Sind das nicht der Polizist und seine Frau?«, fragte meine Mutter. »Ich habe davon in der Zeitung gelesen.«
»Herr Neumann war während des Amoklaufs im Einsatz«, erklärte Kommissar Friedrich.
Ich versuchte einen erstaunten Gesichtsausdruck aufzusetzen, wusste aber nicht, ob er mir gelang. Friedrich sah mich schon das gesamte Gespräch über finster an. Nun verschränkte er die Arme vor der Brust, während sein Kollege weitersprach.
»Vor etwa einem Monat wurde ihre Mitschülerin Yvonne ermordet.« Er räusperte sich. »Ein Barkeeper hat uns gesagt, dass er Sie mit ihrer Mitschülerin zuletzt in einer Bar gesehen hat. Uns haben Sie gesagt, dass Sie den gesamten Nachmittag bei Patrick McMillan verbracht haben.«
Tatsächlich war ich unmittelbar nach dem Mord an Yvonne zu meinem Onkel gerannt. Ich hatte nicht gewusst, wohin sonst. Zwar hatte ich ihm nichts von dem Vorfall erzählt, doch als die Polizei ihn später befragte, sagte er aus, ich sei den ganzen Nachmittag bei ihm gewesen. Mir blieb nichts anderes übrig, als seine Aussage zu bestätigen.
»Ich bin zu ihm gegangen, nach meinem Besuch in der Bar.«
»Warum haben Sie Ihren Barbesuch damals nicht erwähnt?«
Ich senkte den Blick und dachte einige Sekunden nach. »Weil ich mich betrunken habe. Das hab ich die letzten Wochen öfter getan.«
Meine Mutter sah mich mich besorgt von der Seite an.
»Der Barkeeper meinte, Sie hätten ihre Mitschülerin angeschrien. Worum ging es in dem Streit?«, fragte Kommissar Reuter weiter.
Ich zögerte nur kurz. »Sie hat mich gefragt, wie ich den Amoklauf erlebt habe.«
Weil ich nicht weitersprach, fragte der Kommissar nach: »Wie haben Sie ihn erlebt?«
»Er war furchtbar … Alles Weitere können Sie gern meine Therapeutin fragen.«
Natürlich stand sie unter Schweigepflicht. Selbst wenn ich sie davon befreien würde, hätten die Polizisten durch ihre Einschätzung lediglich den Beweis, dass mich diese Katastrophe genauso mitnahm wie jeden anderen Schüler.
Mein Hals war so trocken, dass ich hüstelte, um weitersprechen zu können. »Ich war betrunken und habe überreagiert. Das gebe ich zu. Aber ich habe Yvonne ganz sicher nicht umgebracht. Falls Sie das andeuten wollen.«
Kommissar Friedrich lehnte sich vor und holte Luft. Doch ein Blick von seinem Kollegen ließ ihn innehalten.
»Seit wann tragen Sie die Handschuhe?«, fragte Kommissar Reuter.
»Das hab ich Ihnen schon gesagt.«
»Sagen Sie es uns nochmal! Wir sind leicht vergesslich«, sagte Herr Friedrich mit todernster Miene.
Stöhnend ließ ich mich in die Kissen zurückfallen. Ich spielte nicht nur den genervten Jungen. Ich war mittlerweile auch frustriert. Sie hatten nichts gegen mich in der Hand, und trotzdem kamen sie immer wieder und piesackten mich wie lästige Ameisen.
»Ich habe mich verbrannt.«
»Könnten wir die Wunde noch einmal sehen?«
Ich zog den rechten Handschuh aus und hielt meine Hand in die Höhe. Über die Monate hatten sich wulstige Narben gebildet, die langsam ausblichen.
»Könnten wir ein Foto davon machen?«
»Nein«, sagte meine Mutter prompt.
Die Augen der Polizisten verengten sich.
»Ich widerspreche jedem Foto von meinem Sohn. Wenn Sie eines haben wollen, müssen Sie mit einem richterlichen Beschluss wiederkommen. Tut mir leid.«
Kommissar Reuter nickte und machte Notizen auf seinem Block. Herr Friedrich rümpfte die Nase und sah seinem Kollegen auf die Finger beim Schreiben.
»Wo haben Sie sich verbrannt?«, fragte Reuter weiter.
»Auf dem Friedhof«, sagte meine Mutter.
Ich nickte. »Nach der Beerdigung meiner Tante waren wir nochmal auf dem Friedhof. Ich wollte eine Kerze anzünden und habe mich dabei verbrannt.«
»Ihr Großvater wurde bei lebendigem Leib verbrannt.«
Mutter zuckte merklich zusammen.
»Ja, wurde er.« Ich fuchtelte mit den Händen durch die Luft. »Na, und?«
»Sie scheinen nicht sonderlich traurig über den Tod Ihres Großvaters.«
»Warum auch? Er war ein Arschloch.« Mutter sah mich tadelnd an. »Was? Stimmt doch. Heißt aber noch lange nicht, dass ich ihn umgebracht habe«, fügte ich an die Polizisten gewandt hinzu.
»Welche Beziehung hatten Sie zu ihrer Tante Anna McMillan?«
»Sie ist Mutters Cousine gewesen. Wir haben sie zu Geburtstagen besucht. Was man eben so macht mit Verwandten.«
»Wie sind Sie mit ihrem Tod umgegangen?«
»Wie schon? Ich war traurig. Ihre Söhne tun mir leid.«
Mutter senkte den Blick.
»Und welche Beziehung hatten Sie zu Ben Hanssen?«, fragte Kommissar Reuter unbeirrt weiter. »Wie sind Sie mit seinem Tod umgegangen?«
Ich presste die Lippen aufeinander. Es war drei Monate her. Mittlerweile hätte es mir leichter fallen sollen, über Bens Tod zu reden. Und dennoch schnürte sein Name mir nach wie vor die Kehle zu. Ich schluckte trocken.
»Er war mein bester Freund. Ich weiß nicht, wo er begraben ist. Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll, wenn ich weine. Er ist einfach weg. Tot.«
»Genauso wie viele andere Schüler«, sagte Kommissar Friedrich.
Mein Kiefer spannte sich an, während wir uns fixierten. Mutter legte mir eine Hand aufs Knie und sah mich eindringlich an. Meine geballte Faust drückte ich mit aller Macht auf die Sitzfläche des Sofas.
»Wusstest du von seinem Plan?«
»Nein«, grollte ich.
Kommissar Reuter sah seinen Kollegen vorwurfsvoll an. »Wegen des Amoklaufs sind wir nicht hier.«
»Friedrich«, sagte ich. »Sind Sie nicht der Onkel von Maike?«
Er sog scharf die Luft ein. »Ja.«
Maike Friedrich war ein Opfer von Ben gewesen. Sie war erst zwölf Jahre alt gewesen. Das jüngste Opfer an diesem Tag. Ben hatte sie am Kopf getroffen, während sie über den Schulhof rannte. Auf dem Weg ins Krankenhaus war sie ihren Verletzungen erlegen.
»Dürfen Sie mir solche Fragen überhaupt stellen? Sind Sie nicht ein wenig voreingenommen?«
»Voreingenommen? Ich?« Kommissar Friedrich lachte hysterisch auf. Dann löste er seine verschränkten Arme und stemmte sich auf dem Wohnzimmertisch auf. »Wer hat zugelassen, dass es so weit kam? Wer verteidigt diesen Schweinehund? Und mordet in seinem Namen?«
Kommissar Reuter schnalzte mit der Zunge und wollte gerade etwas sagen, als meine Mutter sich abrupt erhob.
»Sie kommen in mein Haus«, schrie sie, »und wagen es, uns solche Vorwürfe zu machen? Mein Vater ist letztes Jahr ermordet worden. Meine Mutter hat Selbstmord begangen. Der beste Freund meines Sohnes wurde erschossen, nachdem er zwölf Menschen getötet hat. Wir haben viel durchgemacht. Sie können sich nicht einmal im Ansatz vorstellen, was es bedeutet, jemanden auf diese Weise zu verlieren. Wagen Sie es also nicht, uns zu sagen, wir seien selbst schuld daran.«
Die Polizisten schwiegen. Kommissar Friedrich und ich starrten uns düster an wie zwei Stiere kurz vorm Angriff.
»Frau McMillan, mein Kollege …«, begann Kommissar Reuter.
»Nein. Raus!« Der Polizist öffnete noch einmal den Mund, doch meine Mutter schnitt ihm das Wort ab. »Gehen Sie! Sofort!«
Sie wies mit dem Zeigefinger in Richtung Haustür. Kommissar Reuter erhob sich. Maikes Onkel sah ihn verständnislos an, doch er forderte seinen Kollegen mit einer Handbewegung auf, ebenso aufzustehen. Widerwillig folgte er ihm, sah vorm Verlassen des Wohnzimmers noch einmal zu mir auf die Couch zurück. An der Tür verabschiedete Mutter beide stumm und kehrte zurück zu mir.
Eine Weile blieb sie in der Tür stehen, dann sagte sie: »Wir brauchen einen Anwalt.«
»Den können wir uns nicht leisten.«
»Egal. Ich kratz unser Erspartes zusammen.« Sie ließ sich neben mir auf der Couch nieder und sah stur geradeaus. »Ich werde nicht zulassen, dass sie unsere Familie zerstören. Niemals.«
Alex ließ seinen Rucksack neben uns auf den Boden fallen. »Missgeburten. Alle miteinander.«
»Was ist passiert?«, fragte Carina.
Alex hielt seine Brille in der Hand. Ohne sah er eigenartig ungewohnt aus. Ich ließ mein Pausenbrot sinken und nahm sie entgegen, um sie genauer zu betrachten. Sie war vollkommen verbogen.
»Wie ist das passiert?«
»Wie wohl? Irgendwer muss sie während des Sportunterrichts so zugerichtet haben.«
»Vielleicht hat sich nur jemand ausversehen draufgesetzt?«
»Auf meine Brille? Die in meiner Tasche lag? Die unter meinem Platz stand?« Er schaute Carina vorwurfsvoll an. »Diese Arschlöcher standen vor der Umkleide und haben laut gelacht, als ich rauskam. Euer neuer Freund stand auch dabei.«
»Du meinst Liam?«, fragte ich.
»So ein arroganter Hurensohn«, sagte Alex. »Ich bilde mir auch nichts auf meine irischen Vorfahren ein.«
Carina legte ihre Brotbüchse in ihren Rucksack und runzelte die Stirn. »Du hast gar keine irischen Vorfahren.«
»Woher hab ich dann die roten Haare?« Alex fasste sich an seinen roten Schopf und zog eine Augenbraue hoch. »Und ich muss sie nicht einmal färben.«
»Liam färbt sich nicht die Haare«, sagte ich.
»Ich hasse Bonzen wie ihn. Du hast das früher auch. Und du, Cari, kennst Felicitas und ihre Freundinnen aus eigener Erfahrung. Liam ist genau so ein oberflächlicher Idiot. Und du schminkst dich extra für ihn.«
Carina riss empört den Mund auf. »Ich hab nur einen neuen Lippenstift ausprobiert.«
»Aber sicher. Und seit wann engagiert Julia eine Stylistin und gibt was auf Klamotten? Doch nur, um Typen wie ihm zu gefallen. Ihr müsstet euch mal hören: Liam hier, Liam da. Ich erkenn euch nicht wieder.«
»Du bist doch nur neidisch«, sagte Carina.
»Auf seine blonden Löckchen? Dass ich nicht lache.«
»Ich beschwer mich auch nicht über den Flaum in deinem Gesicht.«
Alex verschränkte die Arme vor der Brust. »Das ist ein Bart.«
»Sieht doof aus.«
»Gut, dass mich deine Meinung nicht interessiert, Cari«, sagte Alex und schüttelte den Kopf.
Sein Blick blieb abgewandt. Als wenige Sekunden später die Schulglocke läutete, schulterte er seinen Rucksack und lief in Richtung Schultor.
»Hey, wir haben jetzt Chemie«, rief ich ihm nach.
Alex rief über die Schulter: »Heute nicht.«
Dann verschwand er im Gedränge.
Vier Unterrichtsstunden später war ich allein auf dem Weg zum Bus. Kurz vor dem Ausgang legte sich eine Hand auf meine linke Schulter. Ich schnellte herum, holte mit der Hand aus und hielt inne. Liam stand vor mir. Kurz vor seinem Gesicht stoppte ich den Schlag, sodass sich meine Hand kurz auf seine Wange legte. Sofort riss ich sie hinunter und drehte mich weg.
»Wusste gar nicht, dass wir schon so weit sind«, sagte Liam und grinste.
»Bild dir bloß nichts drauf ein!«
»Ach, wirklich? Ich hatte das Gefühl, wir wären uns schon nähergekommen.«
Er legte mir einen Arm um die Schultern, doch ich entwand mich aus seiner Umarmung.
»Sicher nicht.«
»Vielleicht überlegst du es dir nochmal?«, fragte er. »Bei einem Essen?«
Ich musste ohnehin knapp eine Stunde auf den nächsten Bus warten und Hunger hatte ich auch. Also willigte ich ein unter der Bedingung, dass ich mein Essen selbst zahlen würde. Liam rollte mit den Augen, gab sich aber damit zufrieden.
Gemeinsam liefen wir zu einem Bankautomaten. Seit vorgestern war ich Besitzerin eines eigenen Girokontos, das Spike für mich trotz aller Unstimmigkeiten eröffnet hatte. Ich legte die EC-Karte ein und tippte die PIN ein, die Spike mir per SMS übermittelt hatte. Der Kontostand zeigte einen vierstelligen Betrag. Mein Herz raste. So viel Geld hatte ich noch nie besessen. Das reichte locker für meinen Führerschein.
Ich hob zwanzig Euro ab und lief zu Liam zurück, der vor der Filiale gewartet hatte. Er wollte in ein Restaurant gehen, doch ich überredete ihn zu einer Currywurst an einem Stand.
»Als ich Essengehen sagte, meinte ich etwas anderes«, sagte er und stocherte in seinen Pommes. »Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass ich zum ersten Mal Currywurst esse?«
Ich lachte auf. »Ernsthaft? Und? Schmeckt’s wenigstens?«
Er nickte und es entstand eine Pause, in der wir beide stumm aßen.
»Sag mal: Warum bist du so schnell auf meine Einladung eingegangen?«
»Weil ich Hunger hatte?«
Ich stopfte zur Demonstration ein Stück Wurst in meinen Mund.
»Und warum wolltest du mich einladen?«, fragte ich kauend.
»Weil ich dich ungemein interessant finde.«
»Wo? Am Arsch?«
Liam blickte mit schräg gelegtem Kopf an mir herunter. »Hab ich noch nicht drauf geachtet.«
Ich rollte mit den Augen und Liam grinste. Er wischte sich mit einer Serviette den Mund ab, bevor er weiter aß. Während ich mein Brötchen in die Soße tunkte, bemerkte ich, wie sein Gesichtsausdruck ernster wurde.
»Hast du von Justin gehört?«
Bei der Erwähnung von Justins Namen stellten sich mir die Nackenhaare auf. Seit zwei Tagen hatte ich nichts mehr von Saskia gehört. Mika hatte sich auch nicht mehr bei mir gemeldet wegen weiterer Absprachen, obwohl ich ihm meine Handynummer hinterlassen hatte.
»Ja«, antwortete ich. »In der Zeitung stand, er könnte Opfer eines Verbrechens geworden sein.«
»Das nächste Opfer des Siebenschläfers. Hab nie zuvor von dem gehört.«
»Ich auch erst durch die Zeitung«, sagte ich und nahm einen Schluck aus meiner Cola Dose.
»Scheint mir auch weit hergeholt.«
»Du meinst, es war nicht der Siebenschläfer?«
»Ja … Nein … Ich weiß nicht«, sagte Liam. »Aber warum sollte ein bekannter Serienmörder Justin umbringen?«
Seine Schlussfolgerung war berechtigt. Justin hatte nicht einmal Interesse am Bürgermeisterposten gezeigt. Kein Grund also ihn beiseite zu schaffen. Obwohl ich fand, dass Saskia ohne ihn besser dran war. Nur hätte sie ihn nicht unbedingt finden müssen.
»Meine Mom hat gestern davon erfahren und ist sofort zu Justins Mutter. Sie meinte, dass sie es nicht ertragen könnte, wenn ihr Sohn ermordet werden würde. Und Justins Mutter hat ja noch zwei weitere Söhne. Das soll keine Herabwürdigung sein, aber meine Mom hat nur mich.«
Es kam mir komisch vor, dass er das Ganze auf sich bezog.
»Weißt du, Dad hat sie auf einer Party kennengelernt; war ein Jahr jünger als sie. Sie ist sehr früh mit mir schwanger geworden, hat mich noch vor ihrem Abschluss bekommen. Und statt meinem Vater das Geldverdienen zu überlassen, hat sie ihren Abschluss nachgeholt und eine Ausbildung angefangen. Heute arbeitet sie wie Dad Vollzeit.«
Also war seine Familie nicht einfach schon immer wohlhabend gewesen. Sie hatten auch etwas dafür getan, zumindest seine Mutter. Obwohl der Hauptverdiener sicher sein Vater war.
»Was machen deine Eltern so? Haben sie auch beide einen Job?«
»Meine Mutter hat uns verlassen, als ich vier war. Keine Ahnung, wo sie jetzt steckt.«
Liams Gesichtsausdruck verfinsterte sich, nahm aber nicht diesen von Mitleid triefenden Ausdruck an, der mir sonst entgegengebracht wurde, wenn ich über meine Familie sprach. Auf eigenartige Weise fühlte ich, dass er mir im Moment unglaublich nahe war. Ich spürte, dass er versuchte, meinen Schmerz nachzuvollziehen; zu verstehen, wie ich mich die Jahre über gefühlt hatte.
Nicht der Fakt, dass ich über meine Gefühle sprach, sondern dass jemand bei mir war, der versuchte, sie zu verstehen, brachte mich zum Weinen. Liam zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und hielt es mir hin. Dankend nahm ich es entgegen. Ich wischte meine Augen trocken, schniefte in das Taschentuch und warf es in den Mülleimer. Als ich mich zu ihm umdrehte, lächelte er mich sanftmütig an.
»Keine Sorge«, sagte Liam. »Wenn du unbedingt eine heile Familie möchtest, dann lass uns eine gründen!«
»Witz, Witz. Lach, lach. Der Witz war schwach«, schniefte ich. Da war sie wieder, seine selbstgefällige Fassade.
Ich grinste ihn übertrieben an und schüttelte den Kopf. Meine Grimasse brachte ihn zum Lachen. Und obwohl er diesen dummen Spruch gerissen hatte, war ich ihm dankbar, dass er das Thema damit abtat.
»Hast du Bock, heute Abend mit mir tanzen zu gehen?«
»Tanzen?«, fragte ich.
»Ja. Oder kannst du etwa nicht tanzen?«
»Schon. Aber glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass ich noch nie in einer Disco war?«
»Dann wird’s aber höchste Zeit.«
Liam und ich diskutierten eine Weile, bis er schließlich sagte:
»Ich hab zum ersten Mal Currywurst gegessen, jetzt gehst du zum ersten Mal tanzen. Oder traust du dich nicht?«
Um 22 Uhr holte Liam mich ab. Ich hatte behauptet, wegen Kopfschmerzen ins Bett zu gehen, und mich dann hinausgeschlichen. Ich trug eine enge Lederhose und ein blaues Shirt, darüber die Lederjacke von Maja.
Liam stand genauso wie Spike vor drei Wochen mit seinem Motorrad auf dem Gehsteig und hielt mir einen Helm entgegen. Ich zögerte kurz, doch mich lockte der Vergleich. Wer war der bessere Fahrer?
Während ich den Helm aufsetzte, erklärte er mir, wie viele PS seine grüne Kawasaki besaß. Ich hatte mir die Frage nicht verkneifen können. Als ich hinter ihm saß, gab Liam Gas und nach wenigen Minuten waren wir in der Stadt.
Es ging vorbei an Industriehallen mit zertrümmerten Scheiben, die das Licht der Straßenlaternen reflektierten. Die Wände waren mit Graffiti besprüht und Birken hatten den Backstein zurückerobert. Schließlich zeigten blaue, rotierende Lichtkegel unser Ziel an.
Liam fuhr langsam über den überfüllten Parkplatz und hielt in einer der hinteren Nischen. Vor dem Eingang standen mindestens hundert Leute. Sie waren alle in graue und schwarze Jacken gekleidet. Ich wünschte mir die Graffitis der anderen Hallen als Farbklecks, doch dieses Gebäude war blitzblank.
»Blue Nine«, las ich das Schild über den Türstehern. »Noch nie gehört.«
»Kein Wunder, hier kommen für gewöhnlich nur VIPs rein«, sagte Liam.
»Ah. Und du bist eine ›very important person‹?«
»Aber selbstverständlich. Du wirst schon sehen.«
Liam grinste mich selbstgefällig an. Er drängelte sich an den wartenden Leuten vorbei. Ich blieb an meinem Platz stehen, denn ich war davon überzeugt, dass er nicht hineinkam. Zu meiner Verwunderung winkte er mich jedoch kurze Zeit später heran.
Verhalten bat ich die Anstehenden um Durchlass. Jedes einzelne Augenpaar war auf mich gerichtet, als ich mich zu Liam gesellte. Mein Begleiter zwinkerte dem Türsteher zu, nahm mich an die Hand und ging durch die Eingangstür.
»Wie hast du das gemacht?«, fragte ich.
»Ich habe meinen Personalausweis gezeigt.«
»Und inwieweit hat dir das geholfen hier reinzukommen, wo wir beide nun offiziell minderjährig sind?«
»Es ging nicht um das Geburtsdatum, sondern um meinen Namen. Meinem Vater gehört der Schuppen. Uns gehören die meisten Bars und Hotels in der Stadt.«
Ein Korridor mit Neonlichtern führte zur Garderobe, an der wir Helme und Jacken abgaben. Anschließend folgten wir den lauten Beats, die aus dem Saal drangen. Breite Metalltreppen führten zu einem Rundgang, von dem aus mehrere Dutzend Besucher die Tanzenden im Zentrum beobachteten. Luftballons hingen von der Decke, die das Licht der Diskokugeln zurückwarfen und einen faszinierenden Effekt bewirkten.
Als wir die Theke ansteuerten, lächelte die Barkeeperin im knappen Oberteil Liam an und winkte uns heran. Er rief ihr etwas zu, was ich wegen der Musik nicht verstehen konnte, und kurz darauf servierte sie zwei Cocktails. Bezahlen musste Liam offensichtlich nicht.
»Piña colada ist okay?«, fragte er. Ich nickte und nahm das Glas, auf dessen Rand ein Stück Ananas steckte. Ich roch an dem Inhalt. Es duftete nach Kokosnuss.
»Noch nie Alkohol getrunken?«
»Nein, das ist es nicht«, rief ich. »Ich frag mich nur: Warum hängst du mit mir ab, wo du doch jede hier haben könntest?«
»Ich hatte jede in diesem Club schon.« Liam lachte auf. »Nein, im Ernst. Du bist schön. Warum sollte ich nicht mit dir ausgehen?«
»Es interessiert mich nicht, ob die Leute mich schön finden oder nicht.«
»Bringt dir aber Vorteile.«
»Ich brauche nur einen reichen Vater. Dafür muss man offensichtlich nicht schön sein.«
Ich deutete auf ihn und trank von meinem Piña colada. Liam riss theatralisch den Mund auf. Dann erwiderte er mein Grinsen und nahm ebenfalls einen Schluck von seinem Getränk.
»Ich verstehe, was Arthur an dir gefunden hat. Wenn ich mir das so recht betrachte, sehen auch fast alle Frauen von den McMillans dir ähnlich. Schau dir bloß Saskia an!«
»Saskia ist mir nicht ähnlich«, sagte ich.
»Natürlich ist sie das. Vielleicht hat sie nicht dieselbe Haar- oder Augenfarbe, aber vom Typ her seid ihr wahnsinnig ähnlich. Ihr habt beide wunderbar reine Haut und eure Statur ist fast identisch. Und ihr steht beide auf wilde Typen.«
»Und du bist ein wilder Typ?«
»Ja, aber trotzdem habe ich nicht das Bedürfnis, dich heute mit zu mir zu nehmen.«
»Danke«, sagte ich ehrlich erleichtert.
»Gern geschehen. Wenn du das als Kompliment verstehst?«
Natürlich war das ein Kompliment. Ich wollte nicht wie ein billiges Flittchen von ihm abgeschleppt werden. Nicht heute und auch nicht sonst wann.
»Ich möchte dich viel lieber richtig kennenlernen. Nicht nur weil ich es als Herausforderung ansehe, Arthurs Freundin zu verführen. Mich interessiert das Mädchen, das dem Millionärssohn Justin McMillan einfach so mir nichts, dir nichts eine verpasst.«
Er grinste süffisant. Ich war mir nicht sicher, ob mir sein Geständnis imponierte oder mich schockierte.
»Könntest du bitte nicht rumerzählen, dass ich Arthurs Freundin bin? Gerade Carina weiß nichts von ihm. Und wir waren auch nicht zusammen. Ich wiederhole es gern nochmal.«
»Ich würde auch keinem erzählen wollen, dass ich mit so einem Arschloch zusammen war.«
»Aber du gibst offen zu, dass du mit Felicitas zusammen warst.«
»Und ich bereue es jeden Tag«, sagte Liam. »Ich mein: Sie redet wirklich ununterbrochen.«
»Ist mir nicht entgangen. Ich ertrag das seit Jahren.«
Er schmunzelte und nahm einen weiteren Schluck aus seinem halbleeren Glas. Ich dachte unweigerlich darüber nach, ob Liam nach einem Glas aufhören würde. Von hier konnte ich unmöglich bis nach Hause laufen. Der letzte Bus würde in etwa einer Stunde kommen.
Von hier allein durch den Wald zu laufen, war nicht nur viel zu weit, nein, um diese Uhrzeit zudem gefährlich. Auch wenn ich wusste, wie ich mich wehren konnte: Gegen ein Wildschwein kam ich nicht an. Mein Cocktail stand kaum berührt vor mir. Ich nahm den Strohhalm in den Mund. Es schmeckte angenehm süß.
»Es gibt hier Billardtische. Wenn du willst, können wir uns in einen der hinteren Räume zurückziehen und spielen.«
»Spielen, he?«, wiederholte ich mit hochgezogenen Augenbrauen.
Liam nahm sein Glas von der Bar. »Tja, wenn du nicht mitspielen willst. Ich finde schon jemanden, der sich mit mir abgibt.«
Er wandte sich ab und überquerte die Tanzfläche. Bevor ich ihn in der Menge verlor, folgte ich ihm. Sein selbstgefälliges Lächeln blieb mir nicht verborgen. Liam ging durch einen von zwei Säulen umrahmten Durchgang. Die Tür war von langen Stofffäden verhangen.
Ich betrat einen kleinen Saal, in dem sich vier Billardtische befanden. Die Tische waren mit rotem Stoff bezogen, nicht wie gewohnt mit grünem. An den Wänden hingen Bildschirme, auf denen stumm Videos der aktuellen Charts liefen. LED-Lampen an der Decke spendeten gerade genug Licht, damit man die Tische erkennen konnte.
Als Liam einen Queue aus der Halterung nahm, gingen die Lampen über dem Tisch neben ihm an. Um die Reizüberflutung einigermaßen in den Griff zu bekommen, schloss ich kurz die Augen.
»Du willst also doch mit mir spielen?«
»Nun ja«, sagte ich. »Wenn sich niemand sonst mit dir abgeben will?«
Auch ich langte nach einem der Queues, doch konnte ihn nicht herausziehen. Ich kontrollierte, ob der Stab sich irgendwo verkeilt hatte.
»Sorry. Hab ich vergessen«, sagte Liam in mein Ohr.
Er beugte sich über mich und löste mit einer Karte den Mechanismus, der den Queue festhielt. Ich ignorierte die Hand, die er mir dabei an die Taille gelegt hatte.
»Mit der Karte kann ich in den Diskotheken meines Vaters so gut wie alles tun.«
Er ging um den Billardtisch und zog aus einem Fach die Spielkugeln hervor. Nachdem er sie platziert hatte, nickte er mir zu.
»Ladies First.«
»Danke«, sagte ich, »aber ich bin keine Lady.«
Mit einem gezielten Stoß, versenkte ich eine volle Kugel. Liams erstaunter Blick war fantastisch.
»Zufallstreffer«, sagte er.
Die langjährigen Kneipengänge mit meinem Vater hatten ihr Übriges getan. Und Liam musste das nun schmerzhaft feststellen. Er verlor zwei Partien hintereinander. Irgendwann fing er an mir leidzutun, er war nicht einmal schlecht. Das zweite Spiel war sehr knapp ausgegangen. Vielleicht hatte er sich beim ersten auch zurückgenommen.
Beim Start der dritten Runde sagte er: »Du spielst wie eine Barfrau.«
»Wie bitte?«, fragte ich.
»Die Barkeeperinnen hier spielen auch so gut wie du.«
»Und das weißt du woher?«
»Ich spiele öfter mit ihnen.«
»Ach, richtig. Spielen …«, sagte ich.
Mit den Fingern setzte ich Anführungszeichen in die Luft und brachte Liam damit zum Grinsen. Dann lochte er gezielt eine halbe Kugel ein.
»In der Stellenbeschreibung für eine Barkeeperin in diesem Laden steht, dass sie Billard können muss, mindestens 1,70 Meter ist und blonde Haare hat.«
»Warum?«
»Weil ich drauf stehe «, antwortete Liam schmunzelnd.
»Puh.« Ich wischte mir eine imaginäre Schweißperle von der Stirn. »Da hab ich ja Glück.«
»Wieso? Doch nur 1,69 Meter?«
»Nein, ich bin nicht blond«, sagte ich und deutete auf meinen schwarzen Haarschopf.
Auf der Suche nach einer perfekten Position für seinen nächsten Zug schlich er um den Tisch herum.
Hinter mir blieb er stehen und flüsterte mir ins Ohr: »Für dich mache ich eine Ausnahme.«
»Nein, danke. Mach deinen nächsten Zug!«
Er hatte offenbar einen geeigneten Platz gefunden und setzte den Queue an. Auch beim dritten Mal musste Liam sich geschlagen geben.
»Wo hast du das gelernt?«, fragte er, während er die Queues wieder in der Halterung verstaute.
»In der Stammkneipe meines Vaters. Da hab ich auch Flippern und Pokern gelernt.«
»Dann sollten wir das nächste Mal vielleicht pokern. Da hab ich sicher eine größere Chance.«
Als wir die Disco verließen, war es bereits Mitternacht. Den Bus hatte ich verpasst, aber Liam hatte auch aufgehört zu trinken. Ich freute mich sogar auf die Tour durch die Nacht.
»Das darf doch nicht …«, schrie Liam, als wir vor seinem Motorrad standen. »Diese Wichser!«
Er hockte sich hin und legte eine Hand auf das Vorderrad seiner Kawasaki. Die Luft war runter.
»Durchstochen«, sagte er.
»Passiert dir sowas öfter?«, fragte ich und erntete einen finsteren Blick. Ich dachte daran, dass es sicher viele Neider in der Stadt gab.
»Ich ruf uns ein Taxi«, sagte Liam und tippte auf seinem Smartphone herum. »Zehn Minuten. Wollen wir hier warten oder im Club?«
»Hier«, antwortete ich.
Der kalte Wind fuhr uns durchs Haar und fröstelnd rieb ich meine Arme. Liam wickelte seinen Schal vom Hals und gab ihn mir.
»Nimm nur!«, sagte er. »Du frierst.«
»Und du?«
»Keine Sorge, mir ist warm. Behalt ihn einfach als Andenken an unseren Abend!« Liam zwinkerte mir zu. »Und wer weiß? Vielleicht kannst du heute Nacht besser einschlafen, wenn du ihn als Kopfkissen verwendest?«
Ich steckte mir den Zeigefinger in den Mund und tat so, als müsse ich mich übergeben. Liam lachte laut. Er legte seine Hand auf meine Schulter, während ich mir den Schal um den Hals schlang.
»Na, wen haben wir denn da?«
Liam und ich wirbelten herum und sahen einen Mann aus dem Schatten des Gebüschs hinter uns treten. Arthur legte den Kopf schief.
»Du kannst nicht bei mir landen und machst dich an den erstbesten Schönling ran?«
»Wer hier wohl bei wem nicht gelandet ist?«, antwortete ich abfällig.
Liam trat vor mich. »Was willst du von uns? «
Arthur gluckste und zog einen Flachmann aus der Innentasche seiner Jacke, aus dem er einen kräftigen Schluck nahm.
»Du und dein beschissener Vater. Immer tut ihr so nett und freundlich. Dabei ist alles nur Fassade. Ihr schleicht euch in meine Familie ein und dann, dann löscht ihr sie Schritt für Schritt aus.«
»Wovon redest du, Mann?«
»Ist doch klar«, lallte Arthur und taumelte einen Schritt auf uns zu. »Zuerst war es mir nicht klar. Aber jetzt ist mir klar, dass ihr das von Anfang an so geplant habt. So was von klar.«
»Was ist dir klar?«
»Ihr wollt mich fertigmachen – mich und meine Familie. Aber das lasse ich nicht zu.«
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Ihr habt meinen Vater getötet … und meinen Bruder … und meinen Onkel Aiden. Von wegen Siebenschläfer …«, schrie Arthur. »Ich weiß, dass ihr es wart.«
»Du spinnst.«
»Nein. Ich habe Beweise und die werde ich öffentlich machen, bevor ihr mich auch noch tötet.«
Arthurs irrer Blick machte mir Angst. Liam ballte die Hände zu Fäusten.
»Und euer Motiv ist echt genial. Ich mein: Gibt es keine McMillans mehr«, schrie Arthur, »dann gibt es nur noch Pilgrims.«
»Halt’s Maul!«
Ich griff Liams Arm und merkte, wie sich seine Anspannung löste.
»Komm!«, sagte ich und zog ihn ein Stück von Arthur weg.
»Und du Schlampe«, rief Arthur uns nach. »Du bist schuld daran, dass Riley jetzt ein schlechtes Bild von mir hat. Er denkt, ich sei ein Vergewaltiger.«
»Du bist ein verdammter Arsch«, rief ich zurück und wollte weiterlaufen, doch Liam blieb abrupt stehen und sah mich fragend an. Jetzt war der falsche Moment für Erklärungen. Er schien an meinem Gesicht die Wahrheit ablesen zu können, denn er schaute Arthur angewidert an.
»Tu nicht so, Pilgrim! Als ob du nicht ähnliche Pläne mit der Schnepfe gehabt hättest. Du vögelst doch mit jeder, die du in die Finger bekommst.«
»Aber ich zwinge sie nicht dazu, du Hurensohn. «
»Dich hat sie also tatsächlich rangelassen?«, fragte Arthur erstaunt und prostete Liam zu.
»Allein um dir eins auszuwischen, würde ich auf der Stelle vor deinen Augen mit ihr vögeln. Aber wenn eine Frau mir zeigt, dass sie dazu nicht bereit ist, dann reiß ich mich zusammen.«
Liams Gesicht verzog sich zu einer wütenden Grimasse.
»Dabei ist sie so ein geiles Stück«, sagte Arthur und leckte sich über die Lippen.
Mir lief ein Schauer über den Rücken.
»Fick dich!«, bellte ich.
»Ich fick aber lieber dich.«
Liam riss sich los und rannte auf Arthur zu. Bevor seine Faust in Arthurs Gesicht traf, hielt ich mir die Hände vor die Augen.
Ich hörte Arthurs Schmerzensschrei, dann das Stöhnen von Liam. Irgendetwas schepperte. Erschrocken riss ich die Arme runter. Arthur stemmte Liam gegen eine Mülltonne und schlug ihm mehrmals in den Magen. Ich überwand meine Schockstarre und rannte zu den beiden.
Mit einer Hand packte ich Arthurs Schulter. Er ließ kurz von Liam ab und stieß mich weg. Ich prallte rücklinks gegen eine zweite Tonne. Liam schaffte es, sich zu befreien und rang seinen Cousin zu Boden. Arthur kassierte einige Schläge ins Gesicht.
Dann ertönte ein Schrei vom Ende der Gasse. Ein Mann rannte auf uns zu, ergriff Liam und riss ihn von Arthur. Während er ihn festhielt, setzte dieser zum nächsten Schlag an.
Ich lief über den Pausenhof in Richtung Eingangstor. Von Weitem entdeckte ich Carina und Liam, die aufgeregt miteinander redeten. Kurz zögerte ich, war mir nicht sicher, wie ich Liam nach der gestrigen Nacht gegenübertreten sollte. Schließlich überwand ich mich und stellte mich stumm hinzu. Liam hielt mitten in seinem Satz inne und sah mich an. Carina drehte sich um.
»Mein Gott. Liam hat mir vielleicht einen Schreck eingejagt.«
»Warum?«, fragte ich.
»Kommt an und fragt mich hektisch, ob ich dich heute schon gesehen hab.«
Nachdem Carina mich mit einer Umarmung begrüßt hatte, kam Liam einen Schritt näher.
»Sorry, wenn ich dich beunruhigt habe. Ich muss nur ganz dringend mit Julia sprechen. Das ist alles.«
Carina sah uns skeptisch an, ließ uns aber gehen. Liams Augen funkelten mich düster an. Wir blieben am Eingang zum Sportplatz stehen.
Liam holte tief Luft und sagte: »Das nächste Mal haust du gefälligst nicht einfach ab!«
»Willst du mir etwa Vorwürfe machen?«, fragte ich.
»Das nächste Mal bleibst du bei mir, damit ich weiß, dass du auch zu Hause ankommst!«
»Du klingst wie mein Vater.«
Liam legte mir eine Hand auf die Schulter und beugte sich zu mir herunter. »Ich mein es ernst. Ich hab mir Sorgen gemacht. Bist du gut Zuhause angekommen?«
Ich senkte den Kopf und nickte.
»Ich hätte Arthur locker geschafft, so betrunken wie er war«, presste Liam zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Wäre da nicht sein bekloppter Freund gewesen.«
»Deine Lippe ist aufgeplatzt«, sagte ich.
»Ja. Ich hab mir auch die Rippen geprellt und mein T-Shirt ist zerrissen. Aber die aufgeplatzte Lippe ist nicht von der Schlägerei.«
»Wovon dann?«
»Naja, ich kam nach Hause und …« Er machte eine Pause. »Mom war entsetzt als sie erfuhr, dass ich mich geprügelt habe. Dad erst, als er erfuhr, mit wem.«
»Und da hat er dir die Lippe blutig geschlagen?«
Liam schwieg einige Sekunden lang. »Er hat gehört, dass ich mich mit meinem Cousin gestritten habe und ist ausgerastet«, sagte er.
Ich war entsetzt. Doch Liams Erklärung rief mir eine Erinnerung ins Gedächtnis. Es war sieben Jahre her, da war mein Vater sturzbetrunken nach Hause gekommen. Aus Langeweile und Frust, dass ich nicht mit ihm in die Bar gehen durfte, hatte ich eine seiner Lieblingstassen auf dem Fußboden zertrümmert. Damals war Vati zum ersten und letzten Mal die Hand ausgerutscht.
Ich war verstört in mein Zimmer gerannt und hatte die Tür abgesperrt. Ganze zwei Tage hatte ich nicht mit ihm geredet. Dann schlug er vor, mich mit in seine Stammkneipe zu nehmen. Das war der Beginn unserer gemeinsamen Zeit in Garys Bar gewesen. Die Ohrfeige von damals war die erste und letzte, die Ole mir jemals gegeben hatte.
»Wir haben kein gutes Verhältnis zu dem Teil der Familie, musst du wissen«, fuhr Liam fort.
»Wie auch?«, fragte ich und rollte mit den Augen.
»Was Arthur uns da vorgeworfen hat …«, begann Liam. »Du musst mir glauben, dass weder mein Dad noch irgendwer aus meiner Familie etwas mit Justins Tod zu tun hat!«
»Warum sollte ich sowas glauben?«
Liam sah mich vielsagend an. »Es gibt da einen Mord. Er ist schon lange her, aber Arthurs Familie gibt uns die Schuld dafür. Damals starb Aiden Pilgrim, der Bruder seiner Mutter.«
»Der tote Onkel, von dem Arthur geredet hat?«
Liam nickte. »Dad hat sehr gehofft, dass unser Verhältnis sich nach dem Tod meines Großvaters bessert und jetzt … Jetzt hab ich mit einer Schlägerei alles verkackt.«
Ehre und Macht. Das waren die zwei Worte, die man hörte, wenn es um die Pilgrims und die McMillans ging. Mir war nun klar, dass es Arthur gestern auch um Macht gegangen war: Macht über mich. Liams Reaktion resultierte allein aus Verteidigung von Ehre: meiner Ehre.
»Kanntest du den Typen, der bei Arthur war?«, fragte Liam. »Hab den noch nie gesehen. Auch meinem Vater hat seine Beschreibung nichts gesagt.«
»Nein. Nie zuvor gesehen«, log ich.
»Dad hat mich gefragt, warum ich die Schlägerei angefangen habe, und dann musste ich von dir erzählen«, sagte Liam entschuldigend. »Ich mein: Arthur hat dich aufs Übelste beschimpft. Es hat einfach gereicht. Ich hätte nie gedacht, dass mir mal so was passiert.«
»Was?«
»Dass ich mal eine Schlägerei anfange wegen eines Mädchens. Also, nichts gegen dich, aber sonst bin ich da eigentlich ganz cool.«
»Aber er hat auch deinen Vater beleidigt.«
»Ja, aber letztlich hat mich einfach nur noch angekotzt, wie er über dich gesprochen hat. So redet man nicht über Frauen.« Liam schnaubte verächtlich. »Dad hat auf jeden Fall gesagt, dass er das Mädchen kennenlernen will, wegen dem ich mit einem McMillan Stress anfange. Er scheint mir nicht zu glauben.«
»Er will mich sehen?«, fragte ich. »Dein Vater?«
»Ja. Mom meinte, du sollst zum Mittagessen kommen.«
In unser anschließendes Schweigen mischte sich das Läuten der Schulglocke. Liam blieb stehen, wartete offenbar auf eine Antwort.
»Ich überleg es mir. In Ordnung?«
Er nickte. Wir schulterten unsere Taschen und gingen zu Carina, die mich in der Biologiestunde ausquetschte. Ich erzählte ihr, dass ich mit Liam in der Diskothek seiner Eltern gewesen war. Die Prügelei verschwieg ich. Obwohl alles sehr stimmig wirkte, war sie nicht überzeugt. Sie kannte mich und meine Lügen zu gut.
Als ich mich nach der Schule von Liam verabschiedete, wollte ich ihm seinen Schal zurückgeben.
»Nein. Ich hab doch gesagt, du kannst ihn behalten.«
»Warum? Ich hab einen Schal.«
»Weil er dir ausgezeichnet steht. Passt zu deinen Augen.« Carina kicherte, während ich ihm stur den Schal entgegenstreckte. »Okay. Ich nehme ihn zurück. Aber du kannst ihn dir jederzeit ausleihen. Vielleicht nach dem nächsten Clubbesuch? Vielleicht kommt Cari dann ja auch mit?«
Liam band sich den Schal um und kramte in seiner Tasche.
»Apropos. Ich soll euch zur Halloweenfeier am Mittwoch einladen. Meine Familie schmeißt jedes Jahr im Blue Nine eine. Für gewöhnlich müsst ihr Eintritt zahlen, aber hiermit«, er überreichte uns je eine Karte, »habt ihr freien Eintritt.«
Er strahlte uns breit an, während wir die Einladungen betrachteten.
»Und vergesst nicht meinen Vater am Sonntag zu wählen!«
»Werden wir nicht«, sagte Carina lächelnd.
Ich erkannte sofort, dass etwas daran nicht stimmte. Doch erst nachdem Liam uns zur Verabschiedung umarmt hatte und außer Hörweite war, sagte sie zu mir:
»Ich glaube, ich wähle Theodor McMillan. Vincent Pilgrim wird genauso weitermachen wie sein Vorgänger. Aber Theodor McMillan …« Carina schielte an mir vorbei. »Er will etwas ändern. Er hat zum Beispiel vor, den Ausbau des Hafens zu stoppen. Das würde die Umwelt schonen …«
»Aber auch den Handel einschränken«, sagte ich.
»Sicher. Ich verstehe beide Seiten. Beides hat seine Vor- und Nachteile.«
Sie biss auf ihrer Lippe herum.
»Wen wählst du denn übermorgen?«
Ich stöhnte. »Ich denke, Theodor McMillan ist wirklich die bessere Wahl.«
Carina nickte heftig. »Das sag ich ja. Aber ich will Liam irgendwie nicht enttäuschen.«
»Hey«, sagte ich und legte Carina eine Hand auf die Schulter. »Wahlgeheimnis. Niemand wird erfahren, wen du gewählt hast. Und wenn Liams Vater es nicht wird, ist das nicht deine Schuld.«
Sie lächelte mich dankbar an.
Wir verabschiedeten uns und sie fuhr mit dem Fahrrad davon. Als ich die Straße überqueren wollte, sah ich Spike an der Haltestelle stehen. Mit einer Handbewegung wies er mir den Weg ums Schulgebäude. Er folgte mir unauffällig.
In der Nebenstraße hinter meiner Schule blieb ich stehen und wartete. Die Sekunden vergingen schleichend, die Fragen in meinem Kopf überschlugen sich. Meine Hand ballte sich zur Faust, die ich ungern ein zweites Mal für einen Schlag verwenden wollte.
Als ich seinen Schatten an der Wand hinter mir wahrnahm, brach es aus mir heraus:
»Was fällt dir ein, meinen Freund zu verprügeln?«
»Freund?«, fragte Spike erstaunt. »Was hast du mitten in der Nacht mit dem Sohn von Vincent Pilgrim zu schaffen?«
Ich löste meine Faust und warf meine Hände hoch. Spike nahm Abstand.
»Ich darf ja wohl Freundschaften schließen mit wem ich will«, schrie ich.
»Schon. Aber da draußen läuft ein Mörder herum, der großes Interesse daran hat, seiner Familie den mächtigsten Posten der Stadt zu sichern. Und Liams Vater ist zufällig der größte Konkurrent von Theodor McMillan. Du hast den Drohbrief gelesen: Du sollst dich von ihnen fernhalten.«
»Das würde ich dir auch raten. Was hast du da zu suchen gehabt? Verfolgst du mich etwa?«
»Ja«, sagte er. »Nach Arthurs Übergriff haben wir dich nicht mehr aus den Augen gelassen. Ich wusste, dass er so eine Abfuhr nicht auf sich sitzen lässt. Also haben Maja und ich dich abwechselnd beschattet.«
»Wunderbar. Dann sind schon drei Typen hinter mir her. Ich fühle mich ja richtig begehrt.«
»Nimm das nicht auf die leichte Schulter!«, rief Spike mit erhobenem Zeigefinger.
»Was? Dass ein Serienmörder mir einen Drohbrief geschrieben hat? Dass ein Möchtegern-Punk mich fast vergewaltigt hätte? Oder dass ich einen Typ im Gefängnis besucht habe, der zwei unschuldige Männer erschossen hat?«
»Richard Hanssen war nicht unschuldig«, presste Spike hervor. »Er hat diesen Mörder gedeckt und seine Morde vertuscht. Vor zwei Jahren hat Hanssen mir selbst gesagt, dass er der Siebenschläfer ist.«
»Du warst also dabei, als Christian die Männer erschossen hat?«, fragte ich fassungslos. »Warum hast du ihn nicht aufgehalten?«
Spikes Kiefer spannte sich an. »Das ist nicht so einfach.«
»Du hättest ihm einfach die Waffe aus der Hand nehmen müssen. Was kann daran so schwer sein?« Ich schüttelte den Kopf. »Warum seid ihr nicht zur Polizei gegangen? Warum habt ihr ihn nicht überführt? Warum musstet ihr ihn unbedingt töten?«
Spike schlug mit der Faust gegen die Wand hinter mir. Ich zog die Schultern nach oben und riss die Arme vor mein Gesicht. Spikes Schrei hallte in meinen Ohren wider.
»Weil er meine Eltern erschossen hat.«
Ich wagte nicht aufzublicken. »Weil er meine Eltern erschossen hat«, sagte er noch einmal leise.
Langsam hob ich den Kopf und sah in seine traurigen, blauen Augen. Seine Mundwinkel zitterten. Seine Faust lockerte sich und gegen seine Handfläche gelehnt blickte er mich an.
Er war eines der Opfer dieses Serienmörders.
»Ich werde nicht eher ruhen, bis dieser Wichser unter der Erde liegt genauso wie meine Eltern. Wenn es stimmt, dass Hanssen nicht der Siebenschläfer war und dieses Tier noch immer aktiv ist, dann habe ich mehr als einen Unschuldigen ermordet.«
»Du hast die beiden Männer damals erschossen.«
Ich sprach die Worte zwar aus, doch die Erkenntnis trat erst einen Augenblick später in mein Bewusstsein: Spike war ein Mörder. Er hatte Richard Hanssen und dessen Chauffeur ermordet, um Rache für seine Eltern zu nehmen. Es war unfassbar. Doch was wäre, wenn mein Vater ermordet werden würde? Wenn ich wüsste, wer es war? Wenn ich die Möglichkeit hätte, ihn zu bestrafen?
»Ich habe einen großen Fehler begangen vor zwei Jahren«, fuhr Spike fort. »Glaub mir: Ich hasse mich dafür mehr, als du mich jemals hassen könntest. Mein bester Freund hat den Kopf für mich hingehalten und sitzt seitdem im Gefängnis. Aber ich kann es nicht ungeschehen machen, genauso wenig wie ich dich aus dem Visier des Siebenschläfers holen kann. Aber ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um dich zu schützen. Du wirst kein Opfer dieses Tiers.«
***
Ich war die erste Hälfte bis zu meinem Heimatort gerannt. Dann hatte mich die Erschöpfung gepackt und ich hatte mich mitten im Wald an den Straßenrand gesetzt. Ein Auto hatte gehalten. Der Fahrer fragte mich, ob mir etwas zugestoßen sei und ob er mich irgendwohin mitnehmen könne. Ich nahm sein Angebot dankend an.
Als ich die Wohnungstür öffnete, kam mir Vati entgegen. Er sah mich bestürzt an, doch ich schloss mich sofort im Bad ein. Als ich mich selbst im Spiegel musterte, verstand ich seine Sorge. Meine Haare waren zerzaust, mein Gesicht leichenblass und meine Augen gerötet.
An jenem Abend hatte Vati mich nicht gefragt, was genau geschehen war. Er hatte mich einfach in mein Zimmer gehen lassen. Doch heute war unser gemeinsamer DVD Abend und es würde unausweichlich zur Aussprache kommen.
»Hast du Hunger?«, fragte er, als ich mich in die Küchentür stellte.
»Nicht wirklich.«
Er deutete auf den Tisch, auf dem eine Familienpackung Lasagne und zwei Teller standen. Ich setzte mich.
»Willst du mir erzählen, wo du gestern Abend warst?«, fragte er ruhig. »Und was passiert ist?«
Ich erzählte ihm von Liam.
»War mir klar, dass du irgendwann kein Interesse mehr an Garys Spelunke hast.«
»Nein. Das ist nicht der Grund«, sagte ich. »Ich war das erste Mal in so einer Disco.«
»Hat er dir etwas angetan?«, fragte er vorsichtig.
»Nein. Wir waren auf dem Heimweg, als uns zwei Typen in einer Seitengasse auflauerten. Liam hat mich beschützt.«
»Was wollten die Typen?«
»Wahrscheinlich Geld.«
»Liam ist kein guter Umgang für dich, Prinzessin.«
»Willst du mir vorschreiben, mit wem ich befreundet sein darf und mit wem nicht?«
»Nein, aber ich will dich vor solchen Typen schützen«, sagte er. »Die sind oberflächlich. Wenn er was von dir will, dann nur, weil er einen Nutzen daraus zieht.«
»Liam ist kein schlechter Kerl. Um ehrlich zu sein, lerne ich nächste Woche seine Eltern kennen. Ich kann selbst entscheiden, ob seine Familie ein angemessener Umgang für mich ist oder nicht.«
»Ist es was Ernstes?«, fragte er. »Magst du diesen Liam?«
»Wir sind nur Freunde, okay?«
»Falls du aber trotzdem irgendwann mehr für ihn empfinden solltest, kannst du mir das ruhig sagen.«
»Soll das jetzt ein Aufklärungsgespräch werden?«
Vati wurde rot.
»Nein. Ich will dir da gar nichts vorwegnehmen«, sagte er schließlich.
Vati tat mir Lasagne auf und ich sah, dass seine Hand zitterte.
»Sollte er dir aber etwas tun, sag mir sofort Bescheid! Dann hol ich die Heckenschere aus dem Keller!«
»Darf ich mich setzen?«, fragte Herr Hanssen.
Ich wollte mit niemandem reden außer meinem besten Freund, doch der war tot. Und niemand konnte mir Absolution erteilen für das, was ich getan hatte – außer vielleicht dieser Mann.
Ich nickte. Hanssen setzte sich zu mir an die Bar und bestellte ein Glas Whiskey. Ich wagte einen flüchtigen Blick genau wie bei unserer letzten Begegnung vor wenigen Stunden. Es hatte eine Gemeinderatssitzung mit anschließender Pressekonferenz gegeben. Auch die Angehörigen der Opfer hatte man dazu eingeladen.
Die Gemeinde wollte klarstellen, dass man die Tat des Amokschützen verurteilte und sich darum kümmern würde, die Sicherheit der Schüler zu gewährleisten. Die Sicherheitsbestimmungen der Schulen im Ort sollten über die Sommerferien verbessert werden.
Ich betrat den Goethe-Saal, blieb jedoch neben der Hintertür stehen. Wider Erwarten war auch Bens Vater zur Pressekonferenz aufgetaucht. Als ich ihn sah und die herablassenden Blicke der Anwesenden wahrnahm, wurde mir bewusst, dass wir auf einem Pulverfass saßen. Heftige Emotionen sprachen aus jedem einzelnen Gesicht und es waren keine wohlwollenden. Am Tag zuvor war ein Artikel im Schundblatt der Nation erschienen, in dem Hanssen als inkompetenter Vater eines gewaltbereiten Jungen bezeichnet wurde. Trotzdem war er hier erschienen, was die Stimmung zusätzlich anheizte.
Sein Blick wanderte durch den Raum. Wie er es von der Arbeit am Gericht gewohnt sein musste, zeigte er keinerlei Regung, sondern ging zielstrebig auf einen Platz inmitten der Menge zu. Als er sich setzte, erhob sich eine Frau neben ihm und suchte sich einen neuen Platz.
Mit Sicherheit hatte Hanssen genau bedacht, wohin er sich setzen konnte. Immerhin wurde er genauso wie ich verdächtigt, allein wegen der Fotos von Ben und Anna, die ich bei meinen Opfern hinterlassen hatte. Ich wusste, dass es naiv und gefährlich gewesen war, der Polizei solche eindeutigen Hinweise zu liefern, doch ich wollte alle wissen lassen, weshalb diese Leute sterben mussten. Die Polizei hatte schnell Anna McMillan und Benjamin Hanssen als Motive für die Morde erklärt. Noch immer suchten die Ermittler nach einer Verbindung zwischen den beiden.
Auch den wahren Grund, wegen dem mein Großvater sterben musste, würde niemals ans Tageslicht gelangen. Alle, die von Hectors abscheulicher Tat wussten, waren tot – bis auf Patrick und mich. Und wir beide würden unser Wissen mit ins Grab nehmen, da war ich mir sicher.
Mit den Fotos von Anna und Ben gerieten jedoch alle McMillans sowie Benjamins Eltern unter Verdacht. Diese Pressekonferenz war eine willkommene Gelegenheit für meinen Cousin Lowell, der mittlerweile offiziell ins Amt gewählt wurde, ein positives Licht auf unsere Familie zu werfen. Aufgrund der Tat von Ben waren die Anwesenden auf Hanssen eindeutig schlechter zu sprechen als auf uns.
Schweigend wartete Richard Hanssen ab, bis die Pressekonferenz begann. Die meisten Leute wandten ihren Blick zum Rednerpult, aber nicht alle. Besonders die Kameras schienen an Herrn Hanssen festgewachsen zu sein. Lowell ergriff das Wort. Er äußerte sein Beileid bei allen trauernden Angehörigen. Mein Herz pochte so stark, als wolle es mit dem nächsten Klopfen zerbersten.
Nach dem üblichen Geplänkel, bei dem viele Tränen flossen, änderte sich die Stimmung schlagartig, denn Lowell begann über Ben selbst zu reden. Er drückte sich gewählt aus, versuchte möglichst ohne Wertung an die Sache heranzugehen.
Anschließend hielt er ein Blatt Papier hoch. Mir stockte der Atem, als ich erkannte, was es war.
»Ich habe hier den Abschiedsbrief des Amokläufers«, sagte Lowell.
Ein Raunen ging durch die Menge. Entsetzen stand auf den Gesichtern der Bürger, Sensationsgier in den Augen der Reporter. Bens Vater erhob sich. Ich wandte mich ihm zu, genauso wie der Großteil der Objektive und Augen. Die Luft schien zu vibrieren, als sich die Blicke von Herrn Hanssen und Lowell trafen. Zwei Fronten bildeten sich: der Vater gegen die Opfer des Amokläufers. So würde man es am nächsten Morgen in der Zeitung lesen können.
Mein Herz machte einen Satz. Ich überlegte krampfhaft, auf wessen Seite ich stand, sollte es zum Äußersten kommen. Da war der Vater meines Freundes, der ihn sein Leben lang kritisiert und ignoriert hatte. Auf der anderen Seite waren diejenigen, die meinen Freund in den Tod getrieben hatten. Wer hatte mehr Schuld: die aktiven oder der passive Täter?
Zunächst sah Herrn Hanssen entsetzt aus. Er hatte offenbar nicht gewusst, dass mein Cousin im Besitz des Abschiedsbriefs seines Sohnes war. Ich konnte mir offen gestanden auch nicht erklären, wie Lowell daran gekommen war. Die Polizei hatte ihn mir zwar gezeigt, doch hielt ihn ansonsten unter Verschluss.
Bens Vater stand mit geballten Fäusten da und erwiderte die Blicke der anderen mit grimmiger Miene. Ich rechnete damit, dass er jeden Moment begann zu brüllen, doch er schluckte nur schwer und atmete tief aus. Dann wandte er sich um und ging durch die Sitzreihe in Richtung Hinterausgang. Die Blicke folgten ihm, als er schnellen Schrittes auf mich zukam. Sein starrer Blick traf mich und er drosselte seinen Gang unmerklich.
Sein Gesichtsausdruck allein bereitete mir körperliche Schmerzen. Hanssen legte die Stirn in Falten. Ich hatte das Gefühl, er würde erkennen, dass ich seine Verachtung noch mehr verdiente als der Bürgermeister. Ohne ein Wort zu verlieren, rauschte er an mir vorbei durch die Tür und verschwand.
Im Nachhinein wünschte ich mir, mit ihm gegangen zu sein. Das Verlesen des Abschiedsbriefes war eine Tortur. Bens Hass auf seine Mitschüler ließ einige Eltern in Tränen ausbrechen. Taschentücher wurden gezückt. Wie ich bei der Erwähnung von Yvonnes Namen merkte, waren ihre Eltern der Versammlung ferngeblieben. Dann fiel mein Name.
Ich hatte gewusst, dass diese Stelle kommen würde. Dennoch traf mich die Erwähnung meines Namens hart. Lowell sah im Raum umher, konnte mich jedoch nicht entdecken. Eine Handvoll Leute um mich her starrte mich unverhohlen an. Ich hatte nicht wie Bens Vater den Mut gefunden, mich mitten in den Raum zu setzen. Dennoch sah ich jedem einzelnen ins Gesicht, um sie wissen zu lassen, wie sehr ich sie und ihre Trauer verabscheute.
»Ich weiß, dass du ohne mich auskommen kannst, aber ich nicht ohne dich. Irgendwann verlassen einen aber alle Menschen. Deshalb entscheide ich mich für diesen Weg. Es tut mir leid, mein Freund«, las Lowell vor.
Mir schossen die Tränen in die Augen genauso wie damals im Präsidium, als ein Polizist Bens Worte zitierte. Blitzschnell legte ich eine Hand auf meinen Mund, um das Schluchzen zu unterdrücken. Alle Blicke und Kameras waren augenblicklich auf mich gerichtet. Diesen Moment würde morgen jeder sehen können.
Mein leises Wimmern verstummte ebenso schnell, wie es aufgekommen war. Ich konzentrierte mich statt auf meine Trauer auf meine Wut, die sich gegen jeden in diesem Raum richtete: die Eltern der Opfer, den Gemeinderat, die Reporter, die Kameramänner. Selbst gegen meinen Cousin Lowell.
Doch ich hatte mir geschworen, nie wieder jemanden zu ermorden, vor allem keine Mutter. Janine Neumann verbluten zu sehen, war schrecklich gewesen. Ich hatte Albträume davon: von ihrem blutenden Bauch, dem Kind in der Wiege, seinen blauen Augen.
Niemand hatte während der Verlesung des Briefes geweint. Sie starrten fassungslos nach vorn, schüttelten missbilligend die Köpfe oder nickten rechthaberisch. Mutter hatte mir davon abgeraten herzukommen. Aber ich wollte wissen, was sich hier zutrug.
Ich musste hier verschwinden, bevor ich etwas Dummes tat. Ich verließ den Raum und steuerte die Bar ein paar Straßen weiter an. Hanssen musste mir gefolgt sein.
Über eine Minute schwiegen wir uns an, schauten beide geradeaus ins Spirituosenregal. Wahrscheinlich suchte Hanssen genauso wie ich etwas Hochprozentigeres, um seine Gedanken zu betäuben. Meine jedenfalls rasten.
Ich fragte mich, warum er mich sprechen wollte? Ahnte er etwas?
»Das war eine miserable Veranstaltung«, stellte er nüchtern fest und trank einen Schluck aus seinem Glas.
»Wem sagen Sie das?«
»Ich hatte nicht erwartet, dass du kommst.«
»Ich hatte Sie auch nicht erwartet.«
»Als ich dich dort sah, musste ich daran denken, was im Polizeibericht stand. Und wie Ben dich in seinem Abschiedsbrief beschrieb. Dass du sein einzig wahrer Freund warst.«
Seine Worte schnürten mir die Kehle zu und ich fragte gepresst: »Sie durften den Polizeibericht lesen?«
»Nein, aber ich habe es getan«, sagte er. »Sie wollten mich meines Amtes entheben. Sie meinten, ich stehe unter Verdacht, den Polizisten ermordet zu haben. Aber dennoch: Ich bin nach wie vor im Amt. Sie konnten mir nichts nachweisen, weil ich es nicht war.«
Er atmete einmal schwer aus, bevor er sagte: »Du warst dabei, als er …«
»… erschossen wurde«, beendete ich seinen Satz träge.
»Ich war drauf und dran, diesen Polizisten bis auf die Grundmauern seiner Existenz zu verklagen – wegen Fehlverhaltens. Er hat meinen Sohn kaltblütig hingerichtet, war ernst kürzlich ins SEK-Team aufgenommen worden. Aber dann hörte ich von seinem Tod und dachte: Das ist viel besser. Warum habe ich das nicht schon längst in Erwägung gezogen?«
»Weil Sie Anwalt sind«, antwortete ich.
»Genau. Und das macht mich zu einem rechtschaffenden Menschen.«
Hanssen nahm einen Schluck von seinem Whiskey. Ich bemerkte seine Augenringe und die eingefallenen Wangen. Mit Sicherheit hatte er seit Wochen nicht mehr richtig geschlafen, genauso wie ich.
»Sie sollten nicht zu viel trinken.«
»Sagt der Richtige«, konterte er und zeigte auf mein leeres Glas. Dann verlangte er nach zwei Doppelten.
»Auf jeden Fall bin ich froh, dass sich jemand um den Typen gekümmert hat«, sagte er. »Ich bin ihm unendlich dankbar dafür.«
Ich wich seinem Blick aus und leerte das Glas, das Jack eben erst vor mich gestellt hatte.
Hanssen lächelte zufrieden. Aus seiner Jackentasche zog er eine Visitenkarte und schob sie zu mir.
»Ruf mich an! Dann machen wir einen Termin aus!«
Er legte einen Geldschein neben sein Glas und verließ die Bar. Ich sah ihm nach, dann auf die Visitenkarte. Ich war nicht nur ein Mörder, ich hatte auch den besten Anwalt der Stadt.
***
Am nächsten Tag ging ich in Hanssens Büro. Mit gesenktem Kopf erzählte ich ihm von dem Mord an Frau Wagner. Ich ließ nichts aus. Ich erzählte, dass Frau Wagner Ben schikaniert hat, dass sie nicht einschritt, als er beim Basketballplatz herumgeschubst wurde. Ich erzählte davon, dass sie eine Affäre mit meinem Großvater hatte. Und ich erzählte, dass ich nicht vorhatte, sie zu töten.
Unter Tränen erzählte ich ihm alles: von Hector, Anna, Irina, Patrick, Frau Wagner, Yvonne, Familie Neumann und von dem Baby. Es brach aus mir heraus wie aus einem Vulkan, der über Jahrtausende das Magma zurückgehalten hatte und nun ausbrach.
Als ich geendet hatte, hob ich den Kopf. Hanssen sah mich ungläubig an. Doch in seinem Blick konnte ich keine Verachtung finden. Stattdessen wandelte sich seine fassungslose Miene langsam in eine nachdenkliche.
»Wer weiß davon?«, fragte er.
»Nach Irinas Selbstmord habe ich mich Patrick anvertraut.«
»McMillan?«, fragte er. Ich nickte. »Und er deckt dich?«
»Ja.«
»Okay. Wer weiß es noch?«
»Meine Mutter. Sie ahnt es auf jeden Fall.«
»Eltern schützen ihre Kinder bis in den Tod«, sagte Hanssen mehr zu sich selbst. »Hat die Polizei dich verhört?«
»Natürlich. Sie doch auch, oder?«
Er nickte. »Sie haben mich und meine Frau schon mehrmals verhört. Ich kann mich noch an den Tag des Amoklaufs erinnern. Drei Polizisten sind in voller Montur ins Gericht gestürmt. Sie haben mich mit aufs Revier genommen und mich stundenlang verhört. Woher Ben die Waffe hätte. Ob ich wüsste, seit wann er diesen Plan gefasst hätte. Ich hab geschwiegen wie ein Grab. Ich kenne meine Rechte. So hab ich es seither immer gehalten.«
»Ich hab mich auch nicht einschüchtern lassen. Sie kamen schon mehrmals.«
»Klar. Wir haben ein Motiv.« Hanssen schnaubte. »Wir sind die Einzigen, die ihn nach wie vor lieben. Meiner Frau fällt es zwar schwer nach all den Dingen, die Ben getan haben soll. Aber die letzten Monate haben uns dennoch zusammengeschweißt.«
»Wie haben Sie Ben beerdigen lassen?«
Mein Freund war anonym beerdigt worden. Laut Presse wussten nur seine Eltern, wo und wann er beigesetzt worden war. Seit Monaten hatte ich keinen Ort, um Ben zu besuchen oder um ihn zu trauern.
»Die Polizisten haben uns vor einem Begräbnis gewarnt. Sie könnten nicht genügend Wachpersonal für die Beerdigung geschweige denn fürs Grab aufbringen. Wir sollten ihn auf einem Waldfriedhof beerdigen – ohne Blumen, Grabstein und Namen. Das kam nicht in Frage.«
»Wo liegt er dann?«
»Wir haben einen Grabstein auf den Nordfriedhof setzen lassen. Er trägt nicht seinen Namen, aber ein Zitat. Nur seine Mutter und ich sind zur Beisetzung dagewesen.«
Ich schmunzelte. Also lag Ben tatsächlich mitten unter all den Dreckskerlen, die ihn erst zu dieser Tat getrieben haben. Natürlich hatte es auch Kollateralschäden gegeben. Aber allein die Hälfte, da war ich mir sicher, hatte es verdient durch seine Hand zu sterben.
»Ich kann dir gern zeigen, wo er liegt, wenn du das willst«, sagte Hanssen. »Wenn du mir sagst, wo du die Tatwaffe hast.«
»Die, mit der ich den Polizisten getötet habe?«
Er nickte.
»Hab sie meinem Hehler zurückgegeben. Wieso?«
»Wenn wir der Polizei einen Täter für einen Mord liefern, werden die Ermittler davon ausgehen, dass er auch die anderen begangen hat. Wir könnten ihm die Morde dieses Siebenschläfers – wie die Presse dich nennt – anhängen und du wärst aus dem Schneider. Zumindest fürs Erste.«
»Wie wollen Sie das machen? Sie sind kurz davor, Ihre Zulassung zu verlieren.« Hanssen lachte auf und ich senkte den Blick. »Hab ich in der Zeitung gelesen.«
»Sollen die nur versuchen. Sie wissen, mit wem sie sich anlegen.«
»Sie wollen mir also ernsthaft helfen?«, fragte ich.
Hanssen erhob sich, stellte sich neben mich und legte mir eine Hand auf die Schulter.
»Dieser Mistkerl hat meinen Sohn getötet. Diese Lehrerin hat zugesehen, wie mein Sohn gedemütigt wurde. Und Yvonne konnte ich noch nie leiden.« Ich musste mir ein Schmunzeln verkneifen, als er meine Gefühle Yvonne gegenüber auf den Punkt brachte. »Also, wie heißt dein Hehler?«
»Sascha … Baumann.«
Hanssens Miene hellte sich auf und er lächelte mich verschwörerisch an.
»Perfekt. Der Kerl ist ein stadtbekannter Gangster.«
»Ich weiß. Er war schon im Gefängnis.«
»Exakt. Und weißt du auch, wer ihn dort hineingebracht hat?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Philipp Neumann.«
»Der Polizist.«
»Und weißt du auch, wer meinem Sohn die Waffe für … seine Tat besorgt haben soll? Wer ihn erst in die Lage gebracht hat, seine Gedanken in die Tat umzusetzen?«
Ich schüttelte den Kopf. Nicht, weil ich es nicht wusste, sondern weil ich es nicht fassen konnte.
»Wenn es einer verdient hat für deine Taten hinter Gitter zu kommen«, sagte er und sah mir tief in die Augen, »dann ist es Sascha Baumann.«
Ich setzte mein Kreuz und faltete den Zettel in der Mitte. Dann steckte ich ihn in die Wahlurne. Hoffentlich hatte ich meine Entscheidung weise getroffen.
Auf dem Weg nach draußen begegnete mir Maja.
»Was machst du hier?«, fragte ich, nachdem wir uns umarmt hatten.
»Das ist deine erste Wahl, oder? Und? Wie fühlt es sich an?«
»Doof. Ich weiß nicht, ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe.«
»Bei derartigen Wahlen gibt es kein richtig oder falsch. Egal, was du angekreuzt hast, es war die beste Entscheidung, die du treffen konntest.«
»Na, ich weiß ja nicht.«
Maja lächelte mich breit an, während wir den Flur der Schule entlanggingen, die als Wahllokal genutzt wurde.
»Du gehst doch sicher zu der Halloweenfeier am Mittwoch, oder?«, fragte sie.
Ich nickte. »Du auch?«
»Klar. Damian freut sich seit Wochen darauf. Hast du schon ein Kostüm?«
»Liam will, dass Carina und ich uns als Bräute verkleiden.« Ich rollte mit den Augen. »Er will wohl als Graf Dracula gehen.«
»Perfekt. Du siehst in einem weißen Kleid bestimmt bezaubernd aus. Deine schwarzen Haare und deine blauen Augen. Einfach fabelhaft.«
Maja gestikulierte mit den Händen, als wäre ich eine Figur, die sie aus Ton formen würde.
»Ich werde kein Kleid tragen«, sagte ich.
»Eine Corsage zum Schnüren auf dem Rücken, ein wenig Spitze an der Hüfte und ein knielanger Rock mit Petticoat. Jeder Mann auf der Party wird nur Augen für dich haben.«
»Ich werde kein Kleid tragen.«
»Ich kann direkt morgen früh für dich einkaufen gehen und es dir vorbeibringen. Einverstanden?«
Ich stöhnte und gab mich geschlagen. Dann fragte ich:
»Warum bist du wirklich hier?«
Majas Miene verfinsterte sich schlagartig. »Spike hat mir von der Schlägerei erzählt. Und auch von dem, was Arthur dir fast angetan hätte.«
»Ich dachte, ihr hört euch die Aufzeichnungen der Wanze gemeinsam an.«
»Nein. Spionage gehört eindeutig zu Spikes Fachgebieten. Ich tauge eher zur … Ablenkung. Aber so weit hätte es nicht kommen dürfen.« Sie schüttelte den Kopf. »Spike hat mir die Aufnahme nicht vorgespielt. Was hat Arthur dir angetan, Schätzchen?«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und senkte den Kopf. »Ich will nicht drüber reden.«
»Das wollen sie nie«, sagte Maja.
Sie schnaubte und betrachtete die Decke. Mein Blick folgte ihrem, doch ich sah nichts. Vor ihrem inneren Auge schienen sich jedoch Szenen aus längst vergangenen Zeiten abzuspielen. Plötzlich sah sie traurig aus.
»Meine Schwester hat sich mit fünfzehn in einen Jungen verliebt. Kurze danach ist sie mit ihm durchgebrannt. Wir haben sie monatelang gesucht, aber nicht gefunden. Erst zwei Jahre später habe ich sie zufällig wiedergesehen.« Sie machte eine lange Pause. »Weißt du, was ein Loverboy ist?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ein Loverboy spricht junge Mädchen vor der Schule an. Er schenkt ihnen ein Lächeln, Aufmerksamkeit und Schmuck. Er isoliert sie von ihren Freunden und ihrer Familie. Bis sie ganz ihm gehören. Und dann zwingt er sie, ihren Körper zu verkaufen. Mit anderen Männern, nicht nur ihm zu schlafen. Jahrelang.«
Maja hob eine Hand vor ihren Mund. Sie schluchzte.
»Arthur hat eigentlich nichts gemacht«, sagte ich schnell. »Also, es ist nicht dazu gekommen. Riley war rechtzeitig da.«
»Sie machen nie nichts«, sagte Maja streng. »Jeder Übergriff, ob es nun zum Sex kommt oder nicht, übertritt eine Grenze. Das darf man nicht herunterspielen. Ich weiß, wie es anfängt. Ich habe gesehen, wie dieser Loverboy meine Schwester langsam um den Finger gewickelt hat. Und ich habe gesehen, wie es geendet hat.«
»Hast du sie wiederbekommen?«, fragte ich vorsichtig. »Deine Schwester?«
Maja sah mich finster an. »Ihren Körper habe ich zurückbekommen. Doch ihre Seele hat Wunden zurückbehalten, die nicht so leicht heilen. Aber sie führt wieder ein selbstbestimmtes Leben.«
»Das freut mich.«
»Ich weiß auf jeden Fall, warum Spike mir die Aufnahmen vom Hafen nicht gegeben hat. Er hat es mir erzählt. Das hat bereits gereicht.« Maja zog die Nase kraus und blieb stehen. »Es ist gefährlich, sich mit den McMillans einzulassen.«
»Hab ich gemerkt.«
Maja lächelte bitter. »Es tut mir leid, dass du in all das hineingeraten bist. Aber wir wissen noch immer nicht, in welcher der Familien sich der Mörder wirklich verbirgt.«
»Bei den McMillans«, sagte ich. »War doch eindeutig aus dem Drohbrief herauszulesen. Mit Liam hatte ich zu dem Zeitpunkt doch noch gar keinen Kontakt. Manchmal frage ich mich sogar, ob es vielleicht nur ein schlechter Scherz ist.«
Maja legte die Stirn in Falten.
»Was ist, wenn zum Beispiel Arthur aus Frust den Brief geschrieben hat? Wenn es gar nicht der Siebenschläfer ist?«
»Wir brauchen nähere Informationen, um ein klareres Bild zu bekommen«, sagte Maja.
»Dabei kann ich euch doch helfen.«
»Du wirst dich in Zukunft fernhalten von den McMillans.« Majas strenger Gesichtsausdruck wandelte sich in einen sorgenvollen. »Ich verstehe, dass du nicht mit Liam brechen willst. Spike übertreibt, wenn er sagt, dass du auch mit ihm keinen Kontakt haben sollst. Aber es ist wirklich wichtig, dass du dich in Zukunft von Arthur und Theodor fernhältst.«
»Das Problem wird sein, dass sich Arthur nicht von mir fernhalten wird.«
»Das habe ich schon vorausgesehen«, sagte Maja. »Und da kann ich Abhilfe schaffen.«
Sie beugte sich vor, um nach dem Saum ihres rechten Stiefels zu greifen. Aus dem Innern zog sie einen schwarzen Gegenstand hervor. Ich brauchte einige Augenblicke, um zu erkennen, was es war.
»Ist das ein Taschenmesser?«
»Ein Einhand-Klappmesser«, erklärte Maja.
Ich nahm es entgegen und spürte das kalte Metall auf meiner Haut. Es war nicht länger als meine Handfläche. Wie hatte sie es in die Schule geschmuggelt? Hatte Liam etwa recht, dass die Metalldetektoren und Kameras nur Attrappen waren?
Maja sah mich eindringlich an. »Nutz es nur im Notfall! Aber nutz es!« Vorsichtig ließ ich die Klinge herausfahren.
»Wenn du zustichst, zieh das Messer auf jeden Fall wieder heraus! Lass die Waffe niemals im Körper deines Angreifers zurück! Und ganz wichtig: Wenn das Messer steckt …« Sie machte eine Drehbewegung mit der Hand. »Niemals einfach herausziehen, sondern umdrehen. Dann spürt dein Gegenüber erst den Schmerz und weicht zurück.«
Ich schluckte. »Okay?«
»Spike hat geschworen, dass er Arthur unter Kontrolle bringt. Er trifft sich mit ihm. Er wird dir nie wieder zu nahe kommen.«
»Okay.«
»Ansonsten«, wisperte Maja und sah hinab auf die Klinge in meiner Hand, »weißt du ja, was zu tun ist. Hab keine Scheu! Er wird auch keine haben.«
Ich nickte.
***
»Ich fass einfach nicht, dass er uns nicht nochmal erinnert hat«, lamentierte Carina wenige Stunden später.
»Nach der Szene am Donnerstag nicht verwunderlich, oder?«
Wir erhielten unser Wechselgeld und betraten den Goethe-Saal. Heute war hier die sogenannte Kleinkunstbühne. Auch wenn ich mich sonst nicht für Poetry Slams interessierte, wollte ich doch wissen, wie sich Alex schlug. Eigentlich hatte ich erwartet, dass er sich letzte Kritik im Vorfeld von uns holen würde, doch seit unserem letzten Streit herrschte Funkstille zwischen uns.
Carina und ich suchten uns einen Platz in der Mitte des Raums. Der Saal füllte sich schnell.
»Zum Glück hatte ich den Flyer noch rumliegen, sonst hätte ich das vollkommen vergessen.«
»Vielleicht ist es ihm auch peinlich?«, sagte ich. »Wenn er wüsste, dass wir hier sind, ist er sicher noch nervöser als ohnehin schon.«
»Dann ist es ja gut, dass er von nichts weiß. Und wir sehen trotzdem seinen ersten Auftritt. Als würde er da drum rum kommen.«
Carina grinste mich an, während der Moderator den Abend eröffnete. Die ersten beiden Personen redeten von ihrem Schul- oder Unialltag. Anekdoten über Mitschüler und Kommilitonen brachten das Publikum zum Lachen. Nach dem zweiten Auftritt betrat der Moderator wieder die Bühne und sah einmal kurz ins Publikum. Der obligatorische Applaus verklang.
»Begrüßt mit mir Alex als ›Geist der Rache‹!«
Unser Freund betrat die Bühne. Er trug einen schwarzen Hoodie, die Kapuze hatte er tief ins Gesicht gezogen. Stille herrschte, während Alex mit gesenktem Kopf dastand. Die Spannung stieg bis ins Unermessliche, ehe er einen Schritt vortrat und begann ins Mikrophon zu flüstern.
»Kennt ihr mich noch?« Er machte eine lange Pause. »Ich bin der, den ihr geschlagen habt …
Ich bin der, den ihr beleidigt habt … Ich bin der, den ihr in den Selbstmord getrieben habt.«
Im Augenwinkel nahm ich Carinas versteinerten Gesichtsausdruck wahr. Sie wandte sich mir zu und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an.
»Hier treffen wir uns wieder«, wisperte Alex. »Für mich ein Ort der Schönheit, für euch ein Ort der Pein. Ihr fleht mich an, ihr wimmert und weint. Ich lache euch aus.«
Alex ließ ein diabolisches Lachen erklingen und hob den Kopf. Die Scheinwerfer trafen sein Gesicht und es zeigte eine angsteinflößende Grimasse. Mir lief ein Schauer über die Haut, als sein Lachen erstarb.
»Zeige euch einen Spiegel mit verzerrtem Bild … wie ihr mich erschaffen habt … wie ich euch zerstöre.«
Schweigen.
Ich wusste, es waren seine Schlussworte gewesen, doch niemand im Publikum klatschte. Seine Vorredner hatten wesentlich länger gebraucht. Carinas Blick verharrte auf der Bühne. Langsam hob ich die Hände und applaudierte. Drei Leute stimmte mit ein, dann tobte der ganze Saal.
Ein breites Grinsen erschien auf Alex’ Gesicht, als er die Kapuze abstreifte und sein naturrotes Haar zum Vorschein kam. Der Flaum, der noch vor drei Tagen sein Gesicht geziert hatte, war verschwunden. Er verbeugte sich mit scheuem Lächeln und sah zum Moderator, der die Bühne erklomm.
Ich stand auf. Sofort erstarb Alex’ Grinsen. Panik war auf sein Gesicht geschrieben. Meine Hände hielten kurz inne und klatschten in halbem Tempo weiter, während andere meinem Vorbild folgten und aufstanden. Der Moderator wartete einen Augenblick, bis er Alex verabschiedete und den nächsten Künstler auf die Bühne bat. Langsam kamen alle seiner Aufforderung nach. Alex schaute noch einmal in unsere Richtung, dann verschwand er.
»Ich hatte keine Ahnung, dass er so ein schauspielerisches Talent hat«, sagte ich.
»Und ich nicht, dass er solche Sachen schreibt.«
»Cari, das sind nur Gedichte. Gedanken, die ihm so kommen.«
Carina sah mich schockiert von der Seite an. »Er hat davon geredet, Leuten etwas anzutun.«
»Er hat davon geredet, dass ihn Leute gedemütigt haben.«
»Ja, und dass er Rache will. Und du klatscht auch noch?«
»Alle haben geklatscht.«
»Schscht«, erklang es hinter uns.
Ich wagte einen Schulterblick zu dem Mann hinter uns. Er starrte uns mit hochgezogenen Augenbrauen an und wies auf die Bühne. Eine Blondine hatte begonnen über Vegetarismus zu reden.
»Lass uns später darüber reden!«, flüsterte ich und sah Carina augenrollend an.
Sie schüttelte den Kopf, ging aber erst auf meine Worte ein, als der Moderator den Poetry Slam für beendet erklärt hatte. Auf dem Weg zur Garderobe hörte ich mir an, dass sie nicht verstand, wie er sowas schreiben konnte. Ich schwieg, bis ich meine Lederjacke wiederbekam.
»Jetzt sag doch auch mal was!«
Ich atmete angestrengt aus. »Alex meint das nicht wörtlich.«
»Du weißt, dass er sich geritzt hat?«
»Einmal«, sagte ich mit erhobenem Zeigefinger und rollte mit den Augen.
»Aber er hätte sterben können.«
»Hätte er nicht, weil der Schnitt nicht längs gezogen war. Wäre er wirklich mit der Absicht rangegangen zu sterben, hätte er das klüger angestellt.«
Carina sah mich vorwurfsvoll an. Ich ging ein paar Schritte in Richtung Ausgang und zog meine Jacke über. Ob wir auf Alex warten sollten? Wahrscheinlich nicht. Die Diskussion wollte er sich mit Sicherheit nicht antun.
Gemeinsam verließen wir das Gebäude. Der Oktoberwind blies uns hart ins Gesicht. Carina zog ihren Schal enger um den Hals und setzte sich ihre orangefarbene Wollmütze auf.
»Du weißt, dass er das nur schreibt, weil es ihn bewegt«, sagte ich. »Es sind nicht seine wahren Absichten.«
»Und was ist mit dem Schluss?«, fragte sie mit zitternder Stimme und zitierte. »›Wie ihr mich erschaffen habt, wie ich euch zerstöre.‹«
»Alex kann keinem ernsthaft was zu Leide tun. Er kann nicht einmal Fleisch von toten Tieren essen. Natürlich malt er sich aus, wie er sich wehren kann, und schlägt dabei über die Stränge. Aber das heißt noch lange nicht, dass er morgen in der Schule auftaucht und ›Leben zerstört‹.«
Ich setzte die Worte in imaginäre Anführungszeichen. Carinas Blick blieb undurchsichtig.
»Mein Papa hat ihn gekannt.«
»Wen?«
»Ben Hanssen.« Carina holte tief Luft. »Den Amokläufer.«
»Hat er den Amoklauf miterlebt?«
Carina nickte und begann zu schluchzen. Unvermittelt blieb sie auf dem Gehweg stehen. Die ersten Tränen liefen ihr über die Wangen. Ich umarmte sie sofort. Carina hielt sich an mir fest, als würde sie Gefahr laufen, in die Tiefe zu stürzen.
»Er redet mit mir nicht darüber, auch nicht mit meinem Bruder. Der Amoklauf an sich hat ihn wohl gar nicht so traumatisiert. Erst der Tag danach … als klar war, wer der Täter war.«
»War es ein Freund von ihm?«
Carinas Kinn traf hart auf meine Schulter. »Papa hat mal gemeint, dass Ben gar nicht schuld war. Da waren ganz üble Gerüchte im Umlauf.«
»Und die haben ihn zum Amoklauf getrieben?«
Sie nickte wieder. »Manchmal habe ich einfach das Gefühl, dass er mir entgleitet. Alex, meine ich. Dass er sich und anderen was antut.«
Ich stemmte Carina an den Schultern von mir und sah ihr tief in die Augen.
»Hör mir zu, Cari! Ich schwöre dir, dass Alex niemals so enden wird wie der Freund deines Vaters. Alex ist nicht Ben. Er ist kein Amokläufer.«
Carina schluchzte. »Ich hoffe es.«
Am Montag unmittelbar nach der Bürgermeisterwahl war ich mit Liam verabredet, um seine Eltern kennenzulernen. Ich hatte eine blaue Bluse von Maja an und dazu meine roten Chucks.
Als ich vor dem gusseisernen Tor der Pilgrims stand, wurden meine Hände feucht. Die Villa lag außerhalb der Stadt, versteckt hinter einem Wäldchen, das einem jedoch nicht den Blick auf den Fluss versperrte. Ich hatte geahnt, dass seine Familie nicht schlecht lebte, aber die weiß getünchte Villa mit dem sattgrünen Garten übertraf meine Erwartungen. Ich klingelte und war erleichtert, als ich Liam sah, der mir gut gelaunt entgegenschlenderte.
»Dad hat das Grundstück von seinem Großvater geerbt«, sagte Liam, während wir den kiesbedeckten Weg zum Haus entlanggingen. »Also, mein Urgroßvater Marco lebt noch, aber dieses Haus schien ihm zur Beförderung meines Vaters angemessen.«
»Wohnt dein Urgroßvater in der Nähe?«
»Ja. Wir besuchen ihn an den Feiertagen oft.«
Als wir die Stufen zur Terrasse hochstiegen, öffnete Liams Vater die Tür. Er trug ein weißes T-Shirt unter einer Jeansjacke. Das ließ ihn wesentlich legerer wirken als auf den Plakaten. Die Wahl war immerhin vorbei und nicht zu seinen Gunsten ausgefallen. Dennoch lächelte er mich freundlich an.
»Hallo Julia, ich bin Vincent Pilgrim.«
»Sehr erfreut.«
Liam gluckste, doch Herr Pilgrims eisiger Blick ließ ihn verstummen.
»Mein Sohn weiß nicht, was Anstand ist. Entschuldige bitte sein Verhalten!«
Liams Miene erstarrte. Wir folgten seinem Vater durch den Wohnraum. Überall hingen Gemälde. Auf den Fenstersimsen befanden sich große Kristallgebilde und Kübel mit großblütigen Pflanzen.
In der Küche saß Liams Mutter am Tisch und rieb Möhren. Liam gab ihr einen Kuss auf die Schläfe. Sie erhob sich, um mich ebenfalls zu begrüßen. Dabei strich sie sich mit dem Handrücken eine braune Locke von der Stirn. Es war erstaunlich, wie klein sie war.
»Hallo, ich bin Tora Pilgrim.«
»Ich bin Julia. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Herrgott, wenn du mich siezt, dann fühle ich mich so alt. Nenn mich einfach Tora!«
Während seine Mutter das Essen vorbereitete, zeigte Liam mir das Haus. Meine nervöse Blase trieb mich ins Badezimmer, das mit großen Marmorfliesen ausgelegt war. Ich musterte mich kurz im bodentiefen Spiegel und strich mein Haar zurecht. Als ich Liams Zimmer betrat, stand er mit dem Rücken zu mir am Fenster.
Er hatte seinen Pullover ausgezogen und trug ein weißes Shirt. Die Sonne strahlte auf den Balkon, der an sein Zimmer angrenzte, und ließ seine Haare glänzen.
Liam sah aus wie aus einem Modekatalog entsprungen. Als ich bemerkte, dass ich ihn anstarrte, wandte ich den Blick ab und schaute mich um. Die Mitte des Raumes bildete ein großes Doppelbett, das auf einem weißen Teppich stand. Über seinem Schreibtisch hing ein Poster von AC/DC. Ich trat näher heran, um mir die Fotos anzusehen, die an die Wand gepinnt waren. Sie zeigten Liam mit einigen anderen Jugendlichen.
»Du vermisst deine Freunde vom Internat, oder?«, fragte ich.
Liam kam zu mir und blieb hinter mir stehen. Sein Aftershave stach in der Nase.
»Geht so. Einen Großteil der Leute auf diesen Fotos habe ich nur ein oder zweimal auf Partys getroffen. Meine wirklichen Freunde befinden sich in meiner Brieftasche.«
Er kicherte. Auch mir war die Doppeldeutigkeit seiner Worte nicht entgangen. Sein Atem streifte meinen Hals. Ein Seitenblick offenbarte mir, dass er seine Hände hinter dem Rücken verschränkt hatte. Dennoch hatte ich das Bedürfnis, ihn von mir zu stoßen.
Mein Gehirn signalisierte mir pausenlos Gefahr. Seit der Sache mit Arthur war ich übervorsichtig, wenn es darum ging, wie nahe mir Männer kamen. Ich drehte mich zu ihm um. »So viele Freunde kann auch keiner haben.«
Er ging einen Schritt zurück. »Ich komm halt mit vielen klar. Die meisten davon nenne ich aber nicht Freunde.«
»Hältst du’s mit deinen Freundinnen auch so?«
»Ich glaube, ich habe noch nie wirklich eine Freundin gehabt.«
»Und wie nennst du die Mädchen, mit denen du ständig anbändelst?«
»Na ja. Das ist meistens nichts Ernstes«, sagte er. »Ich habe noch kein Mädchen gefunden, das zu meinen Beziehungsvorstellungen passt. Und ich bin nicht bereit, Abstriche zu machen.«
»Ein Perfektionist also.«
»So nannte mich meine Ex.« Er deutete auf ein blondes Mädchen auf einem der Fotos. »Sie war echt süß und lustig. Aber irgendwie fehlte mir das gewisse Etwas. Nach einer Woche hatte ich schon das Gefühl, alles über sie zu wissen. Und da hab ich Schluss gemacht.«
»Mit welcher Begründung?«, fragte ich.
»Weiß nicht mehr. Da fällt mir spontan immer was ein. Bin Profi im Schlussmachen.«
»Wenn man das als Qualität bezeichnen kann?«
Seine Mutter rief uns zum Essen und wir gingen hinab in den Speisesaal. Die hohen Wände waren geschmückt von Ölgemälden, die herbstliche Landschaften zeigten. Ich fragte mich, ob sie im Winter durch verschneite Kulissen ausgetauscht werden würden. Auf dem langen Tisch leuchteten dunkelrote Stabkerzen und kleine Zierkürbisse lagen in hölzernen Schalen.
»Hübsche Deko«, sagte ich.
Tora betrat mit einem Topf in den Händen den Raum.
»Danke. Das sind schon Vorboten der Halloweenfeier am Mittwoch. Vielleicht möchte deine Freundin ja dieses Jahr mitmachen?«, sagte sie, wobei sie »Freundin« auffällig betonte.
»Mom, ich habe dir doch gesagt, wir sind nur Freunde.«
»Hab ich doch gesagt.«
Tora lächelte und stellte den Topf auf den Tisch. Wir setzten uns und mir fiel auf, dass Liam es vermied, mir in die Augen zu sehen. Seine Mutter tat uns Lauchsuppe auf, obwohl Liams Vater noch nicht am Tisch saß. Erst als Tora die Hauptspeise servierte, betrat er den Raum. In der einen Hand hielt er ein Telefon, in der anderen ein weiteres Smartphone.
»Hm. Hm. Verstanden. Kümmere dich darum! Dieser Vorfall hat mich den Wahlsieg gekostet. Ich will, dass das ein für alle Mal geklärt wird.« Er sah seine Frau entschuldigend an, legte jedoch nicht auf. »Dann schnapp dir den Typen und ermahn ihn! Und wenn ich herausfinde, dass mein Cousin hinter der ganzen Sache steckt, dann rollen Köpfe.«
Nachdem er das Handy in seiner Hose verstaut und das Telefon neben sich gelegt hatte, küsste er Tora auf die Stirn und dankte ihr knapp fürs Kochen. Nachdem er sich an das Ende des Tisches gesetzt hatte, griff Liam das Gespräch wieder auf, das wir unterbrochen hatten.
»Carina ist Julias beste Freundin. Wir gehen zusammen in denselben Biokurs. Sie ist schon hübsch, aber da lief nichts.«
»Und ihr beiden, seid ihr …?«, begann Tora zaghaft, doch Vincent unterbrach sie.
»Wo denkst du hin? Du musst entschuldigen«, sagte er. »Unser Sohn bringt für gewöhnlich nie Frauen mit nach Hause. Und wenn wir ihn mit einer sehen, dann ist sie blond und vollbusig.«
»Vincent!«, rief Tora. Er lächelte Liam herausfordernd an, während er sein Steak zerschnitt.
»Da sucht er sich ausgerechnet dich aus«, sagte Vincent. »Das Mädchen, auf das Arthur McMillan steht. Obwohl du gar nicht sein Typ bist.«
»Was ist schon ein Typ?«, fragte Tora. »Du bist auch nicht gerade mein Typ gewesen, Liebling. Und trotzdem habe ich mich in dich verliebt.«
Vincent sah seine Frau erstaunt an. Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Sekunden später hatte sein Vater seine Fassung zurückerlangt.
»Ja, mag sein. Aber ich finde das schon komisch. Kann das wahre Liebe sein? «
»Das hier ist kein Kreuzverhör, Dad!«, sagte Liam. Er spannte die Hände so sehr an, dass er das Messer bereits in der Faust hielt.
»Mich interessiert einfach, warum du Julia so sehr verteidigst und eine Schlägerei mit deinem eigenen Cousin anfängst. Wenn du doch betonst, dass sie nicht deine Freundin ist. Entweder du verheimlichst etwas oder du lügst mich an.«
Liam und ich sahen uns kurz an, während ich mir über den Arm rieb. Noch immer waren dicke blaue Flecken zu sehen, an denen Spike mich gepackt hatte. Ein besonders großer zeichnete meinen Rücken.
»Wenn Liam sich so uneinig ist mit seinen Gefühlen, dann sollten wir mal für Klarheit sorgen. Julia, auf wen stehst du eigentlich? Auf die bösen oder die guten Kerle?«
»Gehört Liam zu den Guten?«, fragte ich.
Vincent hielt kurz inne. »Das frage ich dich.«
Liam runzelte die Stirn.
»Nun ja, Arthur ist bei näherer Betrachtung ein genauso großer Idiot wie Liam. Den Unterschied macht einzig und allein der Charakter. Und den hat im Gegensatz zu Arthur nur Liam.«
Irritiert sah Liam zu seinem Vater, der nachsinnend nickte. Dann deutete er unvermittelt mit der Gabel auf mich und lächelte seinen Sohn an.
»Hättest du früher schon solche Freundinnen mit nach Hause gebracht, hätten wir nie an deinem Geschmack gezweifelt.« Vincent steckte sich ein weiteres Stück Steak in den Mund. »Ich mag sie. Ist nicht so ein blondes Dummchen wie die letzte.«
Tora und Liam schauten entsetzt aus und ich gluckste. Vielleicht lag es an der Erleichterung, in Vincents Augen die richtige Antwort gegeben zu haben.
Den Rest des Nachmittags verstanden Vincent und ich uns prächtig. Er hatte tatsächlich nur wissen wollen, mit welchem Mädel sein Sohn in letzter Zeit so abhing. Seine Art das herauszufinden war zwar etwas eigen, aber ich hatte offenbar überzeugt.
Kurz vor Sonnenuntergang ließen Liam und ich uns von seiner Mutter in Vatis Stammkneipe fahren. Dort waren wir zum Pokern verabredet. Vati hatte mich auf dem Handy angerufen und gesagt, ich solle Liam mitbringen. Ich wusste, dass er nur darauf aus war, einen Blick auf den dubiosen Freund seiner Tochter zu werfen.
Als wir eintraten, entdeckte ich Vati neben seinem Freund Gary, dem die Kneipe gehörte. Sie waren in ihre Karten vertieft, bis sich mein Vater vom Stuhl erhob und sein Blatt auf den Tisch knallte.
»Straße.«
»Full House, mein Lieber. Full House«, sagte Gary ruhig und breitete seine Karten auf dem Tisch aus.
»Scheiße, verdammte.«
»Vati!«, sagte ich vorwurfsvoll.
Als er Liam und mich wahrnahm, hielt er sich die Hand vor den Mund.
»Entschuldige, Prinzessin!«
»Jule, du auch mal wieder hier?«, fragte Gary.
»Ich hab zurzeit viel zu tun. Klausuren, Lernen, Abschluss.«
»Und danach braucht man Geld, was dein Vater gerade verspielt.«
»Na«, unterbrach Vati, »ziehst du den Kindern wohl nicht das Geld aus der Tasche?!«
»Willst du damit sagen, wir verlieren?«, fragte ich.
»Nein, er verliert«, sagte Vati mit Blick auf Gary. Dann sah er Liam an, der hinter mir stand. Er wischte seine Hand an der Hose ab und reichte sie ihm. Anschließend umarmte er mich.
»Was spielen Sie«, fragte Liam.
»Poker?«, sagte Gary und hob die Augenbraue.
»Klar«, sagte Liam. »Texas Hold’em?«
Gary nickte.
»Rückt mal zwei Stühle ran!«, sagte Vati. Wir setzten uns und Gary mischte die Karten.
»Also, zwei Karten für Julia und zwei für …«
»Liam. Liam Pilgrim.«
Die Erwähnung seines Namens ließ ein verhaltenes Schweigen in die Runde treten. Mir fiel ein, dass die Bars der Pilgrims dieser Kneipe wohl Konkurrenz machten.
»Also«, sagte Vati, der die angespannte Stimmung völlig zu ignorieren schien. »Jeder Junge, den meine Tochter mitbringt, muss erst einmal im Pokerspiel bestehen.«
»Sie hat doch noch nie jemanden mitgebracht«, sagte Gary.
»Darum führe ich das jetzt ein«, sagte Vati grinsend.
»Wir haben Minderjährige am Tisch. Also wird kein Geld gesetzt.«
»Nur lausige Chips«, sagte Gary.
Vati und Liam schoben sich die Chips im Laufe des Spiels hin und her. Ich hielt mich zurück, immer die sicherste Wahl mit einem Neuen in der Runde.
Ich hatte gelernt, dass Poker mehr mit Geduld zu tun hatte als mit Glück. Man konnte auch mit einem niedrigen Blatt gewinnen, wenn man gut bluffen konnte. Liam hatte ein Pokerface aufgesetzt. Nur wenn er zu mir sah, lächelte er kurz.
»Hey, Konzentration aufs Spiel«, ermahnte ihn Vati, als Liam mich wieder anlächelte.
»Ich bin voll dabei«, sagte er und erhöhte seinen Einsatz mit einem siegessicheren Grinsen.
Auf dem Tisch lagen zwei Könige und eine Vier. Ich stieg aus. Meine zwei Karten waren zu schlecht und der Pot relativ hoch.
»Wir zwei also wieder. Da hab ich Bock drauf«, sagte Vati.
Gary deckte die vierte Karte auf. Die Herz Sieben machte das Blatt nicht besser. Die einzige Möglichkeit war, dass einer der beiden ein Full House hinlegte. Mindestens einer von beiden bluffte. Und jeder wusste es.
Liam erhöhte seinen Einsatz. Die beiden taxierten sich lauernd. Sekundenlang verzogen sie keine Miene. Dann schob Vati seine Karten verdeckt zu Gary und ging raus. Liam grinste und ließ sich die Chips ausgeben.
»Und? Was hattest du?«
»Ich hatte nichts«, sagte Liam. »Ich hatte nur das Paar, das du wahrscheinlich auch hattest.«
»Verdammt. Der Bluff war gut.«
»Danke.«
Gary sah Liam abfällig an, stand ohne Kommentar auf und ging an die Bar. Ich bemerkte, wie er uns missbilligend musterte, während Vati und Liam übers Bluffen fachsimpelten. Erst nachdem Liam zwei Stunden später von seiner Mutter abgeholt wurde, kamen die Männer auf seinen Vater zu sprechen.
»Das war der Sohn von Vincent Pilgrim, oder?«, fragte einer der Männer und sortierte seine Karten auf der Hand.
Gary nickte. »Ich bin froh, dass er nicht gewonnen hat.«
»Nach der Razzia am Samstag kein Wunder.«
»Stimmt. Die kam echt zum beschissensten Zeitpunkt.«
Über Garys Gesicht huschte ein hämisches Grinsen. Am Wochenende hatte es eine Handvoll Razzien in mehreren Clubs der Stadt gegeben. Bei den Pilgrims waren dabei laut Presse Drogen gefunden worden. Liams Vater war verhaftet worden, jedoch noch am Wahlsonntag wieder freigelassen worden.
»Hab gehört, er soll sogar in Verdacht stehen, den Bürgermeister getötet zu haben.«
»So ein Quatsch«, schaltete sich Vati ein.
»Und wenn«, sagte der dritte und letzte Mann am Tisch, »dann hat es ihm nicht viel gebracht. Er hat die Wahl haushoch verloren.«
»Vielleicht ja wegen seines Wahlprogramms und nicht wegen der einen Razzia? Nur so ein Gedanke.«
Die Männer sahen mich ernst an. Gary lachte gehässig auf, woraufhin der Mann einstimmte.
»Wer Pilgrim nicht gewählt hat, hat McMillan gewählt. Ich bin dafür, dass mehr Touristen hierherkommen. Sie beleben das Geschäft. Sicher. Aber den Rest dieser Öko-Scheiße versteh ich nicht. Ich hätte McMillan niemals gewählt, wenn ich Pilgrim nicht vollkommen ausgeschlossen hätte.«
Gary hatte seine Wahl also tatsächlich wegen der Sympathie entschieden. Mich interessierte jedoch eher das Wahlprogramm. Und da hatte Theodor McMillan eindeutig die ausschlaggebenderen Argumente auf seiner Seite gehabt.
Carina und ich waren am 31. Oktober von ihrem Vater zur Halloweenfeier der Pilgrims gefahren worden. Wir hatten uns nicht als Bräute verkleidet. Carina ging als Fee und ich als Weiße Frau. Maja hatte mir ein weißes Kleid gekauft, das Cari zugeschnürt hatte. Darüber trug ich einen Mantel aus durchsichtigem Stoff und einen Schleier.
Carinas Vater hatte sich das Gesicht weiß gepudert und trug eine schwarze Lockenmähne. Er hatte uns auf dem Weg hierher erklärt, dass er den Protagonisten eines uralten Films darstellte, den nicht einmal ich kannte. An der Garderobe verabschiedete er sich von uns und betrat die Diskothek. Er war mit einem alten Schulfreund verabredet, der auf dieselbe Party ging.
Gerade als wir unsere Jacken abgaben, sah ich Liam in einen schwarzen Umhang gekleidet auf uns zukommen. Er vergrub seine Fangzähne in Carinas Hals und sie quiekte auf. Liam grinste und wandte sich dann mir zu.
»Wow. Ich hab dich noch nie im Kleid gesehen.«
»Ich zuletzt zur Einschulung«, sagte Carina.
»Warum trägst du nicht öfter Kleider?«, fragte Liam. »Steht dir total.«
»Weil die mega unpraktisch sind. Hab extra eine Hose druntergezogen, damit ich keine Handtasche mitnehmen muss.«
Ich rollte mit den Augen. Natürlich hatte ich noch immer Spikes Tasche unter meinem Bett, aber wie sollte ich Carina erklären, woher ich sie hatte? Zumal ich mich mit einer Hose wesentlich wohler in meiner Haut fühlte als ohne. Auch die Panty, die Maja mir anbieten wollte, hatte ich dankend abgelehnt.
Nachdem Liam mich umarmt hatte und Carinas Flügel betrachtete, fragte er enttäuscht:
»Und wo sind meine Bräute?«
»Tut mir leid, dass wir Sie enttäuschen müssen, Herr Graf«, sagte Carina, »aber ich bevorzuge es, in Pink zu erscheinen.«
»Ebenso wie ich«, fügte Maja hinzu, die mit Damian soeben an der Garderobe angekommen war.
Sie hatte sich als Playboy Bunny verkleidet – freizügig, plüschig und sexy – wie ich es von ihr gewohnt war. Damian setzte seine zottelige Werwolfmaske auf. Dann legte er die Pranke um ihre Taille und geleitete sie hinein.
Das Blue Nine schien im Gegensatz zur vorigen Woche vollkommen verändert. Die Beleuchtung war gedimmt. Am Ende der Tanzfläche befand sich eine Bühne, auf die ein Mann gerade die letzten Instrumente stellte. Direkt neben dem Eingang befand sich ein riesiges Buffet, das gerade von Liams Eltern in Gestalt von Frankensteins Monster und seiner Braut eröffnet wurde. Es gab riesige Schüsseln mit Süßigkeiten, diverse Suppen und Aufläufe, sowie Fingerfood. Für jeden Geschmack war etwas dabei.
»Meine Mom ist Innenausstatterin«, erläuterte Liam.
Riesige Spinnweben hingen von der Decke herab und kunstvoll geschnitzte Kürbisse zierten die schwarzen Tische. In den Netzen hingen große Spinnen, deren lange Beine bei jedem Lufthauch zitterten. Auf einer abgesperrten Empore streckten sich eine Handvoll Zombies gierig nach uns aus. Über ihnen prangte ein Schild mit der Aufschrift »Gruselkabinett«.
Die Kostüme der Gäste waren nicht weniger aufwendig. Ich entdeckte unzählige Mumien und Leichen mit echt wirkenden Wunden. Natürlich nutzten viele Besucher Halloween als Gelegenheit, um sich in möglichst knappen Klamotten zu präsentieren.
Carina stupste mir mit dem Ellenbogen in die Seite und deutete mit einem Kopfnicken auf eine Teufelin, die auf High Heels die Treppe hinunterstolzierte. Hätte Felicitas keine Hörner auf dem Kopf und keinen Dreizack in der Hand gehabt, hätte sie in dem Outfit genauso gut am Strand liegen können.
»Die hat mir gerade noch gefehlt. Hat die überhaupt eine Einladung?«, fragte Carina.
Liam folgte unseren Blicken. »Jeder kann hier rein, wenn er genug Geld in die Hand nimmt. Konnte sie nicht ausladen. Sorry.«
Mittlerweile standen vier Musiker auf der Bühne. Neben Gitarre und Flöte spielten sie auch Dudelsack und Mandoline. Sie nannten es Irish Folk. Für meine Ohren war diese Musik zwar ungewohnt, doch ich merkte, wie mein Fuß unterbewusst begonnen hatte, sich auf und ab zu bewegen. Immer mehr Gäste eroberten die Tanzfläche und bewegten sich im Licht der bunten Scheinwerfer.
Als die Band ein neues Lied anstimmte, warf Liam seinen Umhang von sich. Er umfasste Carinas Taille und begann sie ebenso wie die anderen Männer im Kreis zu drehen. Nachdem Liam etwas in die Menge rief, näherten sich Männer, die einen Kreis bildeten. Carina sah sich verwirrt um. Da griff Liam ihren Arm und drehte sich mit ihr im Kreis. Als er sie losließ, wurde sie von einer Mumie bis zum Kopflosen Reiter gereicht. Am Ende des Liedes landete sie in Liams Armen. Carina strahlte übers ganze Gesicht, als die beiden zu mir zurückkamen.
»Und du?«, fragte Liam. »Willst du nicht tanzen?«
»Nein, lass mal!«, sagte ich. »Da wird einem ja schon schlecht vom Zusehen.«
Wir gingen zum Buffet, an dem Liam uns tiefrote Bowle in drei Totenkopfbecher goss.
»Überhaupt: Eigenartige Musik für Halloween«, sagte ich.
»Hey, wir sind waschechte Iren. Sollen die McMillans mit ihrer schottischen Frömmigkeit nur daheimbleiben. Bei uns geht die Post ab.«
»Apropos Post ab«, sagte Carina mit einem scheuen Grinsen. »Ich bin gleich wieder da.«
»Du weißt, dass Cari übelst auf dich steht?«, sagte ich zu Liam, als wir ihr hinterhersahen.
»Wer tut das nicht?«, fragte er zwinkernd.
»Ich mein es ernst.«
»Keine Angst! Ich bin gut erzogen. Außerdem mag Cari es, wenn ich sie umwerbe. Also tue ich ihr den Gefallen.«
»Aber du machst ihr falsche Hoffnungen.«
»Tue ich das?«, fragte Liam erstaunt. »Dann tut es mir leid.«
»Du willst nicht mehr von ihr?«
»Du klingst ja fast wie ihre Mutter. Machst du dir Sorgen?«
»Ja«, sagte ich. »Sie kann nicht viel mehr Enttäuschungen und Fehlschläge ertragen. Also tu ihr nicht weh, verstanden?«
»Hört sich schlimm an. Hat sie grad eine heftige Trennung hinter sich?«
»Trennung ist kein Ausdruck.«
Ich erzählte ihm knapp von Carinas Mutter. Liams Lächeln war verschwunden. Er runzelte die Stirn und sah auf den Boden.
»Meinst du, ich soll ihr besser keine Komplimente mehr machen?«
»Doch, das hebt ihre Stimmung«, sagte ich. »Aber gib ihr nicht das Gefühl, du würdest sie mehr mögen als andere Mädchen!«
»Na, das ist leicht. Dann mach ich dir einfach mehr Komplimente.«
Liam griff meine Hand und zog mich auf die Tanzfläche. Als er seine Hand an meine Taille legte, löste ich mich aus seinem Griff und begann im Takt auf und ab zu springen. Zuerst schien Liam verwirrt, doch schließlich machte er mit.
Nach dem Lied war ich völlig außer Puste. Schwer atmend goss ich mir einen Becher voll mit Wasser und trank ihn in einem Zug aus.
»Wie schaffst du das nur hintereinander weg?«, fragte ich Liam, der entspannt neben mir stand.
»Bin im Training. Polka tanzen können wir, bevor wir laufen lernen.«, antwortete Liam. »Wo ist eigentlich Carina? Immer noch auf dem Klo?«
»Da ist sicher eine lange Schlange.«
Mein Blick wanderte durch den Raum und blieb an Felicitas hängen, die mit Neele abseits der Tanzfläche stand. Ihre Freundin trug einen blutüberströmten Schwesternkittel. Felicitas zog ein silbernes Döschen aus ihrer Handtasche und sah Neele vielsagend an. Liams Blick folgte meinem.
»Das kann doch nicht …«, sagte er und schob sich durch die Menge. Ich folgte ihm.
»Spinnst du jetzt völlig?«, blaffte er Felicitas an. »Hier Drogen zu nehmen …«
»Hey, das ist doch vollkommen normal auf einer Party.«
»Einer Party meiner Familie«, sagte Liam. »Du solltest besser verschwinden.«
Er packte Felicitas am Arm und zog sie in Richtung Ausgang. Sie versuchte sich loszureißen, wobei das Döschen aus ihrer Hand fiel und klirrend auf dem Parkett landete. Weißes Pulver verteilte sich über dem Boden.
»Ey, geht man so mit einer Frau um?«
»So geht man mit einer kokainsüchtigen Schlampe um.«
Felicitas riss Mund und Augen auf.
»Wie hast du mich genannt?«
»Kokainsüchtig«, schrie Liam.
»Ich bin keine Schlampe.«
»Da hab ich andere Dinge gehört. Oder was war das mit dem Typen auf dem Männerklo. Dachtest du ernsthaft, ich krieg das nicht raus?«
»Okay, ich hab mit dem einen Kerl rumgemacht. Aber dafür bist du eine männliche Hure. Du bändelst einfach mit jeder an. Sogar mit Julia.«
Felicitas deutete mit einem Naserümpfen auf mich.
»Sie nimmt keine Drogen. Und sie wäre mit Sicherheit treu.« Liam schielte zu mir hinüber und fuhr bedacht fort. »Wenn wir zusammen wären.«
»Ach, komm! Du hast damals auch was genommen.«
»Ja. Und ich bereue es, okay? Ich hätte nie ein schlechtes Bild auf meinen Dad fallen lassen dürfen. Wegen dieser beschissenen Drogen hat er die Wahl verloren.«
»Mein Freund hatte recht«, sagte Felicitas. »Du und dein Vater, ihr seid echt nur auf euren Vorteil aus.«
»Und die Meinung deines Freundes interessiert mich inwieweit?«
»Er ist ein McMillan. Und sein Bruder hat deinem Vater den Arsch aufgerissen.«
»Wie heißt er?«, fragte Liam.
»Ach? Plötzlich interessiert dich seine Meinung doch?«, fragte Felicitas.
Liam drängte sie gegen die Wand und drückte seinen Unterarm gegen ihren Hals. Sie keuchte und rang nach Luft.
»Wie heißt er?«, knurrte Liam.
Neele ging einen Schritt auf ihn zu. »Hey. Lass sie los!«
»Ich frage nicht nochmal.«
»Arthur«, krächzte Felicitas.
Ich hatte mich gerade dazu durchgerungen, Liam an der Schulter von ihr zu reißen, doch hielt augenblicklich inne. Liams Gesicht verfinsterte sich.
»Liam? Was ist hier los?«
Damian kam auf Liam zu und sah ihn stirnrunzelnd an. Den Wolfskopf seines Kostüms hatte er bereits abgelegt. In diesem Moment schaute Liam verschreckt auf seinen Arm, mit dem er Felicitas noch immer fixierte. Ihre Hände waren krampfartig darum verschränkt. Er ließ von ihr ab. Sie beugte sich vor und atmete tief ein und aus.
»Felicitas wollte gerade gehen«, sagte Liam zu seinem Onkel und wandte sich dann wieder Felicitas zu. »Ich bin für gewöhnlich ein Gentleman. Aber wenn du nicht sofort verschwindest, kannst du davon ausgehen, dass ich all deine schmutzigen Geheimnisse ans Tageslicht befördere. Du weißt, wovon ich rede.«
Felicitas nahm ihre Jacke auf und ergriff mit Neele die Flucht.
»Wo ist Dad?«, fragte Liam seinen Onkel.
»In Separee Nummer Zwei. Wieso?«
Ohne zu antworten, verschwand Liam in der Menge. Ich vermutete, dass er seinem Vater von Arthur und Felicitas erzählen wollte. Vincent Pilgrim hatte die Wahl zum Bürgermeister zwar nicht gewonnen, doch wie er gesagt hatte, war negative Presse nicht gut für seine Publicity.
»Wer war das?«, fragte Damian.
»Eine Klassenkameradin«, antwortete ich.
»Hatte er was mit ihr?«, fragte Damian und ich nickte. »Dieser Torfkopf.«
Er blieb eine Weile stehen, dann ging er seinem Neffen nach. Ich folgte ihm, bis er im Separee mit der Nummer Zwei verschwand.
Vorsichtig betrat ich den Raum. An einem schwarzen Tisch erkannte ich fünf Männer. Damian und Liam standen vor ihnen. Irritiert trat ich näher und erkannte Carinas Vater inmitten der Gruppe. Ich hatte nicht geahnt, dass er so angesehene Freunde hatte wie den Bürgermeister. Neben ihm saßen der frisch gewählte Bürgermeister Theodor McMillan, sein stetiger Begleiter Simon sowie Arthurs Patenonkel Riley. Insgesamt wirkte die Szene grotesk, da alle ein Kostüm trugen. Aber die Masken und Accessoires hatten sie abgelegt.
Sie schwiegen, während Liam mit seinem Vater und seinem Onkel diskutierte.
»Wir brauchen dringend eine Gästeliste für solche Feiern.«
»Wir haben schon eine schwarze Liste«, sagte Damian. »Auf der steht unter anderem Arthur. Reicht das nicht?«
»Dann setz gefälligst Felicitas Hegemann auch drauf!«
»Deine Freundinnen machen nur Ärger«, sagte sein Vater mit genervtem Blick.
Nach und nach richteten sich immer mehr Augenpaare auf mich. Liam wandte sich um. Ich sah Vincent Pilgrim an und sagte:
»Es tut mir leid.«
»Wir redeten gerade von Felicitas, nicht über dich«, sagte Liam.
»Ja. Aber meinetwegen bist du erst in diese Schwierigkeiten geraten.«
»Was kannst du dafür, dass diese Schlampe Drogen nimmt?«
»Nein. Ich meinte die Auseinandersetzung mit Arthur«, sagte ich. »Nicht nur, dass er die Wahl deines Vaters nicht unterstützt hat. Nun hat Arthur auch noch etwas gegen eure Familie. Und er macht nicht einmal davor Halt, unsere Klassenkameraden gegen dich aufzustacheln. Nur um euch etwas in die Schuhe zu schieben.«
»Unsere Familien sind schon länger nicht gut aufeinander zu sprechen. Und ich konnte den Idioten auch vor dieser Sache schon nicht leiden«, sagte Liam und sah verstohlen zu seinem Vater und Theodor hinüber.
»Du hast meinen Bruder als Unterstützung angeheuert?«, fragte Theodor.
Vincent lächelte entschuldigend.
»Das ist vergebene Liebesmüh. Der ist zu nichts zu gebrauchen.«
»Hab ich auch gemerkt«, sagte Vincent und gluckste.
Theodor fragte an Liam gewandt: »Hab ich das richtig verstanden? Du hast meinem Bruder letzte Woche das Veilchen verpasst?«
Liam nickte zögerlich.
»Und du«, Theodor wies mit dem Zeigefinger auf mich, »Du bist die Kellnerin aus Mikas Bar, richtig?«
Liam schaute erstaunt.
»Ja. Manchmal helfe ich da aus «, sagte ich.
»Tut mir leid«, sagte Vincent. »Darf ich vorstellen? Die Freundin meines Sohns: Julia.«
»Eine Freundin«, sagte Liam, doch sein Vater winkte ab. Theodor legte die Stirn in Falten und schaute zu Riley hinüber.
»Die Julia?« Riley nickte und Theodor sah mich an. »Du hast Justin damals eine reingehauen …« Er zeigte zwischen Liam und mir hin und her. »Ich denke, ihr beide seid ein fantastisches Duo.«
Ich war mir nicht sicher, ob er es positiv meinte, aber die übrigen Männer grinsten. Im Gegensatz zu ihnen, sah Carinas Vater mich direkt an. Sein Gesichtsausdruck hatte während des Gesprächs Erstaunen, Entsetzen und Sorge gezeigt. Jetzt musterte er mich stirnrunzelnd.
»Es tut mir leid, dass ich deinen Bruder geschlagen habe«, sagte ich zu Theodor, »und es tut mir leid, dass er tot ist.«
»Ach, was!«, sagte Riley und schüttelte den Kopf. »Arthur und Justin wurden in ihrem Leben weitaus zu wenig geschlagen.«
Simon McMillan legte seinem Patensohn Theodor die Hand auf die Schulter und lächelte ihn milde an.
»Ganz im Ernst: Ich war mehrmals kurz davor, Justin eine überzuziehen. Der Kerl hatte es echt zu weit getrieben.«
»Aber dafür hat keiner den Tod verdient«, wandte Vincent ein.
»Hab ich auch nicht gesagt.«
Simon zog seine Hand zurück.
»Er war ein Idiot, das ist wahr. Aber er hatte den Tod nicht verdient.«
»Niemand hat das«, sagte Riley und erhob das Glas. »Auf Justin.«
Die Männer taten es ihm gleich und stießen gemeinsam an. Als die Gläser wieder sanken, sagte Vincent zu Liam.
»Geh mit deiner Freundin zurück auf die Party! Schau, ob das Mädchen weg ist! Wir sprechen morgen über die Sache, in Ordnung?«
Emil hockte sich vor das Grab und legte eine weiße Lilie auf die dunkle Erde. Jemand hatte »Mörder« auf den Grabstein geschmiert.
Der Friedhofswächter hatte erzählt, dass er den Stein heute früh wieder aufgerichtet hatte. Die Blumen waren ausgerissen und neben die Umrandung geworfen worden. Es war der Beweis, dass das kollektive Gedächtnis nicht so schnell vergaß.
Ben war seit sechzehn Jahren tot. Sein Grab war anonym gewesen. Aber Geheimnisse waren da, um gelüftet zu werden. Natürlich hatte irgendwann jemand seine Mutter das Grab pflegen sehen. Es hatte sich verbreitet wie ein Lauffeuer.
Emil hatte mich wie jedes Jahr dazu eingeladen, zusammen auf den Friedhof zu gehen. Es beruhigte mich, dass nicht jeder in diesem Ort Ben hasste.
Seit Jahren hielten Emil und ich Kontakt. Wir trafen uns nur selten, schrieben aber öfter. Wenn wir uns trafen, war es wie damals auf dem Schulhof. Wir rauchten eine Zigarette und sprachen über die guten alten Zeiten, die gar nicht so gut waren, wie der Volksmund es uns weismachen wollte.
»Warum machen die sowas?«, fragte Emil mit brüchiger Stimme.
Ich wusste, dass Emil keine Antwort erwartete. Heute war nicht nur Bens Todestag, sondern auch der seiner Opfer. Es war nicht das erste Mal, dass jemand seine Trauer an Bens Grab ausließ. Sein Vater berichtete mir bei unseren Treffen von den regelmäßigen Schmierereien. Ich wusste, dass sie einen Weg suchten, um sich zu rächen. Auch ich hatte versucht mich zu rächen, jedoch richtete ich meine Wut nicht auf einen leblosen Stein und einen toten Jungen. Das erste Mal wurde sein Grab bei seinem ersten Todestag geschändet. Der erste Winter war vorübergegangen. Die Tage wurden wieder länger, doch der Winter in meinem Herzen blieb.
Das Grab war über und über mit Kot beschmiert. In meiner Verzweiflung und Wut hatte ich Bens Vater angerufen. Er war zum Friedhof gekommen und hatte mir dabei geholfen, dass Grab wieder herzurichten.
Bens Mutter hatte die ständigen Anfeindungen auf der Straße und Verleumdungen in bundesweiten Zeitungen letztlich nicht verkraftet. Richard Hanssen war mit ihr umgezogen, um ihr die besten Psychiater des Landes vorzustellen. Um das Grab kümmerte sich seither ein Gärtner.
Nachdem Emil und ich die Blumen wieder in die Erde gesetzt und uns von Ben verabschiedet hatten, fuhren wir zu meiner Stammkneipe.
»Hast du vom Siebenschläfer gehört?«
Emils Frage irritierte mich.
»Du meinst, dass Sascha Baumann aus der Haft entlassen wurde?«
Emil nickte.
»Ja. Wieso?« Er wischte mit dem Daumen Kondenswasser von seinem Bierglas. »Meinst du, er hat auch Yvonne getötet?«
Meine Anspannung ließ nur langsam nach. Bens Todestag hatte Emil sicherlich daran erinnert, wen wir damals noch alles verloren hatten.
Richard Hanssen hatte seinen Plan in die Tat umgesetzt und Baumann den Mord am Polizisten und seiner Frau angehängt.
Die Presse hatte getan, was sie am besten konnte: Gerüchte verbreiten und die Stimmung im Volk anheizen. Baumann war zwar nur für den Doppelmord an Familie Neumann verurteilt worden, doch viele vermuteten, dass er der Siebenschläfer war und auch Yvonne und meinen Großvater getötet hatte.
»Das kann schon sein«, antwortete ich.
»Ich frag mich nur: Warum? Er kannte sie nicht einmal. Und dann Bens Foto am Tatort … Der Typ hat die anderen Morde nie gestanden.«
Darauf wollte er also hinaus. Mir fiel ein tonnenschwerer Stein vom Herzen.
»Serienmörder kann man oft nicht verstehen.«
Ich wollte nicht über den Siebenschläfer reden. Nach wie vor identifizierte ich mich nicht mit diesem Titel. Ich war kein Serienmörder.
Seit fünfzehn Jahren fragte ich mich, ob Baumann ahnte, wer ihn ins Gefängnis gebracht hatte. Richard hatte mir geraten, ihn nach seiner Entlassung aus dem Weg zu räumen. Jedoch hatte ich mir geschworen, nie wieder jemanden umzubringen. Der Siebenschläfer – diese Bestie, von der alle sprachen – sollte schlafen, ein für alle Mal.
Gegen Mitternacht verließen wir die Bar. Ich brachte Emil nach Hause, da er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Seine Frau stand bereits im Flur ihrer Wohnung, als ich ihm die Treppe hoch half.
Fassungslos sah sie erst ihn dann mich an. Bevor sie etwas sagen konnte, schob Emils Tochter ihren Kopf an ihrer Mutter vorbei.
»Was ist denn hier los?«, fragte sie gähnend.
»Geh wieder ins Bett, Cari! «
Carina zog eine Schnute und verschwand.
Emil seufzte einmal tief, dann entschuldigte er sich bei seiner Frau und mir, um mit gesenktem Kopf genauso wie seine Tochter in Richtung Bett zu trotten. Seine Frau und ich blieben allein zurück.
Verlegen standen wir einen Moment da, dann verabschiedete ich mich höflich. Gerade wollte ich durch die Haustür verschwinden, da hielt mich Emils Frau zurück. Im Nachbarzimmer begann zeitgleich das Baby zu brüllen. Unweigerlich zuckte ich zusammen und entwand meinen Arm aus ihrem Griff. Kindergeschrei machte mich immer nervös seit dem Vorfall bei Familie Neumann.
»Möchtest du, dass ich ein Taxi rufe?«, fragte mich Emils Frau. »Nein. Ich gehe zu Fuß. Was soll schon passieren?«
»Dieser Serienmörder … Er ist auf freiem Fuß. Pass auf dich auf, okay?« Sie senkte die Stimme. »Und danke, dass du meinen Mann heimgebracht hast.«
»Ist doch selbstverständlich.«
Auf dem Weg nach Hause überkam mich ein Frösteln. Es kam nicht von der Kälte, denn die Aprilnacht war verhältnismäßig angenehm. Es war vielmehr ein Kribbeln direkt unter meiner Haut, das ich in letzter Zeit immer öfter verspürte, wenn ich allein unterwegs war.
Ich näherte mich der Eisenbahnüberführung, die die Ost- mit der Westseite des Bahnhofs verband. Es waren nur noch zehn Minuten bis zu meiner Wohnung.
Im Schein der Straßenlaternen erkannte ich einen schwarzgekleideten Mann, der mir entgegenkam. Er hatte seine Hände ebenso wie ich in den Taschen vergraben, bis er seine Kapuze zurückschob. Mich überkam ein kalter Schauer, als ich sein finsteres Lächeln wahrnahm. Ich blieb stehen und sah zu, wie er eine Pistole aus seiner Jackentasche zog.
»Du lässt dir wirklich Zeit«, sagte Baumann. »Mir sind fast die Hände eingefroren.«
Ich hob die Hände. »War noch einen Freund besuchen.«
Er lachte und zeigte mit der Pistole auf den Boden. Ich kniete mich hin.
»Du weißt, warum ich hier bin?«
Ich nickte. Er ging langsam auf mich zu. Mein Puls beschleunigte sich. Ich dachte an meine Mutter und an Patrick. Ich dachte an Emil und seine Familie. Ich dachte an den Polizisten und seine Frau. Und an ihr Kind.
»Glaubst du ernsthaft, ich weiß nicht, wem ich welche Waffe verticke?«, fragte Baumann. »Denkst du wirklich, ohne Seriennummer wüsste ich nicht, dass du sie mir untergejubelt hast?«
Ich hörte einen herannahenden Zug, wagte aber nicht hinüberzusehen.
»Ich gebe zu, ich habe die Puzzleteile lange nicht zusammenbringen können, aber fünfzehn Jahre Knast geben einem wahnsinnig viel Zeit zum Nachdenken … und Recherchieren … Als ich genauer über die Opfer des Siebenschläfers nachdachte, musste ich erfahren, dass Neumann doch tatsächlich den Amokläufer hingerichtet hatte. Da muss wohl noch jemand mächtig sauer gewesen sein auf diesen Flachwichser. Erst dachte ich an seinen Vater, aber dann fiel mir wieder das Foto der Frau ein. Anna McMillan hieß sie. Und dann fiel mir auf: Eine Waffe von genau demselben Kaliber hatte ich einem McMillan gegeben. Sie war deine Tante. Ich zählte eins und eins zusammen … und jetzt sind wir hier.«
Er stand nun vor mir und drückte den Lauf der Waffe an meine Schläfe.
»Warum hast du keine Berufung eingelegt?«, fragte ich heiser.
»Damit du und dein beschissener Anwalt mir meine Worte im Mund umdrehen können?«
Erst würde er mich töten, dann Richard. Vielleicht wäre dann der Richter, der ihn verurteilt hatte, an der Reihe? Es musste hier und heute enden. Dieser Kreislauf der Rache musste ein Ende haben.
»Ich habe lange darüber nachgedacht, wer zuerst an der Reihe ist. Eigentlich wollte ich zuerst eure Familien umbringen, aber ihr habt ja gar keine. Du hast keine Frau, die des Anwalts ist in der Klapse. Und ich habe keine Ahnung, ob dich der Tod deiner Mutter treffen würde.«
Ich ächzte, als er mich an meinen Haaren hochriss.
»Für dich hab ich mir etwas Besonderes ausgedacht.«
Er knallte meinen Kopf gegen das Brückengeländer. Ich umklammerte den kalten Stahl. Mein Magen verkrampfte sich, als ich viele Meter unter mir die Gleise sah.
»Du wirst merken, wie es ist, den Boden unter den Füßen zu verlieren«, sagte Baumann. Als er mir einen Schlag verpassen wollte, wich ich ihm aus. Seine Faust schoss durch die Luft und ich stieß ihn von mir.
Wie in Zeitlupe sah ich dabei zu, wie er kopfüber über das Geländer fiel. Er drehte sich im Flug zu mir um und hielt sich an seiner Pistole fest. Mit einem knackenden Geräusch landete er auf den Gleisen. Sein Kopf war blutüberströmt. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er mich an. Ich hob meinen Blick und sah den herannahenden Zug.
»Was meinst du, wo Carina ist?«, fragte Liam, als wir das Separee verlassen hatten.
Ich zuckte mit den Achseln und dachte an Carinas Vater. Ich hoffte, dass er ihr nichts von dem Gespräch erzählen würde.
Die Tür hinter uns öffnete sich und er kam heraus.
»Julia, kann ich dich kurz sprechen?«, fragte er mich. »Ich such Cari«, sagte Liam und verschwand.
»Was hast du mit diesen Leuten zu schaffen?«
»Könnte ich Sie genauso gut fragen«, sagte ich.
»Ich bin mit Simon und Riley zur Schule gegangen, nichts weiter. Über die Jahre haben wir Kontakt gehalten. Aber warum hast du Justin McMillan geschlagen?«
»Das ist eine blöde Sache«, sagte ich. »Ich kellnere in einer Bar. Da hatte Justin Stress gemacht. Ich bin dazwischen und hab ihm eine verpasst. Weiter war da nichts.«
Ich versuchte an seinem Gesichtsausdruck abzulesen, ob er mir die Geschichte abnahm. Doch er sah mich weiterhin irritiert an.
»Und was ist mit Theodors anderem Bruder?«
»Arthur? Der hat Liam neulich aufgelauert nach einem Diskobesuch. Sie haben sich geprügelt.«
»Und warum genau sollte das deine Schuld sein?«
Mir gingen langsam die Ausreden aus. »Wenn ich es Ihnen erzähle, dürfen Sie es Carina unter keinen Umständen erzählen, okay?«
Er sah mich besorgt an, nickte aber. Also erzählte ich ihm von Arthurs Übergriff, verschwieg jedoch das Autorennen. Nach einer langen Pause beugte er sich zu mir hinab.
»Du solltest wirklich jemandem davon erzählen. Wenn nicht Cari, dann vielleicht deinem Vater?«
»Liam weiß davon«, sagte ich.
»Vielleicht kann dir ja eine Frau mehr helfen?«
Maja wusste davon, doch das konnte ich ihm nicht erzählen. Die Tür zum Separee öffnete sich und Simon McMillan kam heraus, der uns abwechselnd musterte.
»Kommst du, Emil?«, fragte er. »Wir wollen pokern.«
»Komme gleich«, sagte Carinas Vater.
Simon entschuldigte sich für einen Toilettengang und verschwand zwischen den Besuchern auf der Tanzfläche. Carinas Vater wandte sich mir ein letztes Mal zu.
»Versprich mir, dass du auf dich aufpasst! Es ist gefährlich heutzutage.«
Ich nickte.
Er hatte ja keine Ahnung, wie gefährlich diese Tage wirklich waren. Nicht nur, dass Arthur mich beinahe vergewaltigt hatte. Nein, auch ein Serienmörder war hinter mir her, wenn es nicht doch nur ein Scherz gewesen war.
»Ich geb auf mich acht. Keine Sorge.«
Carinas Vater verabschiedete sich von mir und betrat wieder das Separee. Ich lief in Richtung Toiletten, in der Hoffnung, Carina dort zu finden. Hinter einer Säule wurde ich jedoch am Arm gepackt. Erschrocken wandte ich mich um und sah in Majas Gesicht.
»Und? Was wird da drin beredet?«
»Keine Ahnung. Vielleicht besprechen sie die weitere Planung des Stadtaufbaus?« Maja sah mich interessiert an. »Hat meine Freundin mir erzählt. Carinas Vater ist Architekt und sitzt mit Arthurs Bruder im Stadtrat.«
»Carina? Die, nach der Liam gerade sucht?«
»Ja. Hast du sie gesehen?«
»Nein. Seit wir unsere Jacken abgegeben haben, nicht mehr.«
Ein Mann mit der Maske von Jason Voorhees kam auf uns zugeschlendert. Wie selbstverständlich blieb er neben uns stehen. Maja legte den Kopf schief und musterte ihn skeptisch.
»Arthur ist hier«, sagte er mit Spikes Stimme.
»Das hat uns gerade noch gefehlt.« Maja atmete schwer aus. »Okay, Julia. Such deine Freundin! Wir sehen zu, dass Arthur wieder verschwindet, bevor die Pilgrims etwas davon mitbekommen.«
Sie legte eine Hand an Spikes Arm und schob ihn vor sich her auf die Tanzfläche. Langsam bahnten sie sich einen Weg hindurch und verschwanden aus meinem Blickfeld.
Ich sah in den Kabinen der Damentoilette nach, doch wurde nicht fündig. Auf der Suche nach Liam durchstreifte ich die Diskothek bis zum Buffet. Dort traf ich wieder auf Jason Voorhees.
»Du verkleidest dich tatsächlich gern, was?«
»Nur wenn es einen Zweck erfüllt«, antwortete Spike. »Zum Beispiel nicht erkannt zu werden.«
»Welchen Zweck hatte es bitteschön, sich als Frau zu verkleiden?«
»Nicht als Frau. Als Maja.«
»Wer hätte dir abgekauft, dass du Maja bist?«, fragte ich herablassend.
Sein Gesicht war direkt auf meins gerichtet. Ich konnte seine Augen hinter der Maske erahnen.
»Die Überwachungskameras. Wenn du weißt, wo sie sind, kannst du den Schein wahren. Hat ja funktioniert. Sie haben Maja abgekauft, dass sie zu der Zeit einfach nur shoppen war.«
»Wer?«
Spike zögerte bei der Antwort. Sein Gesicht wandte sich von mir ab und war auf einen Punkt hinter mir fixiert. Abrupt drehte er sich weg und griff ein Törtchen vom Buffet.
»Hast du sie gefunden?«, erklang Liams Stimme hinter mir.
Ich wandte mich um. »Nein … Du?«
Er schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn.
»Sie kann doch nicht verschwunden sein.«
Während sein Blick über die Köpfe der Gäste streifte, stieß Spike mich mit dem Ellenbogen an. Mit einer Kopfbewegung deutete er in Richtung dreier Gestalten mit weißen Tiermasken. Sie standen am Eingang und unterhielten sich miteinander.
»Arthur ist hier«, sagte ich.
»Wo?« Ich deutete auf die drei Maskierten und Liam runzelte die Stirn. »Bist du dir sicher?«
Mit einem Seitenblick auf Spike bestätigte ich meine Aussage.
»Da ist man den einen Störenfried los, kommt der nächste aus der Ecke gekrochen. Unfassbar. Den hol ich mir.«
Liam machte Anstalten zu gehen, doch ich hielt ihn am Handgelenk fest.
»Du willst da doch jetzt nicht rübergehen.«
»Keine Angst!«, sagte er. »Ich fang keine Schlägerei an.«
»Das mein ich nicht. Die haben Waffen.«
Jeder der drei Männer trug einen grauen Anorak und schwarze Springerstiefel. Der eine hatte eine Armbrust über der Schulter, die anderen eine Axt und eine Machete in der Hand.
»Als wenn die echt wären«, sagte Liam.
»Egal, ob echt oder nicht. Sie können dich damit verletzen.«
Liam hielt inne. »Ich kann aber nicht auf bloßen Verdacht jemanden rausschmeißen lassen. Ich muss wissen, ob sich wirklich Arthur hinter der Maske verbürgt. Auch wenn ich auf dein Wort vertraue.«
Er hatte recht. Ich vertraute auch nur auf Spikes Andeutung. Sein Gesicht war in Richtung der maskierten Fremden gerichtet.
»Ich komm mit«, sagte ich, doch Liam schüttelte den Kopf.
»Das hatten wir schon. Ist nicht gut ausgegangen.«
»Du gehst nicht allein zu den drei Kerlen.«
»Okay. Aber halt dich im Hintergrund!«
Ich nickte. Liam ging mir voraus stur auf die drei Maskierten zu. Spike folgte uns unauffällig. Kurz bevor wir bei den dreien ankamen, unterbrachen sie ihr Gespräch und schauten uns an.
»Was willst du hier?«, blaffte Liam.
Der mittlere Mann zeigte mit dem Zeigefinger auf sein Gesicht. Über seine Wolfsmaske waren rote Blutspritzer verteilt.
»Ich weiß, dass du hinter der Maske steckst, Arthur. Zeig dich ruhig!«
Lachend zog Arthur die Maske ab. »Was hat mich verraten?«
»Der Gestank nach gequirlter Scheiße«, sagte Liam.
»Meine Freundin ist auf der Party. Wollte sie nur abholen.«
»Sorry. Die haben wir gerade rausschmeißen lassen. Mit freundlichen Grüßen von meinem Vater.«
Arthur rümpfte verächtlich die Nase. Liam machte einen Schritt auf ihn zu.
»Du dachtest nicht ernsthaft, dass du Drogen hier reinschmuggelst und uns damit nochmal so dermaßen ans Bein pissen kannst«, raunte er.
»Willst du damit andeuten, dass ich für die Razzia verantwortlich bin?«
Arthur trat aus der Flankierung seiner Freunde heraus auf Liam zu. Nun standen sie sich unmittelbar gegenüber. Ich ging einen Meter auf sie zu, um beim ersten Schlag bereit zu sein. Beim letzten Mal hatte ich viel zu spät reagiert.
»Wer sonst sollte so viele Drogen zur Verfügung haben, wenn nicht ein Junkie wie du?«
»Ich bin kein Junkie«, sagte Arthur zwischen zusammengebissenen Zähnen.
»Deine Freundin schon. Von wegen, ich nehme mir deine Ex-Freundinnen. Du bedienst dich ja offensichtlich bei meinen.«
Arthur schaute zu mir hinüber. »Über Julia bin ich längst hinweg. Ich fick lieber ihre Freundin.«
»Felicitas ist nicht meine Freundin.«
»Aber die kleine Blonde, die hier rumgerannt ist und dich gesucht hat, oder? Wie hieß sie noch gleich? Carina?«
Liam stieß Arthur mit den flachen Händen gegen die Brust. Sofort ergriffen die beiden Maskierten ihn an den Schultern. Er riss sich los und nahm einen Schritt Abstand.
»Was hast du mit ihr gemacht?«, fragte ich gepresst.
Arthur richtete seine Jacke und lachte. »Noch nichts.«
Wenn ich genau darüber nachdachte, war das Foto von der Bushaltestelle genau von dem Ort aufgenommen worden, wo Arthur und Riley auf mich gewartet hatten. Wenn er mich nun beschattet hatte? Dann wusste er, das Carina und ich befreundet waren. Vielleicht hatte er schon seit Tagen auf die Gelegenheit gewartet, sie allein anzutreffen? Warum hatte ich meine Freundin nicht gewarnt?
»Du bluffst doch nur«, sagte Liam. »Genauso wie du damals geblufft hast. Du hast keine Beweise dafür, dass meine Familie etwas mit den Morden zu tun hat. Sonst hättest du sie längst ausgeplaudert.«
Arthur zog eine Augenbraue hoch. »Hört sich so an, als gäbe es Beweise. Nur ich hätte sie nicht.«
»Gibt es nicht, weil wir nichts damit zu tun haben. Und du hast keine Ahnung, wo Carina ist.«
»Wird sich zeigen«, sagte Arthur grinsend.
»Wo ist sie?«, fragte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen, doch er schüttelte nur den Kopf. »Wenn du ihr oder irgendjemand anders etwas antust, dann schwöre ich dir bei Gott …«
»Was?«, hauchte Arthur mit irrem Blick.
Ich beugte mich hinab und zog das Taschenmesser aus meinem Stiefel. Zum Glück hatte ich es nicht in die Hosentasche gesteckt. So war es innerhalb einer Sekunde in meiner Hand. Mit einer fließenden Bewegung klappte ich es auf.
Liam und Arthur sahen hinab auf meine Hand. Die beiden Maskierten spannten ihre Schultern an. Einer umgriff den Schaft seiner Axt. Sie war sichtbar nur aus Kunststoff, doch mit genügend Wucht konnte auch sie sicher gefährlich werden.
Auf Arthurs Gesicht erschien ein angriffslustiger Ausdruck. Die Wut stieg in mir auf wie eine lodernde Flamme. Dieser Kerl hatte mich beinahe vergewaltigt. Und jetzt schien er auch noch meine Freundin als Geisel zu haben. Wenn er ihr nun dasselbe antun wollte wie mir? Es vielleicht sogar schon hatte, nur um mich zu verletzen?
»Julia«, murmelte Liam eindringlich.
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Es reicht.«
Selbst wenn Arthur gar nicht wusste, wo Carina war, war er dennoch nicht unschuldig. Er hatte mich am Hafen überrumpelt, mir seine eklige Zunge in den Hals gesteckt, mich wie ein Wild übers Gelände gejagt. Wäre Riley nicht gewesen, hätte er mich vergewaltigt und wie ein benutztes Taschentuch liegengelassen. Wäre Liam nicht gewesen, hätte er seine zweite Chance hinterm Club genutzt.
Ein Schauer lief mir über die Haut. Ich blickte hinab auf meine eigene Hand und schloss die Faust fest um den Messergriff. Er würde hier und heute dafür büßen, was er getan hatte. Und ich würde verhindern, dass er jemals wieder in der Lage war, jemandem etwas dergleichen anzutun.
Mein Blick hob sich. Ich sah Arthur fest in die Augen. Dann holte ich mit dem Messer aus.
Danksagung
Nach meinem Abitur begann ich das erste Kapitel dieses Romans. Doch es dauerte vier Jahre, bis ich das Wort »Ende« unter meinen Debütroman schreiben konnte, weitere fünf Jahre, um ihn zu veröffentlichen. Ein langer Weg liegt hinter mir, auf dem mich viele Menschen begleitet haben.
Ich danke der Band Letzte Intanz, insgesondere dem Frontsänger Holly Lohse, dass ich 2013 in der Anthologie »Weiße Geschichten 2« bereits den ersten Mord meines Siebenschläfers veröffentlichen durfte.
Darüber hinaus danke ich meiner Muse Franzi für die Inspiration schon in der Schulzeit. Deine Randnotizen haben mich des Öfteren zum Lachen gebracht.
Jamie L. Farley danke ich für die vielen nächtelangen Gespräche, in denen vor allem der Siebenschläfer seinen Charakter entwickelte. Grüße gehen auch an Kratós!
Ein besonderer Dank geht an Stephan für die Bereitstellung seines Gedichts mit dem Titel »Geist der Rache«, das ich Alex in den Mund legen durfte.
Natürlich danke ich an dieser Stelle auch den unzählbaren Testlesern, die mein Manuskript über viele Versionen hinweg gelesen und beurteilt haben. Eure Kritik hat mir geholfen, den zukünftigen Lesern genau das zu vermitteln, was ich aussagen wollte, und den Charakteren immer mehr Tiefe zu geben.
Darüber hinaus danke ich auch all jenen Menschen, die meiner Familie und meinen Freunden Schaden zugefügt haben, ob mutwillig oder unbewusst. Ohne euch als Zielscheibe wäre der Siebenschläfer wesentlich weniger mordhungrig, als er es heute ist.
Anika Sawatzki
September 2019
Geist der Rache
Kennt ihr mich noch?
Ich bin der, den ihr geschlagen habt.
Ich bin der, den ihr beleidigt habt.
Ich bin der, den ihr in den Selbstmord getrieben habt.
Hier treffen wir uns wieder,
für mich ein Ort der Schönheit,
für euch ein Ort der Pein.
Ihr fleht mich an,
ihr wimmert und weint.
Ich lache euch aus.
Zeige euch einen Spiegel,
mit verzerrtem Bild.
Wie ihr mich erschaffen habt.
Wie ich euch zerstöre.
© Stephan Ihlau