China galt seit Jahrtausenden als Land der Hungersnöte. Heute hungert niemand mehr in China, das 2016 vor den USA und Deutschland die größte Exportnation der Welt war.
Noch in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verhungerten 100 Millionen Chinesen. Naturkatastrophen waren eine Ursache, aber hinzu kamen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts politische Gründe. Mao Zedong, der 1949 an die Macht gekommen war, wollte China zum sozialistischen Musterland machen. Um den Weg zum vermeintlichen Arbeiter- und Bauernparadies abzukürzen, verkündete er Ende 1957 den »Großen Sprung nach vorne«. China sollte laut Mao in 15 Jahren Großbritannien wirtschaftlich überholen, um damit die Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus zu beweisen. In der Parteizeitung wurde erklärt, Chinas Ziel bei dem »Großen Sprung« sei, »alle kapitalistischen Länder in recht kurzer Zeit zu überholen und zu einem der reichsten, fortschrittlichsten und mächtigsten Länder der Erde zu werden«.25
Das größte sozialistische Experiment der Geschichte begann damit, dass im ganzen Land Dutzende Millionen Bauern gezwungen wurden, ohne ausreichende Nahrung und Ruhepausen in gewaltigen Bewässerungsprojekten zu arbeiten. Bald schon war jeder sechste Chinese damit beschäftigt, Erde zu schaufeln, um gigantische Staudämme oder Kanäle zu errichten.26 Die Bauern standen für die Landwirtschaft nicht mehr zur Verfügung, was einer von mehreren Gründen war, dass sich Hungersnöte überall in China ausbreiteten. Die Parteifunktionäre gingen rücksichtslos vor, um alles aus den Menschen herauszuholen: Dorfbewohner wurden gefesselt, weil sie Gemüse gestohlen hatten, andere wurden niedergestochen, weil sie nicht hart genug arbeiteten. Widerspenstige Bauern wurden in Arbeitslager gesteckt. Militärpatrouillen durchkämmten mit Lederpeitschen bewaffnet die Dörfer, um den maximalen Arbeitseinsatz zu erzwingen.27
China war damals ein Bauernland, das überwiegend von der Landwirtschaft lebte. Die Bauern wurden in 24.000 Kollektive, sogenannte Volkskommunen, gepresst. Jede Form des Privatbesitzes wurde abgeschafft, die Bauern mussten ihre Höfe verlassen und wurden mit bis zu 20.000 Leidensgenossen in fabrikähnliche Baracken gepresst; im Durchschnitt waren es 8.000.
Für die erste Volkskommune, die in Henan gegründet wurde, hatte Mao persönlich die Charta redigiert, die er als »großen Schatz« anpries: Alle 9.369 Haushalte, die ihr angehörten, mussten »ihre Privatgrundstücke vollständig übergeben, […] ebenso ihre Häuser, Tiere und Bäume«. Sie mussten in großen Schlafräumen leben, »in Übereinstimmung mit den Prinzipien, dass dies für die Produktion und die Kontrolle nützlich ist«. Die Charta erklärte ausdrücklich, die Privathäuser sollten »abgerissen« werden, »wenn die Kommune Ziegelsteine, Dachziegel oder Bauholz braucht«.28
Mao liebäugelte sogar mit dem Gedanken, den Menschen ihre Namen zu nehmen und diese durch Nummern zu ersetzen. In Henan und anderen Mustergebieten trugen die Bauern bei der Feldarbeit Jacken, in deren Rückenpartien Nummern eingenäht waren. Den Bauern war es nicht nur untersagt, zu Hause zu essen, auch ihre Woks und ihre Kochherde wurden zerstört.29 Die Menschen nahmen ihr Essen nunmehr gemeinsam im Kollektiv in gigantischen Volksküchen zu sich. Morgens marschierten sie in Arbeitsbrigaden unter roten Fahnen und angestachelt von Lautsprecherparolen, die zur Übererfüllung des Planes aufriefen, in die »Produktionsschlacht« auf die Felder.
Das Experiment endete in der wohl größten Hungersnot der Menschheitsgeschichte – auf jeden Fall war es die größte von Menschen selbst verursachte. Der chinesische Demograf Cao Shuji schätzte auf Basis der offiziellen Bevölkerungsstatistiken für die Jahre 1958 bis 1962 die Zahl der Hungertoten in ganz China auf etwa 32,5 Millionen. Nach seinen Berechnungen war die Provinz Anhui am schlimmsten betroffen, wo über 18 Prozent der Bevölkerung verhungerten, das entspricht über sechs Millionen Menschen. Danach folgte Sichuan mit 13 Prozent Hungertoten, was 9,4 Millionen Menschen entspricht.30
Der Historiker Frank Dikötter kommt auf Basis einer Auswertung von Analysen des chinesischen Sicherheitsdienstes sowie der umfangreichen Geheimberichte, die in den letzten Monaten des »Großen Sprungs« von Parteikomitees verfasst wurden, zu deutlich höheren Zahlen für ganz China: Mindestens 45 Millionen starben in den Jahren 1958 bis 1962 einen unnötigen Tod, so seine Bilanz. Die meisten verhungerten, während etwa 2,5 Millionen starben, weil sie zu Tode gefoltert oder erschlagen wurden – oder weil man ihnen gezielt jegliche Nahrung verweigerte, damit sie verhungerten. »Menschen wurden zur Tötung ausgewählt, weil sie wohlhabend waren, weil sie trödelten, weil sie ihre Meinung sagten oder weil die Person, die in der Volksküche das Essen ausgab, aus irgendeinem Grund eine Abneigung gegen sie hatte.«31
Wer Kritik übte, wurde bestraft. Und davon war nicht nur eine kleine Minderheit betroffen, wie etwa ein Bericht über Fengyang zeigt. Dort wurden 28.026 Menschen (über zwölf Prozent der Bevölkerung) mit körperlichen Züchtigungen oder der Kürzung der Essensrationen bestraft. 441 Menschen starben an den Folgen, 383 wurden schwer verletzt.32
Der chinesische Journalist Yang Jisheng berichtete: »Der Hunger war gegen Ende schrecklicher als der Tod selbst. Die Maiskolben waren gefressen, das wilde Gemüse war gefressen, die Baumrinde war gefressen, Vogelmist, Mäuse und Ratten, Baumwolle, alles hatte man sich in den Bauch gestopft. Wo man Guanyin-Erde, eine Art fetten Lehm, fand, schob man sich bereits beim Graben dicke Klumpen in den Mund.«33 Es kam immer wieder zu Kannibalismus. Zuerst wurden die Kadaver toter Tiere gegessen, doch später begannen die Dorfbewohner in ihrer Verzweiflung, Tote auszugraben, zu kochen und zu essen. Menschenfleisch wurde sogar, wie anderes Fleisch, auf dem Schwarzmarkt gehandelt.34 Eine nach Maos Tod entstandene (und prompt verbotene) Studie über den Bezirk Fengyang in der Provinz Anhui verzeichnete allein für den Frühling 1960 63 Fälle von Kannibalismus, darunter ein Ehepaar, das seinen achtjährigen Sohn erwürgte und aufaß.35
All das wollte die kommunistische Führung zunächst nicht wahrhaben. Sie wurde Opfer ihres eigenen Angstregimes. Die Kommunen meldeten sensationelle Ernteergebnisse, die das sozialistische Wunder belegen sollten. Wer realistische Zahlen meldete, bekam statt der roten eine weiße Fahne, wurde der Lüge beschuldigt und Opfer von Gewalt. In der Tat hatten sich die Bauern in den Jahren zuvor teilweise mit falschen Angaben gegen die Erhöhung der Getreideabgaben gewehrt. Aber bald schon galt jeder, der erklärte, er habe Hunger, als Feind der sozialistischen Revolution und Anhänger des Kapitalismus. Die Aussage »Ich habe Hunger« wurde immer mehr zu einem Tabu.36
Die Flucht an einen Ort, in dem es etwas zu essen gab, war verboten. Ein Bauer beschrieb die Situation als schlimmer als die Zustände während der japanischen Besatzungszeit: »Als die Japaner kamen, konnten wir immer noch weglaufen. Heute […] werden wir einfach in unsere Häuser gesperrt, um dort zu sterben. Meine Familie bestand aus sechs Personen und vier von ihnen sind gestorben.« Die Parteifunktionäre verhinderten auch, dass die Bauern ihre eigene Ernte »stahlen«. Manche Menschen wurden lebendig begraben, andere erdrosselt, wieder anderen schnitt man die Nase ab. In einem Dorf entgingen vier Kinder, die ein paar Nahrungsmittel an sich genommen hatten und zur Strafe schon bis zu den Hüften eingegraben waren, nur aufgrund der verzweifelten Bitten ihrer Eltern dem Tod. In einem anderen Dorf wurden einem Kind vier Finger abgehackt, weil es versucht hatte, aus einem Feld einen Bissen zu stehlen, der nicht einmal reif war. »An Brutalitäten dieser Art stößt man praktisch in jedem Bericht aus dieser Zeit, und das im ganzen Land.«37
Nach außen verkündete die Propaganda ständig neue Rekordzahlen auf allen Gebieten, die den Fortschritt und die Überlegenheit des Sozialismus beweisen sollten. Insbesondere an den Zahlen der Stahlproduktion sollte der Fortschritt des Sozialismus gemessen werden. Mao war geradezu besessen vom Stahl und hatte die Stahlproduktion fast aller Länder im Kopf. 1957 lag die Stahlproduktion bei 5,35 Millionen Tonnen, im Januar 1958 wurde das Ziel von 6,2 Millionen Tonnen ausgegeben und im September wurde es auf zwölf Millionen verdoppelt.38
Diese gigantischen Ziele sollten vor allem mit kleinen Hochöfen erreicht werden, die in den Hinterhöfen der Volkskommunen von den Dorfbewohnern betrieben wurden. Viele dieser Öfen funktionierten nicht richtig und es kam minderwertiges Material heraus. Überall türmten sich von ländlichen Kommunen erzeugte Eisenbarren, die so klein und spröde waren, dass sie für moderne Walzwerke unbrauchbar waren.39
Es spielten sich absurde Szenen überall in China ab: Parteiaktivisten zogen von Haus zu Haus, beschlagnahmten Haushaltsgeräte und für den Ackerbau benötigte Geräte, die eingeschmolzen wurden, um die ambitionierten Planziele der Stahlproduktion erreichen zu können. Kochgeräte, eiserne Türgriffe aus Metall und sogar die Haarspangen der Frauen wurden eingeschmolzen. Die Parole des Regimes lautete: »Wer eine Spitzhacke abgibt, löscht einen Imperialisten aus, und wer einen Nagel versteckt, der versteckt einen Konterrevolutionär.«40
Wer nicht genug Begeisterung zeigte, wurde beschimpft, gefesselt oder öffentlich zur Schau gestellt.41 Experten, die zur Vernunft rieten, wurden verfolgt. Mao schlug einen Ton an, durch den rationales Argumentieren diskreditiert wurde. Er sprach vom Wissen »bourgeoiser Professoren, das wie der Furz eines Hundes behandelt werden sollte, es ist nichts wert und verdient nur Geringschätzung, Hohn und Verachtung«.42
Ende Dezember 1958 musste Mao selbst in einem Gespräch mit einem Spitzenfunktionär einräumen, dass 40 Prozent des Stahls unbrauchbar waren. Der brauchbare Stahl war von herkömmlichen Stahlwerken produziert worden, die wertlosen 40 Prozent stammten aus den Kleinöfen. »Die gesamte Kraftanstrengung war eine gigantische Verschwendung von Ressourcen und Arbeitszeit und sie brachte weitere Verluste mit sich.«43
Immer mehr Bauern fehlten in der Landwirtschaft, weil sie in den gigantischen Bewässerungsprojekten arbeiteten oder mit der Stahlproduktion beschäftigt waren. Trotzdem wurden gerade in der Landwirtschaft immer neue Rekordzahlen gemeldet, die mit der Realität nichts zu tun hatten. Im September 1958 prahlte die chinesische »Volkszeitung«, die Parteizeitung der Kommunisten, in Guangxi sei die Getreideernte auf 65.000 Kilogramm pro mu (15 mu sind ein Hektar) gestiegen, während 500 Kilogramm eine realistische Zahl gewesen wäre.44
Die imposanten Ernteergebnisse wurden als »Sputniks« bezeichnet. Sogenannte »Sputnik-Felder« breiteten sich in ganz China mit atemberaubender Geschwindigkeit aus. Sie entstanden meist durch die Verpflanzung erntereifer Feldfrüchte, die auf verschiedenen Feldern wuchsen, auf eine einzige künstliche Parzelle. Angesichts solcher vermeintlichen Produktionsrekorde steigerten die Kommunisten den Getreideexport in den Jahren des »Großen Sprungs nach vorne« von 1,93 Millionen Tonnen im Jahr 1957 auf über vier Millionen Tonnen im Jahr 1959. Während Mao der Welt stolz verkündete, die Getreideproduktion habe 375 Millionen Tonnen erreicht, betrug sie tatsächlich mit 170 Millionen Tonnen nicht einmal die Hälfte.45
Da unter dem Druck der Partei, die auf der Umsetzung der Planvorgaben um jeden Preis bestand, übertrieben hohe Ernteerträge angegeben wurden, requirierte der Staat von den Bauern viel zu große Mengen Getreide, was zur Getreideknappheit und schließlich zur Hungersnot führen musste.46 Hinzu kam, dass große Teile der Getreideernte wegen des durch die Planwirtschaft angerichteten logistischen Chaos durch Kornfäule, Ratten und Insekten vernichtet wurden.47
Auch dieses Problem sollte durch eine große Kampagne beseitigt werden. Eines Tages kam Mao auf die Idee, alle Spatzen loszuwerden, weil sie Getreidekörner aufpickten. Er erklärte die Spatzen zu einer der »Vier Plagen«, die neben Ratten, Stechmücken und Fliegen zu beseitigen seien. Die gesamte Bevölkerung wurde mobilisiert, um mit Stöcken und Besen herumzufuchteln und einen gewaltigen Lärm zu veranstalten, damit die Spatzen es nicht mehr wagten, sich irgendwo niederzulassen, sondern schließlich erschöpft vom Himmel fallen würden und beseitigt werden könnten. Tatsächlich wurden so viele Spatzen (und andere Vögel) getötet, dass es nun zu wenig Spatzen gab, die Insekten fraßen. Wissenschaftler hatten schon davor gewarnt. Unter dem Vermerk »Streng geheim« bat die chinesische Regierung schließlich die befreundete Sowjetunion, man solle im Namen des sozialistischen Internationalismus 200.000 Spatzen aus den fernöstlichen Gebieten der Sowjetunion nach China schicken.48
Andererseits wollten sich die Chinesen keine Blöße geben und das verbündete Russland nicht darum bitten, die Exporte von Getreide aussetzen zu dürfen und die Schulden später zu begleichen, obwohl sich der Hunger immer mehr ausbreitete. Auch Hilfsangebote aus dem Westen lehnte die chinesische Regierung aus Stolz ab.49 Im Gegenteil: Um das Gesicht zu wahren, wurden in der Zeit der größten Hungersnot großzügig Weizenladungen an befreundete Länder wie etwa Albanien geliefert, teilweise wurde das Getreide an andere Länder verschenkt. Die Parole »Vorrang für den Export« hatte zur Folge, dass alle Provinzen auf dem Höhepunkt der Hungersnot mehr Nahrungsmittel als je zuvor liefern mussten.50 In der Propaganda nach innen und nach außen sollte der Schein gewahrt werden: Im Sozialismus dürfte es einfach keine Hungersnot geben. Berechnungen, die später angestellt wurden, belegen, dass durch eine andere Politik bis zu 26 Millionen Menschenleben hätten gerettet werden können.51
Die verzweifelten Menschen wandten sich in Briefen an Mao und den Staatschef Zhou Enlai, weil sie dachten, der große Führer des Sozialismus wüsste nichts von der Hungersnot. In einem Brief hieß es: »Lieber Vorsitzender Mao, Zhou Enlai und Führer der Zentralregierung, viele Grüße zum Frühlingsfest! 1958 hat unser Vaterland einen allseitigen Großen Sprung errungen […], aber im Osten von Henan, in den Kreisen Yucheng und Xiayi, ist das Leben der Menschen in dem letzten halben Jahr nicht gut […] Die Kinder hungern, die Erwachsenen sind betrübt. Sie sind auf Haut und Knochen abgemagert. Die auslösende Ursache sind die falschen Meldungen von Produktionsergebnissen. Hört unbedingt auf unseren Hilferuf!«52
Als die Parteizentrale Untersuchungen vor Ort anstellte, bot sich den Parteivertretern ein Bild des Grauens. Im Bezirk Guangshan wurden sie vom leisen Gewimmer der verzweifelten Überlebenden begrüßt, die in bitterer Kälte in den Trümmern ihrer zerstörten Häuser hockten. Denn überall in China waren Häuser abgerissen worden, um das Material entweder als Brennstoff für die Hochöfen oder als Dünger zu verwenden. In Guangshan war ein Viertel der 500.000 Einwohner tot, überall waren Massengräber ausgehoben worden.53 Auch Abermillionen Tiere verhungerten, was die Nahrungsmittelknappheit noch verstärkte.
Mao und die anderen Parteiführer wussten von den Problemen, aber versuchten lange, sie zu verharmlosen oder ganz zu leugnen. Es hieß, angesichts der grandiosen Aussichten, bald eine kommunistische Gesellschaft zu errichten, ließen sich Opfer – wie in einem Krieg – nicht vermeiden. Drei Jahre Opfer seien nicht zu hoch als Preis für die kommenden 1.000 Jahre im kommunistischen Paradies. Noch im Juli 1959 verkündete Mao: »Im Allgemeinen ist die Situation ausgezeichnet. Es gibt viele Probleme, aber wir haben eine glänzende Zukunft!«54
Den Tod von Millionen Menschen hatte Mao bewusst einkalkuliert. Schon bei seinem Moskau-Besuch im Jahr 1957 hatte er erklärt: »Wir sind bereit, 300 Millionen Chinesen für den Sieg der Weltrevolution zu opfern.«55 Und im November 1958 hatte er im engsten Führungskreis im Zusammenhang mit arbeitsintensiven Projekten wie den Bewässerungskanälen und der Produktion von Stahl gesagt: »Wenn wir so vorgehen mit all diesen Projekten, kann es gut sein, dass die Hälfte Chinas sterben muss. Wenn nicht die Hälfte, dann stirbt vielleicht ein Drittel oder ein Zehntel – 50 Millionen Menschen.«56
Lin Biao, der wegen seiner vermeintlich unverbrüchlichen Treue zu Mao von ihm zum Stellvertreter ernannt worden war, verkündete im Vorwort zu den »Worten des Vorsitzenden Mao«, der sogenannten Mao-Bibel: »Bei der Schifffahrt verlässt man sich auf den Steuermann, bei der Revolution auf den Vorsitzenden Mao Zedung.« Aber im internen Kreis erklärte derselbe Lin Biao, der »Große Sprung« sei »ein Fantasiegebilde und ein furchtbares Chaos«.57 Schließlich musste Mao den »Großen Sprung nach vorne« abbrechen, allerdings nur, um wenige Jahre später – 1966 – die nächste Katastrophe heraufzubeschwören, die sogenannte Chinesische Kulturrevolution. Sie war noch radikaler als der »Große Sprung nach vorne«: Millionen Menschen, die beschuldigt wurden, kapitalistische Ideen zu vertreten, oder die die Politik des »Großen Sprungs nach vorne« kritisierten, wurden zur Zwangsarbeit verdammt oder gefoltert, Hunderttausende wurden im Verlauf der sogenannten Kulturrevolution ermordet.
Wieder einmal war ein sozialistisches Experiment gescheitert und hatte mehrere Dutzend Millionen Menschenleben gefordert. Dabei hätten es die chinesischen Kommunisten wissen müssen, denn bereits in den 30er-Jahren hatte in der Sowjetunion die Kollektivierung der Landwirtschaft ähnlich katastrophale Folgen gehabt. Auch dort waren mehrere Millionen Menschen an Hunger gestorben. Aber die Geschichte lehrt, dass jedes Mal, nachdem ein sozialistisches Experiment gescheitert ist, die Kommunisten in einem anderen Land und zu einer anderen Zeit glaubten, sie könnten es besser und hätten den Königsweg zum sozialistischen Paradies gefunden.
Die ökonomische Bilanz der Mao-Zeit war verheerend: Zwei Drittel der Bauern hatten 1978 ein niedrigeres Einkommen als in den 50er-Jahren, bei einem Drittel war es sogar niedriger als 1935, vor der japanischen Invasion. Nachdem Mao im Jahr 1976 gestorben war, kamen in China glücklicherweise pragmatischer denkende Politiker an die Macht, die spürten, dass die Menschen genug von radikalen sozialistischen Experimenten hatten. Maos Nachfolger wurde Hua Guofeng und dieser bereitete einem Mann den Weg, ohne den das heutige moderne China schwer denkbar wäre, Deng Xiaoping. Die Nachfolger Maos, besonders Deng, waren so klug, dass sie die Worte des chinesischen Philosophen Konfuzius beherzigten: »Der Mensch hat drei Wege, klug zu handeln. Erstens durch Nachdenken, das ist der edelste. Zweitens durch Nachahmen, das ist der leichteste. Drittens durch Erfahrung, das ist der bitterste.«
Den bitteren Weg waren die Chinesen gegangen. In ihrer Not erkundeten sie nun in anderen Ländern, wie es dort aussah und was sie von ihnen lernen könnten. 1978 begann eine rege Reisetätigkeit führender chinesischer Politiker und Wirtschaftler. Sie unternahmen 20 Reisen in mehr als 50 Länder, um herauszufinden, was sie wirtschaftlich von ihnen lernen könnten. Unter anderem besuchten sie Japan, Thailand, Malaysia, Singapur, die USA, Kanada, Frankreich, Deutschland und die Schweiz.58 Bevor eine Delegation von 20 hochrangigen Politikern und Wirtschaftlern unter Leitung von Gu Mu im Mai 1978 die erste Reise nach Westeuropa seit Gründung der Volksrepublik China antrat, forderte Deng die Mitglieder der Reisegruppe auf, so viele Fragen wie möglich zu stellen, genau zu beobachten und herauszufinden, wie diese Länder ihre Wirtschaft managten.59
Die Mitglieder der Reisedelegation waren ungeheuer beeindruckt von dem, was sie in Westeuropa sahen: moderne Flughäfen wie Charles de Gaulle in Paris, Autofabriken in Deutschland und Häfen, in denen Schiffe automatisiert mit Containern beladen wurden. Überrascht waren sie, wie hoch der Lebensstandard selbst eines normalen Arbeiters in den kapitalistischen Ländern war.60
Deng selbst besuchte Länder wie die USA und Japan. Fasziniert war er von den Nissan-Werken in Japan und nach der Besichtigung erklärte er: »Jetzt verstehe ich, was Modernisierung bedeutet.«61 Vor allem imponierten den Chinesen die wirtschaftlichen Erfolge in ihrer unmittelbaren Umgebung. »Insbesondere die ökonomische Dynamik der Nachbarländer galt, wenngleich kaum eingestanden, als Vorbild. Die Nähe der um 1945 noch durch den Krieg zerstörten japanischen Wirtschaft, die ab den 1950ern sämtliche Wachstumsrekorde brach und neben wettbewerbsfähigen Exportindustrien eine moderne Konsumgesellschaft hervorbrachte, ließ die Errungenschaften unter Mao als begrenzt erscheinen.«62
Beeindruckt war Deng von seiner Reise nach Singapur, dessen Wirtschaft sich so positiv von Chinas Wirtschaft unterschied. Lee Kuan Yew, Gründungsvater von Singapur und drei Jahrzehnte Premierminister, erinnert sich an ein Abendessen: »Ich hatte Deng 1978 während eines Abendessens in Singapur erzählt, dass wir, die Singapur-Chinesen, die Nachfahren von landlosen Bauern aus Guandong und Fujian in Südchina waren, die nicht lesen und nicht schreiben konnten. Nichts von dem, was Singapur getan hatte, könnte China nicht tun – und sogar besser tun. Er schwieg seinerzeit. Als ich las, dass er dem chinesischen Volk sagte, sie sollten es besser machen als Singapur, wusste ich, dass er die Herausforderung angenommen hatte, die ich ihm in dieser Nacht vor 14 Jahren dezent übermittelt hatte.«63
Die Berichte von den Reisen wurden in China weit verbreitet – in der Partei und in der Öffentlichkeit. Den Politikern und Wirtschaftsleuten, die gesehen hatten, wie es beispielsweise den Arbeitern in Japan ging, fiel es wie Schuppen von den Augen und sie merkten, dass sie jahrelang von der kommunistischen Propaganda belogen worden waren, als diese die Errungenschaften des Sozialismus in China mit dem Elend in den kapitalistischen Ländern verglich. In Wahrheit verhielt es sich genau umgekehrt, wie jeder sehen konnte, der diese Länder bereiste. »Je mehr wir von der Außenwelt sehen, desto klarer wird uns, wie rückständig wir sind«, wiederholte Deng immer wieder.64
Doch es wäre falsch, zu glauben, man sei nun über Nacht zum Kapitalismus »bekehrt« gewesen und habe sofort begonnen, in China die Planwirtschaft abzuschaffen und die Marktwirtschaft einzuführen. Man begann langsam, tastend, gab den Staatsbetrieben mehr Eigenständigkeit. Der Übergang von der sozialistischen Staatswirtschaft zur Marktwirtschaft vollzog sich nicht schlagartig, sondern in einem über Jahre und Jahrzehnte andauernden Prozess. Und mindestens ebenso wichtig wie die Initiativen von oben, also von der Partei, waren Bewegungen von unten, so etwa von den Bauern.
Nach den Erfahrungen mit dem »Großen Sprung nach vorn« gingen die Bauern in immer mehr Dörfern selbst dazu über, wieder den Privatbesitz an Ackerland einzuführen, was offiziell verboten war. Aber es zeigte sich rasch, dass die Erträge der privaten Landwirtschaft sehr viel höher waren, und die Parteifunktionäre ließen die Menschen gewähren.65 Zunächst wurde in besonders armen »Bettler-Dörfern« experimentiert – nach dem Motto: Wenn es hier schiefgeht, ist das nicht so schlimm, denn vom Boden kann man nicht fallen. In einem dieser kleinen Dörfer erlaubte die Parteiführung den Bauern, die besonders ertragsarmen Felder privatwirtschaftlich zu bestellen. Kaum hatte man dies erlaubt, fiel der Ertrag drei Mal so hoch aus wie bei den kollektiv bewirtschafteten Böden.66
Schon lange bevor das offizielle Verbot von privater Landwirtschaft 1982 aufgehoben wurde, gab es überall in China spontane Initiativen von Bauern, die das private Eigentum entgegen dem sozialistischen Glaubensbekenntnis wieder einführten.67 Das Ergebnis war sehr positiv: Die Menschen mussten nicht mehr hungern, die landwirtschaftliche Produktion stieg rapide an. Und 1983 war fast die gesamte Landwirtschaft in China entkollektiviert. Das große sozialistische Experiment Maos, dem so viele Millionen Menschen zum Opfer gefallen waren, war beendet.
Aber nicht nur auf dem Land kam es zu Veränderungen. Jenseits der großen staatlichen Unternehmen gab es zahlreiche kommunale Unternehmen, die zwar formal den Städten und Gemeinden gehörten, aber zunehmend wie private Unternehmen gemanagt wurden. Diese Unternehmen erwiesen sich oft den schwerfälligen Staatsunternehmen als überlegen, weil sie nicht den engen Vorgaben einer Planwirtschaft unterlagen. Die Zahl der Arbeitnehmer in diesen Firmen stieg von 28 Millionen im Jahr 1978 auf 135 Millionen im Jahr 1996, ihr Anteil an der Wirtschaftsleistung Chinas von sechs auf 26 Prozent.68
In den 80er-Jahren etablierten sich zunehmend de facto privatwirtschaftlich geführte Unternehmen im Gewand von Kollektivunternehmen: sogenannte COEs (Collective Owned Enterprises) oder TVEs (Township and Village Enterprises).69 Es wäre zu kurz gegriffen, in einem Schwarz-Weiß-Schema zwischen Staats- und Privateigentum zu unterscheiden, denn auch wenn es sich rechtlich um Eigentum einer Stadt oder Gemeinde handelte, wurden diese Betriebe in Wahrheit wie Privatunternehmen geführt.
In einer Analyse über »Chinas Kapitalismus« wird daher unterstrichen, die »tatsächliche Verfügungsgewalt« über das Eigentum in China sei wichtiger als das staatliche Etikett. Entscheidend sei die Fähigkeit, den Zugang zu bestimmten Ressourcen exklusiv zu kontrollieren, auch ohne formalrechtlich als Privateigentümer klassifiziert zu sein.70 Man müsse unterscheiden zwischen dem formalen rechtlichen Status und der tatsächlichen ökonomischen Funktion.71 Im Vergleich zu den wirklichen Privatunternehmen haben diese Kollektivunternehmen im Zuge der Privatisierungswelle jedoch erheblich an Bedeutung verloren.
Der Vormarsch des Privateigentums begann in China in der Anfangsphase damit, dass sich immer mehr Menschen selbstständig machten und kleine Betriebe gründeten, wobei nicht mehr als sieben Angestellte erlaubt waren. In Maos Zeit gab es – wie in allen sozialistischen Ländern – offiziell keine Arbeitslosigkeit. Millionen junger Menschen wurden zwangsweise auf das Land geschickt, um sich von den Bauern im Geiste des Sozialismus »umerziehen« zu lassen. Das war eine der »Lösungen« für das Problem der Arbeitslosigkeit. In den 80er-Jahren machten sich dann jedoch zunehmend Menschen selbstständig, gründeten kleine Firmen.
Sie hatten es zunächst schwer und wurden diskriminiert. So wollten die Eltern anfangs beispielsweise nicht, dass ihre Tochter jemanden heiratete, der selbstständig war oder in einem solchen kleinen Betrieb arbeitete, weil das als unsicher galt. Wer mehr als sieben Mitarbeiter einstellte, galt als kapitalistischer Ausbeuter und verstieß damit gegen das Gesetz. Viele Selbstständige fanden einen Ausweg, indem sie sich, wie man damals in China sagte, einen »roten Hut« aufsetzten und sich mit einem kommunalen Unternehmen verbanden.72
Schließlich kam es dennoch zu einer Welle von Neugründungen, weil die Menschen nicht nur die Freiheit als Selbstständige und Kleinunternehmer schätzten, sondern oft auch viel mehr verdienten. Nicht selten bekam ein selbstständiger Friseur mehr als ein Chirurg in einem staatlichen Krankenhaus und ein Straßenhändler mehr als ein Atomwissenschaftler. Die Zahl der Selbstständigen und Kleinunternehmer stieg von 140.000 im Jahr 1978 auf 2,6 Millionen im Jahr 1981.73
Doch die Anhänger des Sozialismus gaben sich nicht so leicht geschlagen. Die Entwicklung von der Staats- zur Marktwirtschaft war von vielen Aufs und Abs begleitet. 1982 begann eine Kampagne gegen »Wirtschaftsverbrechen«. Mehr als 30.000 Menschen wanderten daraufhin ins Gefängnis.74 Ihr einziges Verbrechen bestand oft darin, Gewinne zu erwirtschaften oder mehr als sieben Angestellte zu beschäftigen.
Das sozialistische System, wonach es ausschließlich Staatseigentum geben dürfe, von einer staatlichen Planbehörde geleitet, wurde von unten mehr und mehr ausgehöhlt. Von großer Bedeutung war die Schaffung sogenannter Sonderwirtschaftszonen. Das waren Gebiete, in denen das sozialistische Wirtschaftssystem außer Kraft gesetzt war und in denen mit kapitalistischen Wirtschaftsformen experimentiert werden durfte. Die erste Sonderwirtschaftszone war Shenzen, die nahe dem damals politisch und wirtschaftlich eigenständigen kapitalistischen Hongkong lag. Shenzen war das Gebiet, von dem Chinesen illegal in die britische Kronkolonie emigrierten. So wie vor dem Mauerbau immer mehr Menschen aus Ost- nach Westdeutschland flohen, so versuchten auch immer mehr Menschen, aus dem sozialistischen China in das kapitalistische Hongkong zu fliehen.
Jedes Jahr riskierten Tausende Menschen ihr Leben, um die scharf bewachte Grenze zwischen dem sozialistischen China und dem kapitalistischen Hongkong zu überqueren. Die meisten wurden von den Grenztruppen aufgegriffen, viele ertranken bei dem Versuch, auf die Hongkonger Seite hinüberzuschwimmen. Das Internierungslager nahe der Grenze, in das die Kommunisten die bei Fluchtversuchen Aufgegriffenen einsperrten, war völlig überfüllt.
Menschen, die fliehen wollten, wurden als Staatsfeinde und Verräter am Sozialismus erklärt, so wie damals in der DDR. Doch Deng war so klug, zu erkennen, dass sich das Problem nicht allein mit der Armee und schärferen Grenzkontrollen lösen ließ. Die Parteiführung der Provinz Guangdong, zu der Shenzhen gehörte, stellte eine Untersuchung über die illegale Emigration an. Sie musste lernen, dass sich die Geflohenen auf der anderen Seite des Shenzhen-Flusses auf dem Territorium von Hongkong ansiedelten, ein eigenes Dorf gründeten und dort 100-Mal mehr verdienten als die Menschen auf der sozialistischen Seite des Flusses.75
Deng argumentierte, China müsse dafür sorgen, dass der Lebensstandard auf der chinesischen Seite steige, dann hätten die Menschen keinen Grund mehr zu fliehen.76 Shenzhen, das damals weniger als 30.000 Einwohner zählte, wurde zum ersten kapitalistischen Experimentierfeld in China. Die Parteifunktionäre, die in Hongkong und Singapur gesehen hatten, dass der Kapitalismus sehr viel besser funktioniert als der Sozialismus, gestatteten ein marktwirtschaftliches Experiment in dieser Sonderwirtschaftszone.
Das ehemalige Fischerstädtchen, aus dem die Menschen einst unter Lebensgefahr flohen, ist heute neben Hongkong und Macau die Stadt mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen in China. Fast zwölf Millionen Menschen leben dort, tragende Säulen der lokalen Wirtschaft sind die Elektronik- und die Telekommunikationsindustrie. Einige Jahre nachdem die Sonderwirtschaftszone etabliert worden war, mussten die Stadtherren von Shenzhen schon einen Zaun aus Stacheldraht um die Zone ziehen, weil der Ansturm der Chinesen aus dem Inland so groß war.77
Das Modell der Sonderwirtschaftszonen wurde rasch auf andere Regionen übertragen. Für ausländische Investoren waren diese Sonderwirtschaftszonen sehr attraktiv. Sie profitierten von niedrigen Steuersätzen, einer geringen Bodenpacht und geringen bürokratischen Verwaltungsauflagen.78 Hier herrschte eine freiere Marktwirtschaft, als wir sie heute in vielen europäischen Ländern kennen. Nach einer Reform im Jahr 2003 kontrollierte die chinesische Regierung ungefähr 200 »Entwicklungszonen«, die sich bis weit ins Landesinnere erstreckten. Hinzu kamen noch einmal bis zu 2.000 regional oder lokal beaufsichtigte Entwicklungszonen, die nicht einer unmittelbaren zentralstaatlichen Kontrolle unterlagen. »Immer mehr verschmolzen im Zeitverlauf die Sonderzonen mit dem Rest der Wirtschaft.«79
Die Reform der chinesischen Wirtschaft war jedoch halbherzig: Nebeneinander existierten die sozialistische Planwirtschaft mit Staatsbetrieben und die verschiedenen Privatunternehmen und Sonderwirtschaftszonen. Im Kapitalismus zeigt das Auf und Ab der Preise, wo es sich für einen Unternehmer lohnt zu investieren, aber in einer Planwirtschaft werden die Preise durch Beamte in Planungsbehörden festgelegt. In China herrschte zunehmend ein Preischaos, da es einerseits Marktpreise gab und andererseits die staatlich festgelegten Preise. Ende der 80er-Jahre kam es zu einer Inflation mit monatlichen Preissteigerungen von bis zu 40 Prozent.80
Die Befürworter der Reformen sahen dies als Beleg dafür, dass die Reformschritte zu halbherzig waren und man konsequenter auf den Markt setzen sollte, während die Befürworter der Planwirtschaft sich in ihrer Skepsis bestätigt sahen und die wirtschaftlichen Probleme als Folge einer Abkehr von den Prinzipien des Sozialismus deuteten. Zudem kam es zu politischen Unruhen, die im Juni 1989 einen Höhepunkt fanden, als eine Demonstration von Studenten in Peking gewaltsam mit Panzern niedergeschlagen wurde. Nach Angaben von Amnesty International starben in diesen Tagen zwischen mehreren Hundert und mehreren Tausend Menschen. Die Kommunistische Partei sah ihre Führung gefährdet, insbesondere unter dem Eindruck, dass Ende der 80er-Jahre in der Sowjetunion und dem gesamten sozialistischen Ostblock der Kommunismus zusammenbrach und die dortigen kommunistischen Parteien ihre Macht verloren.
In dieser Situation hatten es die Anhänger von weiteren Reformen schwer. Ihnen wurde vorgeworfen, sie wollten den Sozialismus abschaffen und aus China ein kapitalistisches Land machen. Deng, der damals keine offizielle Funktion innehatte, entschied sich zu intervenieren. Er besuchte im Januar 1992 die Sonderwirtschaftszone Shenzhen und Shanghai und gab Interviews, die überall in China beachtet wurden. Er verbrachte fünf Tage in Shenzhen und war selbst über das Ausmaß des Wandels erstaunt, da er seit 1984 nicht mehr dort gewesen war. Er war beeindruckt von Prachtalleen, gläsernen Hochhäusern, quirligen Einkaufsstraßen und einer schier endlosen Zahl an Fabriken. Die Menschen waren modisch angezogen, besaßen schicke Armbanduhren, Kameras und andere höherwertige Konsumartikel. Das Einkommen lag drei Mal höher als im übrigen China.81 Dengs demonstrative »Südreise« ging in die Geschichte ein. Sie fand große Beachtung in den chinesischen Medien, denn Deng kritisierte offensiv die Reformgegner. Am 21. Februar, dem Tag von Dengs Rückkehr nach Peking, druckte die »Volkszeitung« einen viel beachteten Leitartikel mit der Überschrift: »Seid mutiger mit Reformen«.82
Deng und die anderen Anhänger der marktwirtschaftlichen Reformen huldigten in Lippenbekenntnissen nach wie vor dem Sozialismus, aber sie definierten diesen Begriff um. Sozialismus meinte nun nicht mehr Staats- und Planwirtschaft, sondern Deng definierte den Begriff als offenes System, das sich durch die Bereitschaft auszeichnete, von allen anderen Kulturen zu lernen, insbesondere von den westlichen kapitalistischen Ländern.83
Anders als in der Sowjetunion und den anderen ehemaligen Ostblockstaaten, wo nach dem Zusammenbruch des Sozialismus der Marxismus scharf kritisiert wurde, bekannten sich Deng und die Reformer in China weiterhin zum Marxismus. Aber das, was sie mit »Marxismus« meinten, hatte nicht mehr das Geringste mit der ursprünglichen Theorie von Karl Marx zu tun. »Kern des Marxismus ist, die Wahrheit in den Tatsachen zu suchen. Dafür sollten wir eintreten, nicht für die Verehrung von Buchwissen. Die Reformen und die Öffnungspolitik waren nicht erfolgreich, weil wir auf Buchwissen vertrauten, sondern weil wir uns auf die Praxis verließen und die Wahrheit in den Tatsachen suchten […] Die Praxis ist das einzige Wahrheitskriterium.«84
Die Reformer gewannen mehr und mehr die Oberhand. Dies zeigte sich auch in einer stark steigenden Zahl von Privatunternehmen. 1993 gab es 237.000 Privatunternehmen in China, ein Jahr später waren es schon 432.000. Das in privaten Firmen investierte Kapital verzwanzigfachte sich in den Jahren 1992 bis 1995. Allein 1992 kündigten 120.000 Staatsbedienstete, um ein privates Unternehmen zu gründen, und zehn Millionen nahmen unbezahlten Urlaub, um sich selbstständig zu machen. Ihnen folgten Millionen Professoren, Ingenieure, Studienabgänger. Sogar die Parteizeitung »People’s Daily« veröffentlichte einen großen Artikel mit der Überschrift: »Want to Get Rich, Get Busy!« 85
Ein entscheidender Schritt war, dass der 14. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas im Oktober 1992 erstmals offiziell die Marktwirtschaft als Ziel der Reformen verkündete. Das wäre einige Jahre davor noch völlig undenkbar gewesen. Die Reformen gewannen immer mehr an Dynamik. Zwar wurde die Planwirtschaft nicht abgeschafft, aber die Zahl der Preise für Rohstoffe, Transportdienstleistungen und Kapitalgüter, die staatlich festgelegt waren, sank von 737 auf 89 und bis 2001 gar auf nur noch 13. Der Anteil der Produktionsgüter, die zu Marktpreisen gehandelt wurden, stieg von null Prozent im Jahr 1978 auf 46 Prozent im Jahr 1991 und auf 78 Prozent im Jahr 1995.86
Zudem begann eine Reform der Staatsbetriebe. Waren sie bislang allein im staatlichen Besitz, so wurden nun Privatpersonen und ausländische Investoren in den Kreis der Gesellschafter aufgenommen. Bisher hatten die Arbeitnehmer in Staatsbetrieben eine lebenslange Beschäftigungsgarantie. Der Staat kaufte diese Garantie den Arbeitnehmern in vielen Betrieben gegen eine Einmalzahlung ab, dafür wurde eine Sozialversicherung eingeführt.
Zunächst dachten die Reformer, die Staatsbetriebe könnten effizienter werden, wenn das Management und die Arbeiter stärker erfolgsabhängig bezahlt würden. Zudem wurden in vielen Staatsunternehmen die Parteifunktionäre, die bislang die Entscheidungen trafen, durch ein professionelles Management ersetzt.87
Tatsächlich brachte das Fortschritte und die Motivation der Beschäftigten stieg durch solche Maßnahmen. Das zentrale Problem bei Staatsbetrieben konnte jedoch allein dadurch nicht gelöst werden – dass sie nämlich nicht pleitegehen können. In einer Marktwirtschaft findet ein ständiger Ausleseprozess statt: Unternehmen, die Konsumentenwünsche erfüllen und gut gemanagt werden, überleben im Wettbewerb. Diejenigen, die am Verbraucherbedürfnis vorbei produzieren oder schlecht gemanagt werden, gehen irgendwann pleite und verschwinden vom Markt. Diese Auslese gibt es bei Staatsunternehmen nicht. Viele Staatsbetriebe waren wirtschaftlich ungesund, weniger als ein Drittel arbeitete Mitte der 90er-Jahre profitabel.88
Der Prozess der Privatisierung gewann jedoch bald an Fahrt, manche Unternehmen wurden an die Börse gebracht. Im Jahr 1978 produzierten die an die zentralen und lokalen Regierungsbürokratien gebundenen Staatsunternehmen (SOEs) noch 77 Prozent der industriellen Erzeugnisse. Kollektive, nominell im Besitz der Arbeiter, real in der Verfügungsgewalt lokaler Regierungen oder Parteifunktionäre stehende Unternehmen vereinten damals die übrigen 23 Prozent auf sich. 1996 produzierten die SOEs dagegen nur noch ein Drittel aller industriellen Erzeugnisse. Die Kollektivfirmen, die faktisch oft wie Privatunternehmen geführt wurden, konnten 36 Prozent, private Betriebe 19 Prozent und auslandsfinanzierte Unternehmen zwölf Prozent auf sich vereinen. Zwischen 1996 und 2006 wurde die Zahl der Staatsunternehmen insgesamt halbiert, zwischen 30 und 40 Millionen Beschäftigte in staatlichen Betrieben wurden entlassen.89
Überall in China entwickelten sich Industrieparks und Sonderwirtschaftszonen, die untereinander in einem starken Wettbewerb standen. Zudem wurde die Tür weit für ausländische Investoren geöffnet, die den riesigen chinesischen Markt sowohl als Produktionsstätte wie auch als Absatzmarkt für ihre Konsumgüter entdeckten.
Wie kam es zu dieser Entwicklung? Es war nie die offizielle Politik der Führung in China, Staatsbetriebe zu privatisieren90, sondern man dachte zunächst, es sei möglich, das staatliche Eigentum aufrechtzuerhalten, wenn man den Betrieben genügend Eigenständigkeit gebe und darüber hinaus dem Management ausreichend Anreize. Doch das stellte sich als Irrtum heraus. Die Gründe analysiert der renommierte chinesische Ökonom Zhang Weiying: In der zweiten Hälfte der 90er-Jahre zeigte sich, dass viele der Staatsbetriebe, die nunmehr ein hohes Maß an Eigenständigkeit gewonnen hatten, ihre Produkte zu Dumpingpreisen verkauften, die häufig sogar unter den Gestehungskosten lagen. Die dadurch entstehenden Verluste wurden vom Staat durch Subventionen ausgeglichen91.
Zudem erwies es sich als großes Problem, dass – anders als in einer auf Privateigentum basierenden Marktwirtschaft – die Staatsfirmen kein sonderliches Interesse daran hatten, auf ihre Reputation zu achten. Die Manager der Betriebe waren davon geleitet, wie sie kurzfristig ihr Einkommen erhöhen könnten. Da bei den staatlichen Betrieben die Konsumenten keine Möglichkeit haben, unehrliches Verhalten zu sanktionieren, war Betrug an der Tagesordnung.92 Frei handelbare Markennamen, die einen über Jahre geschaffenen Wert haben, gab es nicht und daher bestand wenig Anlass, auf die Reputation zu achten.
Schließlich kam es zu zahlreichen spontanen bzw. von den lokalen Regierungen initiierten Privatisierungen. Viele staatliche Betriebe waren unter Wettbewerbsbedingungen nicht überlebensfähig. Durch die Dezentralisierung und die Einführung von Wettbewerb wurde, dies zeigt Zhang Weiying, eine Eigendynamik entfesselt, die schließlich dazu führte, dass der Anteil der staatlichen Betriebe immer weiter zurückging. Der Markt und der Wettbewerb hatten sich wieder einmal als stärker erwiesen als die Ideologie, nach der das Staatseigentum in der »sozialistischen Marktwirtschaft« eigentlich bewahrt werden sollte.93
Entscheidend zum Verständnis der Dynamik der chinesischen Reformen ist, dass sie nur teilweise »von oben« initiiert wurden. Vieles geschah spontan – die Kräfte des Marktes setzten sich gleichsam urwüchsig durch gegen den Staat. »Die wesentlichen institutionellen Innovationen wurden nicht in den Räumen des Politbüros aus der Taufe gehoben«, schreibt Tobias ten Brink in einer Studie über »Chinas Kapitalismus«, »sondern von zahl- und namenlosen Akteuren vor Ort eingeführt, häufig in Form von informellen, regelverletzenden Strategien.«94
Das ist ein Grund, warum die Marktwirtschaft in China besser funktioniert als in Russland und anderen ehemals kommunistischen Ostblockstaaten, wo sie oft von heute auf morgen »eingeführt« wurde, statt sich langsam von unten zu entwickeln. Das war in China deshalb eher möglich, weil bereits unter Mao das chinesische System nicht so stark von einer allmächtigen staatlichen Planbehörde bestimmt wurde, wie das beispielsweise in der Sowjetunion der Fall war. Obwohl in China heute offiziell noch eine Planwirtschaft herrscht, darf man den »Plan« nicht mit den rigiden Vorgaben und Steuerungen verwechseln, wie sie in den Planwirtschaften traditionellen Typus herrschten. »In China stellt das plangemäße Handeln politischer Institutionen nicht immer den Normalzustand dar. Regelmäßig wird planwidrig konterkariert, werden Regeln unterlaufen beziehungsweise in ihr Gegenteil verkehrt. Dabei besitzen – trotz der Professionalisierung bürokratischer Abläufe – Individuen in hohen Ämtern enorme Kapazitäten, Regeln zu umgehen oder auf spezifische Weise auszulegen.«95
Das ist typisch für die Wandlung Chinas vom Sozialismus zum Kapitalismus: Die alten Begriffe, zum Beispiel »Sozialismus«, »Plan«, »Marxismus«, »Mao-Zedong-Ideen«, bleiben, aber sie wurden umgedeutet, sodass sie entweder inhaltsleer wurden oder gar das Gegenteil dessen besagten, was ursprünglich einmal damit gemeint war. Wahrscheinlich hat gerade dies den Übergang von der sozialistischen Planwirtschaft zum Kapitalismus in der Praxis so sehr erleichtert.
Die Partei nennt sich weiter »kommunistisch«, aber mit Kommunismus hat sie in Wahrheit nichts mehr zu tun. Freilich: Eine Demokratie ist China nicht geworden und dies war auch nie Dengs Ziel. Aber falsch wäre es andererseits auch zu behaupten, das politische System habe sich nicht gewandelt. Die Zurückdrängung der Mao-Anhänger in der Partei, die gemäß der sozialistischen Ideologie die Reformen bekämpften, weil sie – zu Recht – fürchteten, sie würden letztlich dazu führen, dass China kapitalistisch würde, war die Voraussetzung für das Gelingen eines Wandels, der wohl zur größten und schnellsten Wohlstandsmehrung in der Menschheitsgeschichte führte.
Die Entwicklung Chinas zeigt, dass steigendes Wirtschaftswachstum – auch bei gleichzeitig steigender Ungleichheit – den meisten Menschen zugutekommt. Hunderten Millionen Menschen in China geht es heute sehr viel besser, und zwar nicht, obwohl es so viele Millionäre und Milliardäre gibt, sondern gerade deshalb, weil Deng die Parole ausgegeben hatte: »Lasst einige erst reich werden.« Deng hatte Recht damit, dass der wirtschaftlichen Entwicklung die Hauptpriorität eingeräumt werden müsse, was sich an folgenden Tatsachen zeigt: Untersucht man, in welchen Provinzen die Armut in China in den vergangenen Jahrzehnten am meisten zurückgegangen ist, dann sind es die mit dem höchsten Wirtschaftswachstum. Und noch etwas anderes ist bemerkenswert: Die Chancen für sozialen Aufstieg sind in den vergangenen Jahrzehnten in China ganz erheblich gestiegen.96 Zugleich hat die Ungleichheit zwischen Arm und Reich in China in diesen Jahren stark zugenommen. 2012 lag der Gini-Index, der die Einkommensungleichheit misst, bei 0,47 für China, wobei er in den Städten niedriger ist als in den ländlichen Gebieten.
Zhang Weiying hat mit Blick auf die Einkommensverteilung und die soziale Ungleichheit auf einige Fakten aufmerksam gemacht, die auf den ersten Blick paradox erscheinen mögen, aber statistisch sehr gut belegt sind: Die Regionen in China mit dem höchsten Bruttoinlandseinkommen pro Kopf sind nicht die mit der höchsten, sondern die mit der geringsten Ungleichheit. Und im Durchschnitt sind die Einkommensunterschiede dort am geringsten, wo die Wirtschaft am schnellsten wächst.97
Vielleicht sollte man erwarten, dass in Regionen, in denen Staatsunternehmen eine große Rolle spielen, die Einkommensgleichheit größer ist als dort, wo der Anteil privater Unternehmen höher ist. Tatsächlich ist das Gegenteil richtig. Und vielleicht sollte man auch erwarten, dass in Regionen mit hohen Staatsausgaben und Transferleistungen, welche die Einkommensunterschiede verringern sollen, die Gleichheit höher ist. Aber auch hier ist das Gegenteil richtig: Die Regionen mit den höchsten öffentlichen Ausgaben sind die mit den größten Einkommensunterschieden.98 Es gibt viele weitere vermeintliche Paradoxien, die Klischees widerlegen: In Gebieten, in denen Unternehmen höhere Profite machen und wo die Märkte am offensten sind, sind die Einkommensunterschiede geringer als in jenen, wo die Profite niedriger und die Märkte weniger offen sind.99
Auch wenn es viele sehr positive Entwicklungen in China in den vergangenen Jahrzehnten gab, sind die Reformaufgaben noch gewaltig. Im Jahr 2017 gehörte China zu den Ländern, in denen sich der Grad der wirtschaftlichen Freiheit am stärksten erhöht hat.100 Das Wirtschaftswachstum in den vergangenen Jahrzehnten ging einher mit einem Wachstum der wirtschaftlichen Freiheit, aber in vielen Bereichen ist China nach wie vor sehr unfrei, sodass es 2017 nur Platz 111 im Ranking der wirtschaftlich freiesten Länder einnahm.101 Schaut man die einzelnen Indikatoren der wirtschaftlichen Freiheit an (diese werden in Kapitel 8 ausführlich erläutert), dann sind »Fiscal Health«, »Trade Freedom«, »Government Spending«, »Monetary Freedom« und »Tax Burden« in China bereits in einem akzeptablen Bereich. Wirtschaftlich unfrei ist China jedoch, wenn man auf Gebiete wie »Investment Freedom«, »Financial Freedom«, »Property Rights«, »Government Integrity« und »Business Freedom« schaut.
Hier besteht ein großer Reformbedarf, was auf der anderen Seite zeigt, dass China sein Potenzial noch längst nicht ausgeschöpft hat. Zhang Weiying, der sicherlich der klügste Analytiker der chinesischen Wirtschaft ist und selbst auch einiges zu ihrer Entwicklung beigetragen hat, betont: »Chinas Reformen starteten mit einer allmächtigen Regierung in einer Planwirtschaft. Der Grund, warum China während des Reformprozesses sein Wachstum fortsetzen konnte, war, dass die Regierung sich weniger einmischte und der Anteil der Staatsbetriebe zurückging, nicht umgekehrt. Gerade die Lockerung der Kontrolle durch den Staat brachte Marktpreise, Einzelunternehmen, städtische und kommunale Unternehmen, private Firmen, ausländische Unternehmen und andere nicht staatliche Betriebe hervor.«102 All dies war die Basis für den ungeheuren wirtschaftlichen Aufstieg Chinas.
Oft wird der chinesische Weg zum Kapitalismus als ein ganz besonderer Weg wahrgenommen, bei dem der große Einfluss des Staates hervorgehoben wird. Dies liegt jedoch nur daran, dass es sich um eine Transformation von einer sozialistischen Staatswirtschaft zum Kapitalismus handelt. In vielerlei Hinsicht ist der chinesische Weg nicht so außergewöhnlich, betont Zhang Weiying: »Tatsächlich ist Chinas ökonomische Entwicklung grundsätzlich identisch mit der in einigen westlichen Ländern, so wie in Großbritannien während der industriellen Revolution, in den Vereinigten Staaten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert und in einigen asiatischen Ländern wie Japan und Südkorea nach dem Zweiten Weltkrieg. Sobald Marktmechanismen eingeführt und die richtigen Anreize gesetzt sind, damit Menschen nach Reichtum streben, folgt das Wunder des Wachstums früher oder später.«103
Letztlich, so Zhang Weiying, bestand das ganze Geheimnis darin, Stück für Stück den Markt zu stärken, den staatlichen Einfluss zurückzudrängen und die besten Talente zu motivieren, nicht mehr im Staatsdienst zu arbeiten, sondern in der privaten Wirtschaft. Letzterem kommt eine besondere Bedeutung zu und dies ist auch eine Lehre für andere Länder, die den Weg zu Kapitalismus, Wohlstand und Wachstum gehen wollen: »Wir können folgern, dass die Allokation unternehmerischer Talente zwischen dem Staat und der Wirtschaft eine der wichtigsten Determinanten – wenn auch nicht die einzige Determinante – für die Entwicklung einer Wirtschaft ist.«104 Dieser Punkt kann nicht stark genug betont werden: Vor Beginn der Reformen waren ein höheres Einkommen und Prestige denjenigen vorbehalten, die im Staatsdienst arbeiteten. Bis in die 80er-Jahre hinein hatten Unternehmer in China einen geringen sozialen Status und die Verdienstmöglichkeiten im Staatsdienst waren wesentlich besser.105
Das änderte sich erst in den 90er-Jahren, insbesondere nach dem 14. Parteitag der Kommunistischen Partei 1992, als die Liberalisierung an Tempo gewann. Zunehmend strebten talentierte Menschen nicht mehr nach einer Tätigkeit im Dienste des Staates, sondern wollten Unternehmer werden, weil sie so deutlich mehr verdienen konnten und ihr Prestige zugleich stieg. Zunächst machten sich Menschen in den ländlichen Gebieten selbstständig, in einer zweiten Phase übernahmen oft ehemalige Staatsbedienstete als Unternehmer die Betriebe, die sie bisher als staatliche Angestellte gemanagt hatten. Und schließlich kehrten Zehntausende Chinesen, die im Ausland studiert hatten, zurück und viele von ihnen entschieden sich für das Unternehmertum.106
Das war nur möglich, weil das Recht auf Privateigentum legalisiert wurde. Man darf sich dies nicht so vorstellen, dass von einem Tag auf den anderen die vollen Eigentumsrechte eingeführt wurden, wie wir sie aus westlichen kapitalistischen Ländern kennen. Der Prozess vollzog sich Schritt für Schritt vom Beginn der 80er-Jahre und fand einen ersten Höhepunkt in der neuen Verfassung von 2004, in der das Privateigentum offiziell anerkannt wurde.107 Dazwischen gab es viele Zwischenstufen, so etwa – wie erwähnt – Betriebe, die formal staatlich waren, aber faktisch mehr und mehr in den Besitz des Managements übergingen, bis das Management dann irgendwann auch formal Eigentümer der Betriebe wurde.
Zhang Weiying betont, dass dieser Transformationsprozess bis heute nicht abgeschlossen ist und noch viele Reformaufgaben auf eine Lösung warten: »Die staatliche Kontrolle über große Ressourcen und die exzessive Intervention in die Wirtschaft sind der direkte Grund für Günstlingswirtschaft zwischen Beamten und Geschäftsleuten, der Nährboden für Korruption und eine ausgesprochen korrupte Geschäftskultur, und beschädigen die Spielregeln des Marktes.«108 Daher sieht er einen erheblichen Reformbedarf, insbesondere mit Blick auf die Herstellung von Rechtsstaatlichkeit und eine weitere Liberalisierung. Ob China diesen Weg gehen wird, ist offen. Der Prozess der Marktreformen verlief nie gerade und gleichförmig, sondern es gab – gerade auch in den vergangenen Jahren – immer wieder Rückschritte, wenn etwa der Staat wieder stärker in die Wirtschaft eingriff und Reformen zurücknahm. China wird sich nur dann weiter so positiv entwickeln wie in den vergangenen Jahrzehnten, wenn an dem Grundkurs der Entwicklung in Richtung »mehr Kapitalismus«, der den Erfolg begründet hat, festgehalten wird. »Von den 50er-Jahren bis vor 30 Jahren haben wir an die Planwirtschaft geglaubt«, so Zhang Weiying. »Das Ergebnis war eine gewaltige Katastrophe. Wenn wir weiterhin unsere Hoffnungen auf die staatliche Planung setzen und Chinas Wirtschaft mithilfe großer staatlicher Unternehmen entwickeln wollen, dann haben wir absolut keine Aussichten für die Zukunft. Nur wenn wir uns in Richtung der Logik der Märkte bewegen, wird China eine strahlende Zukunft haben.«109