Unterschiedlicher könnten die beiden lateinamerikanischen Länder nicht sein: Chile rangiert auf Platz zehn des Index of Economic Freedom 2017, dem Ranking der wirtschaftlich freiesten Länder der Welt. Venezuela dagegen landet – nach Kuba und vor Nordkorea – auf dem vorletzten Platz (179) und ist damit eines der wirtschaftlich unfreiesten Länder. Und während es den Chilenen heute besser denn je geht, leiden die Menschen in Venezuela unter Inflation, wirtschaftlichem Niedergang und zunehmender politischer Unterdrückung.
Dabei hatte sich Venezuela bis in die 70er-Jahre hinein sehr positiv entwickelt. War Venezuela zu Beginn des 20. Jahrhunderts eines der ärmsten Länder in Lateinamerika, so hatte es bis Ende der 60er-Jahre eine erstaunliche Entwicklung genommen. 1970 war es das reichste Land Lateinamerikas und eines der 20 reichsten Länder der Welt. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf war sogar höher als das von Spanien, Griechenland oder Israel und nur 13 Prozent niedriger als das von Großbritannien.390
Der Abschwung des südamerikanischen Landes begann in den 70er-Jahren. Über die Ursachen findet eine intensive Diskussion unter Wissenschaftlern statt.391 Einer der Gründe für die Probleme ist die starke Abhängigkeit vom Erdöl. Es kamen weitere Ursachen hinzu, insbesondere ein ungewöhnlich hoher Grad an staatlicher Regulierung des Arbeitsmarktes, die seit 1974 durch immer neue Vorschriften erhöht wurde. In kaum einem anderen Land Lateinamerikas (und weltweit) war der Arbeitsmarkt mit einem so engmaschigen Netz von Regulierungen überzogen. Während die Unternehmen 1972 noch das Äquivalent von 5,35 Monatslöhnen für die Lohnnebenkosten zahlen mussten, hatte sich diese Rate bis 1992 auf 8,98 Monatslöhne massiv erhöht.392
Diese Faktoren kamen zu den Problemen hinzu, mit denen viele Länder kämpfen müssen, die stark von Rohstoffexporten abhängen – wir haben dies bereits im zweiten Kapitel am Beispiel einiger afrikanischer Länder gezeigt. Viele Menschen in Venezuela hofften, der charismatische Sozialist Hugo Chávez würde die Probleme des Landes – Korruption, Armut, wirtschaftlicher Niedergang – lösen. Chávez hatte bereits 1992 versucht, mit einem Putsch die Macht an sich zu reißen, war jedoch gescheitert393. 1998 wurde er zum Präsidenten gewählt und 1999 rief er die »Bolivarische Republik Venezuela« aus. Chávez war nicht nur Hoffnungsträger für viele arme Menschen in Venezuela, sondern er entfesselte die Utopiesehnsüchte der Linken in Europa und Nordamerika mit der Parole vom »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«.
Nachdem Ende der 80er-Jahre der Sozialismus in der Sowjetunion und den Ostblockstaaten zusammengebrochen war und sich die Chinesen auf den Weg vom Sozialismus zum Kapitalismus begeben hatten, fehlte der Linken das Utopia, von dem sie träumen konnten. Nordkorea und Kuba als einzig verbliebene kommunistische Staaten eigneten sich dafür nicht so gut. Hugo Chávez füllte diese Lücke. Der europapolitische Sprecher der Linkspartei im Deutschen Bundestag schwärmte: »Was Chávez macht, ist auch der Weg, in Deutschland die ökonomischen Probleme zu lösen.« Und die Vorsitzende der Linken, Sahra Wagenknecht, pries ihn als »großen Präsidenten«, der mit seinem ganzen Leben für den »Kampf um Gerechtigkeit und Würde« stand. Chávez habe bewiesen, dass »ein anderes Wirtschaftsmodell möglich sei«.394
Auch in den USA hatte Chávez unter den Linksintellektuellen viele Bewunderer. Einer ihrer prominentesten Köpfe, der 2016 verstorbene Tom Hayden, erklärte: »Ich sage voraus, dass der Name von Hugo Chávez von Millionen verehrt werden wird, je mehr Zeit vergeht.«395 Ein anderer tonangebender Linksintellektueller, der Princeton-Professor Cornell West, bekannte: »Ich liebe es, dass Hugo Chávez die Armut zur obersten Priorität gemacht hat. Ich wünschte mir, Amerika würde die Armut zur Priorität machen.«396 Und die bekannte amerikanische Journalistin Barbara Walters schwärmte: »Er kümmert sich so sehr um die Armut, er ist ein Sozialist. Was er getan hat für ganz Lateinamerika, was sie über Jahre versucht haben, ist, die Armut zu beseitigen. Er ist nicht der Verrückte, wie man uns erzählt hat […] Er ist ein sehr intelligenter Mann.«397
Das sozialistische Experiment von Chávez begann vielversprechend. Möglich war dies, weil Venezuela die größten Erdölvorkommen der Welt hat und in der Regierungszeit von Chávez die Ölpreise geradezu explodierten. Damit sprudelte so viel Geld in die Staatskasse, dass sie bestens gefüllt war für das große sozialistische Experiment. Enden sollte der Großversuch mit dem »Sozialismus im 21. Jahrhundert« jedoch in einem wirtschaftlichen Desaster, in Hyperinflation, Hunger und Diktatur.
Es begann alles zunächst harmlos. So wie (siehe Kapitel 3) die Kommunisten 1945 in Deutschland versprochen hatten, sie wollten Privateigentum und unternehmerische Initiative respektieren und Deutschland keineswegs das Sowjetsystem aufzwingen, so erklärte auch Chávez anfangs, er wolle das Privateigentum respektieren und niemals »irgendetwas von irgendjemandem enteignen«.398 Vor der Wahl stellte er sich überraschenderweise als Freund ausländischer Investoren sowie ganz generell westlicher Werte dar. Damals war der britische Sozialdemokrat Tony Blair international populär. Chávez erklärte sich selbst zum »Tony Blair der Karibik«.399 Zugleich kritisierte er den »neoliberalen Kapitalismus« und pries Kubas System als »Meer des Glücks«.400
Die Erdölindustrie, Venezuelas mit großem Abstand wichtigste Einnahmequelle, war bereits 1976 verstaatlicht worden. Damals wurde die Gesellschaft PDVSA gegründet, die heute über 140.000 Mitarbeiter hat. Es handelt sich um ein Staatsunternehmen, das jedoch in den 90er-Jahren eng mit privaten ausländischen Firmen kooperierte. Dies hatte sich als erfolgreiches Modell erwiesen und dazu geführt, dass die Ölproduktion auf über drei Millionen Barrel gesteigert werden konnte. Das Staatsunternehmen PDVSA wurde ähnlich wie eine auf Gewinnerzielung gerichtete private Firma geführt und galt als eine der am besten gemanagten Ölfirmen der Welt.401
Genau dies war dem Sozialisten Chávez ein Dorn im Auge. 2002 berief er politische Gesinnungsfreunde und Generäle in den Vorstand der PDVSA, viele davon ohne jede Erfahrung in der Wirtschaft. Mitarbeiter des Unternehmens traten wegen der Einmischung von Chávez in einen zweimonatigen Streik, der Venezuelas Ölindustrie lahmlegte. Der Arbeiterführer Chávez reagierte, indem er 18.000 Streikende zu »Staatsfeinden« erklärte und entließ.
Der Konflikt zwischen Arbeitern des Unternehmens und der sozialistischen Staatsführung ging jedoch weiter und 2006 stellte der Energieminister Rafael Ramírez die Mitarbeiter der PDVSA vor die Wahl, sie sollten den Präsidenten Chávez unterstützen oder sie würden ihre Jobs verlieren: »PDVSA ist rot, rot von oben bis unten.« Chávez selbst meinte: »PDVSA-Arbeiter sind für diese Revolution, und die, die es nicht sind, sollten woanders hingehen. Geht nach Miami.«402 Die Gewinne des Unternehmens wurden nicht mehr für Rücklagen oder Investitionen verwendet, sondern zur Finanzierung von staatlichen Sozialprogrammen, zur Subventionierung verlustbringender Unternehmen und zum Bau von Häusern für die Armen im Wert von mehreren Milliarden Dollar jedes Jahr.403
Sogar weltweit musste sich das Unternehmen nunmehr als sozialer Wohltäter engagieren. So ordnete Chávez im November 2005 an, dass die PDVSA über ein Tochterunternehmen Bedürftigen in der amerikanischen Metropole Boston während der Wintermonate um 40 Prozent verbilligtes Heizöl zukommen ließ. Weitere Verträge wurden mit Staaten und Städten im Nordosten der USA geschlossen. Das Programm hatte einen Umfang von 1,2 Millionen Barrel. Auch in den darauf folgenden Wintern 2006/2007 und 2007/2008 unterstützte die PDVSA Bedürftige in den USA mit um 40 Prozent verbilligtem Heizöl. Das Programm hatte im Winter 2007/2008 einen Umfang von 425,6 Millionen Litern. Darüber hinaus wurden das sozialistische Kuba und andere befreundete Staaten mit verbilligtem Öl beliefert.404
Im Jahr 2007 mussten ausländische Ölgesellschaften Teile ihrer Beteiligungen an Ölfeldern in Venezuela an den venezolanischen Staat verkaufen, sodass die PDVSA auf einen Mehrheitsanteil von mindestens 60 Prozent kam. Das Unternehmen ExxonMobil weigerte sich, seine Anteile abzugeben, und klagte dagegen vor Gerichten in den USA, Großbritannien und den Niederlanden. Nach dem Einfrieren von Vermögenswerten der PDVSA in Höhe von zwölf Milliarden Dollar durch ein britisches Gericht stoppte der Staatskonzern im Februar 2008 den Rohölverkauf an Exxon und setzte die Geschäftsbeziehungen aus.405 Als Chávez an die Macht kam, kassierte der Staat bereits 50 Prozent der Gewinne aus der Ölproduktion. Als er 2013 starb, war dieser Anteil auf 90 Prozent gestiegen, einer der höchsten in der Welt.406
Was Chávez zugutekam, war die Explosion des Ölpreises in der Zeit seiner Regierung. Als er Ende 1998 gewählt wurde, lag der Ölpreis bei einem historischen Tiefstand von 10,53 Dollar, und als er 2013 starb, hatte sich der Ölpreis auf 111 Dollar mehr als verzehnfacht. Steigende Rohstoffpreise sind – wie wir im 2. Kapitel über Afrika gesehen haben – nicht nur eine Chance, sondern häufiger noch eine Versuchung, weil die Regierung denkt, es gehe immer so weiter, und das Geld mit vollen Händen ausgibt, statt Rücklagen für Zeiten fallender Ölpreise zu bilden.
Ganz besonders gefährlich war dies in einem Land, das weitgehend vom Ölexport abhängig ist und in dem ein sozialistischer Präsident im Ölrausch das scheinbar endlose Geld mit vollen Händen für soziale Wohltaten ausgab und gleichzeitig die Wirtschaft sozialistisch umgestaltete. Chávez tat auch nicht viel, um die Produktion zu diversifizieren. Die Abhängigkeit von Erdölexporten und Warenimporten wurde nicht geringer. »Vielmehr«, so konstatierte ein Autor 2009, »hat in den letzten zehn Jahren das Gegenteil stattgefunden: Die landwirtschaftliche und industrielle Produktion des Landes ist weiter gesunken. Letztere weist heute die schlechteste Performance seit vier Dekaden auf, sodass bereits von einem Prozess der Deindustrialisierung gesprochen wird […] Nach zehn Jahren bolivarischer Revolution sorgt darum der Erdölsektor – in dem nur ein Prozent der Beschäftigten tätig sind – für 85 Prozent des Exports und mindestens 60 Prozent der Staatseinnahmen. Venezuelas Abhängigkeit vom Öl ist seit dem Amtsantritt von Hugo Chávez nicht gesunken, sondern gestiegen.«407
Nach seiner Wiederwahl im Jahr 2006 verstaatlichte Chávez zunehmend Industriebetriebe, zunächst vor allem in der Eisen- und Stahlindustrie. Danach traf es die Stromversorgung, die Häfen, die Zementindustrie und die Nahrungsmittelversorgung. Allein zwischen 2007 und 2010 gingen etwa 350 Unternehmen in Staatseigentum über. Oft wurden die verstaatlichten Firmen mit politisch getreuen Gefolgsleuten besetzt.408 Der staatliche Sektor wurde immer stärker aufgebläht, im Jahr 2008 war bereits jeder dritte Beschäftigte ein Staatsbediensteter.409
In großem Stil wurden Arbeitergenossenschaften mit Steuervorteilen und Zuschüssen gefördert und ihre Zahl stieg von 820 im Jahr 1999 auf 280.000 zehn Jahre später. Aber die meisten dieser Firmen waren nur leere Hüllen, die dazu dienten, staatliche Zuschüsse zu kassieren, an günstige Kredite zu gelangen oder Steuern zu sparen. Viele existierten nur auf dem Papier.410
Immer stärker griff Chávez in die Wirtschaft ein und verbot Unternehmen, in schwierigen Situationen Mitarbeiter zu entlassen, was diese in erhebliche Turbulenzen brachte. Eine andere wichtige Komponente seines Sozialprogramms war, für Fleisch und andere Grundnahrungsmittel sehr günstige Preise festzulegen, die oftmals sogar unter den Gestehungskosten lagen. Unternehmer, die zu solchen Preisen nicht verkaufen wollten, beschimpfte Chávez als Spekulanten und drohte ihnen mit Gefängnisstrafen.411
Solange der Ölpreis hoch war, schien es keine Grenzen für den Segen des Sozialismus zu geben. Weltweit bewunderten Antikapitalisten das vermeintliche Genie von Hugo Chávez, der sie mit sozialen Wohltaten ungeheuer beeindruckte. Seit 2003 wurde ein Großteil der sprudelnden Öleinkünfte für Sozialprogramme verwendet: Geld wurde an die Armen verteilt, der Staat gewährte äußerst großzügige Zuschüsse für Essen, Wohnen, Wasser, Elektrizität oder Telefonkosten. Das Tanken an der Tankstelle war praktisch umsonst – meist war das Trinkgeld für den Tankwart höher als die Kosten der Tankfüllung. Dollar, von denen es ja durch die Öleinnahmen genug gab, wurden zu Vorzugswechselkursen eingetauscht.
Staatliche Unternehmen, die schlecht wirtschafteten, erhielten großzügige Subventionen, sodass sie es sich leisten konnten, Arbeitskräfte weiterzubeschäftigen, auch wenn sie diese gar nicht mehr benötigten. Schon 2001 hatte Chávez aufgehört, Geld aus Öleinkünften in den Notfonds einzuzahlen, der als Reserve für die Zeiten sinkender Ölpreise gedacht war. Zudem reduzierte er Investitionen in die Ölindustrie, obwohl das Land gerade von ihr so stark abhängt. Das Geld wurde für die immer stärker ausufernden Sozialprogramme benötigt.412
Viele linke Bewunderer von Chávez auf der ganzen Welt sahen ein soziales Wunder, denn nach offiziellen Angaben halbierte sich die Zahl der extrem armen Menschen in Venezuela durch diese Programme. Allerdings kann man den offiziellen Angaben des Regimes nicht unbedingt trauen. So behauptete Chávez beispielsweise immer wieder, er habe die Zahl der Analphabeten um mindestens 1,5 Millionen reduziert – eine Zahl, die um etwa das Zehnfache übertrieben war.413 Auch die Statistiken über Morde wurden verfälscht, um die im internationalen Vergleich extrem hohe Zahl von 15.000 Morden pro Jahr (in den Jahren 2000 bis 2005) zu verschleiern.414
Selbst manche linken Wissenschaftler kritisierten, die sozialen Maßnahmen von Chávez hätten wenig an der Armut geändert. Seine Sozialpolitik habe einen »stark klientelistischen und wenig nachhaltigen Beigeschmack«, hieß es kritisch. Und: »Ein konsumorientierter Lebensstil überformt in Konjunkturzeiten die sozialen Gegensätze und mildert über sozial- und wirtschaftspolitische Verteilungsmechanismen die schlimmsten sozialen Auswüchse einer abhängigen Ökonomie […] An der Lebenslage von Menschen in Armut ändert sich dadurch […] jedoch strukturell relativ wenig.«415 Ergebnis der Reformen von Chávez war also nicht die Beseitigung von Armut, sondern die Herausbildung einer »quasi ›staatssozialistischen‹ Bürokratenkaste […], die über Spitzenlöhne und korrupte Praktiken einen rasanten sozialen Aufstieg vollzieht«.416
Nach dem Tod von Chávez 2013 übernahm dessen Stellvertreter Nicolás Maduro die Macht. Er beschleunigte die Enteignungen von Betrieben: Molkereien, Kaffeeproduzenten, Supermärkte, Düngemittelhersteller und Schuhfabriken wurden verstaatlicht. In der Folge ging die Produktion in die Knie oder wurde ganz eingestellt.417 Dann stürzten die Ölpreise. Lagen die Notierungen für Rohöl Ende 2013 noch bei 111 Dollar je Barrel (rund 159 Liter), so waren sie ein Jahr später um fast die Hälfte auf 57,60 Dollar gefallen. Und wieder ein Jahr später, Ende 2015, lagen sie mehr als ein Drittel niedriger bei nur noch 37,60 Dollar. 2016 schwankte der Ölpreis zwischen 27,10 und 57,30 Dollar.
Das hätte jedes Land vor Probleme gestellt, aber ganz besonders war es ein Problem für ein Land mit einer extrem ineffizienten, sozialistischen Wirtschaft und strikten Preiskontrollen. Jetzt wurden die fatalen Auswirkungen der sozialistischen Politik von Chávez vollends offensichtlich. Das gesamte System geriet aus den Fugen. Wie auch in anderen Ländern zeigte sich, dass mit Preiskontrollen der Inflation nicht beizukommen war, sondern sie nur noch verschlimmerten. Die Inflation erreichte 225 Prozent im Jahr 2016 und war damit die zweithöchste (nach dem Südsudan) auf der ganzen Welt.418 Vermutlich lag sie tatsächlich bei fast 800 Prozent, wie ein interner Bericht des Gouverneurs der Nationalbank zeigte, der den Rückgang der Wirtschaftsleistung im Jahr 2016 auf 19 Prozent taxierte.419
Obwohl Venezuela die modernsten Gelddruckmaschinen der Welt (unter anderem die Super Simultan IV aus Deutschland) besaß, waren die Kapazitäten nicht mehr ausreichend, um die immer größeren Mengen an benötigten Geldscheinen zu drucken. Venezuela war gezwungen, britische und deutsche Unternehmen und die Zentralbanken befreundeter Länder zu beauftragen, die Banknoten herzustellen. Alle zwei Wochen landete eine Boeing 747 in Venezuela, die zwischen 150 und 200 Tonnen Geldscheine ins Land brachte.420
Der Preis für einen Lebensmittelbasiskorb war im Januar 2017 gegenüber dem Vorjahr um 481 Prozent gestiegen. Um ihn zu kaufen, musste man über 15 Gehälter des Mindestlohns verdienen.421 Um zu verstehen, was das heißt, muss man berücksichtigen, dass ein Lehrer das Doppelte des Mindestlohns verdiente. Taxifahrer nahmen bald deutlich mehr ein als Ärzte oder Architekten. Bereits 2014 wurde geschätzt, dass 1,2 Millionen der am besten ausgebildeten Fachkräfte in die Vereinigten Staaten oder Europa ausgewandert waren.422
Weil viele Preise staatlich festgesetzt waren, die für die Produktion der Waren notwendigen Rohstoffe und Güter jedoch in Dollar gezahlt werden mussten, hatte der Verfall der Währung dramatische Auswirkungen und führte dazu, dass das Warenangebot immer knapper wurde. Da viele Produkte zu extrem niedrigen Preisen verkauft wurden, horteten die Menschen Waren aller Art und standen oft Stunden vor den Geschäften an, um irgendetwas kaufen zu können, das sie dann später viel teurer auf dem Schwarzmarkt verkauften.
Ein Beispiel war Toilettenpapier, das es nur noch sehr selten in den Geschäften gab. Grund: Die Unternehmen, die es produzierten, waren gezwungen, es zu einem niedrigen, staatlich festgesetzten Preis zu verkaufen, während die Produktionskosten mit der Inflation stiegen. Und wenn die Produktion stillstand, weil Rohmaterialien fehlten, mussten die Arbeiter dennoch weiterbezahlt werden, weil es verboten war, ohne ausdrückliche staatliche Genehmigung die Belegschaft zu reduzieren.423 Der Chef des Nationalen Statistischen Institutes von Venezuela hatte allerdings eine andere Erklärung für die Knappheit an Toilettenpapier: In einem Fernsehinterview meinte er, dies sei sogar ein gutes Zeichen, denn der Grund sei, dass Venezolaner wegen der Sozialpolitik der revolutionären Regierung nun mehr essen würden und daher folgerichtig auch mehr Toilettenpapier verbrauchten.424
Gab es doch einmal Toilettenpaper zu staatlich niedrig gehaltenen Preisen, dann war es blitzschnell ausverkauft. Viele Menschen gaben ihren Beruf auf, weil die Löhne nicht mit den rapide steigenden Preisen mithielten und sie als Händler auf dem Schwarzmarkt viel mehr verdienten, indem sie beispielsweise billiges, zu den staatlich festgesetzten Niedrigpreisen erworbenes Toilettenpapier teuer auf dem Schwarzmarkt weiterverkauften. Hygieneartikel wie Tampons und Binden gab es nur noch selten. Stattdessen gab es Anleitungen im Fernsehen, wie man diese selbst zu Hause herstellen konnte. Die Frau, welche die Herstellung der Binden erklärte, konnte dem einen antikapitalistischen Aspekt abgewinnen: »Wir entgehen dem Wirtschaftskreislauf des barbarischen Kapitalismus. Wir leben bewusster und in Harmonie mit der Umwelt.«425
Im Juli 2016 sahen sich 500 Frauen aus Venezuela zu einem außergewöhnlichen Schritt gezwungen und überquerten einen geschlossenen Grenzgang nach Kolumbien, um im Nachbarland Lebensmittel zu besorgen. »Wir verhungern, wir sind verzweifelt«, sagte eine der Frauen dem kolumbianischen Sender Caracol Radio. In ihrem Land gebe es nichts mehr zu essen.426
In einem Altenheim berichtete die Pflegerin von ihrem traurigen Alltag. Nur noch neun von früher 24 Senioren lebten hier. Die anderen seien verstorben oder mussten weggeschickt werden, weil es nicht genug zu essen gab und Medikamente fehlten, etwa gegen Diabetes oder Bluthochdruck. Eigentlich durften Journalisten staatliche Krankenhäuser nicht besichtigen. Eine Ärztin zeigte Reportern dennoch heimlich die katastrophalen Zustände. Das einzige Röntgengerät war seit Langem kaputt. Im Labor konnten weder Urin- noch Blutproben untersucht werden, auf den Toiletten gab es kein Leitungswasser, die Aufzüge funktionierten nicht.427 Menschen, die ins Krankenhaus mussten, waren gezwungen, ihre eigene Medizin mitzubringen, weil keine Medikamente vorrätig waren – weder Schmerzmittel noch Antibiotika und erst recht keine Medikamente zur Krebsbehandlung.428
Die Kindersterblichkeit stieg in Venezuela in nur einem Jahr, von 2015 auf 2016, um 33 Prozent, die Müttersterblichkeit sogar um 66 Prozent. Nachdem die Gesundheitsministerin diese Zahlen veröffentlichte, wurde sie von Maduro entlassen, der generell die Veröffentlichung von Sozial- und Wirtschaftsindikatoren verbot, um »politische Interpretationen« zu vermeiden.429 Die Säuglingssterblichkeit in Venezuela, die unter Chávez in 13 Jahren zunächst von 20,3 auf 12,9 Prozent gesunken war430, lag 2016 sogar über der in dem vom Krieg geschundenen Syrien.431
Vier von fünf venezolanischen Haushalten lebten laut einer Umfrage der Zentraluniversität von Venezuela in Armut.432 73 Prozent der Bevölkerung verloren aufgrund des Hungers im Jahr 2016 Gewicht, und zwar im Durchschnitt 8,7 Kilogramm.433 In einer Anhörung des US-Kongresses im März 2017 berichtete Professor Hector E. Schamis von der Georgetown University, der Anteil der Armen sei in Venezuela auf 82 Prozent gestiegen und jener der extrem Armen auf 52 Prozent. Das waren historische Höchststände.434
Die Bevölkerung begehrte immer wieder auf, bei Wahlen bekam die Opposition die Mehrheit im Parlament. Aber Maduro entmachtete das Parlament, schaffte die Pressefreiheit ab und auch gleich dazu die Reste, die von der einstmaligen Demokratie übrig geblieben waren. Über 120 Menschen verloren bis zum Oktober 2017 ihr Leben bei Demonstrationen und Protesten gegen das Regime. Wieder einmal war ein sozialistisches Experiment gescheitert.
Ein anderes sozialistisches Experiment in einem südamerikanischen Land hatte die Linke weltweit Anfang der 70er-Jahre in ähnlicher Weise fasziniert wie 28 Jahre später die Wahl von Hugo Chávez. Im September 1970 wurde in Chile der Kandidat der Unidad Popular, Salvador Allende, mit knappen 36,5 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Faszinierend war dies für viele Linke deshalb, weil erstmals ein strammer Marxist durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen war. Marxisten kamen bis dahin üblicherweise durch gewaltsame Revolutionen an die Macht oder wurden von der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt – so wie in der DDR oder Nordkorea.
Der Nährboden für den Erfolg von Allendes Bündnis Unidad Popular war die große soziale Kluft in der oligarchischen chilenischen Gesellschaft. Während die ärmsten zehn Prozent der Chilenen nur einen Anteil von 1,5 Prozent am Volkseinkommen hatten, betrug dieser Anteil bei den reichsten zehn Prozent 40,2 Prozent.435 Zudem litten die Menschen unter einer hohen Inflation, die im Jahr 1970 bei 36,1 Prozent lag.436
Die erste Maßnahme des neuen Präsidenten war die Verstaatlichung der Kupferminen, der wichtigsten Einnahmequelle Chiles. Da die Sozialisten der Meinung waren, die von amerikanischen Firmen betriebenen Kupferunternehmen in Chile hätten in der Vergangenheit zu hohe Profite erzielt, bekamen diese nicht nur keine Entschädigung, sondern stattdessen noch nach ihrer Enteignung eine Rechnung präsentiert.437 Zügig wurden Banken und weitere Unternehmen verstaatlicht. Als Allende 1973 gestürzt wurde, lag der staatliche Anteil an der Industrieproduktion bei 80 Prozent.438 Die Mieten und die Preise für Grundnahrungsmittel wurden durch den Staat festgesetzt, die Gesundheitsversorgung kostenfrei angeboten.
Die sozialistische Regierung setzte vor allem auf den staatlichen Sektor. Die Beschäftigung beim Staat und in staatlichen Firmen weitete sich zwischen 1970 und 1973 um 50 bzw. 35 Prozent aus.439 Die Sozialausgaben stiegen in nur zwei Jahren real um fast 60 Prozent440, was zur großen Popularität der Regierung beitrug. Finanziert wurde das alles durch Staatsschulden und eine Ausweitung der Geldmenge, nicht durch gestiegene Steuereinnahmen. Das Haushaltsdefizit wuchs allein 1971 im Vergleich zum Vorjahr von 3,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes auf 9,8 Prozent. Während die öffentlichen Investitionen um über zehn Prozent stiegen, fielen die Investitionen in der Privatwirtschaft 1971 um fast 17 Prozent.441 Das ist kein Wunder. Private Unternehmer, die befürchten müssen, dass ihr Unternehmen enteignet wird, investieren natürlich nicht mehr. In den Jahren 1970 bis 1973 wurden insgesamt 377 Unternehmen in Chile verstaatlicht.442
Die Verstaatlichungen waren wirtschaftlich ein Misserfolg. Fachkräfte und Manager wanderten ab, stattdessen wurden zahlreiche Politaktivisten eingestellt. »In vielen verstaatlichten Betrieben waren darüber hinaus Disziplinlosigkeit und Arbeitsausfälle zu verzeichnen. In Unternehmen, die noch nicht sozialisiert wurden, ergriffen Arbeiter selbst die Initiative und besetzten die Produktionsanlagen.«443
Zudem wurden 6,4 Millionen Hektar Land enteignet. Teilweise wurden Kollektive gebildet, wie man sie aus anderen sozialistischen Ländern kennt. Bauern, die in den 60er-Jahren von der Agrarreform profitiert hatten und Eigentümer geworden waren, mussten jetzt als Angestellte des Staates in landwirtschaftlichen Kollektiven arbeiten.444 In der Zeit von Allendes Herrschaft wurden täglich 5,5 Grundstücke enteignet oder besetzt und jeden zweiten Tag wurde ein Betrieb verstaatlicht oder besetzt.445 Die Produktionsleistung ging drastisch zurück, bereits 1972 musste Chile den Großteil seiner Exporterlöse für den Import von Lebensmitteln aufwenden.446 So wie wir das auch in den vorangegangenen Kapiteln über China, die DDR und Nordkorea gesehen haben, war die Einführung des Sozialismus in der Landwirtschaft ein Fehlschlag.
»Insgesamt war die Wirtschaftspolitik der Unidad Popular ein Misserfolg. Das galt nicht nur für den Agrar- und Industriesektor, sondern insbesondere auch für die Finanzpolitik. Wie ihre Vorgänger wurde die Regierung der Inflation niemals Herr, ja verschärfte sie durch die großzügigen Staatsausgaben zunehmend.«447 Es kam zu einer ähnlichen Entwicklung wie drei Jahrzehnte später in Venezuela. Schon beim Amtsantritt von Allende hatte die Inflation 36 Prozent betragen und sie stieg bis 1972 auf 605 Prozent.448
Wie später im sozialistischen Venezuela kam es in Chile zu zahlreichen Protestaktionen. Während des fast einmonatigen Besuchs des kubanischen Revolutionsidols und Staatsführers Fidel Castro in Chile organisierten Chileninnen einen »Marsch der Kochtöpfe«, um gegen die schlechte Versorgungslage zu protestieren. Linke Aktivisten griffen die Demonstranten an. Im Oktober 1972 beteiligte sich eine halbe Million Kleinunternehmer, Bauern und Freiberufler an Protestaktionen gegen die Regierung.449
Im September 1973 putschte das Militär gegen die sozialistische Regierung. Kurz bevor die Putschisten den Präsidentenpalast stürmten, beging Salvador Allende Selbstmord. General Augusto Pinochet errichtete eine Militärdiktatur. Die Pressefreiheit und andere demokratische Rechte wurden beseitigt, Oppositionelle verhaftet und gefoltert. Während Pinochet in der Innenpolitik also einen extrem autoritären und antiliberalen Kurs verfolgte, war seine Politik im ökonomischen Bereich überwiegend wirtschaftsliberal.
Maßgeblichen Einfluss gewann eine Gruppe von Ökonomen, die man als »Chicago Boys« bezeichnete. Sie waren inspiriert von dem glühenden Marktwirtschaftler und Nobelpreisträger Milton Friedman, der an der University of Chicago Ökonomie lehrte. Diese Gruppe hatte eine ausführliche, 189 Seiten umfassende Analyse über den Zustand der chilenischen Wirtschaft verfasst und Vorschläge für wirtschaftliche Reformen formuliert.450 Sie übergaben diese der Militärjunta, die sie zunächst nicht beachtete und ihren eigenen Wirtschaftskurs verfolgte, der jedoch nicht zu einer Besserung der ökonomischen Lage führte. Insbesondere die Inflation war ein riesiges Problem.
Als die wirtschaftlichen Verhältnisse sich nicht besserten, berief Pinochet die »Chicago Boys« in führende Positionen. Friedman selbst gab an der Katholischen Universität von Chile mehrere Vorlesungen. Manchmal wird er sogar als Berater des Diktators Pinochet bezeichnet; dafür wurde er immer wieder scharf kritisiert. Tatsächlich traf Friedman Pinochet ein einziges Mal für 45 Minuten und schrieb ihm danach einen Brief, in dem er einen Plan zur Bekämpfung der Hyperinflation und wirtschaftliche Liberalisierung empfahl.451 Ähnliche Ratschläge erteilte er übrigens auch kommunistischen Diktaturen wie der Sowjetunion, China oder Jugoslawien.452 Während es weltweit eine Kampagne gegen ihn wegen der »Beratung« Chiles gab, regte sich bezeichnenderweise kein Mensch darüber auf, dass er kommunistische Länder beriet.
Die Wirtschaftspolitik der von ihm inspirierten »Chicago Boys«, zu denen der chilenische Wirtschafts- und spätere Finanzminister Sergio de Castro Spikula gehörte, kommentierte Friedman teilweise sehr positiv, aber nicht unkritisch. So rügte er beispielsweise Castros Entscheidung, die chilenische Währung mit einem festen Wechselkurs an den Dollar zu koppeln. Castro und seine Anhänger begannen mit einem Programm, dessen Kernpunkte der Abbau von Staatsausgaben, eine umfassende Deregulierung des Finanz- und Wirtschaftssystems, die Privatisierung von Staatsunternehmen (allerdings nicht der Kupferindustrie) und die Öffnung des Landes für ausländische Investoren waren. Die Philosophie der Allende-Regierung, die ganz auf den Staat setzte, wurde geradezu in ihr Gegenteil verkehrt: »Der Staat und alles, was mit dem öffentlichen Sektor verbunden war, wurden nunmehr als zentrale Ursache für alle Probleme gesehen. Je weniger der Staat in die Wirtschaft eingriff, desto schneller und höher würde der gesellschaftliche Wohlstand wachsen. Das war der Hintergrund für die zahlreichen Wirtschaftsreformen, die unter der Herrschaft der Militärjunta durchgeführt wurden: Privatisierung und Reprivatisierung, Reform des Staates, Finanzreform, Liberalisierung, Deregulierung, Öffnung der Wirtschaft und Unabhängigkeit der Zentralbank.«453
In Allendes Zeit kontrollierte der Staat 400 Unternehmen und Banken; in den 80er-Jahren waren es nur noch 45 Firmen, darunter eine Bank.454 Überall wurde der Staat zurückgedrängt: Die Preiskontrollen wurden aufgehoben, die Vermögensteuer und die Steuer auf Veräußerungsgewinne abgeschafft, die Ertragsteuern gesenkt. Ein Großteil der Steuereinnahmen kam jetzt aus der Mehrwertsteuer, die für alle Güter und Dienstleistungen 20 Prozent betrug. Wieder trat das »Wunder« ein, das wir schon bei Margaret Thatcher und Ronald Reagan gesehen haben: Die Senkung der Steuertarife führte nicht zu sinkenden, sondern zu steigenden Steuereinnahmen, die von 22 Prozent des Bruttoinlandsproduktes in den Jahren 1973/74 auf 27 Prozent in den Jahren 1975 bis 1977 wuchsen. Und statt des chronischen Haushaltsdefizits gab es in den Jahren 1979 bis 1981 sogar einen Überschuss der Einnahmen über die Ausgaben des Staates.455
Vergleicht man die Jahre 1973 und 1981, dann wird der Erfolg dieser Politik deutlich. Die Inflation, die 1973 bei über 600 Prozent lag, war nur langsam zurückgegangen, betrug aber 1981 lediglich noch 9,5 Prozent. Das Wirtschaftswachstum, das 1973 mit -4,3 Prozent negativ war, betrug 1981 5,5 Prozent. Die Exporte stiegen von 1,3 Milliarden Dollar (1973) auf 3,8 Milliarden Dollar im Jahr 1981. Noch bemerkenswerter war, dass die nicht traditionellen Exporte, also solche, die nicht Kupfer und andere Rohstoffen betrafen, von 104 Millionen Dollar im Jahr 1973 auf 1,4 Milliarden im Jahr 1981 hochschnellten. Und die Reallöhne, die 1973 um mehr als 25 Prozent gesunken waren, stiegen 1981 um neun Prozent.456
Langfristig war die Wirtschaftspolitik der »Chicago Boys« entscheidend für Chile und die heutige gute wirtschaftliche Verfassung des Landes wäre ohne diese Weichenstellungen nicht denkbar. Kurzfristig war das Ergebnis ihrer Maßnahmen jedoch widersprüchlich: Wie auch bei den Reformen Thatchers und Reagans kam es zunächst zu einem Anstieg der Arbeitslosenzahl. Doch schon wenig später stellten sich sehr positive Effekte ein.
Chile gewann das Vertrauen ausländischer Investoren, die Exporte stiegen an, die Defizite im Staatshaushalt wurden gesenkt. Insgesamt erzielte die chilenische Wirtschaft innerhalb von vier Jahren ein Wachstum von 32 Prozent. Die internationale Finanzwelt und Wirtschaftspresse feierten Chile als neues Wirtschaftswunderland. Der Massenkonsum nahm zu und spiegelte den Anstieg des Lebensstandards vieler Chilenen. So kletterte beispielsweise die Zahl der zugelassenen Automobile zwischen 1976 und 1981 rasant in die Höhe.457
Anfang der 80er-Jahre kam es in ganz Lateinamerika zu einer großen Schuldenkrise. 1982 teilte Mexiko mit, dass es seinen Schuldendienst einstelle, und erklärte den teilweisen Staatsbankrott. Als 1982 der Kapitalzufluss auch nach Chile zurückging, rutschte die Wirtschaft, so wie in anderen lateinamerikanischen Staaten, in eine Rezession. Die Jahre 1982/83 waren die schlimmste Rezession, die Chile seit den 30er-Jahren erlebte, das Bruttoinlandsprodukt sank um 15 Prozent, die tatsächliche Arbeitslosigkeit stieg auf 30 Prozent.458 Über die Ursachen für die dramatische Krise in den Jahren 1982 bis 1983 wird bis heute diskutiert. Neben den externen Gründen, die auch andere lateinamerikanische Staaten betrafen, waren Fehler der Regierung eine Ursache. Chile gelang es allerdings, diese heftige Krise rascher als andere lateinamerikanische Länder zu überwinden: »Chile führte den Kontinent an auf dem Weg aus dieser Rezession. Es war das einzige von der Schuldenkrise betroffene Land, welches das Niveau des Bruttoinlandsproduktes vor dem Ende der 80er-Jahre wieder erreichte, während für die meisten anderen Länder die ganze Dekade als das ›verlorene Jahrzehnt‹ galt.«459
Nachdem die Krise überwunden war, setzte die Regierung die Reformen fort. Es gab eine zweite große Privatisierungswelle, bei der die Staatsführung aus den Fehlern der ersten Privatisierungen gelernt hatte. Während in der ersten Privatisierungswelle die meisten Unternehmen mit hohen Krediten gekauft wurden, was später zu Problemen wegen des hohen Schuldenstandes führte, wurden jetzt viele Unternehmen an die Börse gebracht, sodass sie über ein hohes Eigenkapital verfügten. 1986 begann die Privatisierung aller großen Unternehmen – mit Ausnahme der staatlichen Kupfergesellschaft GMC. Insgesamt wurden Staatsunternehmen mit einem Wert von 3,6 Milliarden Dollar privatisiert.460
Politisch wandelte sich das System in Chile, nachdem Pinochet 1988 einen Volksentscheid zur Verlängerung seiner Amtszeit verlor. Bei den Präsidentschaftswahlen 1989 gewann ein demokratisches Wahlbündnis und von 1990 bis 1994 regierte der Christdemokrat Patricio Aylwin Azócar. Milton Friedman wertete den Übergang von der Diktatur zur Demokratie als Erfolg der wirtschaftlichen Liberalisierung, die die politische Liberalisierung nach sich gezogen habe: »Der chilenischen Wirtschaft ging es sehr gut, aber wichtiger war, dass letztlich die Militärjunta durch eine demokratische Gesellschaft abgelöst wurde. Das wirklich Wichtige an der Sache war, dass die Marktwirtschaft in Chile eine freie Gesellschaft hervorgebracht hat.«461
Auch wenn nicht zu bestreiten ist, dass die Liberalisierung der Wirtschaft einen Beitrag zur Stärkung der Zivilgesellschaft leistete und damit eine der Ursachen für das Ende der Diktatur war, so scheint es doch eine Übertreibung, wenn Friedman den Sieg der Demokratie als direkte und zwingende Folge der wirtschaftlichen Reformen betrachtet. In anderen Ländern – wie etwa in China – folgte zumindest bisher aus der wirtschaftlichen Liberalisierung keine Demokratisierung, sodass es zweifelhaft ist, einen zwingenden Zusammenhang zu postulieren.
Gleichwohl ist der nachhaltige Erfolg der liberalen Wirtschaftsreformen der »Chicago Boys« nicht zu bestreiten. Sie legten das langfristige Fundament für den heutigen Erfolg Chiles. Wenn der südamerikanische Staat heute zu den wirtschaftlich freiesten Länder der Welt zählt, dann ist das eine Folge der damaligen Reformen, die zwar von nachfolgenden Regierungen sozialpolitisch korrigiert, aber im Grundlegenden nicht infrage gestellt wurden. Auch in der Zeit der Präsidentschaft der beiden Sozialisten Ricardo Lagos Escobar (2000 bis 2006) und Michelle Bachelet (2006 – 2010 und wieder seit 2014) blieb Chile ein marktwirtschaftlich ausgerichtetes Land. Im Jahr 2010 wurde es sogar als erstes südamerikanisches Land in die OECD (Organization for Economic Cooperation and Development) aufgenommen, was ein klares Signal dafür ist, dass Chile, anders als die meisten Staaten der Region, zu den entwickelten Ländern der »Ersten Welt« gehört. Das ist umso bemerkenswerter, als Chile vor den marktwirtschaftlichen Reformen eine der am stärksten protektionistischen Volkswirtschaften der Welt war.
Es ist eines der stärksten Argumente für die Reformen der »Chicago Boys« in der Pinochet-Zeit, dass weder die in den 90er-Jahren regierenden Christdemokraten noch die später regierenden Sozialisten die grundsätzlich marktwirtschaftliche Ausrichtung infrage stellten. Im fünften Kapitel haben wir gesehen, dass dies auch in Großbritannien nach den marktwirtschaftlichen Reformen von Thatcher und in den USA nach den Reformen von Reagan nicht anders war: Auch der Sozialdemokrat Tony Blair und der Demokrat Bill Clinton hielten an ihnen fest.
Kritiker der Reformen der »Chicago Boys« führten an, dass mit dem unzweifelhaften ökonomischen Erfolg eine zunehmende soziale Ungleichheit einherging. Der ehemalige Wirtschafts- und Finanzminister de Castro Spikula erwiderte auf diese Kritik: »Die Säuglingssterblichkeit beispielsweise lag 1970 noch bei 80 von 1.000 Kindern. Bis 1990, also gegen Ende der Militärjunta, war sie auf 20 von 1.000 gesunken. Das war ein Ergebnis der wirtschaftlichen Gesundung, die es der Regierung erlaubte, mehr Geld für die Armen auszugeben.«462
Andere Wirtschafts- und Sozialindikatoren zeigen jedoch in der Tat eine große Ungleichheit, die bis heute Chiles Gesellschaft prägt. So ist laut dem sogenannten Gini-Index, der die Abweichung der Verteilung des Einkommens in einer Volkswirtschaft misst, Chile eines der 20 ungleichsten Länder der Welt.463 Doch die Mehrheit der Chilenen schätzt offenbar den wirtschaftlichen Fortschritt für dieses lateinamerikanische Musterland höher als die von Kritikern bemängelte »soziale Ungerechtigkeit«. Darum hielten sogar die sozialistischen Regierungen im Grundsatz an dem marktwirtschaftlichen Kurs fest, und im Jahr 2010 – nach einem Jahrzehnt mit sozialistischen Präsidenten – wählten die Chilenen mit Sebastián Pi˜nera einen strikten Marktwirtschaftler zum Präsidenten. Er hatte der Regierung Pinochets nahegestanden, und sein Bruder hatte damals das privatisierte Sozialversicherungssystem eingeführt. »Der Sieg von Sebastián Pi˜nera«, schrieb denn auch das »Handelsblatt« nach seiner Wahl, »könnte signalisieren, dass wieder eine Art Vollblutkapitalismus Einzug in Lateinamerika hält.«464 Allerdings scheint auch dieser Weg kurvenreich, denn 2014 wurde die bereits erwähnte Sozialistin Michelle Bachelet zum zweiten Mal ins Präsidentenamt gewählt.
Die linksliberale »Zeit« veröffentlichte Ende Juni 2017 einen Beitrag unter der Überschrift »Endstation Reichtum«, in dem es einerseits kritisch hieß: »Hier regiert der Kapitalismus stärker als anderswo – mit allen Konsequenzen für den sozialen Zusammenhalt und die Schwächeren in der Gesellschaft. Kannst du nicht mithalten, gehörst du nicht dazu: Das ist ein kulturelles Erbe der Militärdiktatur Augusto Pinochets, die von 1973 bis 1990 das schmale Land in Randlage Südamerikas bestimmte. Pinochet ist lange tot, aber seine Chicago Boys leben weiter […] Bis heute setzen auch die demokratischen Nachfolgeregierungen dem Markt nur sehr wenige Regeln.«465
Andererseits erkennt aber auch die kritische »Zeit« an: »Die Arbeitslosigkeit ist mit sechs Prozent ähnlich niedrig wie in Deutschland, die Inflation ebenfalls nicht der Rede wert. Chiles Staatsanleihen sind gut bewertet. Im Vergleich mit dem als chaotisch geltenden Umfeld in Lateinamerika gelten die Chilenen als verlässliche Geschäftspartner. Die Infrastruktur funktioniert, es wird gebaut und investiert, Nah- und Fernverkehr fließen. In den vergangenen Jahren ist der Lebensstandard gestiegen, auch für die Armen.«466
In der Tat: Das Pro-Kopf-Einkommen der knapp 18 Millionen Chilenen ist fast doppelt hoch wie das der Brasilianer. Und der Anteil der armen Bevölkerung nahm bereits zwischen 2003 und 2014 von 20 Prozent auf sieben Prozent ab. Im gleichen Zeitraum sind die Einkommen der 40 Prozent ärmsten Chilenen stärker gestiegen als die Durchschnittseinkommen. Chile ist 2017 die Nummer eins in Lateinamerika auf der Rangliste des Weltwirtschaftsforums der wettbewerbsstärksten Länder der Welt. Sein Banksystem ist das solideste der Region. Die Unternehmen finden dort eine der besten Standortbedingungen weltweit. Es ist das offenste Land in Lateinamerika und unterhält Freihandelsabkommen mit Staaten, die zusammen 75 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung erbringen. In den vergangenen 30 Jahren hat Chiles Wirtschaft um etwa fünf Prozent im Jahr zugelegt.467
In den Jahren 1990 bis 2005 zählte das chilenische Wirtschaftswachstum zu den stärksten der Welt und lag im internationalen Vergleich ungefähr gleichauf mit Südkorea, während es das der anderen lateinamerikanischen Länder bei Weitem übertraf. Niedrige Unternehmensteuern sowie die Deregulierung der Kapitalmärkte schufen Investitionsanreize. Hinzu kam die konsequente Privatisierung der Infrastruktur, von Verkehrsbetrieben und -einrichtungen über Krankenhäuser, Gefängnisse, Telekommunikation bis hin zur Trink- und Abwasserversorgung.468
Andererseits ist die Wirtschaft Chiles nach wie vor sehr stark vom Kupfer abhängig. Das Land verfügt über die größten Kupfervorkommen der Welt und hat etwa ein Drittel des Anteils an der Weltproduktion. Der Kupferpreis war von einem Tief von 1.438 Dollar (pro Tonne) im Jahr 1998 bis auf ein Hoch von 8.982 Dollar im Jahr 2008 gestiegen, allerdings fiel er im gleichen Jahr bis auf 2.767 Dollar. Im Jahr darauf legte der Kupferpreis um über 150 Prozent zu und in den folgenden Jahren gab es ein Auf und Ab mit extremen Schwankungen.
Dass dies in einem Land, das in so hohem Maße von Kupfer abhängt, zu Problemen führt, liegt auf der Hand. Doch erinnern wir uns an Venezuela, wo der starke Anstieg des Ölpreises der Auslöser für den Boom war und es Hugo Chávez ermöglichte, mit vollen Händen soziale Wohltaten zu verteilen. Der Rückgang des Ölpreises wurde dann als Grund für die dramatischen wirtschaftlichen Probleme Venezuelas angeführt. Doch dies ist, wie der Vergleich zu Chile zeigt, allenfalls die halbe Wahrheit. Tödlich für Venezuela war die Kombination einer sozialistischen Staatswirtschaft mit der hohen Abhängigkeit vom Öl. Chile hat, als marktwirtschaftlicher Gegenentwurf zu Venezuela, den Rückgang und die starken Schwankungen beim Kupferpreis weitaus besser verkraftet.
Das Beispiel Chiles zeigt nicht nur die Überlegenheit eines kapitalistischen gegenüber einem sozialistischen Wirtschaftssystem, sondern bringt noch eine andere Erkenntnis: Es ist sehr schwierig, den Kapitalismus sozusagen in einer »Schocktherapie« von einem Tag auf den anderen einzuführen, wie das die »Chicago Boys« in den 70er-Jahren versuchten. Dies ist der entscheidende Unterschied zwischen dem von Intellektuellen konzipierten sozialistischen Wirtschaftssystem und dem Kapitalismus. Der Kapitalismus ist eben, anders als der Sozialismus, kein »erdachtes« System, das man von einem Tag auf den anderen Tag einführen kann – auch nicht in einer Diktatur.
Der Kapitalismus ist eine gewachsene, spontane Ordnung. Wir haben im ersten Kapitel über den chinesischen Weg vom Sozialismus zum Kapitalismus gesehen, dass er dort nicht von heute auf morgen per Verordnung eingeführt wurde, sondern über Jahrzehnte wuchs, wobei der spontane Prozess »von unten« ebenso wichtig war wie die Ermöglichung dieses Prozesses durch Politiker wie Deng Xiaoping. So bildeten die Reformen der »Chicago Boys« in Chile zwar den Ausgangspunkt und waren eine wichtige Weichenstellung, aber erst in den folgenden Jahrzehnten bildete sich eine erfolgreiche kapitalistische Wirtschaftsordnung in dem lateinamerikanischen Land heraus.