Vorwort
Warum Europa und Amerika zwei verschiedene Welten sind

Die westliche Zivilisation dominiert im Moment den Planeten, doch kann man kaum behaupten, sie steuere problemlos und sicher in die Zukunft. Die weitere Entwicklung wird von Wissenschaft geprägt werden, langfristig auch von der Grundlagenwissenschaft. Um deren Zustand zu verstehen, muss man ihre geschichtliche Entwicklung ehrlich betrachten. Für die Wissenschaft benutzen wir den Verstand, der beeinflusst ist von Traditionen und Kulturen, welche das menschliche Gehirn von Kindheit an formen. Diese Denktraditionen sind Thema dieses Buches.

Die moderne Wissenschaft begann vor etwa vierhundert Jahren mit der Aufklärung uwnd erfuhr mit der technologischen Entwicklung Ende des 19. Jahrhunderts einen außerordentlichen Schub. Diese Blüte der Naturwissenschaften ging von der Physik aus, deren Erkenntnisse über Naturgesetze zu den größten Leistungen gehören, die der menschliche Geist je bewältigt hat. Die zugrunde liegende Kultur des Denkens stammt aus Europa, nicht zufällig der Kontinent, der die Welt über diese Jahrhunderte hinweg militärisch und politisch beherrschte. Anfang des 20. Jahrhunderts, spätestens aber mit Ende des Zweiten Weltkriegs, stieg Amerika zur führenden Macht auf, und ebenfalls nicht zufällig wurde es zum Zentrum der modernen Naturwissenschaften.

Obwohl von Historikern wenig thematisiert, ging dies mit einem Bruch wissenschaftlicher Kultur einher. Während die europäische, naturphilosophische Forschungstradition auf grundlegende Naturgesetze gerichtet war und der Frage nachging, »was die Welt im Innersten zusammenhält«, dominierte in der technologisch orientierten Kultur der neuen Welt der Wunsch, große visionäre Projekte wie die Atombombe und die Mondlandung zu realisieren, auch wenn diese undenkbar erschienen. Diese mögen die größten technologischen Errungenschaften der Menschheit sein; die größten intellektuellen Leistungen sind sie nicht. Während in der europäischen Tradition das technisch-erfinderische Element Hand in Hand mit der Grundlagenforschung ging, fehlt in der US-Wissen­schafts­praxis seit knapp hundert Jahren das Element der naturphilosophischen Reflexion. Dies hat offensichtliche kulturelle Ursachen. Wenn man es zuspitzt: Amerikaner denken nicht gern gründlich nach.

Diese Aussage bedarf verschiedener Einschränkungen. Niemand, der die Lebensbedingungen vor einhundert Jahren mit den heutigen vergleicht, kann die unglaubliche Entwicklung der Zivilisation leugnen, zu der Amerika mit seinen Innovationen, seiner Wirtschaftskraft, aber auch mit seinen Werten entscheidend beigetragen hat. Die Menschheitsgeschichte ist voller Elend und Katastrophen, doch bei aller berechtigten Kritik an den USA hätte es im letzten Jahrhundert weitaus schlimmer kommen können. Ist man am Fortbestand der Zivilisation interessiert, muss man jedoch analysieren, mit welcher Denkweise die Menschen an die Erforschung der grundlegenden Naturgesetze herangingen. Dass sich dabei eklatante Unterschiede zwischen Europa und Amerika auftun, kann niemand, der sich damit auseinandersetzt, bestreiten.

Westlich ist nicht gleich westlich

Allerdings ist dies nicht streng geographisch zu verstehen, allein schon wegen der Mobilität der Wissenschaftler, die oft in vielen Ländern forschen. Die Unterscheidung betrifft auch nicht in erster Linie Individuen, bei denen es eine Reihe von Ausnahmen gibt; vielmehr geht es um die in der Wissenschaft vorherrschende Denktradition. Da die europäischen Wurzeln physikalischer Grundlagenforschung schon in den 1930er Jahren abzusterben begannen, hat sich die US-amerikanische Kultur heute in ganz Europa und darüber hinaus ausgebreitet und wird gemeinhin als »westliche« bezeichnet. Dieser zu undifferenzierte Begriff ist eine der Ursachen dafür, dass die langfristigen Folgen eines zu oberflächlichen Denkens und die damit einhergehenden Schattenseiten der Technologie oft der Wissenschaft als solcher angelastet werden und zu einer allgemeinen Technikfeindlichkeit führen. Für ein Verständnis der offensichtlichen Krise der »westlichen« Zivilisation ist daher ein Studium ihres Vorläufers, der europäischen Forschungstradition, unabdingbar.

Die europäische Physikkultur ist bis hin zu den Denkern im alten Griechenland in der Philosophie verwurzelt. Später wurde sie durch die von Galilei begründete empirische Methode besonders fruchtbar. In Amerika hat sich die Physik dagegen vollkommen von der Philosophie verabschiedet. Manche philosophischen Traktate erschöpften sich ja tatsächlich in einem Kneten von Begriffen und kamen zu Recht nie in der neuen Welt an. Aber ganz ohne philosophische Tradition wurzelten die dort entwickelten Theorien zu flach.

Dies ist keine generelle Kritik an der theoretischen Physik. Insbesondere ist dem bösartigen Missverständnis vorzubeugen, die hier geforderte Besinnung hätte etwas zu tun mit der »Deutschen Physik«, einer ab den 1920er Jahren aktiven Gruppe von Experimentalphysikern, welche den revolutionären Inhalt von Relativitätstheorie und Quantenmechanik schlicht nicht verstanden und später im Windschatten der NS-Ideologie ihre Karriere beförderten, indem sie gegen Einstein polemisierten. Vielmehr ist es gerade Albert Einstein, der die europäische Denkkultur symbolisiert und Opfer des Bruches in der Physiktradition wurde, die hier Thema ist.

Wie kein anderer hatte Einstein seine Erkenntnisse von grundlegenden Prinzipien abgeleitet, ehe er, vom Antisemitismus angewidert, nach Amerika emigrierte. Für die dort beginnende Teilchenphysik der Apparate interessierte er sich nicht; umgekehrt wurde sein theoretisches Genie keineswegs besonders geschätzt, geschweige denn zur Fortsetzung der Physiktradition Europas verwendet, obwohl noch viele andere Physiker der Barbarei der Nazis und des Krieges im alten Kontinent den Rücken gekehrt hatten. Tatsächlich war Einstein in Princeton zunehmend isoliert, während die Riege der führenden US-Physiker geschäftig ganz anderen Problemen nachging als jenen grundlegenden Fragen, über die Einstein zeitlebens nachdachte.

Ein Albtraum in Zeitlupe

Tragischerweise hat der Pazifist Einstein mit seinem Brief an Präsident Roosevelt im August 1939 auch zur Atombombe beigetragen, welche den Machtwechsel von Europa nach Amerika endgültig vollzog. Diese Waffe ist das wichtigste Symbol jener Entwicklung, welche den Fokus der Grundlagenforschung dauerhaft vom individuellen Denken zu kollektiven Großprojekten verschob. Der erfolgreiche Bau der Bombe verführte die amerikanischen Theoretiker zu der Annahme, dies qualifiziere sie für fundamentale Physik. Dem ist leider nicht so. Die wissenschaftliche Vormachstellung der USA nach dem Krieg war hauptsächlich eine Begleiterscheinung ihrer militärischen und politischen Macht, während grundlegende Fragen seit 1930 weiterhin ungelöst sind.

»Aufrichtig zu sein, kann ich versprechen, unparteiisch zu sein, aber nicht.« – Johann Wolfgang von Goethe

Fraglos sind die USA bis heute das dominierende Imperium. Die Historie ihres Aufstiegs1 ist daher einer näheren Beschäftigung wert, gerade auch wegen der einschneidenden Auswirkungen auf die Wissenschaftstradition. Diese ist in Europa entstanden, daher kann man Kritikern mit einem geschlossenen Weltbild, die eine solche Analyse »eurozentrisch« nennen wollen, wenig helfen. Ich räume aber ein, dass meine eigene Sichtweise als Wissenschaftler von der europäischen Tradition geprägt ist und insofern nicht beanspruchen kann, ganz ausgewogen zu sein. Da die gegenwärtige Physik sich ihrer Wurzeln weitgehend entledigt hat, scheint mir jedoch so ein Gegengewicht nicht unangebracht.

Die Physik, aus deren Perspektive ich die historische Entwicklung betrachte, beschäftigt sich mit grundlegenden Naturgesetzen, die nur einen Teil der Wissenschaft ausmachen. Aber auch in den angrenzenden Disziplinen gibt es viele offene Fragen: Warum beispielsweise besteht der genetische Code, der allem irdischen Leben zugrunde liegt, gerade aus jenen 2022 Aminosäuren? Solche Themen hört man in der derzeitigen Forschungskultur selten. Wenn ich jedoch hier von Wissenschaft spreche, gilt dies im engeren Sinne oft nur für die elementare Physik, wenn auch vieles nahelegt, dass es in den anderen Naturwissenschaften ähnliche Muster gibt. Angesichts der allgemeinen Denktraditionen, die sich gut belegen lassen, wäre dies jedenfalls nicht überraschend.

Denken ohne Dominanz

Diese Analyse ist im Übrigen nicht »antiamerikanisch«. Es gibt kaum ein Imperium in der Geschichte, dem man nicht berechtigte Kritik entgegenbringen kann, aber insgesamt haben amerikanische Tugenden die Zivilisation durchaus vorangebracht. Das beste Beispiel für Mut, Tatkraft und Optimismus ohne allzu viel »europäische« Bedenken sind vielleicht die Gebrüder Wright. Obwohl ein Theoretiker »bewiesen« hatte, dass sich ein schwerer Körper nie dauerhaft in der Luft halten könne, bauten sie einfach ein funktionierendes Flugzeug. Das Unmögliche möglich zu machen bleibt bis heute der Inbegriff des amerikanischen Traums.

»Der Amerikaner ist freundlich, selbstbewusst, optimistisch und – neidlos. Der Europäer dagegen kritischer, bewusster, weniger gutherzig und hilfsbereit, anspruchsvoller in seinen Zerstreuungen …. meist mehr oder weniger Pessimist.«2 – Albert Einstein

 

Dennoch sind für eine nachhaltige Entwicklung der Zivilisation beide Komponenten, das Anpacken und die Reflexion, nötig. In Europa strebte man mehr nach Erkenntnis statt Nutzen, nach Wissen statt nach Macht, Entdeckung zählte mehr als Erfindung, Wahrheit war der Maßstab, nicht nur Erfolg. Ziel war es, Phänomene zu erklären, nicht nur zu beschreiben, das theoretische Verständnis stand vor der praktischen Anwendung, die Vereinigung vor der Spezialisierung. Europäische Wissenschaftler setzten mehr auf allgemeine Prinzipien statt auf davon losgelöste Rechnungen. Generell gingen sie skeptischer, aber auch demütiger zu Werke als ihre optimistischen und gelegentlich selbstgefälligen Kollegen in Amerika.

Blickt man auf die Gegenwart einer globalisierten Welt, sind diese nationalen Kategorien kaum mehr auszumachen, wohl aber eine Krise der Grundlagenphysik, die nicht zu übersehen ist.3 Deren Ursachen lassen sich jedoch nur begreifen, wenn man die derzeit vorherrschende Denkweise betrachtet, die im Wesentlichen in den USA entstanden ist.

Während die Unterschiede in der Mentalität und den Traditionen offensichtlich sind, lohnt sich ein gründlicher Blick auf die Geschichte, welcher den Schwerpunkt des Buches ausmacht. Dabei springt ins Auge, dass die unterschiedlichen Zugänge nicht auf die Naturwissenschaft beschränkt sind. Es trägt daher zum Gesamtverständnis bei, die europäische und amerikanische Kultur zunächst auch bei den Themen Bildung, Politik und Wirtschaft zu betrachten. Diese werden auch eine Rolle spielen, um am Ende des Buches die Auswirkungen auf die Zivilisation abzuschätzen, die sich aus dieser allgemeinen Krise des Denkens ergeben, deren kulturgeschichtliche Konsequenzen sicher nicht auf die Physik beschränkt bleiben.

München, im Januar 2022