Zu den Problemen der Quantentheorie, die im letzten Kapitel genannt wurden, kamen Ende der 1920er Jahre noch weitere hinzu. Paul Dirac konstruierte 1928 eine Gleichung, die weltweite Anerkennung gefunden hat, weil sie Schrödingers Wellenansatz mit Einsteins Relativitätstheorie kombinierte. Sie führte zu interessanten Formeln, mit denen der Spin des Elektrons beschrieben werden konnte.XLIX Diracs ursprüngliches Ziel war jedoch ein anderes: Er hatte gehofft, mit seinem Ansatz die Masse des Elektrons zu berechnen, die schon bald nach seiner Entdeckung im Jahr 1897 präzise bestimmt werden konnte. In der europäischen Tradition war es selbstverständlich, beobachtete Messwerte auch theoretisch herzuleiten. Darin besteht eigentlich die Kernaufgabe der Grundlagenphysik. Trotz Diracs intensiven Bemühungen, die noch lange andauerten, scheiterte er an diesem großen Ziel und es wurde immer deutlicher, dass sich ein ganz prinzipielles Problem dahinter verbarg.
Es gibt drei Formeln in der Physik, die bestens bestätigt sind und an deren Gültigkeit daher niemand ernsthaft zweifelt: das von Coulomb entdeckte Gesetz für das elektrische Feld einer Ladung, eine weitere Formel, die den Energieinhalt dieses elektrischen Feldes angibt und schließlich Einsteins berühmter Zusammenhang zwischen Energie und Masse, E=mc2. Geht man von einem punktförmigen Elektron aus, so hat dessen Feld jedoch einen unendlich großen Energieinhalt, mithin müsste das Elektron eine unendliche Masse haben, was offenbar unsinnig ist: Ganz unzweifelhaft ergibt die Messung nur 9,11·10-31 kg, einen winzigen, aber endlichen Wert. Schon Antoon Hendrik Lorentz hatte sich über dieses Problem den Kopf zerbrochen, das Selbstenergie des Elektrons genannt wird. Umgekehrt sind alle Theorien gescheitert, welche von einer endlichen Ausdehnung des Elektrons ausgingen.L Offenbar treffen hier unsere herkömmlichen Vorstellungen von Materie nicht zu.
Wolfgang Pauli studierte zusammen mit Werner Heisenberg in München, die beiden hatten allerdings sehr unterschiedliche Charaktere. Heisenberg, der durchtrainierte Naturbursche, liebte das Wandern, während Pauli mehr dem Nachtleben zugetan war und regelmäßig seine Vorlesungen verschlief.1 Heisenberg war meist der Optimist, Pauli dagegen konnte in seiner destruktiven KritikLI grausam sein, aber wurde wegen seiner Direktheit auch das »Gewissen der Physik« genannt. Zu dem obigen Thema äußerte er ganz unumwunden: »Man wird uns zu der Physikergeneration zählen, die solch grundlegende Probleme wie die Selbstenergie des Elektrons ungelöst zurückließ.«
Allerdings hatte Pauli die Kultur des Verstehen-Wollens an anderer Stelle beschädigt. Die Ergebnisse zum Betazerfall (schnelle Elektronen werden aus dem Atomkern herausgeschleudert) deuteten darauf hin, dass dabei Energie verloren ging. Pauli vermutete zunächst eine übersehene Abstrahlung und äußerte sich boshaft-zweifelnd über die Fähigkeiten der Experimentatoren: »Auch glaube ich, dass die … irgendwie dabei mogeln und die Gammastrahlen ihnen nur infolge ihrer Ungeschicklichkeit bisher entgangen sind.«
Aber als sich die merkwürdigen Resultate bestätigten, schlug er, vielleicht gar nicht völlig im Ernst,LII ein neues Teilchen vor (später Neutrino genannt), das genau die fehlende Energie mit sich fortgetragen haben sollte. Aus damaliger Sichtweise war dies eine billige Ausrede, und kurz darauf klagte er sich sogar selbst an: »Heute habe ich etwas Unverzeihliches getan. Ich habe etwas, was man nicht erklären kann, durch etwas ersetzt, dass man nicht messen kann.« Auch Paul Dirac kommentierte trocken, er halte dies für einen Trick, der mit dem einzigen Ziel erfunden wurde, die »Energiewaage wieder ins Lot zu bringen«.2 Wahrscheinlich haben zu dieser Zeit weder Pauli noch Dirac geahnt, dass Neutrinos einmal zu einem eigenen Forschungsgebiet werden würden.
Es ist schwer zu ergründen, was Pauli zu seinem Vorschlag bewogen hat. Die ausbleibende Klärung der Rätsel der Quantenmechanik mag eine Rolle gespielt haben. Vielleicht wollte er tatsächlich, wie er an anderer Stelle ironisch anmerkte, Niels Bohr und seine Arbeitsgruppe ärgern, die über eine Verletzung des Energieerhaltungssatzes nachdachten. Kurze Zeit vorher hatte Pauli, unmittelbar nach seiner Scheidung, zu trinken angefangen. Später ließ er sich von dem bekannten Psychoanalytiker C. G. Jung therapieren, was sogar zu einer wissenschaftlichen Zusammenarbeit führte.
In der Physik war Pauli jedenfalls zerrissen zwischen einer naturphilosophischen Tradition, Dinge grundlegend verstehen zu wollen, und einer pragmatischen Art, überraschende Ergebnisse ohne allzu viel Nachdenken einzuordnen. Natürlich sind alle jene Auswüchse, zu denen das Neutrino-Modell später führen sollte und wohl kaum seine Billigung gefunden hätten, nicht allein Paulis Schuld; wenn nicht er, wäre möglicherweise jemand anders darauf gekommen, ein Teilchen einfach so zu postulieren. Es ist aber wichtig, sich vor Augen zu halten, dass zu jener Zeit dies niemand als Fortschritt, geschweige denn als eine große Entdeckung ansah.3 Das Neutrino erklärte nichts.
Paulis zwei Seelen repräsentierten eine Spaltung, die bald in der ganzen Physik bemerkbar werden sollte. Auf der einen Seite standen die schwierigen ungelösten theoretischen Probleme, auf der anderen Seite die spannenden, teils sensationellen Ergebnisse der Experimente. Diese Situation führte letztlich zu einer gigantischen Übersprungshandlung: Anstatt sich mit Theorien zu quälen, die die Realität endgültig abbilden könnten und dann doch meistens in Frustration endeten, gaben die Physiker der Verlockung der süßen und vergleichsweise tief hängenden Früchte der Beobachtungen nach, die nicht selten zu Berühmtheit und Nobelpreisen führten. Der erste, nachdenkliche Ansatz entsprang offenbar mehr aus Europa, während Amerika mit der fortschreitenden Technologie der Experimente Letzterem zugetan war.
»Es ist immer der Traum der Philosophen gewesen, alle Materie aus einem einzigen fundamentalen Teilchen zu konstruieren, also ist es nicht ganz befriedigend, dass wir zwei in unserer Theorie haben.« – Paul Dirac
1932 entdeckte der Engländer James Chadwick das Neutron, ein neutrales Teilchen, das sich nach ungefähr zehn Minuten spontan in ein Proton und ein Elektron aufteilt, ebenfalls eine Form des Betazerfalls. Seither wird beispielsweise ein Heliumkern aus zwei Protonen und zwei Neutronen bestehend angenommen, anstatt wie früher aus vier Protonen und zwei Kernelektronen. Die frühere Sichtweise war denkökonomischer, jedoch erklärte das Neutron einige Kerneigenschaften besser. An der Realität des Zerfalls besteht nicht der geringste Zweifel, wenn auch die Frage offenbleibt, warum die Natur so ein instabiles Kombinationsteilchen wie das Neutron erschaffen hat. Bevor man darüber nachdenken konnte, folgte jedoch schon die nächste Überraschung.
Am Caltech in Pasadena entdeckte Carl Anderson4 ebenfalls 1932 ein positiv geladenes Elektron, genannt Positron, dass beim Kontakt mit einem »normalen« Elektron sich zusammen mit diesem in reiner Energie von Lichtblitzen auflöst. Dies konnte zuerst der englische Physiker Patrick Blackett in Manchester nachweisen, dem auch schon 1924 die erste Kernumwandlung gelungen war. Dieses Phänomen der Paarvernichtung, ebenso wie der umgekehrte Prozess der Paarerzeugung von Teilchen aus reiner Energie, bestätigen eindrucksvoll Einsteins Formel E=mc2, bleiben aber grundlegend rätselhaft. Warum hat die Natur überhaupt diese zwei Erscheinungsformen, Licht und Materie, entwickelt, die sich auf diese Weise ineinander verwandeln können?
Mit diesen unbestreitbaren Ergebnissen sank jedoch auch die Hemmschwelle, weitere Teilchen zu postulieren. So stellte sich der japanische Theoretiker Hideki Yukawa ein Teilchen vor (später Pi-Meson genannt), welches die Kernkraft vermitteln sollte. Wenige Jahre vorher wäre so ein Vorschlag undenkbar gewesen, ja lächerlich gemacht worden. Nie hätte man ohne Not die Beschreibung der Realität durch weitere Teilchen verkompliziert. Überhaupt wäre es niemandem eingefallen, als dritte Kraft eine Kernkraft einzuführen, nur um zu beschreiben, wie die Neutronen und Protonen des Kerns zusammengehalten werden.
Trotzdem erfuhr Yukawa bereits in den 1930er Jahren breite Anerkennung für seinen Vorschlag. Tatsächlich hatte er gewisse Ähnlichkeit mit einer Theorie, die der Italiener Enrico Fermi zur Beschreibung des Neutrinos entworfen hatte, kurz nachdem dieses von Pauli vorgeschlagen worden war. Der 1901 geborene Fermi hatte schon 1922 seinen Doktortitel an der Universität Pisa erworben und studierte dann bei Arnold Sommerfeld in München. Unter den dort zahlreich vertretenen Hochbegabten war die Konkurrenz sicher nicht leicht und Fermi bekam den Eindruck, sein Talent werde nicht angemessen geschätzt.5
Aber vielleicht hatte Sommerfeld auch einfach recht. Naturphilosophisches Denken in europäischer Tradition war Fermi ganz offensichtlich fremd, auch wenn er später zu einem äußerst erfolgreichen Experimentator wurde. Rutherford, ebenfalls mehr der praktischen Labortätigkeit zugeneigt, gratulierte ihm 1934 zum »erfolgreichen Entrinnen aus der Sphäre der theoretischen Physik«. Bezeichnenderweise wurde Fermi später in Amerika als einer der führenden Physiker der Nachkriegszeit angesehen.
Es ist interessant, die sehr unterschiedliche Art und Weise zu betrachten, mit der Enrico Fermi und Paul Dirac die Physik beeinflussten. Fermi war ein hervorragender Lehrer. Er konnte spielerisch Experiment und Theorie verbinden, ging jedoch den großen philosophischen Fragen aus dem Weg; ebenso wenig interessierte ihn die Methode, wenn nur das Ergebnis stimmte. Aufgrund seines praxisorientierten Zugangs, die zur Verbreitung des Ingenieurgeistes unter einer neuen Generation amerikanischer Physiker beitrug, wurde er als »Quanteningenieur« bezeichnet.6
Ganz anders Dirac, den man eher »Elfenbeinturmphysiker« nennen konnte. Er interessierte sich weder für das Unterrichten noch für Experimente, war wortkarg und arbeitete am liebsten allein. Ihn faszinierten die großen Fragen und er suchte dabei auch nach methodischen Prinzipien. Seine Behauptung, gute Theorien müssten »schön« sein, ist zu kritisieren, aber vor allem deswegen, weil dieses Kriterium beliebig missbraucht werden kann und auch wurde.7
Einfachheit ist dagegen tatsächlich ein Kriterium für die Qualität einer physikalischen Theorie. Wie kein anderer sah Dirac die Aufgabe der Physik darin, Messwerte theoretisch zu berechnen, insbesondere auch unerklärte Zahlen wie das Proton-Elektron-Massenverhältnis 1836,15… Wenn Dirac nach abstrakten mathematischen Strukturen suchte, dann nur, um für die Physik wirklich Relevantes zu erklären. Fermis Bemühungen wirkten dagegen naiv. Dirac hätte sich niemals mit einem Modell der Kernkraft beschäftigt, welches ein Teilchen einführt, dessen Masse man nicht einmal berechnen konnte. Er hielt es explizit für unsinnig, sich neuen Teilchen zuzuwenden, bevor nicht die Masse des Elektrons und des Protons verstanden war.8 Trotzdem verbreitete sich ab 1940 Fermis oberflächliche Art der Modellbildung. Physiker wie Dirac sind dagegen heute ausgestorben.
»Nach unserer bisherigen Erfahrung sind wir nämlich zum Vertrauen berechtigt, dass die Natur die Realisierung des mathematisch denkbar Einfachsten ist.«9 – Albert Einstein
Ob von Yukawa oder Fermi, theoretische Basteleien gibt es inzwischen viele. Die Wahrheit aber ist, dass bis heute niemand wirklich weiß, warum wir Atomkerne in der beobachteten Form und Vielfalt vorfinden. Die Annahme, es gebe eine starke Kernkraft mit kurzer Reichweite erklärt dabei nicht wirklich etwas und trägt schon das Gift der Komplizierung in sich, welches noch nie ein Merkmal guter Naturgesetze war. Man halte sich vor Augen, dass Einstein sich nie auch nur einen Moment lang mit der Kernkraft beschäftigt hat, sondern über Jahrzehnte all seine Energie darauf verwendete, die beiden grundlegenden Wechselwirkungen, Gravitation und Elektromagnetismus, miteinander zu vereinigen. Offenbar hielt er die Kernkraft für ein sinnloses Konzept, das obsolet würde, sobald man das Vereinigungsproblem gelöst hätte.
Man kann nur darüber spekulieren, was Einstein, aber auch Dirac oder Schrödinger davon gehalten hätten, dass Fermis Beschreibung des Betazerfalls – in seiner Ursache bis jetzt ebenfalls unverstanden – heute als vierte, sogenannte ›schwache‹ Wechselwirkung bezeichnet wird. Allein die darin enthaltene Willkürlichkeit muss jedem naturphilosophisch orientierten Physiker suspekt sein. Dennoch gelten diese vier Wechselwirkungen heute als selbstverständlicher Kanon der theoretischen Physik.
Während Einstein um 1930 in den Sitzungsberichten der Preußischen Akademie der Wissenschaften über seine Ideen über eine einheitliche Feldtheorie publizierte, die er zusammen mit dem französischen Mathematiker Élie Cartan entwickelt hatte, wurde in den USA eine ganz andere Art von Physik betrieben.
»Warum sollte die Natur zwei Teilchen erzeugen, die sich nur in der Masse unterscheiden und sonst identisch sind? Das sind alles Beispiele für unerklärte bzw. unverknüpfte Fakten.«10 – Emilio Segrè
In der kosmischen Höhenstrahlung, in der Anderson das Positron gefunden hatte, suchte man nach weiteren Teilchen und fand exotische Erscheinungen wie zum Beispiel das Pi-Meson, welches dann als »Yukawa-Teilchen« interpretiert wurde, oder auch das Myon, welches in kürzester Zeit in ein Elektron zerfällt. Isaac Rabi, ein Sohn galizischer Einwanderer, der durchaus schon in der amerikanischen Physikkultur assimiliert war,LIII fragte bei der Entdeckung des Myons dennoch ironisch: »Wer hat denn das bestellt?«
Bald wurden diese Teilchen auch im Labor erzeugt und gemessen, was bei hohen Energien nicht unbedingt verwunderlich ist, jedoch die Begeisterung über den neuen Orchideengarten der Physik befeuerte. Neue Technologien ermöglichten immer neue Messungen. Ernest O. Lawrence, ein Sohn norwegischer Einwanderer, hatte zum Beispiel 1930 das Zyklotron entwickelt,11 ein Gerät, mit dem man geladene Teilchen auf Kreisbahnen zu ungeahnten Geschwindigkeiten beschleunigen konnte. Es stellt praktisch die Miniaturversion der heute weltgrößten Teilchenbeschleuniger dar.
Für das Verständnis der gesamten Physikgeschichte ist es wichtig zu erkennen, dass diese theoretischen Bemühungen in Europa und jene Beobachtungen vornehmlich in Amerika vollkommen getrennt voneinander abliefen. Sie hatten inhaltlich nichts miteinander zu tun und können daher auch nicht als kontinuierlicher Fortschritt betrachtet werden. Der psychologische Übersprung führte hier wörtlich von einem Kontinent zum anderen. Es gab nicht einmal eine gemeinsame Diskussionsbasis. Einstein strafte die neuen Teilchen mit der seiner höflichen Natur entsprechenden Verachtung, nämlich völligem Desinteresse. Aber auch unter den europäischen Begründern der modernen Atomtheorie wie Bohr, Dirac oder Schrödinger war niemand geneigt, sich über die blumige Vielfalt der neu entdeckten Teilchen theoretische Gedanken zu machen.
Das gleiche Desinteresse an Einsteins Versuchen zur Vereinigung von Elektrizität und Gravitation, an dem Machschen Prinzip oder an den kosmologischen Hypothesen von Dirac konnte man bei den amerikanischen Experimentalphysikern feststellen; wahrscheinlich konnten sie einfach nicht mitreden. Sie nahmen zwar vermehrt an Tagungen teil wie zum Beispiel Arthur Compton an der Solvay- Konferenz 1927, spielten aber eigentlich die Rolle der Handwerksburschen. Es ist nicht überliefert, dass sich beispielsweise in einer Diskussion zwischen Einstein und Bohr jemand von ihnen zu Wort gemeldet hätte.
Aus diesen sehr unterschiedlichen Denkweisen entwickelten sich entsprechend verschiedene Vorstellungen davon, was Fortschritt bedeutet. Für Dirac bestand dieser darin, unerklärte Zahlen, die die Natur mitteilte, theoretisch herzuleiten, was ihm jedoch trotz jahrzehntelanger Bemühungen nicht gelang. Sogar noch rätselhafter als das oben erwähnte Proton-Elektron Massenverhältnis 1836,15… ist die sogenannte Feinstrukturkonstante α=1/137.035999…. Sie gibt das Verhältnis der Geschwindigkeit des Elektrons im Wasserstoffatom zur Lichtgeschwindigkeit an, sicherlich eine elementare Eigenschaft der Natur. Die Feinstrukturkonstante lässt sich als Kombination verschiedener Naturkonstanten exakt messen, jedoch nicht theoretisch herleiten. Nach einer Anekdote unterbrach Dirac einen jungen Physiker, der ihm seine neue Theorie vorstellen wollte, unwirsch mit den Worten: »Können Sie die Feinstrukturkonstante berechnen? Nein? Kommen Sie wieder, wenn sie so weit sind!« Bis heute ist dies niemandem gelungen.
»Das ist eines der verdammt großen Rätsel der Physik: eine magische Zahl, die zu uns kommt und die kein Mensch versteht (…). Wir wissen sehr genau, was wir experimentell anstellen müssen, um diese Zahl genau zu messen, aber wir haben keine Ahnung, wie wir sie mit einem Computer berechnen können. (…) Jeder gute theoretische Physiker hängt sich diese Zahl an die Wand und grübelt darüber nach.« – Richard Feynman
Interessanterweise spricht man trotzdem von einer Quantenelektrodynamik, so als bestünde eine entsprechende Vereinigung dieser beiden Theorien. Tatsächlich bemühten sich aber die Theoretiker in den 1930er Jahren vergeblich, das Verhalten von Ladungen bei hohen Energien mit der Quantentheorie in Einklang zu bringen. Wegen der eklatanten Widersprüche zum Experiment sprach Dirac daher von einer »sogenannten Quantenelektrodynamik«.12 Dennoch arbeiten Legionen von Physikern heute daran, ohne sich um Diracs Einwände zu kümmern. Tatsächlich müsste eine Theorie, die diesen Namen verdient, in der Lage sein, jene Feinstrukturkonstante α=e2/(2 h c ε0) ≈1/137 zu berechnen, denn in ihr kommen sowohl die »elektrischen« Konstanten, als auch das Plancksche Wirkungsquantum h vor. Aufgrund dieses offensichtlichen Misserfolges bildete sich unter den europäischen Theoretikern eine große Frustration aus, und nur die hartnäckigsten unter ihnen setzten die Arbeit – meist alleine – daran fort. Letztlich zerstreuten sich aber die Schöpfer der Quantenmechanik und kapitulierten vor den ungelösten Problemen. Diracs Biograph Helge Kragh schreibt:13
»Bohr, Dirac, Pauli, Heisenberg, Born, Oppenheimer, PeierlsLIV und Fock, jeder auf seine Weise, waren zu dem Schluss gekommen, dass das Versagen der Quantenelektrodynamik bei hohen Energien einen revolutionären Bruch mit den bisherigen Vorstellungen erforderte.«
Zu diesem Bruch sollte es allerdings nie mehr kommen. Stattdessen verdrängte eine neue Generation von Physikern über dem Atlantik – davon wird im folgenden Kapitel noch näher die Rede sein – die Probleme und tröstete sich mit anderen, durchaus spannenden Dingen. Erneut beschreibt Kragh die Situation treffend:14
»Mit der Entdeckung der neuen Teilchen (Mesonen) in der kosmischen Strahlung erachtete man schließlich die bestehende Theorie – schrittweise in Details verbessert, aber im Kern unverändert – als brauchbar. Die empirischen Abweichungen waren damit abgemildert, und am Ende der 1930er Jahre hatten sich die Physiker mit der Theorie abgefunden und passten sich der neuen Situation an, ohne sich allzu viel um die fehlende Konsistenz und konzeptionelle Klarheit der Theorie zu kümmern.«
Was soll man mehr dazu sagen? Die europäische Tradition der Naturphilosophie hatte sich selbst aufgegeben und würde bald endgültig zusammenbrechen. Dies lag sicher an den immensen Schwierigkeiten, die sich auftaten, aber nicht nur. Denn zur gleichen Zeit sollten die Grundlagen der Zivilisation, nämlich humanistische Werte, Toleranz und internationale Zusammenarbeit in Europa noch schlimmer scheitern als die Physik.
Mit der deutschen Reichsgründung im Jahr 1871 durch Otto von Bismarck, der die Juden außerordentlich respektierte,15 waren diese vor der Verfolgung geschützt. Zwar war Antisemitismus in ganz Europa durchaus verbreitet, Pogrome wurden jedoch als unzivilisierte Ausbrüche angesehen, die im preußischen Beamtenstaat nichts zu suchen hatten. Entsprechend entwickelte sich die jüdische Gemeinde in Deutschland, vor allem in Berlin, obwohl sich viele Juden assimiliert hatten und die Bezeichnung somit eigentlich keinen Sinn mehr ergab. Wie David Nachmansohn in seinem Buch German-Jewish Pioneers in Science beschreibt, spielten Forscher jüdischer Abstammung bei der Entwicklung Deutschlands zur führenden Wissenschaftsmacht eine große Rolle. Man denke an Max Born, Wolfgang Pauli, Otto Stern, Lise Meitner, Fritz Houtermans, Fritz Haber, Otto Meyerhof, Otto Warburg und natürlich an Albert Einstein. Exemplarisch sei an das bewegte Leben von James Franck erinnert, der 1914 zusammen mit Gustav Herz in einem außerordentlich wichtigen Versuch die Gültigkeit des Bohrschen Atommodells belegte. Geboren 1882 als Sohn eines jüdischen Bankiers in Hamburg, entwickelte er trotz einer religiösen Erziehung von Jugend an liberale Ansichten. »Wissenschaft ist mein Gott und die Natur meine Religion« sagte er von sich, aber identifizierte sich so mit Deutschland, dass er sich 1914 freiwillig für den Kriegsdienst meldete, kurz nachdem er schon das entscheidende Experiment ausgeführt hatte, dass ihm später den Nobelpreis einbringen sollte. Nach dem Ersten Weltkrieg lernte er Niels Bohr persönlich kennen und erhielt eine Professur in Göttingen, wo er intensiv mit Max Born zusammenarbeitete.
»Ich erkläre den Zustand im jetzigen Deutschland als psychische Erkrankung der Massen.«16 – Albert Einstein
Obwohl Franck als Kriegsteilnehmer von den ersten Rassengesetzen der Nazis ausgenommen war, verließ er im Herbst 1933 Deutschland, verbrachte ein Jahr bei Niels Bohr in Kopenhagen und emigrierte schließlich in die Vereinigten Staaten, wo ihm eine Professur an der Universität von Chicago angeboten wurde. Später arbeitete er an der Atombombe, mit welchen Gefühlen, ist nicht bekannt. Doch besaß er den fast einzigartigen Mut, gegen den Einsatz der katastrophalen Waffe initiativ zu werden, indem er mit ungeschminkten Worten auf die Konsequenzen hinwies. Wie andere, wurde er von den Militärs ignoriert.
Schüler und Mitarbeiter von Franck schätzten seine Integrität, menschliche Wärme und seinen breiten kulturellen Hintergrund; in Göttingen, das ihn 1953 zum Ehrenbürger gemacht hatte, starb er schließlich nach seiner ersten Rückkehr nach Deutschland. Man muss heute noch zornig werden über die Barbarei, die Menschen wie Franck zwang, ihre Heimat zu verlassen. Und doch war er nur einer unter Tausenden,17 denen es ebenso erging, während Millionen umgebracht wurden.
»Leben ist der höchste Wert. Die Heiligung des über-individuellen Lebens bringt die Verehrung alles Geistigen mit sich – ein besonders charakteristischer Zug der jüdischen Tradition.« – Albert Einstein1
Zur Aufklärung der Ursachen der Katastrophe kann dieses Buch kaum einen neuen Beitrag leisten. Kennzeichnend für die Zeit war eine gesellschaftliche Spaltung, Ideologisierung und Emotionalisierung des Diskurses sowie eine anti-intellektuelle Stimmung. Sicher waren die von vielen als ungerecht empfundenen Bedingungen des Versailler Vertrages, den die die Westmächte unklug diktiert hatten, kein guter Nährboden für Frieden. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 stürzte viele Menschen in wirtschaftliche Not, was oft zu einer Radikalisierung der Massen geführt hat. Aber die Herrschaft den Dummen, Geschichtslosen und Unmenschlichen überlassen zu haben, lastet als Makel auf Deutschland. Auch die intelligenten Gegner des Regimes müssen sich vorhalten lassen, die Gefahr unterschätzt zu haben. Sogar Einstein äußerte bei einem Besuch 1930 in New York noch leichthin, die Nazis seien eine »Kinderkrankheit«, die bald vorbeigehe. Auch Erwin Planck, der älteste Sohn von Max Planck in gehobener Regierungsposition, sagte gegenüber seinem jüdischen Freund Kurt Blumenfeld noch im Dezember 1932, er glaube nicht, dass die Nazis an die Macht kämen, jedenfalls sei es ausgeschlossen, dass sie sich mehr als ein paar Monate hielten.18, LV
Als die Nazis mit blanker Gewalt ihre Macht etabliert hatten, spielten sich für die Physik beschämende Szenen ab. Der Nobelpreisträger Johannes Stark erging sich in Betrachtungen über eine »arische Physik«, polemisierte widerlich gegen Einstein und entblödete sich nicht, sogar Werner Heisenberg als »Geistesjuden« zu bezeichnen. Auch der Ruf von Phillip Lenard, dem Entdecker der Kathodenstrahlen, wurde durch seine Äußerungen über Einstein befleckt. Die Korrespondenz Einsteins mit dem deutschen Wissenschaftsakademien,19 die zu seinem Austritt führten, zeugen von erbärmlicher Selbstverleugnung der Verantwortlichen. Wenige, wie beispielsweise Max von Laue, besaßen den Mut, sich gegen das Regime zu stellen. Hitlers Rassenwahn vollendete den sich bereits abzeichnenden Niedergang der europäischen Grundlagenforschung mit einem Schlag, durch Verfolgung der Begabtesten, Unfreiheit des Geistes und die Fokussierung der Wissenschaft auf Waffenentwicklung.
Göttingen, eines der Zentren europäischer Spitzenforschung, verlor besonders viele Wissenschaftler durch die Vertreibungen, was den knorrigen Ostpreußen David Hilbert zutiefst empörte. Als er 1934 vom Reichskultusminister Rust gefragt wurde, ob denn sein Institut unter dem Weggang der Juden wirklich so gelitten habe, entgegnete er: »Jelitten? Dat hat nich jelitten, Herr Minister. Dat jibt es doch ja nich mehr!«
Max Planck, den eine lebenslange Freundschaft mit Einstein verband, war ebenfalls entsetzt über den Exodus der jüdischen Wissenschaftler. Er nutzte seine Stellung als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Berlin, um eine Audienz bei Hitler zu bekommen. Mutig versuchte er den kleingeistigen Diktator davon zu überzeugen, dass der Weggang der jüdischen Wissenschaftler Deutschland nur schaden würde, holte sich jedoch eine wütende Abfuhr.20 Noch mutiger war sein Sohn Erwin Planck, der letzte ÜberlebendeLVI der vier Kinder von Max Planck. Er beteiligte sich an den Attentatsplänen vom 20. Juli 1944, was er, trotz eines Gnadengesuchs seines 86-jährigen Vaters, im Januar 1945 mit dem Leben bezahlte.
Plancks persönliche Tragödie, ein halbes Jahrhundert, nachdem er die wichtigste Entwicklung der modernen Physik angestoßen hatte, symbolisierte die endgültige Zerstörung der europäischen Geisteskultur. Denn auch bei den siegreichen europäischen Alliierten erwies sich der Verlust der Wissenschaftsstruktur als unwiederbringlich.