Trotz der totalen Niederlage 1945 blieb Deutschland eine Verwüstung durch Atombomben erspart. Seit der Entdeckung der Radioaktivität 1896 war diese Entwicklung letztlich vorgezeichnet und hätte verschiedentlich auch schneller verlaufen können. Zwischen der deutschen Kapitulation und der Zündung der ersten Atombombe im Juli 1945 lagen gerade einmal zehn Wochen.2 Fast alle kernphysikalischen Grundlagen waren dabei von Physikern aus Europa entdeckt worden, oder von Amerikanern, die es dort gelernt hatten. Wie Robert Jungk in seinem Buch Heller als tausend Sonnen bemerkt,3 hatten sich praktisch alle an der Atombombe beteiligten US-Physiker zwischen 1924 und 1932 einmal in Göttingen aufgehalten.
Es war für eine Karriere in diesem Gebiet fast obligatorisch,4 einige Zeit in Europa verbracht zu haben. Denn zu jener Zeit war der alte Kontinent auch in der Kernphysik noch führend. Das hierfür wichtigste Labor in Cambridge, geleitet von dem unermüdlichen Rutherford, verlor allerdings schon vor dessen Ableben im Jahr 1937 seine besten Leute. Teilweise wanderten sie nach Amerika aus, während einige, wie etwa Pjotr Kapitza, unfreiwillig in die Sowjetunion Stalins zurückgeholt wurden. Dort herrschten im Übrigen für die Wissenschaft kaum bessere Bedingungen als in Nazideutschland: Physik war, wenn überhaupt, allenfalls im Dienst der Waffentechnik geschätzt. So wurde beispielsweise der Mathematiker und Theologe Pawel Florenski zu Lagerhaft und 1937 schließlich zum Tode verurteilt, wegen Verbreitung von »konterrevolutionärer Propaganda«. Damit war eine Monographie über Einsteins Relativitätstheorie gemeint. Russische Atomphysiker, die sich später weigerten, an der Bombenentwicklung mitzuarbeiten, wurden verhaftet und deportiert.5
Allerdings handelte es sich bei der Kernphysik um einen Wissenschaftszweig, bei dem geschicktes Experimentieren und originelle praktische Ideen im Vordergrund standen, nicht tiefgründiges theoretisches Verständnis. In dieser Hinsicht war lediglich Niels Bohrs Einsicht, dass Radioaktivität aus dem Kern kam, wesentlich. Nach Henri Becquerels Entdeckung der radioaktiven Strahlung ließ sich letztlich alles durch sorgfältiges und systematisches Ausprobieren herausfinden.
»Hitler? Der wird sich wie alle Tyrannen in absehbarer Zeit den Hals brechen. Mir macht etwas anderes weit mehr Sorgen. Etwas, das die Welt, wenn es in falsche Hände gerät, stärker gefährden kann als dieser ephemere Narr. Etwas, das wir – im Gegensatz zu ihm – nie mehr loswerden können: das Neutron.« – Paul Langevin,6 um 1935
Schon Rutherford hatte Alphastrahlen auf alle möglichen Substanzen gerichtet. Als interessantestes Ziel erwies sich dabei Beryllium. Es setzte durch den Beschuss ein Neutron frei, welches freilich erst 1932 von James Chadwick als solches identifiziert wurde. Neutronen sind der Schlüssel zur Nukleartechnologie, weil sie als ungeladene Teilchen sich jedem Kern ohne Abstoßungskraft annähern und so seine Zusammensetzung ändern können. Manche ahnten, dass das Neutron einmal die riesigen Energien im Kern entfesseln würde.
In vielen Laboren setzte nun rege Tätigkeit ein, indem man Neutronen auf alle möglichen Substanzen lenkte. Führend waren dabei Frédéric und Irène Joliot-Curie in Paris, Otto Hahn und Lise Meitner in Berlin sowie in Rom Enrico Fermi, der die Effizienz von langsamen Neutronen erkannt hatte. Obwohl es sich sämtlich um brillante Wissenschaftler handelte, erkannten sie über einen Zeitraum von fast fünf Jahren nicht, dass beim Beschuss des schwersten verfügbaren Elements, Uran, dieses schon längst gespalten worden war.
Stattdessen glaubten sie, schwerere Elemente als Uran, sogenannte Transurane erzeugt zu haben, wofür Fermi 1938 sogar den Nobelpreis bekam.
»Gott machte aus seinen eigenen unergründlichen Absichten damals jedermann gegenüber dem Phänomen der Spaltung blind.«7 – Emilio Segrè, 1954
Doch fast alle Kernforscher waren der falschen Überzeugung, dass eine Spaltung des Kerns nur durch viel energiereichere Geschosse als Neutronen möglich sei. Einzig Ida Tacke-Noddack, eine Chemikerin in vergleichsweise bescheidener Stellung an der Universität Freiburg, schrieb schon 1934, dass der Urankern »in mehrere große Bruchstücke« zerfallen könne. Hahn lehnte es trotz ihrer Bitte ab, diese These in einem Vortrag auch nur zu erwähnen, um Tacke »nicht lächerlich zu machen«. Auch Jahre später konnte sich Hahn diesen überheblichen Irrtum schwer eingestehen.8
Otto Hahns heutiger Ruf als »Entdecker« der Kernspaltung steht in gewissem Kontrast zu der Borniertheit, mit der er das Offensichtliche nicht sah, sondern immer noch glaubte, er habe es mit den verschiedenen Isotopen und IsomerenLVII von Transuranen zu tun. Offenbar war er sich seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten als Radiochemiker so sicher, dass er lange Zeit Ergebnisse aus dem Pariser Labor nicht zur Kenntnis nahm, ebenso wie Lise Meitner, die mit ihrer Rivalin Irène Joliot-Curie einige wissenschaftliche Dispute9 hatte, die zu ihren Ungunsten verliefen. 1938 erschien schließlich eine Veröffentlichung aus Paris mit ganz deutlichen Hinweisen auf ein Kernbruchstück (Lanthan). Aber Hahn wollte sie nicht einmal lesen. Erst als ihn sein Assistent Fritz Strassmann förmlich dazu zwang, wenigstens einen Blick auf die Zusammenfassung zu werfen, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. In wenigen Tagen hatte Hahn das Bruchstück Barium zweifelsfrei nachgewiesen und damit den Beweis für die Kernspaltung erbracht.
Lise Meitner, die sich als gebürtige Wienerin jüdischer Abstammung nach dem Anschluss Österreichs im März 1938 in akuter Lebensgefahr befand, hatte sich zuvor mit Hahns Hilfe nach Schweden abgesetzt. Gleichzeitig mit dem Artikel schickte Hahn unmittelbar vor Weihnachten 1938 einen Brief nach Schweden, indem er sie um Rat fragte, wie denn die Ergebnisse zu interpretieren seien. Zufälligerweise erhielt Meitner gerade Besuch von ihrem Neffen, dem Physiker Otto Frisch, mit dem sie die Neuigkeiten sofort diskutierte.
»Wie haben wir das nur so lange übersehen können? Genauso musste es sein. Was sind wir doch für Idioten gewesen!« – Niels Bohr, 1938
Offenbar wurde der Urankern durch ein zusätzliches Neutron instabil und geriet in so starke Schwingungen, dass er sich schließlich in der Mitte einschnürte und in zwei Teile zerbrach. Diese Interpretation als Fission, die heute noch gültig ist, schickte Meitner sofort an die Zeitschrift Nature. Nun ging alles sehr schnell. Bei der Rückkehr von Göteborg traf Frisch in Kopenhagen Niels Bohr, dem nun auch plötzlich einleuchtete, dass die Kerne schon längst gespalten worden waren.
Bei seinem nächsten Amerikabesuch plauderte Bohr die sensationelle Neuigkeit sofort aus,10 obwohl er eigentlich Frisch Stillschweigen versprochen hatte. Besonders alarmiert davon war der ungarische Physiker Leo Szilard, ein genialer Kopf, der seiner Zeit weit voraus war. Bereits um 1932 hatte er mit seinem Kollegen Fritz Houtermans sich über die gewaltige in Atomkernen gespeicherte Energie Gedanken gemacht.11 Unter anderem wurde ihnen dabei auch schon klar, dass die schier unerschöpfliche Leuchtkraft der Sonne nur durch Kernfusion von Wasserstoff zu Helium in ihrem Inneren zustande kommen kann.
Vorhergesehen wurde von Szilard auch schon die Möglichkeit einer Kettenreaktion, falls bei der Kernspaltung weitere Neutronen freigesetzt würden. Er versuchte daher schon um 1935, Physiker für die Idee zu gewinnen, nicht alle Ergebnisse der gefährlichen Technologie zu publizieren, jedoch ohne Erfolg. 1938 wurde plötzlich zu einer realen Gefahr, was vielen vorher als fernliegende Spekulation erschienen war. Aus eigenen Mitteln führte Szilard im März 1939 in Chicago ein Experiment durch,12 das die Möglichkeit einer Kettenreaktion bewies. In jener Nacht, so schrieb er, wurde es ihm klar, dass »die Welt einen Weg voller Sorgen angetreten hatte«.
Zusammen mit seinem Landsmann Edward Teller veranlasste Szilard schließlich Einstein, einen vorgefertigten Brief an Präsident Roosevelt zu unterzeichnen, der auf die Möglichkeit einer neuartigen Bombe aufmerksam machte, und auf die Möglichkeit, dass Hitler sie in die Hände bekomme. Daraufhin wurde ein Forschungsprojekt begonnen, die konkrete Entwicklung der Bombe wurde allerdings erst später beschlossen. Mehr als Einsteins Initiative haben wohl Otto Frisch und Rudolf Peierls dazu beigetragen, die beide nach England emigriert waren. In ihrem Memorandum13 von 1940 legten sie erstmals konkrete Berechnungen über die technische Ausführung und die zu erwartende Sprengkraft vor.
Treibende Kraft für die amerikanische Entscheidung, die Bombe zu entwickeln, war die Befürchtung, die neuartige Waffe könne in Deutschland, dem jahrzehntelangen Zentrum der Atomphysik, sich schon in der Herstellung befinden. Während viele die Möglichkeit erkannten, natürlich auch Heisenberg, waren die technischen Schwierigkeiten enorm. Wieder war es Niels Bohr, der als Erster realisiert hatte,14 dass die Spaltreaktion von Uran 235 ausging, welches nur zu einem winzigen Prozentsatz in natürlichem Uran vorkommt. Die Trennung der Isotope 235 und 238 ist aber äußerst aufwendig und erfordert großtechnische Anlagen wie beispielsweise Gaszentrifugen. Im späteren Manhattan-Projekt wurden dazu hauptsächlich MassenspektrometerLVIII verwendet, sogenannte Calutrons, welche für jedes Gramm Uran 235 etwa 3,6·1023 Atomkerne einzeln »sortieren« mussten.
Heisenberg hielt dies für aussichtslos, noch dazu unter Kriegsbedingungen, und schrieb später, der von ihm begonnene Bau eines Reaktors habe dem Zweck der Energiegewinnung gedient, obwohl er im Prinzip auch zum ErbrütenLIX des ebenfalls waffentauglichen Plutoniums 239 geeignet war. Gegenüber der Darstellung Heisenbergs gibt es jedoch begründete Zweifel.LX Bohr hatte jedenfalls bei dem legendären Treffen der beiden in Kopenhagen im September 1941 den Eindruck, Heisenberg arbeite sehr wohl an der Entwicklung der Bombe und vermutete, er solle ausgehorcht werden,15 während Heisenberg behauptete, seine Initiative habe einer Verhinderung des Nuklearrüstens gedient.16
Jedenfalls existierten um diese Zeit mehrere ausgearbeitete Ideen zur Isotopentrennung.17 Besonders brisant ist, dass ein Vorschlag des Physikers Heinz Ewald im Mai 1942 zur magnetischen Trennung dem später in Los Alamos verwendeten Verfahren überlegen scheint, wie aus inzwischen zugänglichen Dokumenten hervorgeht.18 Unbestritten griff der Physiker Manfred von Ardenne19 diese sehr geschickte Methode auf, wobei ihm ein vom Postministerium finanziertes Labor zur Verfügung stand. In diesem Labor, das Hitler angeblich mehrmals besucht hatte,20 arbeitete auch Fritz Houtermans,LXI der 1940 entdeckt hatte, dass auch Plutonium als Spaltmaterial verwendet werden konnte. Weitere Indizien sprechen dafür, dass in einer vermeintlichen Buna-Fabrik der I. G. Farben Uran in der Folge großtechnisch angereichert wurde.21 Dazu später noch mehr.
In England glaubte man hingegen nicht, unter anderem wegen der deutschen Bombardements, genügend Uran 235 herstellen zu können. Großbritannien und die USA beschlossen daher ab 1943, ihre Nuklearprogramme zu koordinieren.
Die finale Entscheidung, die Atombombe mit großem technischem Aufwand zu produzieren, fiel übrigens am 6. Dezember 1941, dem Vorabend des japanischen Angriffs auf Pearl Harbor. Wie andere historische Quellen spricht dies dafür, dass die USA den japanischen Kriegseintritt nicht nur durch ein Ölembargo provoziert hatten, sondern auch durch Entschlüsselung von japanischen Funksprüchen konkret vor der bevorstehenden Attacke gewarnt waren.22 In jedem Fall ermöglichte die Empörung der Öffentlichkeit über den japanischen Angriff ohne nähere Untersuchung der Umstände die sofortige Kriegserklärung durch den Kongress am 8. Dezember, ein Strickmuster amerikanischer Außenpolitik, dass sich noch oft wiederholen sollte.
Das zur Realisierung der Atombombe begonnene Manhattan Project hatte gigantische Ausmaße. Um die riesigen Fabrikhallen herum wurden praktisch drei Städte neu gebaut, Los Alamos, Hanford und Oak Ridge. 150 000 Menschen arbeiteten an dem Projekt, die meisten allerdings, ohne genau zu wissen, worum es ging, denn es wurde auf strikte Geheimhaltung geachtet.
Man halte sich vor Augen, wie der Krieg, zusammen mit der Zerstörung der wissenschaftlichen Zentren in Europa, die Physik verändert hatte. Fünfzehn Jahre früher war die Beschäftigung mit der Atomphysik ein rein akademisches Vergnügen, motiviert allein durch die Neugier zu erfahren, wie die Natur aufgebaut ist. Die Denker aus vielen Ländern bildeten dennoch eine Familie, die in aller Offenheit ihre Ergebnisse austauschten. Nun arbeitete praktisch die gesamte intellektuelle Elite in riesigen Geheimlaboren und schickte sich an, die Weltherrschaft mit einer neuartigen Waffe an sich zu reißen. Von diesem Einschnitt sollte sich die Physik nie wieder richtig erholen.
»Während des ganzen Jahres 1943 und eines Teils von 1944 war es unsere ganze Sorge, dass die Deutschen eine Atombombe vor der Landung in Europa fertigstellen könnten … 1945 aber, als wir aufhörten, uns Sorgen zu machen, was uns die Deutschen antun konnten, begannen wir besorgt zu fragen, was die Regierung der Vereinigten Staaten wohl anderen Ländern antun könnte.«23 – Leo Szilard
Entscheidend für den Bombenbau war die Anwendung des Bekannten. Technik war wichtiger als Naturgesetze, das Zum-Laufenbringen wichtiger als das Verstehen. Teamwork hatte Vorrang vor Individualismus, der hier sogar als gefährlich galt. Wahrscheinlich waren die USA um diese Zeit das einzige Land, das wirtschaftlich und organisatorisch in der Lage war, eine derartige Mammutaufgabe zu verwirklichen. Es gab viele tatkräftige Leute, außergewöhnlich unter ihnen war der militärische Leiter des Projektes, Leslie R. Groves. Ebenfalls über herausragende Fähigkeiten verfügte der in Straßburg geborene Hans Bethe, der bei Arnold Sommerfeld studiert hatte und Leiter der theoretischen Abteilung wurde. Auch er hatte wegen seiner teilweise jüdischen Abstammung 1933 seine Professur in Tübingen aufgeben müssen. Er fühlte sich allerdings nach eigener Aussage in dem von Dynamik und Erfindergeist geprägten Amerika wohler als in Europa. Später galt er in den USA als der führende Theoretiker.
Bethe war von Robert Oppenheimer berufen worden, dem Leiter des Manhattan-Projektes. Der Sohn eines 1888 nach New York emigrierten Tuchhändlers hatte wenige Jahre zuvor in Göttingen seine Doktorarbeit abgeschlossen, nachdem Max Born ihm geholfen hatte, die bürokratischen Schwierigkeiten nach einer versäumten Frist zu überwinden. Dirac, der an den kernphysikalischen Experimenten kein Interesse gezeigt hatte, weigerte sich dagegen, am Manhattan Project mitzumachen. Der Großteil der führenden Physiker beteiligte sich jedoch an dieser Anstrengung, zum Beispiel Enrico Fermi, Rudolf Peierls, Otto Stern, James Franck, Eugene Wigner, Victor Weißkopf, Felix Bloch, Emilio Segrè, John von Neumann und der erwähnte Hans Bethe, ebenso wie viele junge Amerikaner, von denen man später hören sollte, wie Richard Feynman, Murray Gell-Mann und Luis Walter Alvarez. Edward Teller, der wegen der damaligen Diskriminierung von Juden in Ungarn ab 1920 in Karlsruhe studiert hatte, nahm nach seiner Emigration 1933 ebenfalls später am Projekt teil und wurde schließlich als der »Vater der Wasserstoffbombe« bekannt.
»Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.« – Friedrich Dürrenmatt
Wie Heisenberg einmal bemerkte, wäre es im Sommer 1939 noch möglich gewesen, durch gemeinsame Verabredung von zwölf Leuten den Bau der Bombe zu verhindern. Wahrscheinlich ist dies jedoch eine Illusion. Unmerklich war den Physikern die Kontrolle des Projektes englitten und in die Hände der Militärs gelangt. Sie ließen keinen Zweifel daran, dass sie die Bombe in jedem Fall einsetzen würden. Zwar gab es ein wissenschaftliches Beratergremium, dies wurde aber mit Leuten besetzt, von denen nicht viel Widerspruch zu erwarten war: Oppenheimer, Fermi, Compton und Lawrence.
Die Trennung der Uranisotope, die zunächst hoffnungslos langsam vor sich ging, erreichte schließlich im Frühjahr 1945 die »kritische Masse«, die zur Zündung der Bombe notwendig war.LXII Allerdings gibt es hier ein relativ unbekanntes, möglicherweise historisch bedeutsames Ereignis: Sechs Tage nach Kriegsende, am 14. Mai 1945, kapitulierte das bis dahin im Atlantik umherirrende deutsche U-Boot U 234 und wurde in den Hafen von New Hampshire gebracht. Nach vorliegenden Dokumenten wurden dabei 560 Kilogramm Uran entladen, das mit einer Goldschicht überzogen war.24 Da Gold Neutronen absorbiert, »normales« Uran aber in den USA und Europa zu Tausenden von Tonnen vorhanden war, deutet dies darauf hin, dass es sich tatsächlich um angereichertes Uran aus dem deutschen Reich handelte, das ursprünglich für den Transport nach Japan vorgesehen war. Unter den ungewöhnlich hochkarätigen Passagieren waren auch zwei japanische Offiziere, die bei der Kapitulation Selbstmord begangen. Möglicherweise hat jenes Uran das Manhattan Project um ein paar entscheidende Monate beschleunigt.LXIII Ob diese interessante Alternative tatsächlich zutrifft, wird die Historiker sicher noch weiter beschäftigen.
»Ich war dagegen aus zwei Gründen. Erstens waren die Japaner bereit sich zu ergeben, und es war nicht notwendig, sie mit dieser schrecklichen Sache zu treffen. Und Zweitens, ich hasste den Gedanken, dass unser Land das erste sein würde, das solch eine Waffe einsetzt.«– Dwight D. Eisenhower
Jedenfalls fand am 16. Juli 1945 in der Wüste von New Mexico der entscheidende »Trinity«-Test der ersten Bombe statt, deren Sprengkraft alle Erwartungen übertraf.LXIV Entgegen dem Willen der Mehrheit der Physiker, die sich für eine Demonstration über unbewohntem Gebiet ausgesprochen hatte,25 wurde der Einsatz über japanischen Großstädten vorbereitet. Sogar zwei Vertreter der Navy erachteten dies ohne Vorwarnung als unfair.26 Aber auch der von James Franck initiierte Bericht landete nur in jenem Beratergremium, das sich dem Willen der Generäle nicht widersetzte. Leo Szilard entwarf nach dem Test, der eine mehr als zehnfach stärkere Explosion hervorgerufen hatte als erwartet, eine letzte Petition gegen einen Abwurf ohne vorherige Demonstration. Groves ließ das Papier für geheim erklären, sodass es unter den Wissenschaftlern nicht zirkulieren konnte.27 Damit war der letzte Versuch gescheitert, Hunderttausende Zivilisten zu retten. Groves war auch in einem anderen Punkt gewissenlos: Er verhinderte, dass vor der Radioaktivität warnende Flugblätter zusammen mit den Bomben abgeworfen wurden.LXV
»Lasst mich in Ruhe mit Euren Gewissensbissen, das ist doch schöne Physik!« – Enrico Fermi, Anfang 1945
Obwohl Japan Anfang August 1945 kapitulationsreif war, siegte die militärische Logik über humanitäre Erwägungen.28 Die neuartigen Bomben wurden am 6. und 9. August 1945 über Hiroshima und Nagasaki eingesetzt, was zu hunderttausend Toten durch die Explosion und weiteren unzähligen Opfern durch die Strahlenschäden führte. Die deutschen Atomphysiker erfuhren davon während ihrer Internierung im englischen Landsitz Farm Hall. Otto Hahn war so getroffen von der Nachricht, dass seine Kollegen einen Selbstmord befürchteten.
Neben den bekannten Folgen für den Globus hat dieses Ereignis auch die Wissenschaft für immer verändert. Viele der größten Denker bis Anfang des 20. Jahrhunderts waren aus Sicht der Politik harmlose Träumer, deren Wirken allein dem hehren Ziel der Erkenntnis diente. Die führenden Physiker aus den Atomlaboratorien dagegen waren plötzlich für die Weltmacht USA unersetzlich.
»Die Wissenschaftler, die den Zustand der Theoretischen Physik betrachteten, fielen in einen Zustand der Düsterkeit; als Auswirkung der Bombe schien ihre Stimmung postkoital.«29 – James Gleick
Dies hatte gravierende Folgen für die Organisation der Wissenschaft. Forscher, die aus Los Alamos, Hanford und Oak Ridge zu ihrer zivilen Wirkungsstätte zurückkehren wollten, wurden teilweise mit Geheimhaltungsvorschriften gegängelt. Zum anderen waren sie nun auch abhängig von der Finanzierung durch das Militär, welches oft mehr als die Hälfte des Forschungshaushalts zur Verfügung stellte. Die Strategen im Pentagon waren klug genug, bei der Verteilung der Mittel den Wissenschaftlern viel Freiheit zu lassen, welche Projekte sie verfolgen wollten. Doch mussten sich die meisten erst wieder daran gewöhnen, sich aus eigenem Antrieb mit Problemen der Physik zu beschäftigen. Viele wussten mit dieser neuen Situation nichts anzufangen. Auf zahlreichen Gebieten hat die Grundlagenforschung ihre Nähe zum Militär in der Folge nicht mehr abschütteln können. Entsprechend nahmen damit auch die Hierarchien in den Forschungsorganisationen deutlich zu.
Die Frage der möglichen Weltherrschaft durch Nuklearwaffen diktierte bald die weitere Entwicklung. Edward Teller hatte schon 1943 in Los Alamos darauf bestanden, an der Super zu arbeiten, der thermonuklearen Wasserstoffbombe. Da die Fusion von Wasserstoff zu Helium wesentlich mehr Energie freisetzt als die Kernspaltung, hat eine derartige Waffe eine etwa tausendmal höhere Sprengkraft als eine »normale« Spaltbombe. Die Fusion selbst ist allerdings nur durch die Explosion einer Spaltbombe überhaupt erst in Gang zu bringen, was enorme technische Schwierigkeiten aufwirft.
Während Teller, Álvarez und Lawrence die Entwicklung der Super befürworteten, reagierten die meisten Forscher zuerst ablehnend. Obwohl zur Überraschung der Experten im August 1949 der erste russische Atombombentest bekannt wurde, sprach sich im Oktober ein BeratergremiumLXVI noch gegen die Entwicklung der »Superbombe« aus. Als man jedoch Anfang 1950 erfuhr, dass der deutsche Spion Klaus Fuchs das Atombombenprogramm, einschließlich der Überlegungen zur Wasserstoffbombe, an die Sowjetunion verraten hatte, wuchs die Furcht, dass Stalin die Waffe als Erster in die Hand bekommen könnte.
Präsident Truman verkündete daher am 31. Januar 1950, die USA würden mit der Entwicklung der Waffe beginnen, obwohl noch immer nicht klar war, ob dies überhaupt möglich sein würde. Schließlich entwickelten Teller und der polnische Mathematiker Stanislaw Ulam ein Design, das realisierbar war. Zur Verwirklichung trug ganz maßgeblich der von dem ungarischen Mathematiker John von NeumannLXVII gebaute Computer MANIAC bei. Schließlich fand am 1. November 1952 der erste Test einer thermonuklearen Explosion statt, die eine ganze Insel im Pazifik ausradierte.
»Das Denken der Zukunft muss Kriege unmöglich machen.« – Albert Einstein
Wenig später hatten sowjetische Physiker um Andrej Sacharow ebenfalls eine Fusionsbombe entwickelt; die Sowjetunion zündete im Oktober 1961 sogar die explosionsstärkste »Zar«-Bombe überhaupt. Das nachfolgende Wettrüsten im Kalten Krieg ist bekannt, viele hochgefährliche Situationen kamen erst Jahrzehnte später ans Licht.30 Mit kürzeren Vorwarnzeiten ist die Gefahr der nuklearen Apokalypse bis heute sicher nicht kleiner geworden.
Weniger im Bewusstsein sind die langfristigen Folgen für die Wissenschaft selbst. Inhaltlich wurde das Gebiet der Kernphysik über alle anderen gestellt. Aber zusätzlich begann die Art und Weise der Forschung, die zu diesem technologischen Erfolg geführt hatte, die gesamte Physik zu dominieren. Nicht mehr das Verständnis der zugrunde liegenden Prozesse war das Ziel, sondern groß angelegte Projekte durchzuführen, von denen man sich neue Entdeckungen versprach. Dies erforderte einerseits den Bau von Anlagen mit der neuesten Technologie. Vor allem aber änderte sich die Stellung des Wissenschaftlers. Anstatt einzelner Individuen gab es nun in den Forschungskollaborationen riesige Teams, die an einem gemeinsamen Ziel arbeiteten. Während Michael Faraday als Einzelner etwa 10 000 Experimente in seinem Laborbuch dokumentierte, beschäftigen sich heute 10 000 Leute mit einem Experiment, beispielsweise am CERN.
»Wissenschaft wird zu etwas, was durchgeführt wird, ein expliziter Prozess, der organisiert wird, und die Rolle des einzelnen Forschers ist – kurz gesagt – Gehorsam.«32 – Bruce G. Charlton
Es ist offensichtlich, dass es sich nicht mehr um die gleiche Wissenschaft handelt. Unter anderem hat sich der Prozess der Meinungsbildung stark verändert. Letztlich müssen die Mitarbeiter einer Einrichtung mit einer Stimme sprechen, wie die oft komplexen Experimente zu interpretieren sind. Die Auswirkungen auf die Diskussionskultur, abgesehen von den Hierarchien in Institutionen, sind gravierend. Nicht umsonst ist die Wissenschaftssoziologie in den letzten Jahren zu einem wichtigen Gebiet geworden, wenn auch ihre Erkenntnisse nicht immer geschätzt werden.31
Inhaltlich betrachtet, lässt das Gebiet der Kernphysik, die eine so »wichtige« praktische Anwendung hatte, viele Fragen offen. Die dem Bombenbau zugrunde liegenden Rechnungen enthielten offensichtlich nichts Grundlegendes. Zudem ist auch die rein wissenschaftliche Kernphysik bis heute weit davon entfernt, die beobachteten Phänomene quantitativ theoretisch vorherzusagen. Es gibt keinen einzigen Kernübergang, keine einzige Teilchenenergie, die sich aus einer quantitativen Theorie heraus berechnen ließe. Niemand weiß, warum die Spaltung von Uran gerade so viel Energie freisetzt, niemand kann die Masse der Kernbausteine berechnen, niemand verstehen, warum sie gerade diese Größe haben, niemand ergründen, warum bestimmte Kerne stabil sind und andere nicht und erst recht ist unverstanden, warum es Radioaktivität überhaupt gibt.
Spätestens am 16. Juli 1945 wurden diese Fragen jedoch unwichtig. Die Wissenschaft von Einstein, Mach, Schrödinger und Dirac hatte zu existieren aufgehört. Die neuen Anführer aus Los Alamos, nämlich Oppenheimer, Bethe, Lawrence, Compton, Fermi, Chadwick, aber auch viele junge war boys, die in der Kriegszeit ihr Handwerk erst gelernt hatten, hatten das geistige Zepter übernommen und definierten in der Folgezeit, was als wichtige Physik galt.