»Nimmt man Aufrichtigkeit weg, bleibt nichts mehr übrig von Wissenschaft.« – Harry Collins
Auch wenn es altmodisch klingen mag: Wissenschaft ist kein Gewerbe, sie benötigt Idealismus. Wissenschaft ohne Ehrlichkeit ist nicht nur schlechte Wissenschaft, es ist überhaupt keine mehr. Denn sie ist definiert als die Suche nach der Wahrheit. Um diese ist es heute nicht mehr gut bestellt.
Damit sind nicht in erster Linie Betrügereien gemeint wie jene von Emil Rupp, der in den 1920er Jahren aufflog, indem er einen Rechenfehler Einsteins experimentell bestätigte, oder von Jan-Hendrik Schön, der bis zur Enttarnung seiner Fälschungen im Jahr 2002 als Shootingstar der Nanophysik galt. Diese Vorkommnisse sind zwar wissenschaftssoziologisch aufschlussreich, stellen aber nicht den Kern dessen dar, worunter die Grundlagenphysik leidet. Verlust der Wahrhaftigkeit bedeutet vielmehr, dass gar nicht mehr ernsthaft nach Erkenntnis gesucht wird.
»Wissenschaftler sind normalerweise zu vorsichtig, glatte Lügen zu erzählen oder Daten zu fälschen; aber sie treiben es immer weiter im Herauspicken, Übertreiben und Verdrehen ihrer Ergebnisse.«1 – Bruce G. Charlton
Betrüger müssen die Entdeckung fürchten, und gehen insofern sogar ein adäquates Risiko für den erschlichenen wissenschaftlichen Ruhm ein. Mehr zur Erosion der Wissenschaft tragen jene Forscher bei, die oberflächlich Regeln befolgen, sich aber nicht wirklich der Erforschung der Natur verpflichtet fühlen. Dies ist ein schwerwiegender Verstoß gegen wissenschaftliche Ethik. Legt man diese streng aus – etwas anderes wäre mit Blick auf die Entdecker der letzten vierhundert Jahre nicht angemessen –, handelt es sich dabei um das Streben nach Erkenntnis über die Naturgesetze, das frei von anderen Interessen ist.2
»Das Streben nach der Wahrheit ist köstlicher als deren gesicherter Besitz.« – Gotthold Ephraim Lessing
Kaum etwas könnte diesem Ideal ferner liegen als der heutige Wissenschaftsbetrieb. Alarmierend ist die Anzahl der Arbeiten, die nicht mehr reproduzierbar sind3 – schon hier nehmen es viele offenbar nicht so genau. Zudem arbeiten heute sehr viele Forscher an Projekten, von denen sie nicht überzeugt sind. Ihnen ist bewusst, dass sie weder praktischen Nutzen haben noch zu neuen Erkenntnissen führen. Sie glauben dabei selbst nicht an die Versprechungen, die sie in ihre Forschungsanträge schreiben, und kennen ziemlich genau die geschönten Stellen.CXVII Ihre eigene Forschung würden sie niemals mit eigenem Geld bezahlen. Diese unangenehmen Wahrheiten hat Bruce G. CharltonCXVIII, ein Kenner des modernen Wissenschaftsbetriebs, in seinem Buch Not Even Trying ausgeführt. Er meint mit dem Titel: Sie versuchen nicht einmal mehr, sich an der Wahrheit zu orientieren.
Nimmt man genuine Wahrheitssuche als Maßstab, ist viel von der institutionalisierten Wissenschaft von heute durch und durch unehrlich. Dies ist eigentlich auch jedem bewusst. In stillschweigender Übereinkunft wird jedoch viel toleriert, solange es bestimmten Regeln folgt, an die die Finanzierung geknüpft ist.
Eine moralische Grundlage ist für Wissenschaftler unabdingbar. Es müsste in der Grundlagenwissenschaft eigentlich einen »Hippokratischen Eid« geben, sobald man sich für diesen Lebensweg, der ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl erfordert, entscheidet. Gleichzeitig sollten Individuen möglichst unabhängig von Institutionen werden und nur der Wahrheitssuche verpflichtet sein. Dies zu realisieren, scheint schwierig, umso mehr in der heutigen Kultur, in der sich Ansehen immer mehr über das Einkommen definiert.
»Ich betrachte reale Wissenschaft – die ich verehrte – als ein Ding der Vergangenheit.«– Bruce G. Charlton
Manchen, wie vielleicht David Gross oder Edward Witten, mag man zugestehen, dass sie sich in ihren selbstzufriedenen Kreisen um die eigenen Theorien als Wahrheitssucher sehen. Die Mehrheit der modernen Berühmtheiten nimmt jedoch ihre Privilegien als selbstverständlich wahr und würde so etwas wie eine Verantwortung oder gar Verpflichtung zur Wahrheitssuche als fremdartig empfinden. Als der schon erwähnte Theoretiker Alan Guth 1979 seine ehrgeizige, aber völlig abgehobene Spekulation der ›kosmischen Inflation‹ propagierte, bemerkte sein Kollege Lenard Susskind dazu: »Weißt du, das Merkwürdigste daran ist, dass wir für diese Dinge auch noch bezahlt werden.« Solche Äußerungen rufen oft Schmunzeln hervor und mögen sympathisch-selbstironisch klingen, offenbaren jedoch einen gravierenden Mangel an Ernst, der unter den Physikern Anfang des 20. Jahrhunderts noch zum Berufsethos gehörte – obwohl diese durchaus humorvoll miteinander umgingen. Aber es wäre ihnen nie eingefallen, damit zu kokettieren, wie absurd eine Idee klingt. Absurd zu klingen, ist zu einem Markenzeichen moderner Physik geworden, sobald sie sich als kreativ gerieren will.
Darüber ist es Usus geworden, die Absurditäten zu kaschieren, indem man sie ungeniert anspricht, so wie zum Beispiel Arkami-Hamed: »Es gibt kein Experiment und man sitzt herum und redet über Schönheit und mathematische Eleganz. Scheint also alles soziologischer Quatsch.«4 Und er kommt mit der Frechheit durch. Einmal leichthin ausgesprochen, hat er sich von dem durchaus berechtigten Vorwurf entlastet und hält selbstbewusst Vorträge über die »Moralität in der fundamentalen Physik«.5
Arkami-Hamed oder andere publikumswirksame Theoretiker wie Brian Greene äußern sich manchmal freimütig über die Möglichkeit, es könne gut sein, dass alles, womit sie sich beschäftigen, Unsinn sei.6 Dies ist nicht so selbstreflektiert wie es klingt, denn man gesteht diesen realistischen Verdacht üblicherweise nur sich selbst, den Experten, zu, jedoch nicht jemandem außerhalb der Community.
»Wir müssen diesen Collider bauen, weil wir es können.« – Nima Arkami-Hamed, 2020
Vor allem aber offenbart so eine Haltung ein Fehlen der Verantwortung, die jeder wirklich wahrheitssuchende Forscher spüren sollte. Es ist diesen Leuten egal, wie viele Mittel die Gesellschaft für ihre Privilegien bereitstellt, in dem guten Glauben, etwas für den langfristigen Fortgang der Zivilisation zu tun. Es ist ihnen egal, wenn aufgrund ihrer halbgaren Spekulationen Milliardeninvestitionen getätigt werden, die ein erhebliches technisches und intellektuelles Potenzial der Menschheit binden. Ja, es könnte alles Blödsinn sein, sorry! Sie schämen sich für nichts.
Für eine Vielzahl der theoretischen Physiker ist es inzwischen vollkommen normal geworden, sich ein ganzes Berufsleben lang mit Dingen zu beschäftigen, von denen sie im Grunde spüren, dass es sich um reine Fiktionen handelt. Diese Unehrlichkeit wird auch nicht damit abgemildert, dass mancher Rechnungen in zehn Dimensionen oder in den ersten 10-35 Sekunden faszinierend finden mag. Gegen die Beschäftigung mit abstrakter Mathematik ohne Realitätsbezug wäre als solche nichts einzuwenden, wenn dies kommuniziert würde und die Öffentlichkeit sich entscheiden könnte, bis zu welchem Grad sie solche Spielereien finanziert, anstatt wirklich grundlegenden Fragen der Natur nachzugehen.
Gerade mathematische Physiker korrumpieren sich in ihren Publikationen oder Anträgen jedoch oft durch den Hinweis auf die mögliche Anwendung in der Physik, obwohl sie genau wissen, dass es sich um ein Feigenblatt handelt. Für jeden mit Grundkenntnissen in der Wissenschaftstheorie ist der fehlende Bezug zum Experiment und damit die fehlende Falsifizierbarkeit ein offensichtlicher Beleg, dass es sich nicht um anständige Wissenschaft handelt. Deswegen wurden in den letzten Jahren sogar Versuche unternommen, die auf Karl Popper basierende Wissenschaftstheorie so umzuschreiben, dass sie endlich die Beschäftigung mit derartigem Unsinn erlaube. Inzwischen werden Vorträge darüber gehalten, ob man Theorien auch »nicht-empirisch« bestätigen kann,7 und es finden Konferenzen darüber statt, wo man allen Ernstes diskutiert, wie man in Zukunft ohne das beschwerliche Kriterium der Evidenz auskommt: eine Renaissance der Mythologie,8 die sich immer noch Physik nennt.
»Der Glaube wurde ersetzt durch Leichtgläubigkeit im Hinblick auf alles, was sich als Wissenschaft maskieren kann.«– Nassim Taleb
Diese offenkundige Perversion der Methodik wirkt sich über die Wissenschaft hinaus nachteilig aus. Wenn nicht einmal mehr dort wirksame Abgrenzungen gegen Irrationalität existieren, ist der Erosion der modernen Gesellschaft durch jedwede Ideologie Tür und Tor geöffnet. Der Verzicht auf Evidenz erinnert im Übrigen an die Betrugsmaschen in großem Stil des Wirtschafts- und Finanzsystems, die durch entsprechende Lobbytätigkeit in der Gesetzgebung ja auch schon oft legal geworden sind.9 Nassim Taleb bezeichnet in seinem Bestseller Der Schwarze Schwan dieses Auseinanderfallen von Ethischem und Legalem als ein Kennzeichen der Moderne. Es scheint, dass in der Moderne institutionalisierte Forschung und Wahrheitssuche ebenso weit auseinanderfallen.
Der durchschnittliche Wissenschaftler von heute ist zu angepasst, selbst wenn er sich mit vernünftigen Dingen der angewandten Physik beschäftigt. Vermeintlich objektiv äußert er sich nicht über sein Fachgebiet hinaus, obwohl er insgeheim viele Theorien auch für Unsinn hält. Der Verlust der Wahrhaftigkeit wird besonders deutlich, wenn man Unterhaltungen von Experimentalphysikern zu Theorien wie Superstrings oder kosmischer Inflation beiwohnt.CXIX Jeder weiß, dass dies keine seriöse Wissenschaft ist. Dennoch wird tunlichst vermieden, es öffentlich oder gar in Forschungsanträgen auszusprechen. Denn das Platzen der Spekulationsblase in der theoretischen Physik würde unter anderem die baufälligen Modelle in den Abgrund reißen, mit denen die Hochenergiephysiker ihre Beschäftigung rechtfertigen. Die Erfahrung vieler Senior Scientists besteht oft im verbalen Umschiffen dieser Klippen und im Beherrschen der irreführenden Darstellungen, die banale Forschungstätigkeit als revolutionäre Einsicht verkauft. Letztlich handelt es sich um eine offen praktizierte, fast selbstverständlich gewordene intellektuelle Korruption.
»Eine gewaltige internationale Aktivität mit Millionen von Angestellten und vielen Milliarden Förderung, ebenso unreformierbar wie durch und durch korrupt.«10 – Bruce G. Charlton
So wie es dem Verbraucher an Macht, Geld und Einfluss fehlt, sich gegen die groß angelegte, legale Korruption in Wirtschaft und Politik zu wenden, so profitieren die Strukturen in der Wissenschaft von der Uninformiertheit der Öffentlichkeit darüber, was Forscher eigentlich tun. Außer inzwischen professioneller Werbung aus den Presseabteilungen der Big-Science-Institutionen gibt es dabei auch wenig, was dem Normalbürger Orientierung oder gar Transparenz verschaffen könnte. So, wie die politischen Eliten durchaus insinuieren, das Volk sei zu dumm, manche Dinge zu entscheiden, schützt sich die Spitzenforschung vor unangenehmen Fragen gerne mit dem Argument, die Nicht-Experten seien zu dumm, diese zu verstehen.
»Ich finde meine Suppe versalzen: Darf ich sie nicht eher versalzen nennen, als bis ich selbst kochen darf?« – Gotthold Ephraim Lessing
Wer auch immer Zweifel an dem Sinn des nächstgrößeren Milliardenbeschleunigers anmeldet,11 ist per definitionem inkompetent. Nicht-Stringtheoretiker können keine qualifizierte Meinung über Stringtheorie äußern. Keinesfalls darf die Teilchenphysik von jemandem kritisiert werden, der nicht jahrzehntelang von ihren Glaubenssätzen gehirngewaschen ist. Vermutlich ist die Zeit nicht fern, in der eine Abweichung von der Mehrheitsmeinung der Kosmologen als verschwörerische Fake-News gebrandmarkt wird …
»Wer immer unserer Meinung widerspricht, muss geistesgestört sein.« – Mark Twain
Die theoretische Physik hat sich verrannt. Doch lässt sich der Zeitpunkt des Platzens einer Blase schwer vorhersagen. In diese wurde nicht nur materiell investiert, sondern viele haben ihre professionelle Existenz darauf aufgebaut, was enorme psychologische Widerstände hervorruft. Es ist nicht leicht, sich einzugestehen, dass man das ganze Beru
»Es ist schwer, jemandem etwas begreiflich zu machen, wenn sein Gehalt darauf beruht, es nicht zu begreifen.« – Upton Sinclair
fsleben einer Fata Morgana aufgesessen ist. Aber auch die Ehrlichkeit gegenüber sich selbst lässt zu wünschen übrig. Die Sunk Cost Fallacy verhindert zuverlässig die Einsicht, dass das bisher Investierte verloren ist. Das Ende dieser fehlgeleiteten Forschungstätigkeit, das früher oder später naht, lässt sich daher weniger mit einem Kurseinbruch an den Aktienmärkten vergleichen als mit einem Zusammenbruch des ganzen Finanzsystems.
So wie das politische System heute durch Medien gestützt wird, in denen bestimmte Themen oder manche kritische Fragen gar nicht erst auftauchen, so kann sich die Wissenschaft des Rückhalts ihrer Blätter sicher sein. Damit sind gar nicht in erster Linie Fachpublikationen gemeint, die sich durch Peer Review vor zu grundsätzlicher Kritik abschotten. Schwerer wiegt der vorauseilende Gehorsam der populärwissenschaftlichen Magazine, welche die Wissenschaft in leuchtenden Farben darstellen. In der angewandten Physik ist dies oft berechtigt, kritische Berichte über manche Grundlagenforschung sind dagegen praktisch undenkbar; auch die absurdesten theoretischen Fantasien werden brav nacherzählt und schön bebildert. Es gibt in der Wissenschaft schlicht keinen investigativen Journalismus (der es ja ohnehin immer schwerer hat). Neben den bekannten Gründen dafür – prekäre Arbeitsbedingungen und Herdentrieb – fehlt es hier vor allem an der Fachkompetenz. Selbst die wenigen als Physiker ausgebildeten Journalisten können es sich nicht leisten, einem Spezialgebiet zu Leibe zu rücken, ohne sich dem Vorwurf des mangelnden Sachverstandes auszusetzen. Und wie so oft, überwiegt die Furcht, als Nestbeschmutzer zu gelten, den Mut zum Whistleblower.
»Der Feigen waren mehr denn der Streitbaren.« – Friedrich Schiller
Das Physik Journal, ein Lobbyorgan der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, hat hauptsächlich die Fördermittel im Blick und findet infolgedessen jede Forschung großartig. Aber auch in den Zeitschriften, für die bezahlt wird, gibt es zu Themen wie der Teilchenphysik praktisch nur Hofberichterstattung. Weil die Materie selbst niemand mehr erklären kann, schreibt man emotionalisierte Reportagen über die Forscher (noch lieber über Forscherinnen), was sie empfinden, was ihre Träume sind, und so weiter. Die Illusion, dass Geschichten über Wissenschaftler von Wissenschaft handeln, wurde mit dem Film Particle Fever sogar ins Kino gebracht. Dort wimmelt es von grotesken Falschdarstellungen, wie zum Beispiel, die Masse des Higgs-Bosons erlaube Rückschlüsse auf die ›Supersymmetrie‹ oder das ›Multiversum‹.
»Es ist unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu versengen.« – Georg Christoph Lichtenberg
Die Symbiose zwischen Medienmachern, Journalisten und Wissenschaftsmanagern ist dabei keinen Deut ehrlicher als das Trading Truth For Access in der Politik. Die Koryphäen erlauben Nähe in den Hintergrundgesprächen, der Journalist übergeht dafür die heiklen Themen. Jeder aufrechte Reporter, der dieser Art von Forschung mit wirklichen Fragen auf den Zahn fühlen würde, wäre bald seinen Job los. Da liegt es näher, sich von den üppig ausgestatteten Presseabteilungen wie beispielsweise am CERN zu Führungen und Seminaren einladen zu lassen. Es ist sicher kein Zufall, dass während jener großen Physik-Pressekonferenzen, die in den letzten Jahren durch die Weltmedien gingen, nicht eine einzige kritische Frage gestellt wurde. Das gibt es nicht einmal in der Politik.
Als Teil dieses Biotops, das sich heute Wissenschaft nennt, muss man auch das Nobelkomitee beziehungsweise die schwedische Akademie der Wissenschaften betrachten. Wohl wurden viele epochale Leistungen der Wissenschaft mit dem Preis aus Alfred Nobels Erbe gewürdigt. Aber auch diese Institution ist nur ein Abbild des Wissenschaftsbetriebs der jeweiligen Zeit. Da praktisch keines der Komiteemitglieder aus eigener Sachkenntnis heraus in der Lage ist, die für den Preis vorgeschlagen Leistungen zu beurteilen,CXX ist man auf externe Gutachter angewiesen, die wiederum fest in den entsprechenden Forschungsgemeinden verankert sind.12
»Wahrheit in der Wissenschaft: die jüngste aufsehenerregende Entdeckung.«– Oscar Wilde
So hat sich über die Jahre die Praxis herausgebildet, die jeweiligen Fachgebiete mit einer Quote von Preisen zu bedenken, die gelegentlich von aktuellen Entdeckungen modifiziert wird. Es gab dabei berechtigte Ehrungen wie etwa für die Kernspintomografie oder den Laser-Frequenzkamm, jedoch auch völlig alberne Begründungen wie jene für die Entdeckung der Neutrino-Oszillationen13 oder die ›Asymptotische Freiheit‹14. Um sich für Stockholm ins Gespräch zu bringen, wurde es in den letzten Jahren üblich, dass Forschungskollaborationen mit großem Tamtam Pressekonferenzen veranstalten, auf denen man die bis dahin geheim gehaltenen Ergebnisse sensationsheischend präsentiert. Die wissenschaftliche Öffentlichkeit wird dabei überrumpelt, ohne dass die Gelegenheit zu unabhängiger Auswertung besteht.CXXI
»Gewissheit ist einer der billigen Gebrauchsartikel, und sie kann augenblicklich erlangt werden, sobald das Problem in der richtigen Weise angepackt worden ist.« – Paul Feyerabend
Oft führen gründlichere Untersuchungen dann zu offenen Fragen, deren Bedeutung nicht mehr wahrgenommen wird, weil die entsprechende Entdeckung längst als »etabliert« gilt.15 Diese fragwürdige Praxis findet eine gewisse Parallele zur internationalen Politik, wo oft Sanktionen oder gar Militärschläge erfolgen, nachdem irgendein Sachverhalt behauptet worden war, der sich in der Folge als keineswegs geklärt darstellt.
Ein besonders dreistes Beispiel gab im Jahr 2014 die BICEP2-Kollaboration, die behauptete, in ihren Daten des kosmischen Mikrowellenhintergrundes Spuren von Gravitationswellen kurz nach dem Urknall gefunden zu haben. Ich habe selbst einem Vortrag eines US-Theoretikers beigewohnt, der dies sofort als große Sensation angepriesen hatte. Die Behauptung fiel nur deswegen in sich zusammen, weil man schwere handwerkliche Fehler nachweisen konnte.16 Die viel größere Absurdität bestand jedoch darin, den 400 000 Jahre nach dem Urknall entstandenen Mikrowellenhintergrund17 zu den ersten Sekundenbruchteilen nach dem Urknall zurückextrapoliert zu haben. Physiker beklagen oft die Scharlatanerie bei homöopathischen Substanzen, von denen nach entsprechender Verdünnung kein einziges Molekül mehr übrig ist, aber diese Art von Argumentation ist keinen Deut glaubwürdiger.
»Es ist heute üblich und keiner besonderen Erwähnung mehr wert, dass viele ihr ganzes Forscherleben sich mit Dingen beschäftigen, die sie selbst im Inneren für trivial oder Humbug halten.«18 – Bruce G. Charlton
Gerade bei Modellen der sogenannten Inflationstheorie wird oft ein Prozess kurz nach dem Urknall postuliert und behauptet, man könne im kosmischen Mikrowellenhintergrund Evidenz dafür finden. Will man das mit einer Analogie veranschaulichen, wäre dies vergleichbar mit der Hoffnung, man könne durch die Beobachtung der Meeresoberfläche Tiefseelebewesen entdecken und zoologisch klassifizieren. Dazu überzeugt man sich zuerst durch theoretische Überlegungen von der Existenz eines Fisches und bezeichnet es dann als »Evidenz«, wenn die Meereswellen nichts Gegenteiliges beweisen …
»Wer dich veranlassen kann, Absurditäten zu glauben, kann dich auch veranlassen, Gräueltaten zu begehen.« – Voltaire
»Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren.« – Gotthold Ephraim Lessing
Dies mag dem Leser vielleicht aberwitzig erscheinen, ist aber tatsächlich eine Argumentation, die in der modernen Physik anzutreffen ist. Nach dem Philosophen Carl Gustav Hempel wird sie auch Hempels Paradox bezeichnet. Die Aussage »alle Raben sind schwarz« ist logisch äquivalent zu »was nicht schwarz ist, kann auch kein Rabe sein«. Dies ist unproblematische Logik, interessant wird es bei der Evidenz für die Behauptung. Die Beobachtung eines schwarzen Raben spricht sicher für die These, aber auch die eines gelben Schuhs: handelt es sich doch um ein Objekt, das kein Rabe ist, und auch nicht schwarz. Jeder vernunftbegabte Mensch wird letzteren »Beleg« nicht so ganz ernst nehmen. In der Physik wird dennoch ganz analog argumentiert – selbst wenn noch nie ein »Rabe« gesehen wurde und man nicht weiß, was »schwarz« bedeutet.
Neben diesen offensichtlichen Verdrehungen der Wahrheitssuche gibt es viele kleine Selbsttäuschungen, denen sich Forscher gerne hingeben. Die gleiche Art von »Sehen durch nicht-sehen« liegt vor, wenn man fehlende Energie in Teilchendetektoren durch neutrale Teilchen interpretiert, und davon gibt es viele. Auch die Evidenz für die sogenannte Dunkle Materie, die ja gerade in der Abwesenheit von leuchtenden Signalen besteht, ist letztlich von dieser Art. Nichtsdestoweniger sind die Zeitschriften voll von Berichten, die von der »ersten direkten« Evidenz schwärmen, allerdings meist mit der Einschränkung »sollten sich die Ergebnisse bewahrheiten«.19 Bei vielen Popularisierungen der heutigen Physik springt dieser unredliche Gebrauch des Konjunktivs ins Auge.
Eine kürzlich erstellte Statistik wies aus, dass sich in den Publikationen der letzten Jahrzehnte der Gebrauch übertriebener und irreführender Ausdrücke mehr als zwanzigfach zugenommen hat, darunter »beispiellos«, »bahnbrechend«, »verblüffend«, »innovativ«, …20 Mehr kann man zum Verfall des wissenschaftlichen Ethos kaum sagen.
Wenn Forscher sich so unaufrichtig ausdrücken, kann man es Journalisten auch kaum vorhalten: »Wenn diese Berechnungen stimmen«, »wenn sich die klügsten Theoretiker nicht irren«, »wenn diese Theorie tatsächlich die Realität abbildet« sind Phrasen, mit denen in einer Wissenschaftssendung auch der gröbste Unsinn anmoderiert werden kann.
Manchmal scheint es leider, dass die Zuschauer sich auch zu gerne diesen fantastischen Geschichten hingeben wollen. Die Popularität von Fantasien wie Wurmlöchern, hochdimensionalen ›Branen‹ (einer Verallgemeinerung von Strings) oder ›Multiversen‹ auch bei Laien ist ein erstaunliches Phänomen. Manche Wissenschaftsfans lassen sich lieber von etwas Exotischem berieseln als einem anschaulichen, aber anstrengenden Gedankengang zu folgen. Ist etwas so offensichtlich abgehoben, fühlt man sich wenigstens nicht allein, wenn man nichts versteht. So nimmt kaum jemand mehr Anstoß daran, wenn sich grundlegende Physik zwanglos mit Science-Fiction vermischt und zum Ideengeber der Filmindustrie herabsinkt. Weiter kann man sich von der Wahrhaftigkeit kaum entfernen.
Ich finde es immer wieder verwunderlich, welchen Zuspruch Spekulationen wie Extradimensionen, Parallelwelten oder Superstrings, ja sogar schwarze Löcher erfahren. Über die bloßen Worte hinaus sind diese Dinge schwer allgemeinverständlich zu machen. Dagegen verschafft es durchaus intellektuelle Befriedigung, den Gaußschen Integralsatz oder auch die allgemeine Gasgleichung verstanden zu haben, wenn es sich auch relativ trocken anhört. Über diese verschobenen Maßstäbe sollte man sich nicht wundern – all dies gehört auch zu einer Kultur, in der Unterhaltung mehr als Bildung zählt.
Alle großen Geister haben bei ihrem Eintauchen in die grundlegenden Naturgesetze einen Flow im Sinne des Motivationsforschers Mihály Csíkszentmihályi gespürt. Einsteins Freude über die Herleitung der Merkurbahn durch die allgemeine Relativitätstheorie 1915 war so groß, dass er vor Herzklopfen nicht schlafen konnte.
Demgegenüber trifft man häufig moderne Physiker, die ihre Arbeit als »Spaß« bezeichnen. Wahrscheinlich will man damit die Grundlagenforschung vom Anspruch der unmittelbaren Nützlichkeit befreien. Dies ist jedoch zu kurz gedacht. Echte Grundlagenforschung ist nützlich, denn aus ihr ist die heutige Zivilisation hervorgegangen. Man denke nur an Heinrich Hertz, der aus wissenschaftlicher Neugier heraus elektromagnetische Wellen nachweisen wollte. Langfristig zahlt sich solche auch nicht-zielgerichtete Forschung tatsächlich aus. Da aber der heutigen Forschungskultur (wahrscheinlich nicht nur dieser) das langfristige Denken fehlt, greift diese zu ihrer Rechtfertigung auf »Spaß« zurück. Nur geht es doch in der Wissenschaft um die Realität. Mach, Einstein, oder Schrödinger hätten es nie gewagt, ihre Beschäftigung mit den Naturgesetzen als Spaß abzutun. Vielmehr sahen sie darin eine Verantwortung vor der Schöpfung und vor der Menschheit.
Zur Bespaßung der Bevölkerung mittels theoretischer Physik dient auch die beliebte Fernsehserie Big Bang Theory. Dort werden jene, welche sich in unbeirrbarem Glauben an ihre Theorie in unverständlichen Rechnungen ergehen, als Nerds porträtiert, was unterhaltend sein kann. Leider nur schwindet der Reiz der Satire in dem Maße, in dem sie mit der Realität übereinstimmt. Man fragt sich, was passieren würde, wenn der Öffentlichkeit klar würde, dass die theoretischen Physiker ihren Darstellern tatsächlich so ähnlich sind. Bisher scheint jedoch der Glaube an die Parodie das Bild der entrückten Genies zu pflegen.
Die Wurzeln dieser unerfreulichen Situation liegen letztlich in jenem unverständlichen Verhalten der Natur, das in den 1920er Jahren erstmals zutage getreten war. Damals musste man sich eingestehen, dass die Mikrowelt »verrückt« aussehen kann, allerdings im Sinne von »rätselhaft«. Der Misserfolg der Forscher, diese Beobachtungen anschaulich, vernünftig und logisch zu erklären, hat in einer psychologischen Übersprungshandlung dazu geführt, dass sich die Physiker nun selbst »verrückte« Theorien gestatten, allerdings hier im Sinne von »bar jedes Realitätsbezugs«. Weil sich der gesunde Menschenverstand aber nicht völlig ausschalten lässt, flüchten sich manche Physiker in eine exkulpierende Selbstironie, wenn sie sich mit in jeder Hinsicht verrückten Ideen befassen.
»Ich habe nichts dagegen, wenn Sie langsam denken, aber ich habe etwas dagegen, wenn Sie rascher publizieren als denken.« – Wolfgang Pauli
Es mag vorkommen, dass sich ein junger Forscher blind für eine Idee begeistert. Wenn aber beispielsweise fünfhundert (!) theoretische Arbeiten erscheinen, die eine Anomalie in den CERN-Daten ›erklären‹, welche sich dann als statistische Fluktuation herausstellt,CXXII müsste sich eigentlich jeder Physiker mit einem Rest von professioneller Selbstreflexion eingestehen, dass in diesem System etwas falsch läuft. Moderne Teilchenphysik ist längst nicht mehr falsifizierbar.
Wohlgemerkt ist nicht nur die Anzahl dieser sinnlosen Artikel beunruhigend, sondern die Tatsache, dass jede beobachtete Abweichungen von der Theorie in den letzten Jahrzehnten zu ähnlichen Reaktionen geführt hat.21 Viele Junge eifern offenbar dem Theoretiker Gordon Kane aus Princeton nach, der 2012 die gerüchteweise durchgesickerten Messungen zur Masse des Higgs-BosonsCXXIII benutzt hatte, um in seinem String-Modell genau diesen Wert »vorherzusagen«.22 Solche Leute haben jeden Anstand verloren.
»Vom Wahrsagen lässt sich wohl leben, aber nicht vom Wahrheit sagen.« – Georg Christoph Lichtenberg
Es ist schwer vorstellbar, dass alle diese Physiker sich in gutem Glauben befinden, die Natur erforschen zu wollen. Allenfalls hilft ihnen der Herdentrieb beim Verdrängen der Wahrheit. Von dieser unredlichen Haltung es ist nur ein kleiner Schritt zum Zynismus, der sich damit rechtfertigt, alle anderen machten es ja auch so. Wahrscheinlich haben unter den Legionen von Physikern schon etliche diese innere Kündigung ausgesprochen.23 Zynismus ist nicht nur keine Wissenschaft, sondern Sabotage an dem Unternehmen der Menschheit, die Natur zu verstehen.
»Mit Mathematik kann man nicht lügen. Aber sie hilft sehr bei der Verschleierung.«– Sabine Hossenfelder
Insgesamt haben die Physiker ein System entwickelt, das sich durch Abkopplung von der Anschauung, dem Verzicht auf nachvollziehbare Mechanismen und saubere Mathematik sowie durch Postulieren von beliebigen Begriffen fortwährend selbst am Leben hält, indem es zu jedem auch immer denkbaren Effekt eine »theoretische Erklärung« strickt, die in nichts anderem besteht als dem Anpassen von Fantasieprodukten an Messwerte.
Jeder, der diese Aktivitäten mit wachen Sinnen und etwas Abstand betrachtet, müsste sich dessen jedoch früher oder später bewusst werden. Aber ehrliche Selbstreflexion ist keine Tugend, die in dem heutigen institutionalisierten Forschungsklima gedeiht. Diese buhlen um ihr Überleben mit einer vielfach in den Medien wiedergegebenen Werbebotschaft, die sich ungefähr so anhört:
Man sei schon weit gekommen im Verständnis der Natur, natürlich seien die Standardmodelle nicht perfekt, jedoch gäben die nächsten Experimente bestimmt Hinweise auf eine grundlegendere Theorie, kurz: Gebt uns frisches Geld, wir werden irgendetwas finden, das wir irgendwie interpretieren und als Bestätigung unserer Standardmodelle feiern, oder wir finden gar nichts, das wäre dann noch großartiger, weil es auf Physik »jenseits« dieser Modelle hindeutet.CXXIV Dieses Narrativ ist durch und durch verlogen. Es müsste heißen: Wir haben keine Ahnung, wissen, dass wir nichts vorhersagen, und spüren ganz genau, dass wir in einer Sackgasse sind. Aber bevor ihr uns den Geldhahn abdreht, streuen wir euch noch viel Sand in die Augen. Das ist der Zustand der Grundlagenforschung.