15 Postmoderne Wissenschaft
Spezialisierung bis zum Zerbröckeln

»Man beschäftige sich nicht mit Teilproblemen, sondern nehme dort Zuflucht, wo sich eine freie Sicht über das einzige große Problem bietet, auch wenn diese Sicht noch nicht klar ist.« – Ludwig Wittgenstein

Offenbar befindet sich die institutionalisierte Grundlagenwissenschaft in einer Krise. Warum versagt die organisierte Tätigkeit, die eigentlich auf der menschlichen Neugier beruht, auf lange Sicht so eklatant? Wissenschaft bestimmt die Entwicklung unserer Zivilisation und beeinflusst dabei jedes Gebiet des menschlichen Zusammenlebens. Es geht dabei nicht nur um Technik, sondern auch um gravierende Auswirkungen auf Recht, Ethik und Gesellschaft.

Seit dem Beginn der modernen Naturwissenschaft Anfang des 17. Jahrhunderts hat das verfügbare Wissen enorm zugenommen. Dennoch konnte man dieses vor hundert Jahren noch als eine Einheit begreifen. Der Wissenschaftshistoriker Derek de Solla Price berichtet,1 sämtliche von 1662 bis 1930 erschienenen Bände der Philosophical Transactions of the Royal Society of London Zeile für Zeile gelesen zu haben. Vergleichbares wäre heute undenkbar; die Zeitschriften nur eines Spezialgebiets füllen ganze Bibliotheken. Es wird für das Individuum immer schwieriger, das Wissen der Menschheit in zugänglicher Kompaktheit zu erfassen.

Unkreatives Wachstum

Die Zunahme von Wissen generierte neue Felder in der Forschung und Anwendung. Dafür brauchte man immer mehr Wissenschaftler, und darin liegt bereits ein Problem. Die wirklichen Fortschritte wurden durch einzelne, kreative Genies erzielt, die auch bei einer wachsenden Weltbevölkerung nur in begrenzter Zahl2 auftauchen – Voraussetzung hierfür ist vor allem das richtige geistige Umfeld. Weil es nicht mehr genügend »Nachschub« an Genies gab, rekrutierte die Wissenschaft kluge, jedoch weniger kreative Leute, die sich dem Überfluss an wissenschaftlich-technischen Aufgaben zuwandte. Dabei handelt es sich um gut ausgebildete, auf ihrem Gebiet sehr versierte Forscher, aber eben nicht solche, die entscheidenden Durchbrüche anstoßen.

»Leute, die große Entdeckungen machen, schaffen es irgendwie, sich von konventionellem Denken zu befreien.« – Anthony Leggett

In der Nomenklatur des Philosophen Thomas Kuhn würde man diese als »Normalwissenschaftler« bezeichnen, im Gegensatz zu den unabhängig denkenden Visionären, die durch kompromisslose Wahrheitssuche die wissenschaftlichen Revolutionen losgetreten haben.

Natürlich gibt es auch heute noch kreative Geister in der Wissenschaft, die mit ihren Entdeckungen die Welt verändern, gerade in der Experimentalphysik. Dies gelingt jedoch eher Individuen oder kleinen, hoch motivierten Gruppen, meist in einem nichtkompetitiven Klima von Freiheit der Wissenschaft.4 Respektabel, aber weniger genuine Wissenschaft ist die Jagd nach Weltrekorden in der Messgenauigkeit, die schon mehr Personal und Mittel bindet. Den wenigsten Nutzen bringen dagegen ehrgeizige Großprojekte, die es sich zum Ziel setzen, theoretische Wunschvorstellungen zu bestätigen.

Wissenschaft als Breitensport

Wissenschaft als Massenphänomen gibt es erst in der US-Kultur, insbesondere seit der Nachkriegszeit, in der die Big-Science-Kollaborationen gegründet wurden. Es kam zu einer Professionalisierung und Spezialisierung der Wissenschaft. Interessant ist, dass der Begriff »professionell« in der Forschung überhaupt positiv besetzt ist.

»Darin ist jedermann einig, daß Genie dem Nachahmungsgeiste gänzlich entgegen zu setzen sei.« – Immanuel Kant

Denn die Liste der »Amateure«, welche entscheidende Durchbrüche erreicht haben, ist ziemlich lang: Michael Faraday, Andre-Marie Ampère, Wilhelm Herschel, Johann Jakob Balmer, Albert Einstein, um nur einige zu nennen.

Aber auch viele Gründerväter wie Niels Bohr, Paul Dirac, Werner Heisenberg, Erwin Schrödinger und Wolfgang Pauli waren zur Zeit ihrer wichtigsten Entdeckungen entweder noch Studenten oder beschäftigten sich als Professoren außerhalb ihrer Kernaufgaben. Erst recht nicht haben sie Forschungsprojekte beantragt, Drittmittel eingeworben oder Gesellschaften gegründet. Wahrheitssuche hat eben nichts mit Geld und Prestige zu tun. Es ist ein fundamentaler Irrtum, dass die Entwicklung der Grundlagenwissenschaft von ihren materiellen Ressourcen begrenzt sei. Institutionalisierte Wissenschaft ist ebenso ein Widerspruch wie bezahlter Idealismus.

Auch mit diesem inhärenten Widerspruch kämpfen Forscher. Es handelt sich um eine Berufung, viel mehr als einen Beruf, und ganz sicher nicht nur um einen Job. Wissenschaft ist vom Lebenssinn zum Lebensunterhalt geworden. Ein Großteil der heute in der Forschung Beschäftigten hat wissenschaftlichen Ehrgeiz durch Ambitionen auf eine Karriere ersetzt. Der originäre Antrieb eines Wissenschaftlers, die neugierige Suche nach der Wahrheit, ist längst keine Qualifikation mehr. Vielmehr ist es eher hinderlich, wenn man sich in Forschungsinstitutionen über das hinaus, was von der Arbeitsumgebung erwartet wird, in seinem Handeln von wissenschaftlicher Ethik leiten lässt. In der »modernen« Wissenschaft, die sich in Folge der US-Kultur weltweit verbreitet hat, fehlen solche grundlegenden Werte seit langem.

Professionalisierung oder Ent-Idealisierung?

Amateure sind gewöhnlich Generalisten, während Profis sich gerne als Spezialisten begreifen. Tatsächlich ist ein gewisses Maß an Spezialisierung unvermeidlich und für die gründliche Beschäftigung mit einem Thema durchaus förderlich. Es sei jedoch daran erinnert, dass sich die meisten Naturforscher am Beginn des 20. Jahrhunderts als Generalisten begriffen. Sie drangen zwar tief in einzelne Gebiete ein, sahen es aber als unabdingbar an, die gesamte Physik zu überblicken. Herausragende Beispiele sind Einstein, Schrödinger und Dirac, die sich sowohl mit der Quantenphysik als auch mit der Kosmologie beschäftigt hatten. Sie waren als Naturforscher zu neugierig, um andere Gebiete einfach auszublenden.

Demgegenüber ist die Physik heutzutage in einem Maße spezialisiert, welches schon allein durch die Fachausdrücke die Kommunikation über die immer engeren Grenzen der Gebiete hinweg unmöglich macht. Manche beklagen heute die Schwierigkeiten mit dem Wunsch, es möge ein neuer Einstein auftauchen, der die Physik über- und durchblickt. Unter acht Milliarden Menschen wäre es eigentlich verwunderlich, wenn nicht jemand mit vergleichbaren Fähigkeiten existierte. Wahrscheinlicher ist es hingegen, dass die Physik selbst so zersplittert geworden ist, dass sie faktisch niemand mehr überblicken kann.

Scheuklappen werden zur Norm

Diese immer feiner werdende Mikro-Spezialisierung ist heute mit Sicherheit über das optimale Maß hinausgeschossen – dies zeigt sich schon bei manchen orchideenartigen Studiengängen. Die entsprechende Fragmentierung behindert die Fähigkeit, fachübergreifend die jeweiligen Ergebnisse zu überprüfen. Mehr und mehr wurde die Wissenschaft zu einem Sammelsurium aus isolierten und schwer widerlegbaren Schmalspurexpertisen. Kein Neutrinophysiker versteht genug von Galaxiendynamik, um dort mitreden zu können, und ebenso wenig würden die Argumente eines Quasarexperten in der Beschleunigerphysik ernst genommen. Daher kommunizieren die Gebiete der Grundlagenphysik nur mehr mit oberflächlichem Halbwissen. Sie müssen sich dabei auf Meinungen der Autoritäten verlassen, die ihrerseits den Gruppenkonsens wiederkäuen und dies auch müssen, um als Autorität anerkannt zu bleiben.

»Ehrgeiz ist der Tod des Denkens.« – Ludwig Wittgenstein

Das Bild vom Nerd – einem hochintelligenten Spezialisten, welcher sich bevorzugt im Fachjargon unterhält – entspricht ganz dem Typus des Physikers in der dominierenden US-Forschungskultur ab den 1980er Jahren. Lee Smolin beschreibt in seinem Buch The Trouble With Physics, mit welcher Gruppendynamik sich die Physiker dem jeweils neuesten Modethema widmeten.9 Der typische Nerd ist daher keineswegs ein starker Charakter, sondern Teil einer Community, aus der er seine Ideen und Motivation bezieht. Der Ehrgeiz besteht dabei nicht darin, etwas Grundlegendes herauszufinden, sondern nur irgendetwas als Erster.

Auch hier erkennt man wieder den Unterschied zu Physikern früherer Zeiten, deren Arbeitsweise diametral entgegengesetzt war: Johannes Kepler war schon als Kind ein Einzelgänger, Newton lebte jahrelang zurückgezogen auf einem Landsitz, Einstein pflegte jovialen Umgang, blieb jedoch wissenschaftlich ein Einzelkämpfer, Dirac war verschlossen an der Grenze zum Autismus, Schrödinger ließ sich bei seiner Arbeit hauptsächlich von seinen Liebhaberinnen inspirieren.CXXV Jedenfalls folgten alle eigenständig ihrem Weg und hatten lediglich eines gemeinsam: den Willen, mit ganzer Kraft und Ernsthaftigkeit der Natur ihre Geheimnisse zu entlocken.

»Neue wissenschaftliche Ideen entspringen nie aus einer wie auch immer organisierten Körperschaft, sondern aus dem Kopf eines einzelnen Forschers.« – Max Planck

Kann man dies überhaupt mit heute vergleichen? Es wird behauptet, die Wissenschaft habe sich deshalb gewandelt, weil »alle einfachen Probleme schon gelöst sind« und die moderne Physik eben so schwer sei. Der Einzelne sei damit sowieso überfordert. Was die Theorie betrifft, gibt es für diese Sichtweise nicht einen Hauch von Evidenz. Sie ignoriert vielmehr die Leistung jener Individuen, meist in Unkenntnis der historischen Gegebenheiten. Denn die wissenschaftlichen Revolutionen in Europa waren fast ausschließlich von einzelnen visionären Denkern angestoßen worden.

Es ist wahrscheinlicher, dass der Stillstand der theoretischen Physik gerade durch den kollektiven Charakter der Bemühungen der letzten Jahrzehnte bedingt ist, da sich kreative Individuen im heutigen Wissenschaftsklima kaum durchsetzen können. Ein wesentlicher Faktor ist dabei auch das im Argen liegende Publikationswesen, das sich an Profiten der Zeitschriftenverlage orientiert und ansonsten ein idealer Nährboden für Einheitsmeinungen ist.

Idealismus unter Begutachtung

Auch hier zeigt sich ein nicht unwesentlicher Bruch der europäischen mit der amerikanischen Forschungstradition. Früher entschied der Herausgeber einer Zeitschrift nach eigenem verantwortlichen Urteil über die Veröffentlichung eines eingereichten Artikels. Auf diese Weise ließ Max Planck 1905 in den Annalen der Physik einen Artikel »Zur Elektrodynamik bewegter Körper« eines unbekannten Patentangestellten namens Albert Einstein drucken.

»Wenn jemand die Ideen derjenigen Genies, die Gründerväter der modernen Wissenschaft waren, Komitees von Spezialisten vorgelegt hätte, kann kein Zweifel bestehen, dass diese sie für abwegig befunden und gerade wegen ihrer Originalität und Tiefe aussortiert hätten.« – Louis Victor de Broglie

Nach dem Krieg setzte sich zunehmend das formalisierte Peer-Review-Verfahren durch, bei dem die Manuskripte vor der Publikation zuerst von Fachkollegen begutachtet werden müssen. Positiv an Peer Review ist, dass spezialisiertes Feedback erfolgen kann. Andererseits wurde es schon früh klar, dass gerade revolutionäre Ideen, die den etablierten Weisheiten des Fachgebietes widersprechen, durch Peer Review oft unterdrückt werden. So wurde beispielsweise die bahnbrechende Entdeckung des Zitronensäurezyklus schon 1953 von der Zeitschrift Nature abgelehnt. Der Astrophysiker Thomas Gold durfte seine Interpretation von PulsarenCXXVI als Neutronensterne, die sich als wegweisend herausstellen sollte, nicht einmal als Konferenzbeitrag einreichen. Umgekehrt passierten zahlreiche minderwertige Arbeiten und sogar computergenerierter Nonsens den Begutachtungsprozess ungehindert.10 Insgesamt steht Peer Review für die Abkehr vom Individuum in der europäischen Tradition hin zu den großen kollektiven Forschungsprojekten in Amerika, in denen die Meinung der Community als Richtschnur dessen gilt, was veröffentlicht werden soll.CXXVII

Nur wenn ein hinreichender Konsens unter den Forschern besteht, so die Denkweise, lohnt es sich, Mittel für Projekte aufzuwenden, die in der amerikanischen Kultur das Kernstück wissenschaftlicher Aktivität bildeten, die immer mehr in Institutionen verankert ist. Inzwischen hat Peer Review viel zur Transformation der Wissenschaft in der Bürokratie beigetragen, wo kreative Initiativen im Gruppendenken versanden.

»Man könnte die Wissenschaftsgeschichte der letzten fünfzig Jahre allein mit Artikeln dokumentieren, die von Science und Nature abgelehnt wurden.«– Paul Lauterbur, Nobelpreis 2003

Die Verantwortlichkeit des Einzelnen wird durch die Anonymität des Gutachtens aufgehoben; letztlich handelt es sich um eine ­Meinungsäußerung, die zudem sehr anfällig für Interessenkonflikte, ja Machtmissbrauch ist. Denn Gutachter werden für nachlässige oder böswillige Beurteilungen kaum zur ­Rechenschaft gezogen und die Begutachteten sind weitgehend rechtlos.CXXVIII Vor allem fehlt dem Peer Review der Korrekturmechanismus im Großen: Technische Details werden dadurch verbessert, aber Veröffentlichungen, welche die Grundlagen eines ganzen Forschungsgebietes infrage stellen, sind schier unmöglich, sobald nur mehr Gutachter zur Verfügung stehen, die auf jenem Gebiet ihre Karriere gegründet haben.

»Die akademische Laufbahn versetzt einen jungen Menschen in die Zwangslage, wissenschaftliche Schriften in impressiver Menge zu produzieren – eine Verführung zur Oberflächlichkeit, der nur starke Charaktere zu widerstehen vermögen.« – Albert Einstein

Ein wahres Gift für genuine Wissenschaft ist das Überhandnehmen von Evaluierung und Ranking, ganz im Sinne einer wirtschaftlichen Denkweise, in der Forschung messbare Ergebnisse abwerfen muss. Dies schafft verschiedentlich falsche Anreize, welche mit Forschung nichts zu tun haben: Aufblähen eines Gedankens zu mehreren Publikationen, Zitierkartelle, Namen auf der Autorenliste, die an der Arbeit nicht beteiligt waren und so weiter. Evaluierung versucht, das kompetitive Element zu betonen, die Abkehr von der wissenschaftlichen Ethik wird dadurch nur beschleunigt. Artikel lassen sich wohl zählen, aber Fortschritt nicht so einfach messen.

Wissenschaft wird zu Bürokratie

Der Wissenschaftsbetrieb wird immer mehr von Bürokratie als von Kompetenz beherrscht. Nach einer Umfrage11 der Zeitschrift ­Nature wird weniger als die Hälfte der Arbeitszeit auf die eigentliche Forschung verwendet, viel dagegen auf Anträge und Berichte, die im Übrigen kein Ausbund an Wahrhaftigkeit sind. Jeder weiß, dass sie oft ebenso sorgfältig formuliert wie absichtlich irreführend sind, aber die Behauptungen nur auf interne Konsistenz geprüft werden. Dem Ganzen liegt der Irrglaube zugrunde, Wissenschaft lasse sich betreiben, indem man Geld und Personal nach einem bestimmten Schema einsetzt. Doch dies verhindert nicht, dass im Forschungsalltag oft nur eine elaborierte Fassade von Wissenschaft gezimmert wird.

»Wir tun so, als könne wirkliche Wissenschaft formalisiert, mechanisiert und zu einem Prozess der Massenproduktion werden – und versuchen nicht einmal zu überprüfen, ob dies zutrifft.«12 – Bruce G. Charlton

Ebenso zeigt die Geschichte, dass sich Resultate auch durch Aufbieten aller Ressourcen nicht erzwingen lassen. Das Streben nach Forschungsgeldern, Ausstattung, Publikationen, Anerkennung und Preisen und das diesem Zweck dienende Managen von Institutionen hat nichts mit Wissenschaft zu tun. Auch dies ist letztlich allen Beteiligten bewusst. Wirkliche Sensationen waren oft ein Nebenprodukt von nicht allzu zielgerichteten Aktivitäten, während schon viele Mittel verschwendet wurden, um irgendwelche theoretischen Fantasien zu belegen.

Da keine marktfähigen Produkte produziert werden müssen, sondern die entsprechenden Forschergemeinden sich jeweils nur selbst begutachten, findet keine externe Korrektur von Fehlentwicklungen mehr statt. In großen Institutionen übernimmt das Individuum praktisch überhaupt keine Verantwortung mehr für sein Handeln; oft genug dient die große Gemeinschaft nur als Rückversicherung, dass das, was alle tun, ja nicht falsch sein kann.

Noch nicht einmal Unternehmertum

Nassim Taleb fordert daher in seinem Buch Skin in the Game, dass Theoretiker, gleich Unternehmern, ein angemessenes Risiko ihrer Tätigkeit tragen: Sie sollen unbezahlt forschen, wobei Erfolge durch Preise entlohnt werden können. Er nennt dies eine »Entprostitutionalisierung« der Wissenschaft.

Taleb ist auch sonst ein heftiger Kritiker der Academia, welche hauptsächlich Bürokratie generiert, während kreativen Geistern oft Steine in den Weg gelegt werden. Diese unternehmerische Sicht ist zwar durchaus amerikanisch, würde aber vielen Forschungseinrichtungen heute guttun, wenn sich auch wahre Grundlagenforschung mit ihr nur schwer organisieren lässt. Mit Gigantomanie aus Amerika sowie Bürokratie aus Europa haben diese Institutionen heute tatsächlich das Schlechte aus beiden Kulturen übernommen.

Insgesamt produziert die Wissenschaft, auch die Physik, durchaus noch sehr spannende Entdeckungen wie zum Beispiel in der Laser-, Nano- und Computertechnologie oder auch der Quantenkryptographie. Diese Erfolge dienen den hinsiechenden Gebieten der Theorie als willkommene Deckung, welche vermeintlich die Physik als Ganzes schmückt und ihr öffentliches Ansehen hochhält. Man darf nur nicht vergessen, dass praktisch alle diese Anwendungen auf Grundlagenphysik zurückgehen, die bis 1930 entdeckt wurden. Eine Ausnahme bildet lediglich die Kernspaltung, die in Reaktoren und Bomben offenbar funktioniert. Es gibt jedoch nichts Nützliches, Gott sei Dank auch nichts Gefährliches, was auf der Entdeckung von Neutrinos, Quarks, W-, Z- und Higgs-Bosonen, geschweige denn auf dunkler Materie oder dunkler Energie beruht. Dies bedeutet keineswegs, dass sich Grundlagenforschung dem Diktat der Nützlichkeit unterwerfen soll. Aber das Ausbleiben jeglicher Anwendung nach langer Zeit ist ein Indiz dafür, dass es sich bei vielen modernen »Entdeckungen« eher um die Ausgeburten von Wunschvorstellungen handelt als um reale Phänomene.

Der Grund, warum die Gesellschaft Wissenschaft überhaupt braucht, liegt in dem Effizienzgewinn, den diese als langfristige Folge erbringt. Die angewandte Physik profitiert dabei von dem Nachlauf der fundamentalen Entdeckungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In der theoretischen Physik dauert es dagegen sehr lange, bis die fehlende Produktivität zutage tritt; möglicherweise länger, als die derzeitigen Institutionen überhaupt bestehen.

PC gibt der Forschung den Rest

Anstatt Ergebnisse zu liefern, fangen sie jedenfalls an, sinnlos um sich selbst zu kreisen. Am CERN wurde ein Forscher suspendiert,13 weil er in einem Workshop High Energy Physics and Gender entgegen der feministischen Doktrin die Ansicht vertrat, dass nicht Frauen, sondern inzwischen Männer in der Physik diskriminiert würden. Martin Lopez-Corredoira, ein angesehener Astronom, spricht ebenfalls von einer »ideologischen Hexenjagd«.14 Sobald heute eine gewisse Mindestgröße einer Institution mit entsprechender sozialer Dynamik erreicht ist, beschäftigt man sich mit Code-of-conduct-Programmen und Woke-Ideologie. Auch Google blieb dies nicht erspart.15 Das MIT sagte jüngst einen öffentlichen Vortrag eines renommierten Klimaforschers ab, weil dieser sich an anderer Stelle kritisch zu dem Programm Diversity, Equity and Inclusion geäußert hatte.16 Man mag zu manchen dieser politischen Themen stehen, wie man will; aber es ist doch klar, dass sie nichts mit Wissenschaft zu tun haben. Neben den Institutionen der vermeintlichen Grundlagenwissenschaft spüren die amerikanischen Universitäten schon lange diese Krise. Dies führt zusätzlich zu einer Erosion der wissenschaftlichen Maßstäbe.

Letztlich ist auch dies eine Folge einer Denktradition, die zwar den Forschungsalltag managt, jedoch eine erkenntnistheoretische Reflexion vermissen lässt. Debatten wie zwischen Ernst Mach und Max Planck über die wissenschaftliche Methode gibt es schon lange nicht mehr. Nicht zuletzt hat die moderne Physik das Erfordernis der Evidenz als Arbeitsgrundlage so vernachlässigt, dass kein Kriterium mehr zur Verfügung steht, das die Spreu vom Weizen trennen könnte. Damit stehen die Bildungseinrichtungen letztlich jeder Ideologie offen und die beobachteten Verrücktheiten sind nur ein Symptom dieser Anfälligkeit.

Die Struktur der Universitäten, die in den USA um ihre Finanzierung buhlen müssen, machten diese ohnehin empfänglich für gesellschaftlichen Fehlentwicklungen. Während Quotenregelungen, Gendersprech und alle möglichen Auswüchse politischer Korrektheit zuerst die geisteswissenschaftlichen Fakultäten befallen hatten,CXXIX kommen diese nach und nach auch in den Naturwissenschaften an.17 Diese wahrscheinlich irreversible Entwicklung betrifft nicht nur die Abkehr vom Leistungsprinzip18 für Studenten und Professoren, sondern auch ein Klima, in dem jede sachfremde Bagatelle skandalisiert werden kann, meist verstärkt durch einen digitalen Mob in den sozialen Medien. Die Unkultur erzwungener öffentlicher Entschuldigungen erinnert dabei schon an eine frühe Form von Totalitarismus.

Schrödinger, der während seiner Zeit in Irland drei uneheliche Kinder zeugte, aber auch Einstein wäre heute an jeder US-Universität eine Suspendierung vom Dienst widerfahren, wenn nicht Schlimmeres.CXXX Mehr als über Schrödinger und Einstein sagt dies wohl etwas über den heutigen Zustand der Universitäten aus, in denen jede Personal- oder Sachentscheidung von einer Debatte überlagert wird, was als rassistisch, homophob oder sexistisch interpretiert werden könnte. Jedes denkende Hinterfragen der Mainstream-Meinung wird dagegen als Verschwörungstheorie gebrandmarkt und mit einer Moralkeule statt mit Sachargumenten bekämpft.

Beginnende Orwellisierung

Es ist bemerkenswert, dass sich die Universitäten, die über Jahrhunderte hinweg Orte der Freiheit, Intelligenz und Weltoffenheit waren, zu Zentren der ideologischen Repression gewandelt haben. Nassim Taleb bezeichnet sie daher als »Klapsmühlen«.CXXXI In manchen Fakultäten, etwa der Mathematik, mag dies noch verhältnismäßig wenig spürbar sein und in Europa kommen diese Entwicklungen üblicherweise mit Verzögerung an. Aber früher oder später werden sie den Wert der Universitätsausbildung auch hier erodieren. Immer weniger Studenten werden bereit sein, sich für minderwertige, überteuerte und politisch indoktrinierte Studiengänge auch noch zu verschulden, was die Universitäten finanziell austrocknen wird.

Umgekehrt wird die Wirtschaft sich bald selbst um die Qualifikation und Auswahl ihrer Mitarbeiter kümmern. Google plant bereits, befähigten Bewerbern Abschlüsse zu attestieren, die in wenigen Monaten erworben werden können und einen Bruchteil der exorbitanten Studiengebühren kosten.19 Tatsächlich schreckt schon jetzt die manchmal stumpfsinnige Universitätsausbildung20 kreative und motivierte Leute ab.CXXXII Eine andere Frage ist, ob gerade Google neugierigen Naturforschern eine Perspektive bietet.

Institutionelle Grundlagenforschung in der Physik bringt überhaupt nichts mehr zustande, was irgendjemand möchte oder brauchen könnte, und wurde dadurch zwangsläufig auch unehrlich. Ganz allgemein trägt sie nicht mehr zur Effizienzsteigerung der Gesellschaften bei, was auf lange Sicht zu einem Kollaps dieses Wissenschaftsbetriebs führen muss. Auf Dauer lässt sich auch nicht mehr verheimlichen, wie sehr sich die theoretischen Konzepte von jeder Realität entfernt haben. Irgendwann wird die Frage auftauchen, welchen Nutzen diese Aktivitäten über die Alimentierung der Beteiligten hinaus haben. Diese Institutionen verlieren also ihre Existenzgrundlage, ganz einfach, weil dort schon lange keine echte Grundlagenforschung mehr betrieben wird. Die Frage ist, ob dies nicht Teil einer noch allgemeineren Instabilität der heutigen Zivilisation sein wird.