2 Wissenschaft ist kein Krieg
Wo Macht der Erkenntnis schadet

»Die Kultur dient dem humanen Zusammenleben, und der Krieg ist das Gegenteil.« – Carl Friedrich von Weizsäcker

Die Denkweise, die sich so maßgeblich auf die Entwicklung der modernen Physik ausgewirkt hat, trifft man auf vielen Gebieten an. Sie ist so ausgeprägt, dass ein Verständnis der Wissenschaft kaum ohne das Studium dieser Parallelen auskommt. Wie bereits bemerkt, ging in der Geschichte wissenschaftliche Vormachtstellung fast immer mit militärischer Dominanz einher. Einerseits wird in einem Land mit wissenschaftlichem Erfindergeist dieser auch regelmäßig für Waffentechnik eingesetzt, die militärischen Vorteil verschafft. Andererseits verfügen mächtige Länder über mehr Ressourcen, die sie in die Wissenschaft investieren können. Während diese Zusammenhänge offensichtlich sind, verdient die Mentalität, mit der in Amerika Wissenschaft betrieben wird, nähere Betrachtung.

»Wir wissen nichts von dem, was außerhalb unseres Landes passiert.« – Michael Moore

 

Amerika ist für seine Bewohner das Maß aller Dinge und natürlich The Greatest Country in the World.1 Während die US-Medien auf innenpolitischen Belanglosigkeiten herumreiten, erwartet man, dass Länder auf der anderen Seite des Globus sich nach amerikanischen Gesetzen richten.

Alles Wichtige passiert bei uns

Wer so um sich kreist, für den ist es auch selbstverständlich, dass Amerika das wissenschaftliche Zentrum zu sein hat und nicht die Länder, die man als moderne Kolonien betrachtet. Mit dem entsprechenden Selbstbewusstsein konstruierten amerikanische Physiker später oft Theorien, ohne dass sie die europäischen Vorläufer für erwähnenswert hielten. Alles, was wichtig ist, konnte auch neu erfunden werden, so die Denke. Trotzdem waren die europäischen Theoretiker wie Albert Einstein, Paul Dirac, Erwin Schrödinger oder Nils Bohr immer noch die klügsten Köpfe der Grundlagenwissenschaft, auch nach dem Zweiten Weltkrieg.

Aber auch zu dieser Zeit war es unüblich, europäische Wissenschaftszeitschriften ins Englische zu übersetzen; unter anderem deswegen gerieten alte Probleme in Vergessenheit.IV Die zahlreichen Erfindungen und die großen Erfolge in der angewandten Wissenschaft halfen mit, dies zu vergessen. Die Abnabelung von Europa gehört zum Selbstverständnis der USA und der Wunsch, völlig unabhängig zu agieren, breitete sich auch in der Wissenschaft aus.

»Das ganze Land ist doch hier aufgebaut worden von Europäern, die aus ihrer Heimat geflüchtet sind, weil sie die Enge der Verhältnisse drüben, den ewigen Zank und Streit der kleinen Nationen, Unterdrückung und Befreiung und Revolutionen und den ganzen Jammer, nicht mehr ertragen wollten …«2 – Enrico Fermi zu Werner Heisenberg, 1939

Die kontroverse Debatte, die zum Beispiel von den Begründern der Quantenmechanik um deren Interpretation geführt wurde, interessierte in Amerika kaum jemanden, so als handle es sich um eine kriegerische Auseinandersetzung im alten Europa, die man gerne dort zurückgelassen hatte.

Ironischerweise sind die USA heu­te jedoch selbst an den meisten Konflikten beteiligt. Doch Amerikaner können sich kaum vorstellen, Teil der Geschichte zu sein. Sie leben in der Gegenwart, in der sie die Welt beherrschen, und finden das ganz normal.V Mit einer großen Übermacht an Flugzeugträgern verfügen sie über eine globale Luft- und Seehoheit, aber auch auf den modernen Gebieten Weltraumrüstung und Cyberwar sind sie führend.

Imperien hat es zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte gegeben. Meist verfügten sie über die fortschrittlichsten Technologien und nutzten sie, soweit militärisch anwendbar, stets zur Erweiterung ihres Herrschaftsraumes. Das Auftreten von Imperien, ebenso wie ihr Verschwinden, ist daher, historisch betrachtet, ein natürliches Phänomen. Es wäre geradezu merkwürdig, wenn es in der Gegenwart keine dominierende militärisch-politische Macht gäbe. Die USA lösten das British EmpireVI ab, vorher war Spanien Weltmacht. Besonders ähnlich sind die USA vielleicht dem römischen Reich. Dieses wurzelte in der griechischen Kultur, ebenso wie Amerika in der europäischen, was einen Vergleich fast aufdrängt.

Spiegelbild der Antike

»Thales erfasste als erster das Prinzip, die Vielfältigkeit der Erscheinungen … durch eine möglichst kleine Anzahl von Annahmen zu erklären.«3 – Erwin Schrödinger

Während Philosophen in Ionien über die vier Elemente als Grundbausteine der Welt nachsannen, rüsteten die Römer Legionen aus und bauten Straßen und Katapulte. Als moderne Parallele entstanden in Europa die Begriffe der Physik wie Kraft, Energie, Masse, oder auch Strom und Spannung. In Amerika wurde der Motorflug, das Fließband und das MaschinengewehrVII entwickelt. Wie bei den USA gründete sich die Überlegenheit der Römer auf hervorragende Organisation. Im Vergleich zur griechischen Antike gab es in Rom praktisch keine nennenswerten Philosophen, ebenfalls eine spiegelbildliche Situation. Schließlich setzte sich das aufstrebende römische Reich dank seiner Militärtechnik mit seinem Eroberungsdrang durch, das Gleiche, was man seit Beginn des vorigen Jahrhunderts mit Amerika beobachten kann. Die Ähnlichkeiten gehen aber über das Militärische hinaus. Entscheidend für den Zusammenhalt des römischen Reiches waren die fortschrittlichen Technologien im täglichen Leben, Infrastruktur wie Aquädukte und der neuartige Straßenbau. Das Reich umspannte das Mittelmeer, welches Rom vollständig beherrschte. Die USA betrachten heute mehr oder weniger alle Weltmeere als Mare Nostrum. Die Überlegenheit gründet sich dabei auch auf die digitalen Verkehrswege des Internets, dessen wesentliche Infrastruktur von Amerika kontrolliert wird. Zudem ermöglicht der technische Vorsprung der Geheimdienste eine fast lückenlose Überwachung des globalen Datenverkehrs.4

Zieht man die historische Parallele, wird aber klar: Trotz der Kriege zwischen Sparta und Athen oder den Eroberungsfeldzügen von Alexander dem Großen war das Denken der Griechen nicht in erster Linie imperial, sondern auch genuin naturwissenschaftlich, wie zum Beispiel Erwin Schrödinger in seinem Büchlein Die Natur und die Griechen beschreibt. Europas Mächte waren auch Imperien, doch gab es in der Wissenschaft seit dem 16. Jahrhundert eine bemerkenswerte internationale Zusammenarbeit der Naturforscher, deren Tätigkeit durch die zahlreichen Kriege freilich behindert wurde.

God’s Own Country auf Mission

»Das Völkerrecht ist … eine wichtige Orientierungshilfe für andere Länder …« – Max Uthoff in Die Anstalt

 

Seit die Gründerväter der Mayflower anlandeten, wurde in der amerikanischen Kultur das imperiale Auftreten als die normalste Sache der Welt betrachtet. Ganz im Geiste des vom Calvinismus inspirierten Exzeptionalismus betrachteten sie sich als ein auserwähltes Volk, für das andere Regeln gelten. Man kann nicht umhin, diese Denkweise bis in die Gegenwart hinein festzustellen.

Entsprechend ist das National- und Sendungsbewusstsein in den USA stark ausgeprägt, was trotz manch großer Ziele dem wissenschaftlichen Denken nicht unbedingt förderlich ist. Unter den Wissenschaftlern Europas war Nationalismus, abgesehen in den von Kriegspropaganda vergifteten Zeiten, unter den Naturforschern wenig verbreitet. Wissenschaftliche Probleme werden nicht von Nationen gelöst.

Expansion ohne Rücksicht beschreibt die GeschichteVIII der USA nicht unzutreffend. Das Staatsgebiet vergrößerte sich teils durch Überlassung wie bei den französischen Kolonien, aber auch durch Angriffskriege wie gegen Mexiko. So wie die Herrschaftssphäre stetig wuchs, stellte man sich später vor, dass die Wissenschaft ebenso in neues Territorium vordringt. Durch entsprechende Organisation und Mittel kann man, so die Idee, auf allen Gebieten weiter expandieren, politisch natürlich auch mit Krieg.

Die vereinnahmende Weltmacht

Zwar waren die USA klug genug, sich lange Zeit aus den Konflikten in Europa herauszuhalten. An den beiden verheerenden Weltkriegen Anfang des 20. Jahrhunderts nahmen sie in dem Maße teil,IX wie es ihren Interessen entsprach, und nutzten die Selbstzerstörung Europas, um endgültig zur dominierenden Macht zu werden. Spätestens jetzt hatten die USA an der Weltherrschaft Gefallen gefunden, nicht zuletzt wegen der Exportmöglichkeiten. Auch in der Wissenschaft kam diese Stellung später den USA zugute, wenn auch in umgekehrter Richtung: Alle Talente strebten an die amerikanischen Universitäten.

»Unsere nationale Stärke auf den Gebieten der angewandten Forschung sollte uns nicht für die Wahrheit blind machen, dass im Hinblick auf reine Forschung … Amerika einen zweitklassigen Platz akzeptiert hat.«6 – Vannevar Bush

Der Erste Weltkrieg war mit seinen zahlreichen kriegstechnischen Erfindungen eine Zäsur, der die Bindungen zwischen der Wissenschaft und dem Militär stärkte. Die anwendungsorientierte Physik in den USA war ihrer Natur nach immer schon näher an der kriegerischen Verwendung.5 Die gleichzeitigen militärischen und wissenschaftlichen Erfolge verführten dazu, Wissenschaft ähnlich wie Krieg zu betreiben: durch Organisation und Einsatz von Mitteln.

Später wurde das Zusammenspiel von Wissenschaft und Militär intensiver, unter anderem durch Leute wie Vannevar Bush, einem Ingenieur, der Präsident Roosevelt beriet und als einer der Gründer des militärisch-industriellen Komplexes gilt. 1944 zierte er als »General der Physik« das Cover des Time-Magazins. So erfolgte durch den Zweiten Weltkrieg ein noch viel einschneidenderer Richtungswechsel der Phy­sik. Obwohl auf europäischer Forschung basierend und mithilfe von Einwanderern entwickelt, wurde in Amerika die Atombombe gebaut, die eine vollkommene militärische Vormachtstellung zur Folge hatte.

Manchmal auf der Seite der Moral

Der Kampf gegen das Dritte Reich, aber auch die Opposition gegen die totalitären Staaten der stalinistischen Sowjetunion und des maoistischen China verschafften den USA eine moralisch überlegene Rolle. Trotz teilweiser Rücksichtslosigkeit nach außen wurde wenigstens die eigene Bevölkerung nicht einer Ideologie geopfert. Zumindest im Vergleich zu anderen Teilen der Welt repräsentierte der Westen Freiheit, Demokratie und Menschenrechte. Die wirtschaftliche Dominanz war dabei so groß, dass andere Länder fürchten mussten, von der Innovationskraft der USA förmlich an die Wand gedrückt zu werden.7 Der immer schon vorhandene Exzeptionalismus der Amerikaner verwandelte sich zu dieser Zeit in ein überschäumendes Selbstbewusstsein, mit dem sie sich als Retter der ganzen Welt sahen.

Zu welchen Verrücktheiten diese Sichtweise geführt hat, ist inzwischen aus Tondokumenten bekannt, die Präsident John F. Kennedy 1962 heimlich im Oval Office aufgezeichnet hatte. Führende Strategen im Pentagon und Generäle dachten dabei offen über einen thermonuklearen Präventivschlag gegen die Sowjetunion und China nach, um das Übel des Kommunismus ein für alle Mal auszuradieren. Man fragte Kennedy direkt, ob als Kollateralschaden eines Gegenschlags der Tod von zwanzig Millionen Amerikanern noch akzeptabel wäre. Kennedy warf den Fragesteller, General Curtis LeMay (er sollte später von Stanley Kubrick in der Figur des Dr. Strangelove verewigt werden) aus seinem Büro hinaus und zischte wütend:8 »und wir nennen uns menschliche Rasse!«

»Die Menschheit muss dem Krieg ein Ende setzen, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende.« – John F. Kennedy

Die unmittelbaren Gefahren des Kalten Krieges gingen zwar durch das entschiedene Handeln Einzelner und auch etwas Glück vorüber, aber der Anspruch, die Welt notfalls mit Gewalt zu gestalten, besteht fort. Wohl kaum eine andere Sprache der Welt verwendet den AusdruckX Nuke Them. Was für ein Wort! Der Begriff der Menschheitsfamilie, den der Friedensforscher Daniele Ganser immer wieder betont, bleibt in diesen Kreisen dagegen bis heute ein Fremdwort.

Langsames Abdriften ins Absurde

Ein gemeinsames Merkmal von Politik und Wissenschaft ist das unmerkliche Verrücken von Maßstäben, das über Generationen hinweg geschieht. Schotten sich die jeweiligen Eliten zu sehr ab, wozu Macht und Intelligenz durchaus verführen können, besteht die Gefahr eines langsamen Realitätsverlustes, der innerhalb der Gruppe nicht wahrgenommen wird. Werte, Ideale, ja Grundvoraussetzungen des ursprünglichen Handelns können dabei erodieren und sich sogar in ihr Gegenteil verkehren.

Niemand, der die weltpolitischen Aktivitäten der USA in den letzten Jahrzehnten mit wachen Sinnen verfolgt hat, kann darin noch eine Verbreitung von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten erkennen. Selbst die Grundsätze der eigenen Verfassung werden seit 2001 in einer Weise mit Füßen getreten, die einen George Washing­ton oder Thomas Jefferson sich im Grabe hätten umdrehen lassen.

Zu einer ganz ähnlichen Einschätzung muss jeder kommen, der die Vorgehensweise und Überzeugungen der Gründerväter der Physik kennt und dies mit der Theorie- und Modellbildung der letzten Jahrzehnte vergleicht. Die Abkopplung von der Wirklichkeit geschieht unmerklich, sobald man die Verankerung in historischen Tatsachen löst und sich nur noch an der vermeintlichen Klugheit und Macht in der Gegenwart orientiert.

Der Anspruch, globaler Anführer zu sein, wurde ganz natürlich auch in der Grundlagenwissenschaft erhoben, ohne dass dies in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eine objektive Berechtigung gehabt hätte. In der Politik dominiert heute das Narrativ, allein in den Vereinigten Staaten herrsche eine wahrhaft gute Staatsform. Bis heute sind viele Amerikaner überzeugt, alle Länder der Erde müssten von diesem American Way of Life beglückt werden, zur Not auch mit Gewalt.9 Die Zurückhaltung des alten Kontinents bei diesen Aktionen wird als Schwäche angesehen. Entsprechend hält man sich in der Wissenschaft für die mutigste und stärkste Nation. Zwar sind die USA in den Bereichen RaumfahrtXI, Computer und im Internet führend, die bis heute ihre globale Vorherrschaft sichern. Aber man vergisst dabei, dass diese Technologien die Konsequenzen einer Grundlagenforschung waren, die in dieser Form heute nicht mehr existiert.

Abgesehen davon, wie die USA zur Weltmacht wurden, ist auch die Entwicklung im Inneren interessant, bei der Gewalt auch immer ein übliches Mittel war. Die Siedler gingen rücksichtslos gegen die Indianer vor, deren Kultur mit überlegener Technik und falschen Versprechungen ausgelöscht wurde. Auch Sklaven aus Afrika wurden lange Zeit als etwas Selbstverständliches betrachtet. All dies entsprach nicht unbedingt den Idealen der Unabhängigkeitserklärung, in der es heißt:

»Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind, dass sie von ihrem Schöpfer mit bestimmten unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind …«

Cowboys – dort wo die Freiheit noch grenzenlos ist

»So es die Vorsehung will, diese Wilden auszumerzen, um Raum für die Kultivierer der Erde zu schaffen, ist es nicht unwahrscheinlich, dass Rum das dazu ausersehene Mittel ist.«10 – Benjamin Franklin

Auch die Kultur des sogenannten Wilden Westens übt bis heute einen bedeutenden Einfluss auf die amerikanische Denkweise aus. Der Zustand der Anarchie, in dem das Recht des Stärkeren gilt, wird hierbei als absolute Freiheit idealisiert. Die Emotionen werden dann von jenen verfilmten Western angesprochen, in denen ganz ausnahmsweise sich das wirkliche Recht gegen das des vermeintlich Stärkeren durchsetzt – aber ohne Schießereien geht es natürlich nie. Das im berüchtigten zweiten Verfassungszusatz garantierte Recht auf das Tragen einer Waffe, das die Gewehrlobby auch noch erweitert hat, kodifiziert die verwurzelte Mentalität, dass zur Not ein Problem auch immer mit Gewalt gelöst werden kann. Das Fernsehen ist mit seinen Hunderten von täglich übertragenen Brutalitäten eine Art Gebrauchsanleitung, während dort gleichzeitig die Prüderie gegenüber jedweder Nacktheit hysterische Ausmaße angenommen hat. Körperliche Liebe ist Tabu, körperliche Gewalt die Norm und für den Helden des Films ein Muss.

»… ein kulturpolitisches Phänomen. In diesen Hollywoodstreifen … werden Konflikte üblicherweise durch Schießen, Hauen und Stechen gelöst.«11 – Wolfgang Bittner

 

Das Bonmot Mark Twains, für einen Mann mit nur einem Hammer sehe jedes Problem aus wie ein Nagel, trifft heute auf Amerika zu. Egal, wie kompliziert die ethnischen, religiösen oder wirtschaftlichen Verflechtungen in den Konfliktregionen der Erde sein mögen, es gibt immer einen geeigneten Bösen, der mit einem Regime Change beseitigt werden muss.

Jedem Beobachter, der diese Aktionen über längere Zeiträume verfolgt, wird auffallen, dass diese Politik kurzsichtig und oberflächlich ist, auch wenn die negativen Folgen erst Jahre später sichtbar werden und dann in den Medien auch gar nicht mehr thematisiert werden. Was genau will man eigentlich dadurch erreichen?

»Die Frage nach dem Warum ist die Mutter aller Naturwissenschaften.« – Arthur Schopenhauer

 

Ähnliche Kurzsichtigkeit und Oberflächlichkeit charakterisieren auch weite Teile der Wissenschaft. Es fehlt sowohl an Visionen, zu welchem Ziel der technische Fortschritt die Welt eigentlich führen soll, als auch an einer grundlegenden Reflexion, warum die Naturgesetze gerade die Form haben, die wir beobachten.

Der Wandel des Forschungsklimas

Entscheidende Fortschritte der Zivilisation hat es nur zu Zeiten der Denkfreiheit gegeben, in der Menschen ohne Repression und Angst auch unkonventionelle Ideen diskutieren konnten – dies lässt sich zurückverfolgenXII bis zu den antiken Stadtstaaten auf den griechischen Inseln. Auch um diese Freiheit, nach Thomas Jefferson übrigens die »erstgeborene Schwester der Wissenschaft«, ist es in Zeiten einer zunehmenden Zensur des öffentlichen Diskurses nicht mehr gut bestellt. Sobald ein Thema irgendwie politisch besetzt ist, lässt ein Forscher heute lieber die Finger davon.

Während im vorigen Jahrhundert Dissidenten in der Sowjetunion verfolgt wurden, drangsaliert heute der Westen Menschen wie Edward Snowden, Chelsea Manning und Julian Assange, deren Vergehen es war, an das Verfassungs- und Völkerrecht erinnert zu haben. Dennoch sieht sich die amerikanische Öffentlichkeit nach wie vor in der Tradition der Gründerväter und Freiheitskämpfer, obwohl dies schon einige Zeit von der Realität überholt ist.

»In 170 Ländern stationierte US-Soldaten feiern Unabhängigkeit von fremder Großmacht« – Der Postillon zum 4. Juli

Analoge Denkweisen sind – natürlich nicht nur in Amerika – in der heutigen Wissenschaft verbreitet: Glaubt man ihren Presseorganen, so sind Legionen von Forschern in heroischem Kampf dabei, die letzten Geheimnisse der Natur zu entschlüsseln. Die Journale sind voller Erfolgsmeldungen an dieser Forschungsfront, so als sei die Gegenwart einzigartig. Aber wenn man sich bewusst macht, wie weit sich die Wissenschaft von ihrem Ideal der wahrhaftigen Suche nach grundlegenden Gesetzen entfernt hat, bemerkt man, dass diese hier ähnlich scheitert wie die Politik.

Auch ganz ohne Wertung ist die Denkweise, mit der wissenschaftliche Probleme angegangen werden, der militärischen sehr ähnlich: Man rüstet mit Anlagen und Apparaten auf, gründet Institutionen, organisiert große Gruppen und macht das Problem notfalls mit brachialer Gewalt platt. Dies geschieht im Experiment mit immer höheren Energien oder immer größeren Teleskopen, und in der Theorie durch immer kühnere strategische Entwürfe, wenn es sein muss durch Postulieren von weiteren Dimensionen der Realität. Nur funktioniert Wissenschaft so nicht. Zufall, Aufmerksamkeit, glückliche Umstände, einfache, aber kreative Kombinationen von Gedanken führten hier zu den Revolutionen, nicht der mit roher Gewalt durchgeführte Feldzug.

Allmacht läuft sich tot

Amerika war über lange Jahre berauscht von seinen Fähigkeiten und in vieler Hinsicht auch nicht zu Unrecht. Nur von einer Nation mit einer großen Auswahl an Talenten und enormer Wirtschaftskraft konnten Vorhaben wie das Manhattan-Projekt und die Mondlandung realisiert werden. Darüber hinaus war sicher auch eine Kultur von Tatkraft und Begeisterungsfähigkeit nötig, die für die USA charakteristisch war. Diese einzigartigen Erfolge verführten jedoch viele zu dem Glauben, Amerika könne einfach alles, insbesondere alles erreichen mit den üblichen Mitteln: fast unendliche materielle Ressourcen, massenweise qualifizierte Arbeitskräfte und perfekte Organisation.

Dieses Allmachtgefühl, und die Vorstellung durch schiere Kraft alle Probleme lösen zu können, zeigte sich daher nicht nur in der Politik. Ein entsprechendes Brute-Force-Denken durchzieht die Wissenschaft, die sich dabei durchaus große Ziele gesetzt hatte wie zum Beispiel die Bekämpfung von Krebs.XIII Die dominierende Forschung in Amerika setzte jahrzehntelang auf das Ausprobieren von immer neuen Giftcocktails, die den Tumor schädigen sollten, ohne den Patienten umzubringen. Diese Chemotherapeutika sind durchaus wirksam, aber das eigentliche Problem der Tumorentstehung ist dadurch nicht gelöst. Die grundlegenden Arbeiten des deutschen Nobelpreisträgers Otto Warburg zu den Krebsursachen, die möglicherweise im Zellstoffwechsel liegen, blieben dagegen weitgehend unbeachtet und wurden erst jüngst am Boston College von Dr. Thomas Seyfried wieder aufgegriffen.12 Welcher Zugang letztlich Erfolg verspricht, wird die Zukunft zeigen, aber es offenbart sich auch hier ein Unterschied der Kulturen in der alten und neuen Welt.XIV

Parallele Denkweisen, kein Ziel vor Augen

Mit dem gleichen Optimismus und der gleichen Kraftanstrengung gingen die Physiker nach dem Krieg an die Probleme der Elemen­tarteilchen heran, indem sie immer größere Beschleuniger bauten, ein Paradigma, das sich bis heute fortsetzt. Ich werde später noch darauf eingehen, wozu dies geführt hat, doch zeigt sich hier schon ein Wandel der Denkweise im Vergleich zu früher. Mit ähnlichem Optimismus, einer Manpower von Zehntausenden von Theoretikern und kompliziertesten Rechnungen geht man heutzutage die Probleme der sogenannten Stringtheorie oder Supersymmetrie an, im Vergleich zu den Entwicklungen Anfang des vorigen Jahrhunderts jedoch mit bescheidenen Resultaten.

Es scheint, dass das Imperium USA sich nicht nur politisch überdehnt hat, sondern vor allem die geistigen Grundlagen fehlen, die für eine verantwortungsvolle Weltherrschaft qualifizieren würden. Zuallererst müssten vielleicht Strategien entwickelt werden, das atomare Gleichgewicht des Schreckens zu beenden, welches ein potenzielles Vernichtungsrisiko für die gesamte Menschheit darstellt. Darüber hinaus müsste jedem verständigen Menschen einleuchten, dass in einer immer technologieabhängigeren Zivilisation Krieg nicht mehr führbar ist, weil der Nutzen immer geringer und der Schaden immer größer wird. Für ein nachhaltiges globales Denken im Sinne des Planeten und seiner Bewohner fehlt es wahrscheinlich nicht nur an Ideen und Fähigkeiten, sondern auch am Willen, wenn nicht sogar überhaupt am Verständnis, dass dies eine zentrale Aufgabe der Zivilisation ist.