3 Krisen, Blasen, Crash
Symptome des kurzfristigen Denkens

Zwischen der wirtschaftlichen Lage und dem Zustand der Wissenschaft scheint es zunächst wenig unmittelbaren Bezug zu geben. Das heutige Wirtschaftssystem und die Art und Weise, wie Grundlagenwissenschaft betrieben wird, weisen jedoch große Parallelen im Denken auf. Es gibt sogar einige Begriffe, die sich vollkommen analog verhalten. Dies wird offenkundig, sobald man die zeitliche Entwicklung von Wissenschaft und Wirtschaft betrachtet.

In der Volkswirtschaft gibt es mehr oder weniger lange Phasen des Wachstums, die typischerweise von relativ kurzen krisenhaften Entwicklungen abgelöst werden. Dies können Kurseinbrüche an Aktienmärkten sein, Bankenkrisen oder gar der Zusammenbruch ganzer Wirtschaftssysteme. Wachstum ist nicht immer gesund. Immer wieder in der Geschichte hat es Blasen gegeben, die nach unscheinbarem Beginn umso abrupter von einem Crash beendet wurden, der oft mit großen Geldentwertungen und Schul­den­­annullierungen einherging.

»Hätte mich der Herrgott bei der Schöpfung um Rat gefragt, hätte ich etwas Einfacheres empfohlen.« – König Alfonso X. von Kastilien über das geozentrische Modell

Den exakt gleichen zeitlichen Ablauf hat der Philosoph Thomas Kuhn in seinem Werk Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen beschrieben. Es gibt ebenfalls lange Phasen sogenannter »Normalwissenschaft«, die üblicherweise in einer relativ kurzen Krise enden, die als Paradigmenwechsel bezeichnet wird. Dabei bleibt, wissenschaftlich betrachtet, oft kein Stein auf dem anderen. Paradebeispiel ist die kopernikanische Wende. Lange Zeit war man blind gewesen für die Anzeichen der Krise in dem sogenannten Epizykelmodell, das exzessive komplizierte Planetenbahnen zeigte, nur um die Erde künstlich im Mittelpunkt zu halten. Die grundlegenden Annahmen des Modells, alles habe aus Kreisen zu bestehen, wurden dagegen nicht hinterfragt.

Manie überall

Es gibt aber auch Krisen auf viel kürzerer Zeitskala. Entwicklungen in der Wissenschaft können dabei ähnlich irrational verlaufen wie die berüchtigte Tulpenzwiebelmanie um 1630 in Holland, bei der die Knollen für den Gegenwert eines Hauses gehandelt wurden. So glaubte der französische Physiker Blondlot im Jahr 1903, kurz nach der Entdeckung der Röntgenstrahlen, bis dato unbekannte »N-Strahlen« gefunden zu haben. In der Folge wurden dreihundert Fachartikel veröffentlicht, bevor sich die Strahlen als kollektive Selbsttäuschung von über hundert Forschern erwiesen.

Hinweise auf eine krisenhafte Zuspitzung werden oft verdrängt – dies ist wohl eine menschliche Eigenschaft, die sich auf vielen Gebieten zeigt. Aber auch ganz real werden Probleme zugedeckt, man denke nur an die Bankenkrise 2008, die mit Steuermitteln mehr oder weniger ertränkt wurde. Das viele Geld ist in gewisser Weise analog zu den immer höheren Energien, die man in Collider-Experimenten der Teilchenphysik zu erreichen sucht, ohne dass dabei grundlegende Widersprüche des Modells gelöst würden.

Andererseits kann man die inflationäre Entwicklung, die durch Notenbankinterventionen entsteht, auch vergleichen mit dem inflationären Anwachsen von freien Parametern, unverstandenen Zahlen, die man zur Beschreibung der Experimente verwendet, die immer neue Teilchen generieren. Die damit einhergehende Komplizierung führt zu einer Unüberschaubarkeit, die schon Kennzeichen des geozentrischen Weltbildes war, aber auch eine moderne Parallele in den unübersichtlichen Produkten der Finanzindustrie findet. Diese dienen ja auch dazu, die inflationär produzierten Mittel irgendwie unterzubringen. Solche »Erfindungen«, wie zum Beispiel Derivate, sind in analoger Weise Kennzeichen einer Instabilität des Systems.

So wie eine inflationär angewachsene Geldmenge immer weniger den Wert realer Güter abbildet, steht der Zuwachs an willkürlichen Parametern in der Datenbeschreibung in keinem Verhältnis mehr zu dem realen Gegenwert an Beobachtungen. Die Schulden im Wirtschaftssystem entsprechen dabei jenen erhofften Beobachtungen, die noch nicht gemacht worden sind. In der modernen Physik werden sehr viele Dinge ohne direkte Evidenz postuliert, um das Modell aufrechtzuerhalten. Mit diesen ad-hoc-Erklärungen läuft der wissenschaftliche Betrieb weiter, ohne dass das eigentliche Problem in Form eines wirklichen Verständnisses bezahlt werden muss.

Schuldenaufnahme und galaktische Schattenbanken

So werden zum Beispiel die unerklärlich hohen Rotationsgeschwindigkeiten von Galaxienrändern mit einer erheblichen Menge an dunkler Materie »erklärt«, während man Anomalien bei der Ausbreitung des Universums mit dunkler Energie beschreibt. Neben der methodischen Fragwürdigkeit so einer »Kreditschöpfung« als vermeintlicher Lösung ist inzwischen die schiere Menge jener dunklen Substanzen beunruhigend. Der amerikanische Kosmologe Michael Turner wurde nach einem Vortrag einmal gefragt, ob es sich bei dem Jonglieren mit dunklen Substanzen, aus denen das Universum angeblich zu 95 Prozent besteht, nicht um eine »Kosmologie auf Pump« handle, die ähnlich riskant sei wie ein Unternehmen, das mit einem so hohen Anteil an Fremdkapital geführt wird. Seine Antwort »In Amerika machen wir das so!« erheiterte das Publikum, trug aber mehr Wahrheit in sich, als vielen bewusst war. Wenn man in einem wissenschaftlichen Modell so viele unüberprüfbare Annahmen macht, geht man ganz ähnliche systemische Risiken ein wie bei exzessiver Verschuldung. Tatsächlich handelt es sich um ähnliche Denkweisen, die das momentane Funktionieren über die langfristige Stabilität stellen. Bei der Dunklen Materie fühlt man sich manchmal an die Theorie des PhlogistonsXV im 18. Jahrhundert erinnert, das sich nach hundert Jahren Forschung als eine Illusion erwies und in ganz anderen Kategorien erklärt werden musste – ebenfalls eine wissenschaftliche Revolution.

Eine gemeinsame Schwäche von Wirtschaft und Wissenschaft ist der nicht vorhandene Instinkt für Fehlentwicklungen, die nüchtern betrachtet irrational sind. An den Devisenmärkten werden zurzeit etwa täglich zehn Billionen US-Dollar umgesetzt. Dafür könnte man, rein hypothetisch, beim derzeitigen Getreidepreis dreißig Jahre lang für die gesamte Menschheit Nahrung kaufen – eigentlich, ohne dass irgendjemand noch arbeiten müsste. Dies ist eine Gleichung, die unser Wirtschaftssystem aufstellt, und ihre Absurdität offenbart einen Realitätsverlust, der seine Wurzeln in der oberflächlichen Denkweise der heutigen westlichen Kultur hat.

Methodische Scheuklappen

Die exorbitante Produktion von Daten beispielsweise am CERN führt dazu, dass wegen der fehlenden Speichermöglichkeiten 99,99 Prozent der Resultate sofort gelöscht werden, weil sie im Sinne der Modellannahmen nicht als relevant gelten – und dieser Prozentsatz wird noch zunehmen. Neben der Assoziation an Verschwendung, die dies auslöst, ist diese »Triggern« genannte Datenauswahl vor allem methodisch fragwürdig: In der Wissenschaftsgeschichte wurden bedeutende Entdeckungen oft an unerwarteter Stelle gemacht, was hier von vornherein ausgeschlossen wird. Das Gebiet schottet sich damit sogar gegen weiteren Fortschritt ab.

Auch in der Wirtschaft generieren solche Missverhältnisse ihre eigene Dynamik. Im obigen Beispiel des Getreidekaufs würde der Preis steigen, sobald jemand signifikante Mengen auf Vorrat kauft. Bei Nahrungsmitteln wird dies wegen des damit verbundenen Aufsehens noch nicht exzessiv durchgeführt. Aber mit entsprechenden Mitteln kann jeder finanzstarke Akteur durch Aufkaufen eines knappen Gutes eine Verteuerung herbeiführen und mit Gewinn weiterverkaufen,XVI was zu immer stärkeren Verwerfungen führt. Es gibt einfach zu viel Geld.

Man muss nicht Wirtschaftswissenschaften studiert haben, um zu erkennen, dass das ganze System durch dieses Missverhältnis instabil werden kann. Dennoch werden die inhärenten Widersprüche weder besonders thematisiert noch von der Öffentlichkeit wahrgenommen. Das Anwachsen der Geldmenge geht schleichend vor sich, es generiert einerseits große Vermögen, andererseits hohe Staatsschulden.

Unerbittliche Exponentialfunktion

So ein exponentielles Anwachsen muss früher oder später unausweichlich zu einem Crash führen. Denn sobald dem vielen Geld keine ausreichenden Sachwerte mehr gegenüberstehen, sucht sich dieses seine Spekulationsobjekte praktisch selbst. Nicht eine gerichtete Einzelaktion wie beim hypothetischen Getreidebeispiel, sondern allein der Herdentrieb der Anleger erzeugt entsprechende Blasen, die dann platzen, sobald die ersten versuchen, Kasse zu machen.

»Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.«

– Georg Santayana II

Der zu starke Fokus auf die Gegenwart bestimmt viel mehr den Gang der Dinge als die Lehren, die man aus der Geschichte ziehen könnte. Ganz allgemein fehlt dem westlichen Denken die langfristige Reflexion über den Zustand des Systems. Dieses Phänomen kann man besonders seit hundert Jahren beobachten.XVII

Kaum jemand scheint sich darüber Gedanken zu machen und auch unter den Experten gab es nur wenige,1 die die Finanzkrise hatten kommen sehen, die dann mit noch mehr geliehenem Geld der Notenbanken geflutet wurde. Der eigentliche, größere Crash steht also noch bevor. Der Zusammenbruch eines Währungssystems führt immer zu unbeherrschbaren Ungerechtigkeiten und ist damit organisierter Betrug. Ganz abgesehen davon ging dies in der Geschichte oft mit dem Zusammenbruch des Rechtsstaates oder gar einem Krieg einher. Dies hört sich in der Wissenschaft nicht so dramatisch an, aber was ein totaler Vertrauensverlust in die Integrität der Institutionen für das intellektuelle Fortkommen der Menschheit bedeuten würde, kann heute niemand abschätzen. Die Gefahr ist nicht so klein, wie sie scheint.

Ein positives Merkmal eines funktionierenden Kapitalismus ist das Entfernen von nicht mehr wettbewerbsfähigen Unternehmen aus dem Markt. Ebenso werden in gesunder Wissenschaft Theorien aufgegeben, die den Beobachtungen widersprechen. Dieser Mechanismus kann jedoch dysfunktional werden, wenn ehemals reputable Theorien mit immer mehr Hilfsannahmen gerettet werden, wie das in der von Kuhn beschriebenen Vorkrisenphase geschieht. Ebenso bedenklich ist langfristig die Rettung von »systemrelevanten« Unternehmen, was insgesamt die Stabilität gefährdet. Der kurzfristige Schmerz wird vermieden, aber das Risiko des Zusammenbruchs steigt. Durch das billige Geld sind inzwischen viele »Zombie«-Unternehmen entstanden, die unter realen Bedingungen nicht mehr konkurrenzfähig wären. Bei bestimmten wissenschaftlichen TheorienXVIII kann man sich eines solchen Eindrucks ebenfalls nicht erwehren.

Schließlich orientieren sich Politiker höchstens an einem Zeitrahmen der Wahlperiode – wenn nicht nach der letzten Umfrage. Die langfristigen Gefahren für das Finanzsystems begannen, als Richard Nixon 1971 den Goldstandard und damit die Kopplung des Papiergeldes an reale Werte aufhob. Eine analoge Abkopplung von der Realität der Experimente war – zufällig oder nicht – auch in der Physik um diese Zeit zu beobachten.

Kurzatmiges Wirtschaftssystem

Während in der Wissenschaft die von Kuhn beschriebene Abfolge fast zwingend erscheint, kann man darüber streiten, ob sich solche Blasen im Kapitalismus vermeiden lassen oder denknotwendig entstehen. Fest steht aber, dass das derzeit vorherrschende wirtschaftliche Denken in der westlichen Welt viel zu kurzfristig ist. An den Börsen hofft man auf Spekulationsgewinn statt auf langfristige Dividende. Der Takt der dreimonatigen Quartalsberichte bestimmt die Strategie, nicht Investitionen in nachhaltige Technologien. Dazu kommt der Konstruktionsfehler, dass die Lebensgrundlagen der Menschheit, saubere Luft, Wasser und Umwelt, nicht in den Bilanzen erscheinen. Ähnliche Muster gibt es in der Wissenschaft. Im Tagesgeschäft der Forschungsberichte, der Anträge auf Mittel und der Publikationen gehen die wirklich wichtigen Fragen, die seit hundert Jahren ungelöst sind, meist unter.

Die Gefahren des Finanzkapitalismus, wenn auch von den Medien nicht besonders ausgebreitet, können eigentlich niemandem verborgen bleiben. Sie werden aber selten mit einer bestimmten Denktradition verbunden und sind auch nicht im engeren Sinne oder gar allein Amerika anzulasten. Jedoch hat der Aufstieg der USA zur Weltmacht und insbesondere zur Wirtschaftsmacht nach dem Ersten Weltkrieg zu einem ähnlichen Anwachsen von Geldmenge und Schulden sowie zu exzessiven Spekulationen geführt. Die langfristigen Folgen der Weltwirtschaftskrise von 1929 sind bekannt. Zwar glauben die Ökonomen, dies zu umgehen, indem sie den damaligen Fehler der Geldverknappung vermeiden, doch dabei handelte es sich letztlich nur um einen Auslöser. Das Problem hingegen besteht fort.XIX

Krisenhafte Entwicklungen wie 1929 hängen ganz klar auch mit den Denktraditionen zusammen. Als Erster hat dies Oswald Spengler 1913 in seinem Werk der Untergang des Abendlandes thematisiert.XX Wenn man liest, dass in der Endzeit des römischen Reiches die Weizenernte ganzer Länder zum Zweck der Spekulation aufgekauft wurde, spricht dies in der Tat für die These Spenglers, dass das übermäßige Gelddenken ein Anzeichen von niedergehenden Kulturen ist.

Spenglers Analyse ist in vieler Hinsicht überholt, unter anderem, weil sie die beschleunigte Entwicklung der Zivilisation durch Technologie nicht berücksichtigt und natürlich auch nicht die Globalisierung. Ein Zusammenhang zwischen den Defiziten eines Wirtschaftssystems und der zugrunde liegenden Kultur des Denkens besteht aber ganz sicher.

Manager statt Beamte und alles wird gut

Historisch unterscheidet man den »rheinischen« und »angelsächsischen« Kapitalismus, was zwar nicht ganz, jedoch weitgehend dem Gegensatz zwischen europäischer und amerikanischer Denkweise entspricht. Hier steht die Erfolgsethik (man könnte auch sagen Erfolg notfalls ohne Ethik) der kontinentaleuropäischen Verantwortungsethik2 gegenüber, die letztlich auf Immanuel Kants kategorischem Imperativ basiert.

Das angelsächsische Finanzsystem ist heute so dominant, dass in Vergessenheit gerät, dass es funktionierende Beamtenstaaten gab wie zum Beispiel Preußen im 19. Jahrhundert. Es hatte zwar durchaus ein liberales Wirtschaftssystem, das Primat des Staates wurde jedoch nicht aufgegeben.3 Davon ist man heute weit entfernt. Hinter der US-amerikanischen Tradition steht der Glaube, dass völlige Freiheit und Abwesenheit von Regeln alles zum Guten wenden wird. Seine Wurzeln liegen sicher in den Erfahrungen der jungen Staatengemeinschaft, die in den Jahren nach ihrer Gründung praktisch regellos expandierte.

Fremd ist der neuen Welt die Sozialbindung des Eigentums, wie sie etwa in Art. 14 des Grundgesetzes niedergelegt ist. In den internationalen Beziehungen wird dem Eigentum zunehmend alles untergeordnet, was so weit geht, dass sich souveräne Staaten den wirtschaftlichen Interessen einzelner Personen beugen müssen. Dabei spielt die Globalisierung eine große Rolle, die nicht per se schlecht ist, jedoch zu dem aus der Spieltheorie bekannten Dilemma geführt hat, dass Staaten darum konkurrieren, Konzernen den angenehmsten Standort zu bieten, was diese immer rücksichtsloser agieren lässt. Zugrunde liegt ebenfalls die Denkweise, ohne Regeln gehe alles besser.

Interessant ist, dass der angelsächsische Kapitalismus die sozial Schwachen nicht dem Elend überlassen will, sondern glaubt, das Problem durch private Initiativen zu lösen. Tatsächlich gibt es eine bemerkenswerte Tradition von Philanthropen wie Rockefeller oder Carnegie, die sich an der Maxime »ein reicher Mann stirbt ehrlos« orientierten. Man kann einwenden, dass diese Magnaten sich auch Macht und einen Namen erkaufen wollten, aber die positive Wirkung ihrer Initiativen ist unbestreitbar.XXI

Almosen oder Gerechtigkeit?

Auch Bill Gates hat einen Großteil seines Vermögens einer Stiftung übertragen. Der Investor Warren Buffett stellte mit dem Kommentar »Ich mache mir nichts daraus, der Reichste auf dem Friedhof zu sein« ebenfalls Milliardenbeträge jener Stiftung zur Verfügung. Das Buch Giving von Bill Clinton beschreibt eine Vielzahl von Initiativen, die ohne staatliche Förderung auf der ganzen Welt humanitäre Projekte durchführen. Auch an den Wiederaufbau Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, der maßgeblich von privaten amerikanischen Spenden finanziert wurde, kann man sich durchaus dankbar erinnern.

Die Frage bleibt jedoch, ob der Staat sich wirklich aus der Garantie der Menschenrechte zurückziehen kann. Bei allem Respekt für die Philanthropen widerspricht es europäischen Vorstellungen, es deren Gutdünken zu überlassen, wie und für wen die elementare Daseinsvorsorge der Bürger umgesetzt wird. Der Sozialreformer Johann Heinrich Pestalozzi drückte es schon 1746 drastisch aus: »Wohltätigkeit ist das Ersäufen des Rechts im Mistloch der Gnade«.

Übertragen auf die Wissenschaft, lautet die analoge Frage, wie viel Grundlagenwissenschaft der Staat finanzieren soll. Auch dies kann letztlich nicht privater Hand überlassen werden, denn selbst wenn Einzelne wichtige Wissenschaftsprojekte fördern, gelingt ihnen doch kaum eine adäquate Auswahl, die sich nicht am Profit orientiert. In den USA gibt es für Grundlagenforschung scheinbar viel öffentliche Gelder, diese haben aber oft einen indirekten Bezug zu Rüstungsprojekten.

Justitia im Praxistest

Die verschiedenen Denktraditionen in Europa und Amerika spiegeln sich auch im Rechtssystem wider. In der europäischen Kultur sollte das Recht eine abstrakte Gerechtigkeit realisieren, die sich oft aus theoretischen Überlegungen herleitete. In der angelsächsischen Tradition dient das Recht vor allem einem Interessen- und Risikoausgleich, der für das Funktionieren des Geschäftslebens nötig ist. Dabei dominiert das Case Law, letztlich eine unsystematische Sammlung von Fällen, die sich an Praxis und Nützlichkeit orientiert. Niemals wäre es Amerikanern in den Sinn gekommen, zwanzig Jahre Gedankenarbeit auf ein durchkonstruiertes Rechtssystem wie das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) zu verwenden.

Schließlich spiegelt das Rechtssystem die Psychologie der Menschen in einem Einwanderungsland wider. Wo die etablierten Machtstrukturen des alten Europa fehlten, setzte sich in der Praxis einfach der Stärkere durch. Um ein Abgleiten in die Anarchie zu vermeiden, wurden pragmatische Wege gefunden. Charakteristisch für das US-Rechtssystem ist, dass man praktisch wegen allem verklagt werden kann. Weniger als auf präventiven Regeln beruht das System auf nachträglichen Sanktionen.

Im Strafrecht entscheidet eine bis heute bestehende archaische Jurisdiktion von Geschworenen auch über die Todesstrafe, die einer zivilisierten Gesellschaft eigentlich unwürdig ist. Darüber wird auch in Europa erstaunlich wenig gesprochen.

So sehr ich mich als Europäer fühle, ist mit alldem letztlich keine Wertung verbunden. Offenbar kommen aber die verwurzelten Denktraditionen auf den verschiedensten Gebieten zum Vorschein. Vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, die zum großen Teil aus Einwanderern und ihren unmittelbaren Nachkommen bestand, ist die Entstehung der hier beschriebenen Denkweise psychologisch verständlich, ja geradezu logisch. Die ersten Ankömmlinge in den Kolonien hatten Härten zu erdulden, die man sich heute kaum vorstellen kann. Entsprechend anders entwickelte sich die Gesellschaft.

Andere Länder, andere Sitten

Das Wirtschaftsleben in der neuen Welt konnte nicht in gleichem Maße auf staatliche Institutionen zurückgreifen wie in Europa. Dort herrschte aber auch bei Privatunternehmen eine andere Kultur. Allein schon das jahrhundertelange Bestehen einer Firma schuf Vertrauen. Hätte ein Kaufmann im Hamburg um die vorige Jahrhundertwende ein krummes Geschäft getätigt, wäre der Schaden durch den Vertrauensverlust viel höher gewesen als das dadurch Erlangte. Bis heute ist aber die Mobilität der Bevölkerung in den USA viel größer als in Europa. Unbekannte Geschäftspartner bargen mehr Risiko, sodass man sich durch entsprechende Strategien anpassen musste. Dass dabei Betrug und Unehrlichkeit manchmal salonfähig wurden, kann man aus weiterer Perspektive nicht verurteilen. Es herrschten eben spieltheoretisch andere Bedingungen. Ein immer anständiger und entsprechend vertrauensseliger Pferde­händler hätte zur Zeit des Wilden Westens wahrscheinlich wirtschaftlich nicht lange überlebt, wenn überhaupt.

Für die Ankömmlinge in Amerika bedeutete das Leben viel Arbeit, Unsicherheit und neue Herausforderungen. Dies verlangte nach pragmatischen Regeln: ohne grundlegende Werte oder tieferen Sinn, aber auch ohne allzu viel Ernst und Bürokratie wie oft in Europa. Um seine Existenz zu sichern, brauchte man einen Job, während der Beruf im Sinne einer Berufung in den USA nicht einmal als Vokabel existiert. Umgekehrt war die Gesellschaft dadurch flexibler und kreativer.

»Geld macht die Wissenschaft fett und faul.« – Fred Hoyle, britischer Kosmologe

Da Amerika aus dem Wirtschafts- und Geschäftsleben seine Prosperität schöpfte, griff die entsprechende Denkweise auch auf andere Gebiete über. Die anwendungsbezogene, praktische Wissenschaft, die in Amerika entstand, orientierte sich ebenfalls mehr am Wirtschaftsleben als an der europäischen Tradition der Denker und Naturphilosophen. Willkommen ist, wenn Forschungsergebnisse kommerziell nutzbar sind, das heißt realen Ertrag abwerfen. Wie steht es aber mit der Grundlagenwissenschaft? Es ist aus amerikanischer Sicht natürlich, dass ein ­»Investment« auch hier eine »Rendite« abzuwerfen hat, die in Nobelpreisen, vergleichbaren Auszeichnungen oder schlicht in der Menge der wieder neu eingeworbenen Forschungsmittel gemessen wird. Das hat nicht mehr viel mit dem zu tun, woraus Newton, Ampère oder Einstein ihre Motivation schöpften.

Mit Geld wird alles machbar

In der Wirtschaft gilt Think Big als der Schlüssel zum Erfolg. In der US-dominierten Wissenschaft bezieht sich diese Devise aber nicht auf große Ziele, sondern auf Projekte in großem Stil. Deren erfolgreiches Management hatten die USA tatsächlich Europa immer voraus. Die gleichen Fähigkeiten wurden auch eingesetzt, um die Führungsrolle in der Wissenschaft auszubauen. Diese auf materiellem Denken basierende Forschungsphilosophie glaubt, durch Einsatz von Mitteln alles erreichen zu können; was teuer war, muss daher auch bedeutend sein.

»Big Science may destroy great science.« – Karl Popper

Nur: Die Natur interessiert sich nicht für Forschungsmittel. Die stetig wachsenden Teilchenbeschleuniger haben zwar zu immer mehr Teilchen geführt, aber nicht automatisch zu neuer Erkenntnis. Die Idee, durch unbegrenzten Einsatz von Geld, Macht und Gewalt alles erreichen zu können, gepaart mit dem unerschütterlichen amerikanischen Optimismus, ist heute in vielen Gebieten der Wissenschaft zu spüren.

»In Fragen der Wissenschaft wiegt die Autorität von Tausenden nicht das bescheidene Nachdenken eines einzelnen Individuums auf.« – Galileo Galilei

 

Obwohl fast alle großen Entdeckungen auf Individuen zurückgehen, spielen diese in den Forschungskollaborationen von Big Science eine immer geringere Rolle. Dieser Wandel des Wissenschaftsbetriebes vom Einzelnen zum Kollektiv wirkt sich auch auf die Art der Meinungsbildung aus. Autorität spielt eine größere Rolle, große Gemeinden suchen meist einen Konsens. Auch hier gibt es Parallelen zur Wirtschaft und dem Rest der Gesellschaft: Dem Finanzcrash von 2008 ging ein massives Gruppendenken der Experten voraus. Auch dies belegt, dass Fachleute blind sein können für langfristige Entwicklungen, die ihrem Gebiet die Grundlage entziehen.

Insgesamt ist die Wissenschaft heute ebenso von der US-Kultur dominiert wie die Wirtschaft. Das Fehlen von Nachhaltigkeit und von grundlegenden Reflexionen ist dabei eine gemeinsame Schwäche. Die Ursachen hierfür liegen lange zurück. Sähe man die physikalische Grundlagenforschung als Unternehmen, könnte man sagen, dass sie in der Zeit von 1930 bis 1950 von der US-Forschungskultur übernommen wurde; dies wird in den folgenden Kapiteln näher beleuchtet.

Echter Fortschritt wäre am besten in der Kombination europäischer und amerikanischer Denkweise zu erreichen. Das gilt wahrscheinlich nicht nur für die Physik, die in den folgenden Kapiteln betrachtet wird.