»Naturwissenschaft ist das Nachdenken über die Welt auf die Weise der Griechen.«1 – Erwin Schrödinger
Kurz nachdem der Genueser Seefahrer Christophorus Columbus 1492 in Amerika angelandet war, brach Nikolaus Kopernikus von seinem Heimatort Thorn ins oberitalienische Bologna auf, um dort Rechtswissenschaft zu studieren. Obwohl er schon im Jahr 1500 zu Vorträgen über Astronomie nach Rom eingeladen wurde, studierte er in Padua Medizin und galt bei seinen Zeitgenossen vor allem als bedeutender Arzt. Ganz Europa befand sich im Zeichen des Aufbruchs und der Wissbegier, zahlreiche Universitäten wurden gegründet. Nachdem ihm sein vermögender Onkel seine Studien ermöglicht hatte, konnte Kopernikus ab 1512 in gesicherter Stellung als Domherr zu Frauenburg seinen astronomischen Ideen nachgehen, die er schließlich auf Drängen des Mathematikers Rheticus 1543 veröffentlichte. Obwohl Kopernikus als Begründer des nach ihm benannten geozentrischen Weltbildes gilt, bezog er sich mit seiner Idee auf den Gelehrten Aristarchus von Samos aus Griechenland. Griechenland gilt zu Recht als die Wiege der Naturphilosophie.
Im Vergleich zu Kopernikus wuchs der 1571 geborene Johannes Kepler in bescheidenen Verhältnissen auf. Nur weil man in den württembergischen freien Reichsstädten wie Weil der Stadt den Wert der Bildung erkannt hatte, konnte Kepler kostenlos zur Schule gehen, das klösterliche Gymnasium in Maulbronn besuchen und schließlich in Tübingen bei Michael Maestlin Mathematik studieren. Kepler erkannte, dass Planetenbahnen Ellipsen waren, und verbesserte damit das kopernikanische Modell entscheidend, das sich sonst nie durchgesetzt hätte. Schon in jungen Jahren trieb den schmächtigen Einzelgänger eine unstillbare Neugier an. Betrachtet man heute die mächtigen hohen Fenster des Klosters Maulbronn in Württemberg,
»Astronomie treiben heißt, die Gedanken Gottes nachlesen.« – Johannes Kepler
kann man sich ausmalen, wie Kepler dort über den Einfall der Sonnenstrahlen nachgesonnen haben mag.
Die Kirchen gelten heute als Antipoden der Wissenschaft. Dennoch waren sie damals, insbesondere die Klöster, die Zentren der intellektuellen Elite, in denen Genies wie Kepler erst gedeihen konnten. Später wirkte er in Graz und Prag, mitten in den Reformationskriegen. Es nötigt einem höchsten Respekt ab, mit welcher Beharrlichkeit er seine Ideen unter solch widrigen Bedingungen verfolgte. Allein die Entwicklung seines dritten Planetengesetzes dauerte zehn Jahre, während derer ihn viele Rechenfehler und Frustrationen plagten, ehe er zum Durchbruch gelangte.
»Es liegt im Wesen des Erkenntnisstrebens, das … die Einfachheit und Sparsamkeit der Grundhypothesen anstrebt.«2 – Albert Einstein
Nicht weniger lang benötigte Isaac Newton, um sein Kraftgesetz zu entwickeln. Die ersten Gedanken dazu hatte er in der Abgeschiedenheit eines Landsitzes, während die Pest in Europa wütete. Auch Newton stand in der Reihe genialer Individuen, die von einer unersättlichen Wissbegier getrieben waren. Besonders faszinierte ihn wohl die Einfachheit seines quadratischen Abstandsgesetzes, aus dem die Keplerschen Bahnen als rechnerische Konsequenz folgten, was ihn später zu der naturphilosophischen Einsicht führte: »Wahrheit findet sich, wenn überhaupt, in der Einfachheit, nicht in der Vielgestaltigkeit und Konfusion der Dinge.«
Maßgeblichen Anteil an der Verbreitung des neuen Weltbildes hatte natürlich auch Galileo Galilei, der in seiner Art vielleicht der praktischen »amerikanischen« Denkweise am nächsten kam. Obwohl schon im Alter von dreißig Jahren Mathematikdozent in Pisa, war er auch handwerklich begabt. Er verbesserte entscheidend das kurz vorher erfundene Teleskop, das sich sogar als wirtschaftlich nützlich erwies. Der Doge von Venedig konnte damit als Erster am Horizont ankommende Handelsschiffe ausmachen und rechtzeitig Waren abverkaufen.
Bedeutender für den Fortgang der Welt waren jedoch Galileis legendäre Beobachtungen der Venusphasen und der Jupitermonde um 1610, welche die Thesen von Kopernikus untermauerten. Damit, aber auch mit seinen Versuchen zur Mechanik gilt Galilei als Begründer der empirischen Methode. Erst mit dieser konnte man unter den philosophischen Reflexionen über die Naturgesetze die Spreu vom Weizen trennen. Dies sollte in den folgenden Jahrhunderten zum Siegeszug der Naturwissenschaften führen.
Während in Virginia die ersten Kolonien an der Ostküste der heutigen USA gegründet wurden, verfasste Galilei seine frechen Schriften, in denen er, den Papst verspottend, das neue Weltbild propagierte, was zu heftigen Konflikten mit der Inquisition führte. Später, ebenfalls noch in der damaligen Wissenschaftssprache Latein, verbreitete sich auch das 1687 verfasste Werk Philosophiae Naturalis Principia Mathematica von Isaac Newton, das bald in ganz Europa bekannt wurde.
»Niemand weiß zum Beispiel, warum die Ladung ein ganzzahliges Vielfaches der Ladung des Elektrons ist.«4 – Emilio Segrè, Entdecker des Antiprotons
Neben England, Deutschland und Italien war Frankreich eine führende Wissenschaftsnation.3 Charles Augustin de Coulomb erkannte, dass die Struktur des Newtonschen Gravitationsgesetzes auch für elektrische Ladungen galt (welche übrigens schon von Thales von Milet entdeckt worden waren), eine faszinierende Parallele der beiden wichtigsten Grundkräfte der Physik, deren Ursprung bis heute nicht verstanden ist.
»Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit … Ehrfurcht, je öfter … sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.« – Immanuel Kant
Ursprung der modernen Naturwissenschaft waren die astronomischen Beobachtungen des Nachthimmels, eine reine Form der menschlichen Neugierde. Bis zum Ende des 19. JahrhundertsXXII wurde Astronomie hauptsächlich in Europa praktiziert. Dort hatte man mit der Entdeckung von Uranus und Neptun die Beobachtungen des Sonnensystems vervollständigt, während die Existenz von Galaxien schon von Immanuel Kant vermutet worden war. All dies war Ausdruck eines Forschergeistes, der die Welt ohne einen Gedanken der Anwendung oder gar Profit verstehen will.
Ein einflussreicher Repräsentant dieser Denkweise war Alexander von Humboldt, Pionier einer ganzheitlichen Umweltbetrachtung, dessen Hauptwerk Kosmos die »Natur als durch innere Kräfte bewegtes und belebtes Ganzes« darstellen wollte. Als echter Universalgelehrter leistete er Beiträge zur Physik, Geologie, Mineralogie, Botanik, Zoologie, Klimatologie, Ozeanographie, Astronomie und Chemie. Von 1799 bis 1804 unternahm er eine Forschungsreise nach Mittel- und Südamerika, die ihn zur führenden wissenschaftlichen Autorität werden ließ, einem »modernen Aristoteles«.
Nach der Pionierarbeit von Newton, der in England ohne eigentliche Nachfolger geblieben war, vertieften Leibniz, Helmholtz, Euler und Lagrange die mathematischen Grundlagen der Mechanik, die die Basis für die weitere Entwicklung der Physik war. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden die USA gegründet, wie erwähnt unter maßgeblicher Beteiligung von Benjamin Franklin, der übrigens Galileis Vorliebe für satirische Glossen teilte. Dritter Präsident der USA war Thomas Jefferson, der 1804 den nach Europa zurückkehrenden Humboldt zu einem Abendessen nach Washington einlud. Der Staatsmann war beeindruckt von Humboldts Wissen,5 schätzte aber besonders dessen Informationen über Südamerika und das zugehörige Kartenmaterial, welches ihm für seine Expansionspläne nützlich war. Mit europäischen Landkarten haben US-Präsidenten bis heute Schwierigkeiten.
Die wichtige Entdeckung der Wellennatur des Lichts geht auf den Holländer Christiaan Huygens (1629–1695) sowie auf Thomas Young (1773–1829) und August Fresnel (1788–1827) zurück, alle drei äußerst vielseitige Charaktere. Die Entdeckung der zweiten Grundkraft der Natur, des Elektromagnetismus, sollte sich aber erst im 19. Jahrhundert voll entfalten. Dabei waren vor allem die französischen Theoretiker führend, neben Coulomb vor allem André-Marie Ampère, der ebenfalls von einer unglaublichen Neugier beseelt war. Das Wunderkind hatte schon 1787, im Alter von zwölf Jahren, alle 20 Bände der Enzyklopädie von Diderot und d’Alembert durchgearbeitet, eines der Hauptwerke der Aufklärung, das praktisch das gesamte Wissen der damaligen Zeit enthielt.
Der Zusammenhang von Elektrizität und Magnetismus wurde jedoch erst um 1820 bekannt, durch Hanns Christian OrstedtsXXIII legendäre Beobachtung der Ablenkung einer Magnetnadel durch einen elektrischen Strom. Die sensationelle Nachricht aus Kopenhagen verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Ampère konnte das Phänomen erstmals in theoretischer Form beschreiben, während der erwähnte Michael Faraday in etlichen Versuchen, die er minutiös dokumentierte, die tiefere Systematik des Zusammenhangs offenlegte.
Nach Vorarbeiten von Wilhelm Weber,6 der zusammen mit Carl Friedrich Gauß in Göttingen den ersten Telegrafen baute, formulierte schließlich der Schotte James Clerk Maxwell eine Theorie der Elektrodynamik, die eine weitgehende Symmetrie des elektrischen und magnetischen Feldes erkennen lässt. Dies war eine enorme Abstraktionsleistung, die später, in mathematischen Entwicklungen wie der Differenzialgeometrie, sogar noch stärker zum Vorschein kam. Hervorzuheben ist dabei auch der Ire William Roman Hamilton, der 1843 eine vierdimensionale Verallgemeinerung der komplexen Zahlen (Quaternionen) erfunden hatte, mit deren Hilfe Maxwell seine Theorie formuliert hatte. Was man damals als mathematische Spitzenforschung bezeichnen konnte, hatte jedoch immer einen konkreten Bezug zur Physik.
»Am Anfang (wenn es einen solchen gab), schuf Gott Newtons Bewegungsgesetze samt den notwendigen Massen und Kräften. Dies ist alles; das weitere ergibt die Ausbildung geeigneter mathematischer Methoden durch Deduktion. Was das 19. Jahrhundert fußend auf dieser Basis geleistet hat, musste die Bewunderung jedes empfänglichen Menschen erwecken.«7 – Albert Einstein
Die Maxwell-Gleichungen erzeugen wie vielleicht wenig anderes eine Faszination dafür, wie eine Vielfalt von Naturerscheinungen durch einfachste mathematische Strukturen beschrieben werden. Krönender Abschluss war schließlich 1886 der Nachweis der elektromagnetischen Wellen durch Heinrich Hertz in Karlsruhe. Die Existenz dieser Wellen folgte direkt aus den Gleichungen, während ihre Geschwindigkeit mit der des Lichts übereinstimmte. Damit war der Elektromagnetismus in sensationeller Weise mit der Optik vereinigt, und die letzten Zweifel an der Wellennatur des Lichts beseitigt.
Interessant und aus heutiger Perspektive fast vergessen ist, dass die Physiker des 19. Jahrhunderts damit keineswegs zufrieden waren. Trotz der formalen Analogie der Gesetze von Newton und Coulomb klaffte eine tiefe Lücke zwischen den Theorien. Maxwell, aber auch viele andere wie der irische Physiker James Mac Cullagh, hatten versucht, die elektromagnetischen Phänomene aus den Gleichungen der Kontinuumsmechanik eines elastischen Körpers heraus zu verstehen, der Äther genannt wurde. Es würde hier zu weit führen, auf die Geschichte der Äthertheorien8 einzugehen und zu analysieren, wann und warum sie aufgegeben wurden. Der Grund liegt nicht, wie gemeinhin angenommen, in der Unvereinbarkeit mit der Einstein’schen Relativitätstheorie.9
»Daher kann ich die elektromagnetische Theorie des Lichts nicht begreifen. Ich möchte das Licht so vollständig verstehen wie möglich, ohne Dinge einzuführen, die ich noch weniger verstehe.«10 – Lord Kelvin
In der Tradition der europäischen Physiker war es jedenfalls selbstverständlich, nach grundlegenden Erklärungen zu suchen, in diesem Fall nach einer Verbindung zur Mechanik Newtons. So kritisierte die britische Über-Autorität der Physik, Lord Kelvin, die Elektrodynamik zeitlebens mit dem Argument, sie sei keine Theorie, die die Phänomene wirklich erkläre.
Der Begriff Äther allein ruft bei den meisten zeitgenössischen, von der US-Kultur geprägten Physikern ein Gähnen hervor. Dies lässt nicht nur historische Ignoranz erkennen, sondern belegt auch, wie sehr man sich von dem Anspruch verabschiedet hat, die Naturphänomene gründlich zu verstehen. Natürlich ist dies nicht Amerika anzulasten, wo zu jener Zeit fast keine theoretische Physik praktiziert wurde. Aber doch wurde hier ein Problem mit dem Argument verdrängt, die Theorie sei ja erfolgreich und funktioniere gut, eine Sichtweise, die heute weit verbreitet ist. Die kompromisslose Suche nach grundlegenden Naturgesetzen bleibt dagegen eine europäische Tradition, die später nach und nach aufgeweicht wurde.
Dass es bei dieser Betrachtung nicht um Nationalität geht, sondern um Denkweisen, zeigt das Beispiel des amerikanischen Physikers Joshua Willard Gibbs (1839–1903), der entscheidende Beiträge zur Thermodynamik geleistet hat. Seit Sir Francis Bacon (1561–1626) verstanden hatte, dass Wärme mit Teilchenbewegung zu tun hat, waren die Grundlagen der kinetischen Gastheorie durch Robert Mayer (1812–1878), James Prescott Joule (1818–1889), Rudolf Clausius (1822–1888), Gustav Kirchhoff (1824–1887) und dem erwähnten Lord Kelvin (1824–1907) entwickelt worden. Gibbs, der kurz in Europa studiert hatte, kehrte 1871 auf eine Professur in Yale zurück und entwickelte in den folgenden Jahren allgemeingültige Resultate, die zu den wichtigsten Hilfsmitteln der modernen Thermodynamik gehören. Gibbs galt dabei als Einzelgänger, dessen Wirken zu jener Zeit wenig praktische Bedeutung beigemessen wurde. Bezeichnenderweise hatte er seine Dissertation an der Universität Yale über ein abstraktes mathematisches Problem mit einer Anwendung in der Zahnradtechnik rechtfertigen müssen.11
»Nicht eine einzige Sache entsteht zufällig, sondern alles mit Grund und Notwendigkeit.« – Leukipp
Die gesamte Thermodynamik ist undenkbar ohne Atomistik, die zu den wichtigsten Erkenntnissen der Menschheit gehört. Die Vorstellung von unteilbaren Bausteinen der Natur geht auf die griechischen Philosophen Leukipp und Demokrit zurück, die damit wohl in einzigartiger Weise ihrer Zeit voraus waren. Die Idee wurde in jahrhundertelanger Detailarbeit zu einem Modell ausgearbeitet, das uns heute so selbstverständlich erscheint, dass wir der naturphilosophischen Implikationen gar nicht gewahr sind. Insbesondere John Dalton (1766–1844) und Amedeo Avogadro (1776–1856) sind hier als Pioniere zu nennen, sowie die Entdecker des Periodensystems Dimitri Mendelejew (1834–1907) und Lothar Meyer (1830–1895). Doch dauerte die konsistente Formulierung der Atomphysik, insbesondere mit der Quantenmechanik, bis ins 20. Jahrhundert.
Die Ursache des enormen Fortschritts war die seit Ende des 17. Jahrhunderts etablierte Methode ratio et experientia, welche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen beispiellosen Siegeszug der Technologie zur Folge hatte.12 Zwar führte schon die Mechanisierung mit der Dampfmaschine zu einer ersten industriellen Revolution, die Erkenntnisse zu Licht und Elektrizität wurden jedoch deutlich später umgesetzt. Die Entwicklung der Elektrotechnik führte über neue Experimente wieder zu grundlegenden Entdeckungen; man denke nur an das 1897 in Cambridge von J. J. Thomson gefundene Elektron.
In der Physikgeschichte kann man oft diese Ko-Evolution von Theorie und Technik beobachten, die sich wechselseitig zu neuen Erkenntnissen verhilft. Nach den theoretischen Durchbrüchen Mitte des 19. Jahrhunderts kam mit kurzer Verzögerung eine Blütezeit der entsprechenden Technologie. Diese Phase erreichte bald auch Amerika, das sich zu dieser Zeit von den Folgen des Bürgerkriegs (1861–1865) erholte. Gleichzeitig wanderten um diese Zeit Talente aus aller Welt nach Amerika aus.
Nachdem Werner von Siemens das dynamoelektrische Prinzip entdeckt und 1866 den Generator entwickelt hatte, kam es zu der zweiten, »elektrischen« industriellen Revolution. In der Folgezeit wirkten in Amerika zwei große Pioniere der Elektrotechnik, die vielleicht wie keine anderen die europäisch-amerikanischen Unterschiede in der Denkweise aufzeigen und sich teilweise sogar im direkten Konflikt befanden, Thomas Alva Edison und Nikola Tesla.
»Was sich nicht verkaufen lässt, will ich nicht erfinden.« – Thomas Alva Edison
Edison, geboren 1847 in Milan, Ohio, ist der amerikanische Erfinder schlechthin. Weltberühmt für die Glühbirne, war er mit jeder Technologie der damaligen Zeit so vertraut, dass er dort bahnbrechende Neuerungen entwickelte, vor allem in der Elektrotechnik, Stromerzeugung, Stromverteilung, Telekommunikation sowie in den Ton- und Bildmedien. Mit untrüglichem Instinkt erkannte er die praktische Anwendbarkeit und setzte sie technisch um. Gleichzeitig war er aber auch erfolgreicher Unternehmer, der ein Gespür für die wirtschaftliche Verwertung einer Erfindung hatte. Sein Beitrag zur Stromversorgung von New York markierte den Beginn der Elektrifizierung der gesamten industrialisierten Welt.
Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man feststellt, dass der Erfolg Amerikas auf Menschen wie Edison beruhte. 1997 schrieb die New York Times, Edisons wichtigster Beitrag seien nicht seine Erfindungen selbst gewesen, sondern die Erfindung der Erfindungsindustrie. Edison sei kein Geringerer als der Vater der modernen Forschung und Entwicklung. Sein Biograf13 Paul Israel hob vor allem Edisons Fähigkeiten hervor, in Analogien zu denken und aus Fehlschlägen zu lernen. Der in seinen Notizbüchern enthaltene Reichtum seiner Ideen sei jedoch für einen Normalsterblichen fast nicht zu verstehen.
Ganz anders Nikola Tesla. Geboren 1856 im serbisch-kroatischen Grenzgebiet als Sohn orthodoxer Priester, war er sein ganzes Leben lang von Rückschlägen, Krankheiten, Schwierigkeiten und wirtschaftlichen Misserfolgen begleitet. Sicherlich hätte es Tesla mit einer lebenslangen Festanstellung an einer europäischen Universität leichter gehabt. Obwohl seine Genialität wohl früh offenbar wurde – Tesla beherrschte zum Beispiel acht Sprachen – brach er 1877 sein Maschinenbau-Studium an der Universität Graz aus unbekannten Gründen ab. Er schlug sich zunächst als Hilfslehrer und Telegrafenamtstechniker durch, ehe er 1884 als einer von vielen mittellosen Einwanderern New York erreichte. Man versteht aus solchen Lebensgeschichten, dass dieses Land fähigen Menschen ohne formale Qualifikation Chancen eröffnete, die sie sonst nirgendwo bekamen.
Tesla fand eine Anstellung in Edisons Firma, kündigte jedoch nach sechs Monaten wegen des zu geringen Gehalts, um sich selbstständig zu machen. Trotz seiner legendären Erfindungen in der Elektrotechnik wurde er oft um die Früchte seiner Arbeit betrogen und konnte durch seine Produktentwicklungen, anders als Edison, nie dauerhafte wirtschaftliche Sicherheit erreichen. Mit fortschreitendem Alter wurden seine Ideen zunehmend exotisch, weswegen sein Charakter oft an der Grenze zwischen Genie und Wahnsinn angesiedelt wird.
Während Edison mit seinen Erfindungen viel Geld verdiente, investierte Tesla sein weniges in seine Ideen. Obwohl zur Berühmtheit gelangt, musste er während seiner letzten Jahre seinen Lebensunterhalt von wohlhabenden Gönnern bestreiten lassen. Lediglich in einem, wenngleich technologisch entscheidendem Punkt, übertraf er seinen Rivalen Edison: Sein System der Energieübertragung durch Wechselstrom gewann 1893 einen mit 100 000 Dollar dotierten Preis der Betreiber der Niagara-Kraftwerke und setzte sich weltweit gegen Edisons Gleichstromtechnik durch. Um Teslas Fähigkeiten und seine Persönlichkeit ranken sich zahlreiche Mythen. Angeblich kam ihm 1881 in einem Park in Budapest, während er aus Goethes Faust rezitierte, die entscheidende Idee zum Wechselstrom. Rein intellektuell war er Edison zweifellos überlegen.XXIV Wahrscheinlich nicht ganz ohne Neid auf dessen wirtschaftlichen Erfolg, aber doch bezeichnend, schrieb er über Edison:14
»Ich war zunächst fast ein trauriger Zeuge seiner Taten, da ihm nur ein wenig Theorie und Berechnung 90 Prozent der Arbeit erspart hätten. Aber er hat eine wahre Verachtung für das Lernen aus Büchern und für mathematische Kenntnisse und vertraute ganz auf seinen erfinderischen Instinkt und den praktischen amerikanischen Ansatz.«
Das ausgehende 19. Jahrhundert führte also zu einer Explosion der Technologie, welche Grundlage der aufstrebenden Weltmacht USA werden sollte. Auch dort entstand eine rege Forschungsaktivität, welche jedoch, anders als in Europa, sich meist auf praktische Anwendungen und Erfindungen beschränkte. Verbunden mit dem amerikanischen Optimismus führte das sogar zu der Ansicht, die wesentlichen Naturgesetze seien schon erforscht. Alles, was zu einer goldenen Zukunft nötig sei, erschöpfe sich in der Entwicklung von darauf aufbauenden Technologien. Ein Repräsentant dieser Sichtweise war Albert Abraham Michelson, dessen Eltern in die USA emigriert waren, als er zwei Jahre alt war; später wurde er Professor an der Universität von Chicago und berühmt für seine Präzisionsmessung der Lichtgeschwindigkeit.XXV Den Zustand der Physik als Ganzes schätzte er allerdings im Jahr 1894 grob falsch ein:
»Es scheint wahrscheinlich, dass die meisten der großen zugrunde liegenden Prinzipien fest etabliert sind […] die zukünftigen Wahrheiten der Physik sind wohl in der sechsten Dezimalstelle zu suchen«.15
Kurze Zeit später wurde – in Europa – die Radioaktivität entdeckt, welche in der Folge die gesamte klassische Physik erschüttern sollte. Der Franzose Henri Becquerel stellte Anfang 1896 zu seinem Erstaunen fest, dass fotografische Platten in einer dunklen Schublade offenbar von Stücken von Pechblende (die Uran enthält) geschwärzt wurden, die er darin aufbewahrt hatte. Zusammen mit Marie Curie und deren Ehemann Pierre, mit denen er den Nobelpreis 1903 teilte, untersuchte er diese Substanz im Folgenden genauer. Curie gelang die Abtrennung des hochaktiven Elementes Radium, wofür sie 1911 auch noch den Nobelpreis für Chemie erhielt. Nahezu gleichzeitig mit der Entdeckung der Radioaktivität hatte Wilhelm Conrad Röntgen Ende 1895 in Würzburg erstmals die nach ihm benannten Strahlen erzeugt. Die legendäre Fotografie, auf der die Knochen der durchleuchteten Hand seiner Frau sichtbar sind, machte sofort die Runde um die ganze Welt.
Bezeichnend ist, wie in Amerika mit diesen Entdeckungen umgegangen wurde: in Boston wurde 1920 ein Patent auf ein Pedoskop angemeldet, mit dem man in Schuhgeschäften den Sitz der Zehen mit den dort X-rays genannten Strahlen kontrollieren konnte. Besonders Kindern wurde aus medizinischen Gründen angeraten, die Passform der Schuhe auf diese Weise zu optimieren. Noch viel gefährlicher als die Röntgenstrahlen war das Aufbringen von Radium auf die Zifferblätter von Uhren, die auf diese Weise nachts leuchteten. Zahlreiche Ziffernblattmalerinnen, die bei der Arbeit den Pinsel mit dem Mund anspitzten und sich dabei kontaminierten, starben später an Krebs. Sogar als antibakterielle Zahnpasta wurden die radioaktiven Wundersubstanzen anfangs angepriesen. Natürlich sind diese tragischen Ereignisse nicht alleinige Schuld von »amerikanischem« Denken in der Wissenschaft. Umgekehrt könnte man einwenden, dass in Europa oft zu viele Vorbehalte gegen neue Technologien existieren, oft in Form der »German Angst«. Aber es ist doch charakteristisch, in welcher Art und Weise in den USA neue Entdeckungen betrachtet und praktisch-wirtschaftlich verwendet werden, manchmal eben ohne ausreichendes Nachdenken.
»Die Wissenschaft erfindet, die Technik wendet an, der Mensch fügt sich!« – Motto der Weltausstellung Chicago 1933
Schon im 19. Jahrhundert florierte in den USA der Erfindergeist, was sich in zahlreichen technischen Entwicklungen niederschlug. Samuel Morse beispielsweise entwickelte unabhängig von Gauß und Weber einen Telegrafen und erfand als praktische Ergänzung dazu das nach ihm benannte Alphabet. Die Herangehensweise in der neuen Welt hatte dabei eine Dynamik, die Europa in manchem überlegen war. Das beste Beispiel dafür, wie die amerikanische Unbekümmertheit, nicht immer die Bedenken voranzustellen, der tiefschürfenden europäischen Wissenschaft überlegen war, ist vielleicht die Fliegerei.
Zwar hatten die Flugversuche von Otto Lilienthal bereits wichtige Vorarbeit geleistet, die Realisierung des ersten vollsteuerbarenXXVI Motorflugs gelang jedoch 1903 den Gebrüdern Wright.16 Und das, obwohl die Physik-Koryphäe Lord Kelvin wenige Jahre zuvor behauptet hatte, dass ein Körper mit größerer Dichte als Luft nie fliegen könne. Wahrscheinlich hatten die Gebrüder Wright noch nie etwas von Kelvin gehört, und das war gut so. In ähnlicher Weise hatte der französische Mathematiker Henri Poincaré »bewiesen«, dass eine Funkverbindung nach Amerika wegen der Erdkrümmung unmöglich sei. Bald darauf realisierte sie Guglielmo Marconi aus Bologna, der insofern durchaus einen »amerikanischen« Unternehmergeist hatte.XXVII Trotzdem waren die USA, was physikalische Grundlagenforschung betraf, zu dieser Zeit noch hoffnungslos im Rückstand.