»Ich vertraue auf Intuition.« – Albert Einstein
Der 1879 geborene Albert Einstein steht wie vielleicht kein anderer für die europäische Wissenschaftskultur. Obwohl er von seiner Arbeitsweise her ein Einzelgänger war, überblickte er die gesamte theoretische Physik, ja baute sogar als Erster wichtige Experimente auf.1 An Technik und ihren Anwendungen eher desinteressiert, konzentrierte er sich auf die grundlegenden Fragen der Natur und drang durch seine besondere Begabung tiefer in die Materie ein als die meisten anderen. Viel mehr als Rechenfertigkeiten erachtete er Intuition als seine Stärke. Er »erfand« praktisch das Gedankenexperiment und folgte der Tradition, Naturgesetze aus elementaren Prinzipien herzuleiten.
Zur Zeit seines Wirkens gab es in den USA praktisch noch keine theoretische Forschung, in Europa dagegen sehr wohl technologische Anwendungen. Beispielsweise betrieb Einsteins Vater Herrmann in München eine Firma, die elektrische Straßenbeleuchtungen installierte, damals ein Hightech-Unternehmen. Albert dagegen war mehr von Abstraktem angetan. Der introvertierte Junge, den früh die Magnetnadel eines Kompasses fasziniert hatte, fand schon im Alter von zwölf Jahren einen Beweis des pythagoreischen Lehrsatzes. An dem von preußischer Disziplin geprägten Gymnasium fühlte er sich dagegen nicht besonders wohl. Als seine Eltern nach Oberitalien übersiedelten, brach er mit 15 Jahren die Schule ab und holte später an der Kantonsschule Aargau das Abitur nach. Um diese Zeit sann er bereits darüber nach, was passieren würde, wenn er sich mit Lichtgeschwindigkeit neben einer Lichtwelle herbewegen würde.
»Das ahnungsvolle, Jahre währende Suchen im Dunkeln mit seiner gespannten Sehnsucht, seiner Abwechslung von Zuversicht und Ermattung und seinem endlichen Durchbrechen zur Wahrheit, dass kennt nur, wer selbst erlebt hat.« – Albert Einstein
In seinen autobiographischen Erinnerungen Mein Weltbild berichtet Einstein, dass diese Überlegungen schon die Grundlage der speziellen Relativitätstheorie darstellten, die er 1905 als Patentamtsangestellter in Bern formulierte. Dies ist insofern interessant, weil die Relativitätstheorie oft mit schwieriger Mathematik assoziiert wird, die Einstein in jenem jugendlichen Alter sicher noch nicht beherrschte – obwohl er, entgegen einer Legende, als Schüler ausgezeichnete Noten hatte. Auch später zeigte sich, dass Einsteins mathematische Fähigkeiten zwar professionell auf hohem Niveau waren, aber beispielsweise nicht mit denen von David Hilbert oder Élie Cartan konkurrieren konnten. Auch die Beherrschung der Differenzialgeometrie, die er für seine Formulierung der allgemeinen Relativitätstheorie benötigte, verdankte er vor allem seinem Freund Marcel Grossmann. Unübertroffen war dagegen Einsteins Intuition, grundlegende, abstrakte Prinzipien zu entdecken, die den eigentlichen Kern eines Naturgesetzes ausmachen. Oft bediente er sich dabei seiner Gedankenexperimente, die aufgrund von technischen Schwierigkeiten nicht ausgeführt werden konnten (manche wurden Jahrzehnte später realisiert), aber zu den entscheidenden Einsichten führten.
Die in dem 1905 veröffentlichten Aufsatz Zur Elektrodynamik bewegter Körper enthaltene spezielle Relativitätstheorie versetzte der heilen Welt der klassischen Physik einen Stoß. Die Konzepte von Raum und Zeit, seit Newton die Basis aller theoretischen Überlegungen, stellten sich plötzlich eigenartig miteinander verwoben dar. Dies zeigt sich in der sogenannten Zeitdilatation, die experimentell unzweifelhaft bestätigt ist: Bewegte Uhren laufen langsamer. Ebenfalls zur Theorie gehörte die Formel E=mc2, von der damals noch niemand ahnte, dass sie Kernwaffenexplosionen vorhersagen würde. Der entscheidende Gedanke, den Einstein in seiner Arbeit von 1905 ausführte, hatte überhaupt nichts mit Rechnungen zu tun: Er erkannte, dass gemäß den Maxwell-Gleichungen eine Welle, also Licht, sich im leeren Raum fortpflanzt, ohne dass dabei noch auf die aussendende Quelle Bezug genommen wird. Die Lichtgeschwindigkeit musste daher unabhängig von der Bewegung einer solchen Quelle beziehungsweise eines Beobachters sein. Alle Gleichungen folgen aus diesem einzigen Prinzip.
»Ich habe keine besondere Begabung, sondern bin nur leiden-schaftlich neugierig.« – Albert Einstein
Auch die allgemeine Relativitätstheorie, die Einstein zehn Jahre später vollendete, gründete sich auf ein einfaches Gedankenexperiment, das sogenannte Äquivalenzprinzip. Demnach ist es nicht zu unterscheiden, ob jemand in einem Zimmer auf der Erde deren Anziehung wahrnimmt oder mit einer entsprechenden Kraft auf den Boden gedrückt wird, weil er sich in einem beschleunigten System im schwerelosen Weltall befindet, etwa in einer Rakete während der Antriebsphase. Weil für die letztere Kraft die Trägheit von Materie gegenüber Beschleunigungen verantwortlich ist, für die erstere aber die Schwere, wird dieses Prinzip auch Gleichheit von träger und schwerer Masse genannt.
Es ist erstaunlich, dass die moderne Physik trotz aller ikonenhaften Verehrung für Einstein sich so wenig an der Arbeitsweise orientiert, mit der er erfolgreich war. Heutzutage beschäftigen sich Zehntausende von Physikern mit exzessiven Rechnungen, die Einstein durchzuführen nicht in der Lage wäre, jedoch ist seit über hundert Jahren kein Prinzip entdeckt worden, das in seiner Wichtigkeit etwa mit Einsteins Äquivalenzprinzip vergleichbar wäre.
Kennzeichnend für Einstein war auch seine zurückgezogene Arbeitsweise; oft beharrte er dabei durchaus selbstbewusst und manchmal stur auf seinen Ideen. In der ihm eigenen selbstironischen Bescheidenheit formulierte er dies so:
»Ich bin nicht geeignet für Tandem- oder Teamarbeit … Solche Isolation ist manchmal bitter …, aber ich fühle mich dafür kompensiert, da ich damit unabhängig sein kann von den Gebräuchen, Meinungen und Vorurteilen anderer, und versuche nicht, den Frieden meines Geistes auf solch schwankenden Fundamenten ruhen zu lassen.«2
Ein wichtiger Vordenker der allgemeinen Relativitätstheorie war der Wiener Physiker und Philosoph Ernst Mach, den Einstein sehr schätzte und der hier besondere Erwähnung verdient. Mach ist der Prototyp des europäischen Naturphilosophen,XXVIII der mit unbestechlicher Logik nach den letzten Ursachen der Gesetze sucht, ohne dabei viel zu rechnen. Mach hatte in seinem Hauptwerk Die Mechanik historisch-kritisch dargestellt von 1883 auf einen Schwachpunkt der Newtonschen Gravitationstheorie hingewiesen, der den Physikern fast zweihundert Jahre lang verborgen geblieben war.3
»Wir sind ganz außerstande, die Veränderungen der Dinge und der Zeit zu messen. Die Zeit ist vielmehr eine Abstraktion, zu der wir durch die Veränderung der Dinge gelangen.«4 – Ernst Mach
Mach attackierte das Konzept der von Newton als absolut eingeführten Begriffe von Raum und Zeit. Newton wollte die Existenz eines absoluten Raumes mit einem Gedankenexperiment beweisen. Er stellte sich einen mit Wasser gefüllten Eimer vor, in dem die Wasseroberfläche natürlich glatt ist, solange der Eimer in Ruhe bleibt. Dreht man aber den Eimer um eine senkrechte Achse, so überträgt sich die Rotationsbewegung des Eimers durch Reibung langsam auch auf das Wasser. Sobald dieses mitrotiert, steigt es aufgrund der entstehenden Fliehkraft an den Eimerwänden hoch, sodass sich eine gekrümmte Oberfläche ausbildet. An dieser Krümmung kann man umgekehrt schließen, dass der Eimer rotiert, selbst wenn man ihn isoliert betrachtet. Newton behauptete, dies beweise, dass der unbeschleunigte, absolute Raum eben nicht rotiere, und nahm dabei selbstverständlich an, dass dies unabhängig von der Verteilung der Massen im Weltall gelte. Mach wandte dagegen tiefsinnig ein:
»Niemand kann sagen, wie der Versuch verlaufen würde, wenn die Gefäßwände immer dicker und massiger, zuletzt mehrere Meilen dick würden …«
Er insinuierte damit, dass das Wasser vielleicht dann nicht mehr an den Wänden hochsteigen würde, wenn sich das ganze Weltall mit um den Eimer drehte. Die entfernten Massen im Kosmos würden dann definieren, was als Ruhe zu gelten hat. Die Trägheit einer Masse, die sich einer Beschleunigung widersetzt, hinge dann, so sein Gedanke, mit dem ganzen Universum zusammen.
Indem Mach von der Gleichartigkeit von Beschleunigung und Gravitationswirkung ausging (er nahm damit Einsteins Äquivalenzprinzip vorweg), entwickelte er damit den genialen Gedanken, die Stärke der Gravitationskraft hänge von allen anderen Massen im Universum ab, was als »Machsches Prinzip« bekannt geworden ist. Obwohl das Problem im Grunde bis heute noch nicht gelöst ist, fristet das Machsche Prinzip in der heutigen theoretischen Physik ein Schattendasein; von den meisten »modernen« US-Theoretikern würden Sie hören, es handle sich dabei um philosophisches Geschwätz aus Old Europe.
Die Tragik von Machs unvollendetem Gedanken lag darin, dass die ersten kosmologischen Beobachtungen, die eine rechnerische Überprüfung seiner Idee erlaubt hätten, erst 15 Jahre nach seinem Tod, also um 1930, vorlagen. Sie legen tatsächlich nahe, dass die Gravitation ihren Ursprung in allen Massen im Universum hat. Denn die Gravitationskonstante G, welche die Stärke dieser Kraft quantifiziert, hängt unerklärlicherweise mit diesen Daten zusammen.XXIX Der Grund, warum ich von Ernst Machs Idee ausführlich berichte, liegt in der allgemeinen naturphilosophischen Bedeutung solcher Naturkonstanten wie G. Diese Gravitationskonstante oder auch die Lichtgeschwindigkeit c, sind rätselhafte Mitteilungen der Natur, welche die Physiker noch nicht entschlüsseln konnten.
In den seltenen Fällen, in denen dies gelang, handelte es sich jedes Mal um einen revolutionären Fortschritt. Beispielsweise lässt sich die zentrale Erkenntnis der Maxwell’schen Elektrodynamik in der Formel ε0μ0=1/c2, die von Hertz bestätigt wurde, zusammenfassen. Darin offenbart sich die Lichtgeschwindigkeit c als Geschwindigkeit elektromagnetischer Wellen, welche durch die elektrischen und magnetischen Konstanten ε0 und μ0 bestimmt ist. Die obige Gleichung reduziert damit die Zahl der unabhängigen Naturkonstanten um eins, was im methodischen Sinne eine Vereinfachung darstellt.
Die Untersuchung von Naturkonstanten ist in der europäischen Tradition daher ein Zugang zur Physik, der die Einfachheit der fundamentalen Gesetze betont.5 Jede unerklärte Entdeckung erzeugt üblicherweise eine neue Naturkonstante und trägt so zur Komplizierung bei. Es ist also offensichtlich, dass jede Naturkonstante der Physik ein noch zu lösendes Problem darstellt. Davon war auch Einstein überzeugt, der dies so ausdrückte:
»Ich kann mir keine vernünftige physikalische Theorie vorstellen, die explizit eine Zahl enthält, die die Laune des Schöpfers ebenso gut anders hätte wählen können.«
Dass diese und andere bemerkenswerte Aussagen dokumentiert sind, ist Ilse Rosenthal-Schneider zu verdanken, einer Philosophiestudentin, die Einstein um 1920 in Berlin kennengelernt hatte. Sie musste ebenfalls 1938 emigrieren und lehrte später in Australien, von wo aus sie in der Nachkriegszeit mit Einstein korrespondierte.
Wie oben erwähnt, legen die kosmologischen Beobachtungen sogar nahe, dass das Machsche Prinzip in der Lage wäre, die Gravitationskonstante zu berechnen. Die Koinzidenz wurde in den 1980er Jahren in den USA von einigen Forschern aufgegriffen, die nachweislich weder von Einstein noch von Mach etwas wussten. Sie begründeten eine theoretische Mode (die sogenannte kosmische Inflation), die eine Reihe von weiteren willkürlichen Zahlen produziert, anstatt grundlegende Erklärungen zu liefern. Es ist nicht schwer vorherzusagen, was Einstein davon halten würde.
Eine Eigenschaft, die Einstein von heutigen Theoretikern unterscheidet, ist seine Expertise auf praktisch allen Gebieten der theoretischen Physik. Dies erlaubte ihm, neben der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie, die als sein Hauptwerk gilt, auch die zweite wissenschaftliche Revolution des 20. Jahrhunderts anzustoßen: die Quantenmechanik.
Wichtige Vorarbeit dazu hatte der 1858 geborene Max Planck geleistet, der ab 1885 eine Professur in Kiel innehatte. Plancks Beitrag beleuchtet auch die wichtige Interaktion zwischen Technologie und Grundlagenforschung. Denn die Messungen der sogenannten Schwarzkörperstrahlung, die Planck um die Jahrhundertwende zu erklären versuchte, waren auch durchgeführt worden, um die von Edison erfundene Glühbirne zu verbessern. Planck, der Theoretiker, interessierte sich allerdings nicht für die Lichtausbeute, sondern wollte ein präzises Gesetz herleiten, welches die Abstrahlung von Licht einer bestimmten Farbe bei einer bestimmten Temperatur angab. Aufgrund seiner mathematischen Fähigkeiten konnte er die Formel schließlich erraten und später theoretisch begründen.6 In ihr trat eine merkwürdige Größe auf, die später als Plancksches Wirkungsquantum bekannt wurde, ebenfalls eine fundamentale Naturkonstante. Planck bezeichnete sie jedoch fast verschämt als »Hilfsgröße« h.
»Man beklagt zu Unrecht, dass unsere Generation keine Philosophen habe. Die Philosophen sitzen jetzt nur in der anderen Fakultät, sie heißen Einstein und Planck.« – Adolf von Harnack
Einstein erkannte, dass h offenbar mit Lichtaussendung zu tun hatte, und wandte den Gedanken auf ein Experiment zum photoelektrischen Effekt an. Dabei werden durch auftreffendes Licht Elektronen aus Metallen herausgeschlagen, doch die Ergebnisse erschienen unlogisch: unterhalb einer bestimmten Grenzfrequenz des Lichts blieben die Elektronen im Metall, egal wie intensiv die Bestrahlung war.
»Fünfzig Jahre Grübeln haben mich der Frage ›Was sind Lichtquanten?‹ nicht nähergebracht.« – Albert Einstein
In einem kühnen Gedankengang nahm Einstein an, dass Energie in einer Lichtwelle grundsätzlich in Portionen der Größe E=hf (f gibt die Frequenz an) auftrat, eine Hypothese, die sich glänzend bestätigte, obwohl ausgerechnet Max Planck ihr gegenüber sehr lange skeptisch blieb. Diese Lichtquanten gaben der späteren Quantenmechanik ihren Namen und gehören im Grunde bis heute zu den rätselhaftesten Phänomenen der Natur, für die es keine a priori Erklärung gibt. In der europäischen Tradition der Naturphilosophie müsste man die Frage aufwerfen, ob eine Physik ohne diese Konstante h überhaupt vorstellbar ist, und wenn nicht, warum nicht. Obwohl unerklärt, setzte jenes Quantum h dennoch seinen Siegeszug durch die theoretische Physik fort. Sogar in der Thermodynamik spielt h eine große Rolle, wie etwa bei dem nach dem erwähnten William Joshua Gibbs benannten Mischungsparadoxon.
Der Däne Niels Bohr (1885–1962) gehörte ebenfalls zu den größten Denkern der Physik des frühen 20. Jahrhunderts, und auch seine Fähigkeiten waren mehr intuitiv-hinterfragend als rechnerisch. Er hatte beispielsweise als Erster erkannt, dass die 1896 entdeckte Radioaktivität ein Phänomen des Atomkerns war und nicht der aus Elektronen bestehenden Atomhülle. Ebenfalls vor allen anderen hatte Bohr verstanden, dass die chemischen Eigenschaften eines Elementes von der Anzahl der Protonen im Kern bestimmt war.XXX Diese Tatsachen scheinen heute so selbstverständlich, dass man leicht vergisst, welche intellektuelle Leistung ihre Entdeckung darstellte. Ebenfalls seiner intuitiven Herangehensweise entsprach es, einer Idee nachzugehen, die der japanische Physiker Hantaro Nagaoka, aber auch schon Wilhelm Weber im 19. Jahrhundert formuliert hatte: Das Atom könnte ein kleines Sonnensystem sein! Die Vorstellung, dass Elektronen um den Atomkern kreisen wie Planeten um unseren Heimatstern, übte eine unglaubliche Faszination auf die damaligen Forscher aus.
Trotz der weltverändernden Konsequenzen, die diese Forschung später haben sollte, muss man sich klarmachen, dass man zu dieser Zeit Atomphysik als eine rein intellektuelle Zerstreuung ansehen konnte, die keinerlei weitere Anwendung versprach. Es war allein Neugier, den Dingen auf den Grund gehen zu wollen, die diese Forscher antrieb.
Bohr erkannte, dass das Plancksche Wirkungsquantum h die Einheit eines Drehimpulses besaß, und spekulierte kühn, ob dieser Drehimpuls nicht der eines den Atomkern umkreisenden Elektrons sein könnte, gleich einem Eiskunstläufer, der mit ausgestreckten Armen rotiert. Dies führte zu einem sensationell erfolgreichen Modell des Atoms, wobei Bohr zahlreiche Messwerte erklären konnte, die der Baseler Mathematiklehrer Johann Jakob Balmer schon um 1885 herausgefunden hatte, der ebenfalls einer Betrachtung wert ist.
Balmer hatte die damals schon bekannten Spektrallinien von Wasserstoff studiert, das heißt eine Serie von Wellenlängen,XXXI die einem Leuchten in bestimmten Spektralfarben entsprachen. Mit unglaublicher Geduld und jahrelangem Tüfteln gelang es ihm,7 eine einfache Formel zu finden, die alle bunten Erscheinungen der Atome exakt beschrieb. Für ihn hatte das Ganze keinerlei praktischen Nutzen, offenbar trieb ihn allein der Gedanke an, einen verborgenen mathematischen Zusammenhang in den Naturphänomenen aufzudecken. Allerdings war seine Formel selbst rätselhaftXXXII und wurde durch Niels Bohr ebenso glänzend begründet, wie Newton die Gesetze von Kepler hergeleitet hatte, die jener ebenfalls in jahrelanger Grübelei über Zahlen erraten hatte.
Die Analogie zwischen der Physik des allerkleinsten und jener der Planeten war damit fast perfekt. Obwohl das Bohrsche Atommodell noch eine theoretische Rechtfertigung benötigte und diese später viele neue Probleme aufwarf, stellte es doch einen vorläufigen Endpunkt der Suche nach dem Ursprung der Materie dar, die von Demokrit zweitausend Jahre vorher begonnen worden war.
Die Darstellung der Wissenschaftsgeschichte ist in diesem Rahmen natürlich sehr summarisch und verdiente verschiedentlich mehr Details. Ziel ist hier vielmehr, zu verstehen, aus welcher Geisteshaltung heraus und mit welchen naturphilosophischen Überzeugungen die Gründerväter der Physik zu ihren Einsichten gekommen waren. Diese Erfolge kamen aber nicht allein durch theoretische Reflexionen europäischer Naturphilosophen zustande; das zweite Standbein der Physik bleibt stets das Experiment.
Eine wesentliche Rolle spielte zum Beispiel der 1871 in Neuseeland geborene Ernest Rutherford, ein Energiebündel, das drei Treppenstufen auf einmal zu nehmen pflegte. Ab 1908 betrieb er ein Labor in Manchester, das man damals als das Zentrum der Experimentalphysik bezeichnen konnte. Rutherford war an den meisten wesentlichen Resultaten über die verschiedenen Arten der Radioaktivität (Alpha-, Beta- und Gammastrahlung)XXXIII beteiligt, gab der Halbwertszeit ihren Namen und stellte mit seinen berühmten Streuversuchen erstmals fest, dass der Traum von Atomen als kleinen Sonnensystemen überhaupt realistisch war. Mit seinem Fokus auf die Versuche, seiner zupackenden, unendlich produktiven Art und der Abneigung, theoretisch-spekulativ zu interpretieren, vertrat er durchaus einen »amerikanischen« Zugang zur Physik. Unter anderem war er bekannt für seinen Ausspruch »Dass mir hier niemand im Labor vom Universum redet!«
»So wie das Kausalgesetz die schon erwachende Seele des Kindes sogleich in Beschlag nimmt und ihm die unermüdliche Frage »Warum?« in den Mund legt, so begleitet es den Forscher durch sein ganzes Leben.« – Max Planck
Fortschritt in der Physik entstand immer dann, wenn geschickte und kreative Experimentatoren mit Theoretikern zusammenarbeiteten, die grundlegenden Fragen nachgingen. Dieses Zusammenspiel blühte in Europa am Anfang des 20. Jahrhunderts, die Kultur der theoretischen Reflexionen konnte jedoch später in den USA nie Wurzeln schlagen. Die Art und Weise, wie Ernst Mach, Albert Einstein oder Max Planck an die Naturgesetze herangingen, blieb den Physikern in der neuen Welt fremd.
Kurz nachdem Bohr 1913 sein Atommodell entwickelt hatte, brach der Erste Weltkrieg aus, die Urkatastrophe für Europa, welche nicht nur die wissenschaftliche Kommunikation zum Erliegen brachte, sondern auch viele Physiker in innere Konflikte stürzte. Wenige hatten eine Haltung wie der britische Mathematiker Harold Hardy, der äußerte, er sei zwar »jederzeit bereit rauszugehen und auf mich schießen zu lassen«, jedoch nicht willens, »mein Hirn für Kriegszwecke zu prostituieren«. Die meisten beteiligten sich dagegen bereitwillig dort, wo ihr Forschungsgebiet militärisch nutzbar war, viele sogar mit patriotischer Begeisterung. Der Mathematiker Courant erfand die an der Front nutzbare Erdtelegrafie, viele beteiligten sich an der kriegswichtigen Schallortung von Kanonen, der Chemiker Fritz Haber entwickelte Giftgas, zu dessen Einsatz ihm sogar Lise Meitner gratulierte.8
Auch Max Planck, Conrad Röntgen und Wilhelm Wien haben sich nicht mit Ruhm bedeckt, indem sie 1914 einen Aufruf von »patriotischen« Wissenschaftlern unterzeichneten,9 der jede Schuld des Deutschen Reiches am Kriegsausbruch von sich wies. Viele begabte Physiker kamen jedoch sinnlos zu Tode, so wie der Kernphysiker Henry Mosley, der 1915 bei der Schlacht in den Dardanellen starb.
Neben dem phänomenalen Mathematiker David Hilbert aus Königsberg, der den Weltkrieg als eine »Dummheit« bezeichnete, war Albert Einstein einer der wenigen, der dem kollektiven Irrsinn einen konsequenten Pazifismus entgegensetzte. Zur Völkerverständigung nach dem Krieg trug bei, dass der englische Astronom Sir Arthur Eddington, selbst Quäker und Kriegsdienstverweigerer, 1919 eine Expedition unternahm, welche die Vorhersagen von Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie bestätigte, indem er während einer Sonnenfinsternis die Ablenkung von Lichtstrahlen an der Sonne bestimmte. Aber insgesamt hatte der Krieg in der Wissenschaft viel zerstört. Seine unumkehrbaren Folgen hinterließen auch dort tiefe Spuren, wo früher Forscher aus allen Ländern friedlich zusammenarbeiteten.
Der erste Weltkrieg hatte die europäischen Mächte entscheidend geschwächt, es wurde immer klarer, dass Amerika zur neuen Weltmacht aufstieg. Das Weltbild der Physik schien zu dieser Zeit gefestigt. Trotz Radioaktivität und Schwarzkörperstrahlung, welche den klassischen Vorstellungen widersprachen, betrachteten die tonangebenden Physiker in Amerika wie Abraham Michelson die theoretischen Gesetze als praktisch abgeschlossen. Man sah die Zukunft darin, diese Erkenntnisse anzuwenden. In der Tat reichte die bekannte Physik aus, um in den USA einen wahren Rausch von Erfindungen auszulösen; für jeden, der sich mit Wissenschaft und Technik beschäftigte, war damit genug zu tun. Hingegen stießen weitergehende, grundlegende Fragen kaum auf Interesse. In der Folge wurde dieses Bild jedoch nachhaltig erschüttert, insbesondere durch die allgemeine Relativitätstheorie und die Quantenmechanik, die sich als unvereinbar erweisen sollten. Mit den enormen begrifflichen Schwierigkeiten, die damit verbunden waren, beschäftigte man sich praktisch ausschließlich in Europa. Dort kam es dann auch zu jener krisenhaften Entwicklung der gesamten Physik, die im Keim in den Entdeckungen der Quantentheorie schon enthalten waren.