Auch in der Physik könnte man von den goldenen 1920er Jahren sprechen, die schließlich in einer Krise endeten, welche allerdings schleichend um sich griff. Diese Krise hat im Übrigen wenig mit Amerika oder der dortigen Denkkultur zu tun, ganz einfach, weil dort noch keine grundlegende theoretische Physik betrieben wurde. Wahrscheinlich wurde die Physik einfach zu schwer.
So befriedigend das Atommodell der »kleinen Sonnensysteme«, dem Niels Bohr zum Durchbruch verholfen hatte, auch war, litt es doch unter einem fatalen Mangel: Es widersprach der Maxwell’schen Elektrodynamik.XXXIV Deren größter Erfolg war ja gerade die Vorhersage elektromagnetischer Wellen gewesen, die durch hin- und herschwingende Ladungen erzeugt werden und von Heinrich Hertz nachgewiesen worden waren. Jede schwingende oder auch kreisende Ladung muss jedoch Wellen abstrahlen, und so wäre es unvermeidlich, dass ein um den Atomkern kreisendes Elektron Energie verliert und schließlich in den Kern stürzt, was das ganze Modell ad absurdum führt.
Übrigens kennt die Physik bis heute keine allgemeine Formel, welche die Abstrahlung einer beliebig beschleunigten Ladung exakt vorhersagt – eines der ungelösten Probleme, derer sich heutige Physiker oft nicht bewusst sind.1 Generell produzierte die Experimentalphysik ab dieser Zeit mehr Rätsel, als die Theoretiker zu lösen imstande waren. So stimmten die Messergebnisse der Spektrallinien von Atomen zwar weitgehend, aber nicht ganz exakt mit den Vorhersagen des Bohrschen Modells überein. Dies führte man zunächst auf eine Art Eigenrotation der Elektronen zurück, ähnlich den Planeten im Sonnensystem, die neben ihrer Bahn um die Sonne sich auch um sich selbst drehen. Dies bezeichnet man seit der Beschreibung durch die Holländer George Uhlenbeck und Samuel Goudsmit im Jahr 1925 als Spin.
»Phänomene dieser Art raubten den Physikern die Hoffnung, ein konsistentes Bild der Raumzeit dafür zu finden, was in der subatomaren Skala vorgeht.« – John Bell
Wie schon Einstein zusammen mit dem holländischen Physiker de Haas in einem früheren Experiment herausgefunden hatte, erzeugte dieser Spin ein doppelt so großes Magnetfeld wie erwartet; dies war schon merkwürdig. Im Jahr 1922 ersannen die Physiker Otto Stern und Walter Gerlach ein raffiniertes Experiment, um dieses Benehmen der Elektronen genauer zu untersuchen. Das Ergebnis war verblüffend: Während jeder materielle Gegenstand mit einer beliebig im Raum orientierten Drehachse rotieren kann, schien dies den Elektronen nicht erlaubt zu sein. Sie »rotierten« entweder genau parallel zum Magnetfeld oder genau entgegengesetzt. Es gibt keinen wie auch immer gearteten Grund, der verstehen ließe, warum sich Elementarteilchen auf diese Weise verhalten. Bis heute ist unbekannt, warum die Natur überhaupt Teilchen mit so einem Spin ausstattet.XXXV Eigentlich ist dies schon ein Hinweis, dass unsere klassische Anschauung von Raum, Zeit und Materie in der Mikrowelt der Atome zusammenbricht. Ebenfalls muss die Vorstellung von individuellen Teilchen aufgegeben werden. Wann immer sich zwei gleichartige Atome begegnen, können sie fortan nicht mehr unterschieden werden.XXXVI
Hinsichtlich des Problems der Abstrahlung gab es aber doch einen Erfolg durch den 1901 geborenen Werner Heisenberg, der, wie eine ganze Generation von Theoretikern,XXXVII bei Arnold Sommerfeld in München studiert hatte. Heisenberg hatte früh Gelegenheit, seine Ideen mit den führenden Physikern der Zeit zu diskutieren, sogar in einem Gespräch mit dem berühmten Niels Bohr in Göttingen. Diese Diskussionskultur war im Übrigen typisch für die erfolgreiche Phase der Atomphysik in den 1920er Jahren. Man arbeitete allein, doch gab es einen intensiven Austausch unter den führenden Physikern, meist in Vier-Augen-Gesprächen. Heisenberg beschreibt in seinen autobiografischen Notizen Der Teil und das Ganze eindrücklich, welche Aufbruchstimmung zu dieser Zeit herrschte. Er bediente sich des Bildes einer Bergwanderung, bei der man knapp unter der Wolkendecke die Sonne schon gelegentlich durchscheinen sieht und damit die Richtung erahnen kann, die zum Gipfel führt.
Schließlich gelang Heisenberg 1925 bei einem Aufenthalt in Helgoland, wo er eine Heuschnupfenattacke auskurierte, die Beschreibung der Atomzustände mittels sogenannter Matrizen, rechteckigen Zahlenschemata, für die ungewöhnliche Rechenregeln gelten.XXXVIII Auf diese damals eher exotischen Objekte war er in Göttingen von dem Mathematiker Max Born aufmerksam gemacht worden. Allerdings musste Heisenberg auf die Vorstellung verzichten, dass ein Elektron in einem Atom überhaupt eine bestimmte Bahn hat. Er tröstete sich damit, dass diese Bahnen ja nicht beobachtbar waren. Dies schien ein logischer Winkelzug und brachte ihm auch die Kritik von Einstein ein, mit dem er sein Modell kurz darauf in Berlin diskutierte. Heisenberg konterte aber nicht ungeschickt, dass sich ja auch Einstein bei der Zeitmessung im Rahmen seiner Relativitätstheorie nur auf beobachtbare Größen bezogen hatte.2
Einstein äußerte sich zwar anerkennend, dass Heisenberg »ein großes Quantenei« gelegt habe, blieb jedoch skeptisch. Das kam sicher auch daher, dass Heisenbergs Herangehensweise sehr unanschaulich und für Einstein nicht intuitiv war. Insofern kam allerdings bald Hilfe von einem jungen französischen Aristokraten namens Louis Victor de Broglie, der sich ebenfalls einer kühnen Umkehrung eines Gedankens von Albert Einstein bediente. Mit der Lichtquantenhypothese hatte Einstein einem Wellenphänomen (Licht) Teilcheneigenschaften zugeschrieben, und so spekulierte de Broglie, ob nicht auch Teilchen (Elektronen) Wellennatur haben könnten. Damit gäbe es für Heisenbergs Problem der fehlenden Teilchenbahnen zumindest eine befriedigende Vorstellung. Obwohl de Broglie von seiner Hypothese der Materiewellen sogar selbst nicht ganz überzeugt war,3 wurde sie wenig später durch Beugungsversuche von Elektronen an Kristallen glänzend bestätigt.4 Ergänzt sei, dass de Broglie von einer großen Vereinigungsvision ausging: Er hatte seine Überlegungen begonnen, indem er Einsteins Formeln zur Lichtquantenhypothese E=hf und zur Relativitätstheorie E=mc2, vielleicht die beiden berühmtesten der Physik, gleichsetzte: mc2=hf. Erstaunlicherweise ist dieser Ansatz auf der ersten Seite von de Broglies Doktorarbeit5 heute weitgehend unbekannt.
Seine kühne Annahme von Materiewellen wurde auch von dem Wiener Physiker Erwin Schrödinger ernst genommen, der eine Professur in Zürich innehatte. Schrödinger leitete kurzerhand eine nach ihm benannte Wellengleichung her, die ebenfalls das Atommodell rechtfertigte, aber viel anschaulicher war als Heisenbergs Weg.XXXIX Wer Schrödinger zu diesem Geistesblitz inspiriert hat – er hatte die Gleichung 1925 während eines Skiurlaubs in Arosa mit einer unbekannten Geliebten gefunden –, gehört zu den amüsanten ungelösten Rätseln der Quantenmechanik.
In der Folgezeit wurde heftig diskutiert, welche Form der Quantentheorie die »richtige« sei. Heisenberg machte nicht die beste Figur, als er nach einem Vortrag Schrödingers in München diesen mit aufgeregten Fragen bestürmte. Der Streit um die bessere Quantenmechanik entschärfte sich allerdings etwas, als Schrödinger6 selbst zeigen konnten, dass beide Versionen äquivalent waren. Dies wurde 1926 von dem introvertierten Engländer Paul Dirac bestätigt, der einen weiteren Zugang zur Quantenmechanik entwickelte.
In den USA erfand man derweil die hydraulische Bremse, den Erdinduktorkompass, die Flüssigtreibstoffrakete, und vieles andere. Es ist bemerkenswert, wie sehr die entscheidenden Entwicklungen der Atomphysik an Amerika vorübergingen, obwohl dort an den Universitäten mit erheblichen Mitteln Physikinstitute gegründet worden waren, die durchaus Spitzenforschung betrieben. So erhielt der Amerikaner Andrew Millikan 1923 den Nobelpreis für seine Bestimmung der Elementarladung, ebenso wie 1927 Arthur Compton für den nach ihm benannten Effekt, der ebenfalls die Teilchennatur des Lichts belegte. Hinsichtlich der großen naturphilosophischen Fragen, welche die Theoretiker beschäftigten, blieben die USA aber ein Entwicklungsland, sodass Paul Dirac eine Einladung von Edward Condon nach Chicago mit der ihm eigenen trockenen Art ablehnte:7»Es gibt keine theoretischen Physiker in Amerika«. Offenbar auf Augenhöhe konnte sich Dirac dagegen mit russischen Theoretikern wie Tamm, Frenkel, Landau, Iwaneko und Fock austauschen, die er auf einer Rundreise über Leningrad und Konstantinopel traf.8
Im Jahr 1927 gelang Heisenberg eine eingängige Formulierung seiner zentralen These, die Unschärferelation genannt wird. Demnach ist es prinzipiell unmöglich, von mikroskopischen Objekten wie Elektronen den Ort und die GeschwindigkeitXL gleichzeitig zu messen. Dies gilt auch, und das macht auch den Reiz dieses allgemeinen Theorems aus, für andere Begriffspaare wie zum Beispiel Energie und Zeit. Die Unschärferelation ist experimentell vielfach bestätigt, jedoch mit klassischen Vorstellungen unvereinbar. Einstein versuchte mehrmals, wenn auch stets erfolglos, die Idee zu widerlegen, die vielleicht gerade dadurch Berühmtheit erlangte.
»Die meisten sehen gar nicht, was sie für ein gewagtes Spiel mit der Wirklichkeit treiben.«– Erwin Schrödinger
In der Folge bildeten sich verschiedene Lager aus, die jeweils die eine oder andere Interpretation der Quantenmechanik bevorzugten. Einstein war mehr auf Seite von Schrödinger und de Broglie, während Heisenbergs Formalismus von Niels Bohr, Wolfgang Pauli und Pascal Jordan unterstützt wurde, ebenso wie von dem Göttinger Mathematiker Max Born, der Schrödingers Wellenfunktion »statistisch« interpretierte: Sie sollte nicht mehr eine konventionelle Dichte von Materie angeben, sondern lediglich eine Wahrscheinlichkeit, ein Elektron zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort anzutreffen.
Dies hätte zur Folge, dass Elektronen auch zufällig entscheiden, wann sie unter Lichtaussendung auf eine andere Atomschale übergehen. Schrödinger wehrte sich heftig gegen die Vorstellung, Elektronen würden in bestimmten Momenten spontan solche »Quantensprünge« ausführen, was seiner Ansicht nach dem Credo von Leibniz natura non fecit saltus widersprach.XLI Wolfgang Pauli wiederum bezeichnete Schrödingers Widerstand gegen Borns statistische Deutung als »kindisch«.9
»Nur ein Narr verzichtet auf die Hypothese der realen Außenwelt.« – Erwin Schrödinger
Auch das weithin bekannt gewordene Gedankenexperiment von Schrödingers Katze diente dazu, die konzeptionellen Absurditäten zu veranschaulichen, die entstehen, wenn man annimmt, reale Gegebenheiten seien zufällige »Überlagerungen« von möglichen Zuständen. Dazu stellte sich Schrödinger eine Katze in einer Kiste vor, die durch eine Giftampulle getötet werden kann, deren Aufbrechen wiederum von einem mikroskopischen Zufallsereignis abhing. In Analogie mit der statistischen Interpretation der Quantentheorie befände sich die Katze dann in einer »Überlagerung« von zwei Zuständen, tot oder lebendig, bis jemand nachsieht, was mit dem armen Tier los ist. Besonders allergisch war Schrödinger gegen die verschiedentlich geäußerte Idee, die Realität entstehe erst durch den Beobachter.
Schrödinger erhielt Unterstützung von Einstein, der prinzipielle Vorbehalte gegen so eine prominente Rolle des Zufalls in den Naturgesetzen hatte, die er mit dem prägnanten Satz »Gott würfelt nicht!« zusammenfasste. Er präzisierte jedoch bald, er habe ja nichts Prinzipielles gegen den Zufall, man möge nur so ein Naturgesetz nicht einfach postulieren, sondern es herleiten.XLII Im Übrigen stellte sich Einstein keineswegs einen allwissenden oder gar allmächtigen Gott vor, sondern bezeichnete seinen Glauben an eine tiefere, einfache Ordnung in den Naturgesetzen als »kosmische Religiosität«.10
Die großen Fortschritte, aber auch die noch ungelösten Widersprüche der neuen Theorien der Atomphysik sollten 1927 in einem großen Treffen der führenden Physiker diskutiert werden. Man hoffte, in einer gemeinsamen Anstrengung den Gordischen Knoten der Schwierigkeiten zu durchschlagen, der die wahren Naturgesetze zu umschlingen schien.
»… deutet die Krise in den heutigen Grundwissenschaften auf die Notwendigkeit, ihre Grundlagen bis in sehr tiefe Schichten zu revidieren.«13 – Erwin Schrödinger
Diese von dem in Wien geborenen Paul Ehrenfest organisierte und von dem belgischen Industriellen Solvay finanzierte Tagung wurde schließlich die folgenreichste Konferenz der Physik überhaupt. Wenn es einen Zeitpunkt gibt, der als Krise der europäischen theoretischen Physik bezeichnet werden kann, dann diese Zusammenkunft von 1927. Nie wieder war später eine vergleichbare Elite von Physikern am gleichen Ort versammelt und nie wieder gab es so große Erwartungen, durch diesen einmaligen Gedankenaustausch zu einer Lösung zu gelangen.
Doch kollektive Kraftakte funktionieren in der Wissenschaft selten. Die Entwicklung der Quantentheorie, auch in der revolutionären Phase um 1920, war nie Teamarbeit gewesen. Alle führenden Akteure erkämpften sich in geistiger Abgeschiedenheit ihren eigenen Zugang, den sie gegen konkurrierende Ideen verteidigten, freilich ohne zu einer gemeinsamen Vision zu kommen.11 Die damaligen Wissenschaftler waren Sucher nach der Wahrheit, und diese kennt keine Kompromisse. Entsprechend chaotisch verliefen teilweise die Diskussionen, und die Vaterfigur der Konferenz, Hendrik Antoon Lorentz, scheiterte zudem daran, sie in die drei Sprachen Englisch, Deutsch und Französisch zu übertragen. Höhepunkt der Konferenz waren wohl die Dispute zwischen Einstein und Bohr. Einstein brachte zahlreiche Gegenargumente in die Diskussion, oft in Form eines Gedankenexperimentes, das Bohr in Schwierigkeiten brachte. Oft, und manchmal erst nach einer schlaflosen Nacht, konnte er diese aber entkräften, einmal sogar besonders spektakulär, indem er auf Einsteins allgemeine Relativitätstheorie Bezug nahm.12
»Es ist einigermaßen hart, zu sehen, dass wir uns immer noch im Stadium der Wickelkinder befinden, und es ist nicht verwunderlich, dass sich die Kerle dagegen sträuben, es zuzugeben (auch ich selber).« – Albert Einstein
Inhaltlich vertraten die »Kopenhagener« Bohr, Heisenberg, Born und Pauli die Ansicht, dass der von ihnen entwickelte Formalismus das Atom befriedigend beschreibe, und interpretierten Schrödingers Wellenfunktion als Wahrscheinlichkeitsdichte, die den in die Naturgesetze eingebauten Zufall beschrieb. Paul Dirac stimmte bestenfalls schweigend14 zu, während Schrödinger eine konventionelle Interpretation seiner Gleichungen zu retten versuchte. Ebenso wie Einstein blieb er gegenüber der »Kopenhagener Deutung« zeitlebens skeptisch. Die nüchterne Wahrheit ist wohl, dass keine der angebotenen Versionen wirklich befriedigend ist. Dies deutet eigentlich darauf hin, dass wir die Grundlagen der physikalischen Realität, Raum und Zeit, immer noch nicht richtig verstehen.
»Stimmenmehrheit ist nicht des Rechtes Probe.« – Friedrich Schiller
Über die relativen Vorzüge der bei der Solvay-Konferenz vorgestellten Theorien kann man trefflich streiten, aber schlimmer als das inhaltliche Scheitern waren vielleicht die Konsequenzen für die Art und Weise, wie Physik betrieben wurde. Der Hauptschuldige daran war der ehrgeizige Heisenberg. Er erklärte sich mehr oder weniger selbst zum Sieger der Debatte, was nicht nur inhaltlich unrichtig war, sondern den Irrglauben etablierte, wissenschaftliche Wahrheit könne durch Mehrheitsentscheidung gefunden werden. Zum ersten Mal gab es solch offensichtliche Machtspiele, und Theorien wurden als »vorherrschend« oder »etabliert« bezeichnet, so als ob dies irgendetwas bedeuten würde. Dies zeigt auch, dass manche Unarten der wissenschaftlichen Debattenkultur nicht in Amerika erfunden wurden, wenn sie sich auch dort später besonders verbreiten sollten.
Heisenberg mit seiner Jagd nach Erfolg und Anerkennung war durchaus schon ein Repräsentant dieser Denkweise. Mit seinem Optimismus übertünchte er die zahlreichen offenen Fragen, die Einstein nicht müde wurde zu betonen. Tatsächlich hat die Naturwissenschaft von jeher mehr von Skepsis profitiert als von Euphorie. Schrödinger, dem ebenfalls missfiel, wie die Probleme unter den Tisch gekehrt wurden, schrieb vollkommen zurecht: »Statt eine Lücke durch Vermutungen zu schließen, zieht es das echte wissenschaftliche Denken vor, sich mit ihr abzufinden«, und fügte giftig hinzu: »Ist das Problem erst durch eine Ausrede beseitigt, entfällt auch die Notwendigkeit, darüber nachzudenken«.15
Nach der Konferenz gingen die meisten der führenden Akteure ihre eigenen Wege. Während Heisenberg auf seiner neuen Professur in Leipzig weiter die Lösung der Probleme verkündete, arbeitete Dirac an einer relativistischen Version der Quantentheorie, für die er 1933 einen Nobelpreis erhielt, obwohl ihm später an seiner Theorie Zweifel kamen.16 Schrödinger wandte sich wieder seinen Affären zu, später der allgemeinen Relativitätstheorie; Pauli hatte nach dem Selbstmord seiner Mutter eine depressive Phase und Alkoholprobleme. De Broglie war von der Konferenz eher demotiviert und arbeitete isoliert, ebenso wie Einstein, der seine Forschungen zu einer einheitlichen Theorie von Gravitation und Elektrizität intensivierte. Niels Bohr dagegen vergrub sich immer tiefer in seinen Abhandlungen über die »Komplementarität« von Welle und Teilchen, was von vielen zurecht als inhaltsloses Jonglieren von Begriffen angesehen wurde und maßgeblich zu dem schlechten Ruf der Philosophen beitrug, die diese sich in der Folgezeit unter Physikern erwerben sollten. Philosophie galt ab dieser Zeit fast als ein Schimpfwort.
Die Krise der Physik, die zu dieser Zeit begann, kann ihre Ursache nur darin haben, dass die wahren Naturgesetze wohl einfach (noch) zu schwer zu entdecken waren. Wahrscheinlich sitzen wir bei der Beschreibung der Realität einer grundsätzlichen Fehlvorstellung auf.XLIII
»Es bleibt die Frage, warum die Natur dieses spezielle Modell für das Elektron gewählt haben soll, anstatt mit einer punktförmigen Ladung zufrieden zu sein.«– Paul Dirac
Unter den ungelösten Problemen nehmen die unverständlichen Eigenschaften der Spins eine große Rolle ein. Im herkömmlichen Bild von Raum und Zeit gibt es überhaupt keinen Grund für dessen Existenz. Ebenso kann die Existenz der Naturkonstante h, deren Einheiten mit dem Spin verbunden sind, nicht aus grundlegenden Prinzipien heraus gefolgert werden.
Die Frage, warum keine Physik ohne jene mysteriöse Konstante h möglich ist, liegt im Dunkeln. Diese Naturkonstanten haben in gewisser Weise die Rolle moderner Götter übernommen – bisher unerklärt, werden sie von der Elite der Physiker dem Unerklärlichen zugeordnet. Weiter kann man es als erkenntnistheoretisch unbefriedigend betrachten, dass der Fortgang der Welt von mikroskopisch zufälligen Ereignissen abhängen soll. Wenn auch kaum jemand an dem Phänomen selbst zweifelt, so gibt es doch, wie von Einstein richtig bemerkt, keinen Grund dafür.
Der französische Philosoph René Descartes war noch überzeugt, dass sich prinzipiell die Zukunft genau berechnen ließe, sobald man den jetzigen Zustand der Welt exakt kennt. Das mag naiv klingen und die moderne Wissenschaft hat sich mit der Sichtweise »Die Natur ist eben so« von diesem Anspruch verabschiedet. Warum? Schließlich hält die Mikrowelt noch ein mit dem Spin zusammenhängendes, aber unabhängiges Problem bereit, dass Einstein erst 1935 in voller Klarheit formulierte und als Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxon bekannt ist.
»Alles ist einfacher, als man denken kann, zugleich verschränkter, als zu begreifen ist.«– Johann Wolfgang von Goethe
Nach der Quantentheorie existieren sogenannte verschränkte Systeme, beispielsweise zwei Elektronen im gleichen Orbital eines Wasserstoffatoms, deren Spins immer gegensätzlich ausgerichtet sind, sich jedoch einzeln zufällig orientieren können. Misst man also einen Spin, so ist im gleichen Moment die Orientierung des anderen festgelegt. Da man diese Elektronen räumlich trennen kann, müsste eine unendlich schnelle Übertragung der Information stattfinden, sobald der Spin von einem gemessen wird. Dies widerspricht ganz klar der Relativitätstheorie.
»Nun können wir von vorne anfangen; Einstein hat bewiesen, dass es nicht funktioniert.« – Paul Dirac
Dennoch wurde diese Art von magischer Fernwirkung inzwischen experimentell nachgewiesen.17 Das Phänomen wird harmlos als »Nichtlokalität« bezeichnet, stellt aber nichts weniger als einen Zusammenbruch elementarer Logik dar, geht man von der herkömmlichen Vorstellung von Raum und Zeit aus. Niemand scheint damit heute ein besonderes Problem zu haben. Die heute verbreitete Sicht der Dinge, die Kopenhagener Interpretation lasse keine offenen Fragen mehr, ist mehr auf Legendenbildung in der Nachkriegszeit zurückzuführen als auf objektive Widerspruchsfreiheit.18
Zu diesen grundlegenden Widersprüchen in unserer Beschreibung der Realität kamen bald weitere Probleme hinzu. Beim Betazerfall, einer Art der Radioaktivität, bei der ein Elektron aus einem Atomkern herausgeschleudert wird, schien der Energiesatz, ein Fundament der Physik, verletzt. Auch für die Existenz der Radioaktivität selbst gibt es bis heute keinen nachvollziehbaren Grund, den die Theoretiker aus elementaren Prinzipien herleiten könnten. Man muss also leider konstatieren, dass das Verständnis der Physik Ende der 1920er Jahre in Europa an seine Grenzen geraten ist.
»Während in Europa die Atomtheorie […] zu heftigen Diskussionen […] führte, schienen die meisten amerikanischen Physiker bereit, die neue Betrachtungsweise ohne jede Hemmung zu akzeptieren.«19 – Werner Heisenberg
Von alldem blieb man in der neuen Welt unbehelligt und entsprechend unbedarft. Die Resultate der Physik des frühen 20. Jahrhunderts boten trotz aller versteckter Inkonsistenzen so viel technologisches Potenzial, dass sich ein weites Feld der Betätigung eröffnete. Die Neuerungen und Erfindungen aus Europa wurden begeistert aufgenommen, ohne dass man sich, wie die verständnishungrigen Denker in Europa, davon den Tag verderben ließ.
»Es ist nicht so, dass sie die Lösung nicht sehen können. Sie sehen das Problem nicht.« – G. K. Chesterton
Natürlich ist es nicht die Schuld von Amerika, dass die Natur schwer zu begreifen ist, und auch nicht, dass die europäischen Physiker um 1930 daran gescheitert sind. Aber es fehlte und fehlt bis heute in Amerika das Problembewusstsein für diese elementaren Rätsel. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, die logischen Widersprüche der Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik zu thematisieren. Während man in Europa über die Wellen- und Teilchennatur der Materie den Kopf zerbrach, nannten die Amerikaner das rätselhafte Phänomen schlicht Wellikel (wavicle), basta.20
»Was den Besucher mit Staunen erfüllt, ist die Überlegenheit dieses Landes in technischer und organisatorischer Beziehung.«21 – Albert Einstein
Man betrachtete fundamentale Physik wie ein Ingenieur eine Brückenkonstruktion, an der man nachbessern konnte, bis sie funktioniert. Heute wird so ein Zugang oft »effektive Theorie« genannt, mehr oder weniger ein Synonym für unverstandene Bastelei. Kategorien wie »letzte Ursache«, »wahrer Grund«, »wirkliches Verständnis« existierten bei den Theoretikern in den USA nicht, sofern sich überhaupt jemand als solcher begreifen wollte. Für praktische Anwendungen der Gegenwart war die Physik aus Europa mehr als gut genug, und trug zum weiteren Aufstieg einer Nation bei, die dabei durch Kreativität und Organisation hervorstach.
Eine Wissenschaft, bei der schon allein die besten Instrumente eine Spitzenposition garantierten, war die Astronomie, die bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert in Amerika noch keine große Rolle gespielt hatte. Seit 1888 standen jedoch die leistungsfähigsten Apparate schon in Amerika.22 Ab 1906 gelangen mit dem damals größten Teleskop am Harvard College Observatorium Aufnahmen, mit denen die Astronomin Henrietta Leavitt zum ersten Mal ein außergalaktisches Objekt identifizierte, die Große Magellansche Wolke in 170 000 Lichtjahren Entfernung. Leavitt hatte entdeckt, dass manche Sterne (Cepheiden) ihre Helligkeit periodisch ändern, und dies umso langsamer geschieht, je größer die Sterne sind. Sehen diese aus großer Distanz trotzdem leuchtschwach aus, kann man aus dem Rhythmus der Änderung die Entfernung gut berechnen. Diese raffinierte Methode wird bis heute verwendet.
Leavitts Erkenntnis bildete die Grundlage dafür, dass die große Frage, ob Andromeda eine eigenständige Galaxie oder nur ein Nebel in unserer Milchstraße war, entschieden werden konnte. 1920 hatten darüber noch die Astronomen Harlow Shapley und Heber Curtis debattiert, aber erst im Herbst 1923 konnte Edwin Hubble mit einem 2,5-Meter-Spiegelteleskop in Andromeda einen Cepheiden-Stern identifizieren, der die gewaltige Entfernung zweifelsfrei nachwies. Immanuel Kant hatte mit seiner Vorstellung von Galaxien, die er 1755 »Welteninseln« nannte, recht behalten. Hubbles 1917 installiertes Observatorium auf dem Mount Wilson nördlich von Los Angeles sollte dagegen drei Jahrzehnte lang das größte der Welt bleiben.
1929 fiel Hubble auf, dass eine Galaxie umso weiter weg war, je mehr sich ihr Licht ins Rote verschoben hatte. Wahrscheinlich war auch Milton Humason an der Entdeckung beteiligt, ein Schulabbrecher, der zunächst als Pförtner am Observatorium gearbeitet hatte, bevor sein Talent entdeckt wurde. Da man die Rotverschiebung als FluchtgeschwindigkeitXLIV interpretierte, gilt Hubbles Beobachtung bis heute als Evidenz für eine Expansion des Universums.
Extrapoliert man diese in der Zeit rückwärts, lässt dies auf einen sehr dichten Anfangszustand schließen, den man gemeinhin Urknall nennt. Die Idee dazu geht allerdings auf den belgischen Priester Georges Lemaître zurück. Das Urknallmodell wird bis heute mit verschiedensten Zusatzannahmen an Einsteins Relativitätstheorie angepasst, wenn auch mit mäßigem Erfolg, wovon noch die Rede sein wird. 1931 fand in Pasadena unter großem Presserummel ein Treffen von Einstein mit Hubble statt. Die wissenschaftliche Ausbeute war aber eher gering.
Einstein wurde damals in eine Diskussion über verschiedene Varianten eines Modells hineingezogen, welches die von Ernst Mach hergestellten Bezüge zum Ursprung der Gravitation eher verdeckte. Wie im vorigen Kapitel erwähnt, hatte auch Erwin Schrödinger in seinem Artikel23 von 1925 schon viel grundlegendere Fragen über Kosmologie aufgeworfen als die Modelle, die ab den 1930er Jahren entwickelt wurden. Jener Zusammenhang zwischen der Gravitationskonstante, der Lichtgeschwindigkeit und der Größe und Masse des Universums bestätigte eigentlich die Vermutung des schon 1916 verstorbenen Ernst Mach, wurde jedoch um diese Zeit nicht thematisiert, noch nicht einmal von Einstein, der sich um 1930 auch hauptsächlich mit seiner Feldtheorie beschäftigte.
Paul Dirac, der bis dahin jahrelang daran gearbeitet hatte, das Elektron besser zu verstehen, war von Hubbles Beobachtungen elektrisiert,24 denn die Daten über die Masse und die Ausdehnung des Universums führten ihn zu einem überraschenden Zusammenhang. Schon lange hatte er darüber nachgesonnen, warum die elektrische Kraft, die Proton und Elektron im Wasserstoffatom zusammenhält, so viel stärker als deren Gravitationsanziehung war. Das Verhältnis der Kräfte ist unglaublich groß, eine etwa 40-stellige Zahl, deren Erklärung Dirac immer als hoffnungslos erachtet hatte, bis er auf die kosmologischen Beobachtungen stieß.XLV
Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass das Universum um den gleichen Faktor größer war als das Proton, was schon eine fast unglaubliche Koinzidenz darstellt. Überdies ist das Universum um eine 80-stellige Zahl (das Quadrat des vorigen Faktors) schwerer als das Proton, was zusätzlich und unabhängig eine rätselhafte Übereinstimmung ist. Diese beiden Beobachtungen werden Diracsche Hypothesen der großen Zahlen genannt, die ihrem Entdecker zufolge auf einen »tiefen Zusammenhang zwischen Kosmologie und Atomphysik« hindeuten.XLVI Die Verbindung zwischen Atomkern und Kosmos ist wohl noch kühner als die »kleinen Sonnensysteme« von Wilhelm Weber, jedoch nicht weniger faszinierend. Trotz dieser eigentlich sensationellen Übereinstimmung der Zahlen kann bis heute niemand diese Koinzidenz erklären. Vielmehr scheint sie allen gängigen Modellen der modernen Kosmologie zu widersprechen. Bezeichnend ist, dass die Diracschen Hypothesen trotz der offensichtlichen Übereinstimmung heute noch nicht einmal das besondere Interesse der TheoretikerXLVII anziehen.
»Ich halte Diracs Gedanken für eine der größten Einsichten unserer Epoche, deren weitere Untersuchung eine der Hauptaufgaben ist.«– Pascual Jordan, 1952
»Allmählich gewöhne ich mich an den Gedanken, einen wirklichen Fortschritt nicht mehr zu erleben.«– Wolfgang Pauli
Hier zeigt sich ein ähnliches Muster wie in der Atomphysik Ende der 1920er Jahre. Die Schwierigkeiten, eine Theorie zu entwickeln, die befriedigend erklärt, sind offenbar enorm, und die Versuchung, sich von der Vielfalt neuer Beobachtungen ablenken zu lassen, groß. Aufgrund des späten Entstehens der beobachtenden Kosmologie um 1920 konnte sich eine europäische Tradition der Erklärungen dort kaum entwickeln. Sie bestand eigentlich nur aus einzelnen Veröffentlichungen von Einstein, Schrödinger und Dirac, während Ernst Mach um wenige Jahre die Überprüfung seiner tiefschürfenden Ideen nicht mehr erlebte.
Die Europäer waren sich der Krise ihrer Wissenschaft bewusst. 1932 wurde anlässlich einer Konferenz in Kopenhagen eine Faust-ParodieXLVIII aufgeführt, in der Bohr Gott und Pauli Mephistopheles war, während man Dirac rezitieren ließ: »Zum Jahre 26 müssen wir zurück./Denn alles was seither entsteht,/ Ist wert, dass es zugrunde geht.« Obwohl nur in ironischer Form, gibt es doch den Zeitpunkt gut wieder, an dem die Probleme begannen.
Diese Erfolglosigkeit der europäischen Grundlagenforschung ermöglichte es später, dass die Physik von US-Theoretikern gleichsam übernommen wurde. Nicht, weil diese in irgendeiner Weise weitergekommen wären als ihre europäischen Kollegen, sondern weil sie Erfolg anders definierten. Indem man die zu schwierigen Fragen verdrängte, ließ sich durch Beobachtung und Modellbildung ein gewisser Fortschritt generieren, der, wenn schon nicht zu grundlegenden Erkenntnissen, doch zu solidem Selbstbewusstsein führte.