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Beginn einer Reise

ZÜRICH, SONNTAG, 5. AUGUST – 08:15 UHR

Während sich Eschenbach noch über dem Atlantik befand, mit Anflugziel Zürich, stieg Lenz in seinen alten Saab und fuhr in Richtung Freiburg los.

Der eine kam von einer Reise zurück, der andere trat die seine an. Und wenn Eschenbach und Lenz später auf die turbulenten Ereignisse der nun folgenden Tage zurückblickten, würden sie sich eingestehen, dass jeder für sich in dieser Zeit etwas fand, wonach er nicht gesucht hatte.


Lenz entschied sich, übers Central zu fahren und später auf die A51 einzuschwenken. Es war eine Route, auf der wochentags das reinste Chaos herrschte, die nun aber beinahe verkehrsfrei zu befahren war. Lenz kam weitaus schneller voran, als er gedacht hatte. Seinen Berechnungen zufolge war er sogar zu früh dran. Damit er den Zoll bei Koblenz in der ihm von Franziska genannten Zeitspanne passieren würde, musste er eine kurze Pause einlegen. In Bad Zurzach, ungefähr sieben Kilometer vor dem Grenzübergang, fuhr Lenz auf einen Parkplatz. Ein dunkelblauer BMW 530, der ihm wegen des Berner Kennzeichens schon in Zürich aufgefallen war, fuhr vorbei und verschwand hinter der nächsten Kurve.

War es möglich, dass man ihn überwachte? Während der Fahrt hatte Lenz ein paarmal daran gedacht und immer wieder in den Rückspiegel geschaut. Vielleicht war er auch nur paranoid geworden, seit dem Besuch von Franziska am letzten Sonntagmorgen und den seltsamen Anweisungen, die sie ihm gegeben hatte.

Nichts aufschreiben, mit keinem darüber sprechen.

Die ganze letzte Woche hatte ihn ein unangenehmes Gefühl verfolgt. Was hatte das alles zu bedeuten, und wie würde das Zusammentreffen mit Isabel sein, nach über vierzig Jahren?

Die Kassette war an einem sicheren Ort vergraben. Darüber zerbrach sich Lenz nicht mehr den Kopf. Was ihn mehr beschäftigte, war das kleine Päckchen. Ein paarmal war er drauf und dran gewesen, es zu öffnen. Da es mit rotem Siegellack verschlossen war, tat er es nicht. Er hatte sich aber fest vorgenommen, Isabel darauf anzusprechen: Luxemburgerli von Sprüngli und Pentobarbital – was für eine seltsame Kombination. Das eine waren federleichte Miniatur-Macarons, benannt nach dem Herkunftsland des Erfinders, der dem zarten Kleingebäck ursprünglich den Namen Baiser de Mousse gegeben hatte. Schaumküsse also – und genau wie solche schmeckten sie auch.

Was das Pentobarbital betraf, so kam auch dieses in der Natur nicht vor. Die Substanz wurde durch ein synthetisches Verfahren aus Harnstoff gewonnen. Die Firma Bayer hatte den Wirkstoff Anfang des vorletzten Jahrhunderts patentieren lassen. Lange Zeit wurde Pentobarbital als Schlafmittel verwendet. In höherer Dosis lähmte es das Atmungszentrum und führte zum Tod durch Ersticken. Weil das Medikament rasch eine psychische und physische Abhängigkeit bewirkte, wurde es später nicht mehr in der Humanmedizin eingesetzt. Pentobarbital fand lediglich noch Verwendung beim Einschläfern von Tieren und wurde zu einem gängigen Wirkstoff bei der Vollstreckung von Todesurteilen in den USA. Auch Sterbe-hilfe-organisationen benutzten das Medikament.

So köstlich, wie das eine schmeckte – so todbringend war das andere. Lenz war mehr als besorgt, nachdem er das alles recherchiert hatte.

Ein paar Minuten wartete Lenz noch, dann drehte er den Zündschlüssel und brachte den Saab zurück auf die Straße. Es war exakt zehn Uhr. Auf der langen Geraden, die von Bad Zurzach nach Rietheim führte, entdeckte Lenz den dunkelblauen BMW aufs Neue in seinem Rückspiegel. Berner Kennzeichen. Lenz beschleunigte. Der Wagen hinter ihm tat dasselbe. Als Lenz langsamer wurde, drosselte auch sein Verfolger das Tempo. In gleichbleibendem Abstand fuhren die Autos bis nach Koblenz.

Lenz versuchte ruhig zu bleiben. Als er das Städtchen erreichte, folgte er dem Wegweiser in Richtung Deutschland, passierte das Schweizer Zollhäuschen und überquerte die Brücke bis auf die andere Seite des Rheins. Zwei deutsche Zollbeamte in grünen Uniformen standen dort. Lenz bremste. Er hatte sein Seitenfenster bereits zur Hälfte geöffnet, als ihn der größere der beiden Grenzwächter mit einer lässigen Handbewegung durchwinkte.

Lenz beschleunigte wieder und atmete erleichtert auf. Es war genau so, wie Franziska es ihm gesagt hatte. Lenz warf einen Blick in den Rückspiegel. Auch der BMW hatte die Grenzkontrolle inzwischen erreicht. Einer der Beamten schien sich mit dem Fahrer des Wagens zu unterhalten. Lenz nutzte die Gelegenheit und trat aufs Gas. Einen Kilometer später erreichte er Waldshut. Er parkte in einer Nebenstraße, stieg aus dem Wagen und wartete, bis der BMW vorbeifahren würde.

Zehn Minuten vergingen, aber sein vermeintlicher Verfolger erschien nicht.

Mit einem unguten Gefühl, zweifelnd, ob er sich nicht doch alles eingebildet hatte, fuhr Lenz schließlich weiter. Während der folgenden eineinhalb Stunden sah er auf seinem Weg durch den Schwarzwald immer wieder in den Rückspiegel. Aber er konnte auf den gewundenen Straßen an grünen Wiesen, Tannen- und Fichtenwäldern vorbei nichts Beunruhigendes ausmachen.


Die Frau, die Lenz in der Lobby des Hotel Colombi entgegenkam, hatte langes weißblondes Haar. Es fiel ihr über die schmalen Schultern fast bis zur Hüfte. Es war ein ungewöhnliches Bild: diese Haare und das Gesicht einer älteren Frau. Normalerweise trugen Frauen über sechzig Kurzhaarfrisuren.

»Lange ist’s her«, sagte sie zur Begrüßung.

Lenz blieb stehen. Eine Weile betrachtete er Isabel schweigend. Sie hatte sich verändert und erinnerte nur noch ansatzweise an die Frau von früher. Einzig ihre Augen waren noch dieselben: leicht mandelförmig, ein helles, zartes Blau, wie der Himmel an einem Morgen im Mai.

»Dreiundzwanzig Operationen«, sagte sie und hob die Schultern. »Im Gegensatz zu mir siehst du geradezu unverändert aus.«

Lenz nickte. Auf den zweiten Blick waren ihm die Narben aufgefallen. Isabel hatte sie mit Make‑up gut kaschiert.

Kaschieren war etwas, das Isabel schon damals gut gekonnt hatte. Als junge Frau war sie wunderschön gewesen, mit blassen, ebenmäßigen Gesichtszügen und sinnlichen Lippen. Aber sie hatte ihr makelloses Antlitz immer versteckt – hinter strähnigen Haaren, die sie zu selten wusch. Sie sprach leise, als legte sie es darauf an, nicht gehört zu werden. Und weil sie groß gewachsen war, ging sie gebeugt. So bemerkte niemand, wie sehr sie aus der Masse herausragte.

Auf diese Weise hatte sie viele getäuscht.

Lenz hatte ihr wahres Potenzial bald entdeckt und vermutet, dass sie mit ihrem Verhalten das Ziel verfolgte, von allen unterschätzt zu werden.

»Ich mag nicht hier im Hotel rumhocken«, sagte Isabel mit einem Lächeln, das wegen einiger ihrer Narben etwas schief stand. »Wir könnten in die Innenstadt … Ich kenne dort ein hübsches Restaurant. Du hast doch Zeit, oder?«

»Ja, klar.« Lenz sah ihr in die Augen und erkannte den alten Unternehmergeist in ihr wieder. Im Gegensatz zu früher war ihre Haltung gerade, eine selbstbewusste Frau stand vor ihm.

»Dann ab durch die Mitte.« Sie ging auf ihn zu und hakte sich ein.

Das Restaurant Drexler war gut besetzt. In einer Ecke im hinteren Teil fanden sie einen Tisch. Drei Japanerinnen waren gerade dabei, ihre Rechnung zu begleichen. Sie ließen sich von dem jungen Kellner den Wert der Münzen erklären. Einzeln und umständlich legten sie danach die Euros auf den Tisch und verabschiedeten sich etwas später kichernd und winkend.

Isabel und Lenz warteten geduldig, bis der Kellner den Tisch neu eingedeckt hatte. Wie ausgestellt standen sie da; Lenz fielen die verstohlenen Blicke der Gäste auf.

»Die Leute schauen mich immer dreimal an«, sagte Isabel, die Lenz’ Gedanken erraten hatte. »Ist dir das auch aufgefallen? Zuerst sind es meine Haare …« Sie schüttelte sie. »Wenn ich sie offen trage, sind die natürlich ein Eyecatcher. Im Normalfall führen solche Haare zu einem flüchtigen Blick. Da nun aber das Gesehene der Erwartung des Betrachters nicht entspricht, kommt noch ein Blick. Irritiert. Die Leute betrachten nun mein Gesicht, das sie zuvor nur unbewusst wahrgenommen haben. Ihnen wird klar, wie alt ich bin, und sie schauen verwundert weg, um mich gleich darauf ein drittes Mal anzusehen und zu denken: Was ist denn mit der los?« Isabel lachte. »So bleib ich denen in Erinnerung, verstehst du? Und das ist überhaupt nicht gut für meinen Job.«

Sie setzten sich.

»Wusstest du, dass die modernen Prinzipien der Werbung genau so funktionieren?« Isabel nahm die Speisekarte und gab sie Lenz. »Du musst die Erwartung des Betrachters enttäuschen, das ist der Trick. Nur so erreichst du die Aufmerksamkeit, die notwendig ist, um eine Botschaft nachhaltig im Hirn zu etablieren.«

»Vielleicht«, sagte Lenz. Er blätterte eine Weile in der Speise-karte und legte sie danach zurück auf den Tisch. »Mein Hirn funktioniert anders … leider. Ich wäre sonst vermutlich ein glücklicher Mensch geworden.«

»Ach was.« Isabel zuckte mit den Schultern. »Glück wird überschätzt.« Sie nahm ein kleines Fläschchen mit Tropfen aus der Handtasche und begann sich diese in die Augen zu träufeln. »Was nimmst du?«

»Den Kalbsbraten.«

»Was gibt es sonst noch?«, fragte Isabel.

Ohne einen weiteren Blick auf die Karte zu werfen, nannte Lenz eine Reihe von Speisen. »Fleisch und Mehlspeisen lasse ich jetzt bewusst weg«, sagte er. »Die magst du ja nicht besonders, oder?«

»Weißt du das noch?«

»I‑s‑a-b‑e-l«, sagte Lenz betont langsam. Danach nannte er aus dem Gedächtnis fünf Weine. »Die gibt es alle offen. Ein Glas für dich?«

»Du nicht?«

Lenz schüttelte den Kopf.

»Und die Preise?«, fragte sie.

Lenz lachte auf. »Soll ich sie dir auch noch runterbeten?«

»Wüsstest du sie noch? Ich meine, alle?«

»Ist das jetzt ein Test?«

Isabel schüttelte den Kopf. »Ich meine ja nur. Bei mir ist es so, dass ich langsam beginne, Dinge zu vergessen … Meine Augen werden schlechter.«

»Meine Augen auch«, sagte Lenz. »Aber das hilft nichts, verstehst du? Es gibt Brillen … und was ich sehe, bleibt mir im Gehirn hängen. Es klebt sich fest, wie Mehl an feuchtem Brotteig. Ich seh’s vor mir … und ich bring den ganzen Scheiß nicht mehr weg. Könnte dir jetzt die Geschichte von diesem Lokal erzählen, sie ist auf Seite drei abgedruckt, dann die Herkunftsländer von Geflügel, Fisch und Fleisch nennen, die werden ebenfalls angegeben. Seite fünf. Auch die Gerichte, die Gluten enthalten, dann die Winzer und Jahrgänge der insgesamt zwanzig Weine. Ach ja, drei Flecken hat es auf der Karte, zwei eher rötlich, einer braun. Seiten drei, vier und fünf. Alles auf chlorfrei gebleichtem Papier, versteht sich. Das steht ganz hinten, auf der Rückseite, nach der Liste mit den Spirituosen. Reicht das?«

Isabel applaudierte leise. »Hab ich dir eigentlich einmal gesagt, dass ich dich sexy finde?«

»Ich find’s zum Kotzen«, sagte Lenz. »Und abgesehen davon treibt es mich immer wieder an den Rand des Wahnsinns.«

»Ich weiß«, sagte sie. »Und deshalb ersäufst du es im Alkohol.«

»Hin und wieder«, knurrte Lenz. »Ein wenig Linderung bringt’s halt doch, aber die Leber geht drauf. Ich muss langsam aufpassen.«

»Und Sex?«

Lenz schwieg.

»Okay«, sagte sie. »Ich will dir nicht zu nahe treten.«

Der Kellner kam. Zur großen Überraschung von Lenz bestellte Isabel eine Lasagne al forno. »Die Zeiten ändern sich«, sagte sie. »Auch der Hackbraten ist vorzüglich. Ich habe ihn auch schon gegessen. Wenn ich in Freiburg bin, komme ich oft hierher.«

»Lebst du hier?«

Isabel schüttelte den Kopf. »In der Nähe. Aber noch lieber würde ich am Meer leben. Die feuchte, salzige Luft tut mir gut, meinen Schleimhäuten. Aber Deutschland ist ein wichtiger Markt geworden.«

»Markt für was?«, wollte Lenz wissen. »Du bist studierte Elektroingenieurin.«

»Allerdings.« Isabel lachte. »Nach unserer Trennung bin ich zu einem kleinen Unternehmen. Eine Reihe wichtiger Patente habe ich denen beschert. Danach haben sie mich rausgeworfen. Einfach so. Das war’s. Ich hab mich zurückgezogen und später mein eigenes Ding gemacht.«

»Du hast denen die Hütte abgefackelt«, warf Lenz ein. »Es stand in allen Zeitungen.«

»Das war die reinste Lüge, Ewald. Aber ich kann dir gerne erzählen, wie es wirklich gewesen ist.« Isabel strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich habe oft nächtelang durchgearbeitet und mir deshalb ein Feldbett organisiert, um mich wenigstens ein paar Stunden hinlegen zu können. Und in jener Nacht …« Isabel fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Ich werde nie vergessen, wie mich der beißende Rauch aus dem Schlaf gerissen hat. Völlig benommen bin ich dagestanden, umgeben von einem Meer lodernder Flammen. Dann bin ich losgerannt, in Richtung Ausgang. Ich weiß nicht, ob ich wegen der Hitze ohnmächtig geworden bin, oder ob mich eine brennende Tür umgehauen hat …« Sie hob die Schultern. »Ich kann mich nicht erinnern. Jedenfalls muss mich jemand von der Feuerwehr hinausgetragen haben. Im Balgrist, auf der Intensivstation, bin ich aufgewacht.«

»Entschuldige, aber dass es so war, wusste ich nicht«, murmelte Lenz.

»Keine Ursache, Ewald. Tempi passati. Ich wundere mich überhaupt, weshalb ich dir das erzähle.« Ein schiefes Lächeln folgte. »Damals habe ich zum ersten Mal erlebt, dass die Wahrheit manchmal eine andere ist als jene, die wir in der Zeitung lesen.«

»So ist es«, meinte Lenz.

»Die Firma, der es bis dahin nicht besonders gut ging, konnte sich dank einer horrenden Versicherungssumme sanieren. Mich hat man zum Sündenbock gemacht. So war es. Jetzt weißt du’s.«

»Das tut mir unendlich leid, Isabel …« Lenz hielt einen Moment inne. »Hast du versucht herauszufinden, wer den Brand gelegt hat?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe eine Ewigkeit gebraucht, um wieder auf die Beine zu kommen. Irgendwann hat es mich nicht mehr interessiert.«

Eine kurze Pause entstand.

»Ich habe an dich gedacht«, fuhr sie schließlich fort. »Ich habe mich gefragt, weshalb du dich nicht mehr gemeldet hast. Du warst einfach weg, von einem Tag auf den andern.«

»Ich bin da gewesen«, sagte Lenz leise. »Auf der Intensivstation. Aber da haben sie mich nicht zu dir gelassen. Und als man dich später in die Psychi[1] verlegt hat, bin ich auch dorthin gekommen und habe dich besucht. Ich weiß nicht, welche Medikamente man dir gegeben hat, du warst weg, irgendwo bei den Sternen, was weiß ich. Jedes Mal hast du durch mich hindurchgesehen, als ob es mich gar nicht gäbe. Und eines Abends, als ich dich wieder besuchen wollte, stand Walter bei dir. Ich habe euch einen Moment zugeschaut. Er hat deine Hand genommen. Auf den ersten Blick sah es seltsam aus, weil er viel kleiner ist als du, als begäbe sich ein Kind in den Schutz seiner Mutter. Aber dieser Eindruck täuschte. Es war genau umgekehrt. Walter hat dich geführt. Zu diesem grauen Sofa in der Ecke hat er dich gebracht. Ihr seid hingesessen, wie ein altes Ehepaar. Und auf einmal hast du gelächelt.«

»Walter? So ein Blödsinn.«

»Meinst du, weil er kleinwüchsig ist?« Lenz schüttelte den Kopf. »Das hat dir nie etwas ausgemacht, sei ehrlich. Ihr habt perfekt zueinandergepasst. Die Sache mit mir war ein Ausrutscher, mehr nicht. Ich war einfach derjenige, der nach Walters Weggang in die USA noch da war.«

Isabel sah Lenz schweigend an. Sie berührte mit der Hand seine Schulter, danach sein Kinn. »Walter hat mir nie etwas gesagt«, meinte sie. »Habt ihr euch denn nicht getroffen?«

»Erst viel später«, meinte Lenz. »Aber darüber gesprochen haben wir nie. Ich glaube, dass er wegen dir aus den Staaten zurückgekommen ist. Er konnte das, was mir verwehrt geblieben war … dich wieder zum Lachen bringen. Ich hab’s mit eigenen Augen durch eine Glastür gesehen, Isabel. An diesem Abend in der Psychi. Das Bild sehe ich heute noch vor mir.«

»Deshalb hast du dich auf diesen Posten gestürzt … bei der Polizei.«

Lenz nickte. »Die Stelle im Archiv, genau. Am Anfang habe ich noch gedacht, ich würde dort an eine Pistole kommen, um mir eine Kugel durch den Kopf zu jagen. Aber dann habe ich mich beruhigt.« Lenz grinste. »Dieses staubige Loch war für lange Zeit mein Zufluchtsort.«

»Ich glaube, jetzt verstehe ich«, sagte Isabel. »Du hast es letzten Montag Walter erzählt, euer letztes Gespräch, nicht wahr?«

»Er hat mich danach gefragt.«

»Das ist schön.« Isabel wiegte nachdenklich den Kopf. »Wir hätten alle drei eine Universitätskarriere machen können. Du warst ein hervorragender Biologe.«

»Walter ist der bessere von uns gewesen«, sagte Lenz. »Und später, als ich wieder Boden unter den Füßen hatte, war die Uni kein Thema mehr für mich. Ich hatte das Umfeld gefunden, das ich brauchte. Ruhe und Ordnung. Niemand redete mir drein, und ich konnte der sein, der ich bin.«

Isabel schwieg eine Weile, dann meinte sie: »Du hast recht, Ewald. Ich glaube, genau darum geht es. Dass man sich findet. Mir ist das erst viel später bewusst geworden. Zu spät eigentlich. Und was die Universitäten angeht: Sie haben sich geändert. Es wird dort längst keine Wahrheit mehr gelehrt. Im Gegenteil. Sie spulen ihr Programm ab, werden infiltriert und am Ende von der Wirtschaft gekauft. Politiker machen sie geradezu mundtot. Langweilig sind sie geworden. Die Wahrheit findest du heute nur noch in den Archiven, sofern sie nicht gesäubert wurden, und in den Bibliotheken vielleicht. Du bist ein Glückspilz, Ewald.«

Der Kellner kam und brachte das Essen.

»Da ist noch etwas«, sagte Lenz etwas besorgt, bevor er den ersten Bissen zu sich nahm. »Dieses Päckchen …«

»Ach so.« Isabel tupfte sich mit der Serviette den Mund. »Das Pentobarbital, meinst du?«

Lenz nickte.

»Ein altmodisches Medikament. Es ist in Deutschland nicht zugelassen.« Sie zögerte einen Moment. »Ich brauche es, um durchzuschlafen.«