KAPITEL 3
MEIN ABGRUND:
1979–1982
I n den drei Jahrzehnten zwischen 1950 und 1980 stiegen und fielen Schulden, Inflation und Wachstum in zunehmend größer werdenden stetigen Wellen, vor allem nach dem Ende der Goldbindung des Dollar im Jahr 1971. In den 1970er-Jahren gab es drei von diesen Wellen. Die erste setzte 1971 als Folge der Dollar-Abwertung ein. Die zweite war zwischen 1974 und 1975 und trieb die Inflation auf die höchsten Werte seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Fed straffte die Geldversorgung und die Zinsen kletterten daraufhin auf ein Rekordhoch, was den heftigsten Abschwung am Aktienmarkt und in der Wirtschaft seit den 1930er-Jahren auslöste. Die dritte und am längsten anhaltende Welle lief von 1979 bis 1982 und erwies sich als einer der größten Anstiege samt anschließender Umkehr in der Wirtschaft und an den Märkten seit der Zeit von 1929 bis 1932. Zinsen und Inflation zogen stark an und brachen dann ein. Aktien, Anleihen, Rohstoffe und Währungen machten mit die volatilsten Phasen ihrer Geschichte durch, und die Arbeitslosenzahlen erreichten den höchsten Wert seit der Großen Depression. Kurz, es war eine Zeit der extremen Turbulenzen für die Weltwirtschaft, für die Märkte und für mich persönlich.
Von 1978 bis 1980 (wie von 1970 bis 1971 und von 1974 bis 1975) begannen unterschiedliche Märkte, sich im Gleichschritt zu entwickeln, weil sie stärker von Veränderungen bei Geld- und Kreditwachstum beeinflusst wurden als durch Verschiebungen beim jeweiligen Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage. Diese heftigen Bewegungen wurden noch verstärkt vom Ölschock, der auf den Sturz des Schahs des Iran folgte. Die Volatilität am Ölmarkt führte zur Auflegung des ersten Terminkontrakts für Öl, der für mich neue Handelsgelegenheiten bedeutete. (Inzwischen gab es auch Terminmärkte für Zinsen und Währungen, und ich schloss Wetten in jedem davon ab.)
Alle Märkte wurden von denselben Faktoren getrieben. Daher tauchte ich tief in Makroökonomie und historische Daten (insbesondere zu Zinsen und Währungen) ein, um mein Wissen über die Maschine dahinter zu verbessern. Als die Inflation im Jahr 1978 zu steigen begann, erkannte ich, dass die Fed wahrscheinlich die Geldversorgung einschränken würde. Bis Juli 1979 war die Inflation eindeutig außer Kontrolle geraten, und Präsident Jimmy Carter ernannte Paul Volcker zum neuen Federal-Reserve-Vorsitzenden. Ein paar Monate später gab Volcker bekannt, dass die Fed das Wachstum der Geldmenge auf 5,5 Prozent begrenzen werde. Meinen damaligen Berechnungen zufolge sollte diese Begrenzung auf 5,5 Prozent ausreichen, um die Inflationsspirale zu durchbrechen – doch sie würde zugleich Wirtschaft und Märkte abwürgen und wahrscheinlich eine katastrophale Schuldenkrise auslösen.
ACHTERBAHN BEI SILBER
Kurz vor Thanksgiving traf ich mich im Dallas Petroleum Club mit Bunker Hunt, damals der reichste Mann der Welt. Bud Dillard, ein Freund und Kunde von mir aus Texas, der groß im Öl- und Rindergeschäft war, hatte uns ein paar Jahre zuvor miteinander bekannt gemacht, und wir sprachen regelmäßig über Wirtschaft und Märkte, vor allem über Inflation. Nur ein paar Wochen vor unserem Treffen hatten militante Iraner die US-Botschaft in Teheran gestürmt und 52 Amerikaner als Geiseln genommen. Es gab lange Schlangen an den Tankstellen und eine extreme Volatilität an den Märkten. Eindeutig herrschte ein Gefühl der Krise: Die Nation war verwirrt, frustriert und wütend.
Hunt beurteilte die Schuldenkrise und Inflationsrisiken ganz ähnlich wie ich. Seit ein paar Jahren bemühte er sich, sein Vermögen aus Papiergeld herauszuholen, und kaufte zur Inflationsabsicherung Rohstoffe, vor allem Silber, zu Beginn zu einem Preis von etwa 1,29 Dollar pro Unze. Als die Inflation und der Silberpreis stiegen, kaufte er immer weiter, bis er den Silbermarkt im Prinzip kontrollierte. Zu dieser Zeit wurde Silber für etwa 10 Dollar pro Unze gehandelt. Ich sagte ihm, dass meiner Meinung nach nun ein guter Zeitpunkt für den Ausstieg sei, weil die Fed ihre Geldpolitik allmählich so sehr straffte, dass die kurzfristigen Zinsen über die langfristigen steigen könnten (was als »Inversion der Zinskurve« bezeichnet wird). In der Vergangenheit waren dann jedes Mal inflationsgesicherte Vermögenswerte und die Wirtschaft unter Druck geraten. Aber Hunt war im Ölgeschäft engagiert, und die Produzenten aus dem Nahen Osten, mit denen er sprach, waren nach wie vor besorgt wegen der Abwertung des Dollars. Sie hatten ihm gesagt, auch sie würden zur Absicherung gegen Inflation Silber kaufen, also hielt er in der Erwartung eines weiter steigenden Preises an seinen Positionen fest. Ich dagegen stieg aus.
Am 8. Dezember 1979 bekamen Barbara und ich unseren zweiten Sohn, Paul. Alles veränderte sich in raschem Tempo, aber ich liebte es, wie intensiv alles war.
Bis Anfang 1980 war der Silberpreis auf fast 50 Dollar pro Unze gestiegen, und so reich er schon war, wurde Hunt noch viel reicher. Ich hatte mit dem Anstieg bis 10 Dollar zwar ebenfalls viel Geld verdient, ärgerte mich jedoch, dass ich die Bewegung bis 50 Dollar verpasst hatte. Zumindest aber konnte ich auch kein Geld verlieren, weil ich nicht mehr dabei war. Im Leben jedes Anlegers gibt es ängstliche Momente, in denen die eigenen Erwartungen darüber, was passieren sollte, nicht zu dem passen, was tatsächlich passiert. Dann weiß man nicht, ob man vor hervorragenden Gelegenheiten steht oder vor katastrophalen Fehlentscheidungen. Weil ich oft richtiglag, aber eben in einer frühen Phase, neigte ich zu der Annahme, dass es auch dieses Mal so war. Das war tatsächlich der Fall, aber trotzdem betrachtete ich es als unverzeihlichen Fehler, eine Aufwärtsbewegung um 40 Dollar verpasst zu haben.
Als im März 1980 der Absturz schließlich doch kam, rauschte Silber bis unter 11 Dollar. Hunt wurde dadurch ruiniert, und beinahe hätte er die ganze US-Wirtschaft mit sich gerissen. 2 Die Fed musste sich einschalten, um die Auswirkungen seiner Pleite zu kontrollieren. Das hat mir eine unauslöschliche Lehre in den Kopf gehämmert: Timing ist alles. Ich war erleichtert, dass ich aus dem Markt ausgestiegen war. Aber zu sehen, wie der reichste Mann der Welt – mit dem ich mich zudem verbunden fühlte – in die Pleite geriet, war erschütternd. Und trotzdem war es nichts im Vergleich zu dem, was noch kommen sollte.
DAS TEAM WÄCHST
Später im selben Jahr stieß ein großartiger Bursche namens Paul Colman zu Bridgewater. Wir kannten uns durch unsere Geschäfte in der Viehund Fleischindustrie und waren gute Freunde geworden. Ich schätzte ihn für seinen Intellekt und seine Werte und konnte ihn überzeugen, dass wir gemeinsam die Welt erobern sollten. Mit ihm kamen seine wunderbare Frau und seine Kinder aus Guymon, im Bundesstaat Oklahoma, und unsere Familien wurden unzertrennlich. Wir betrieben unser Geschäft unsystematisch und auf der Grundlage unseres Bauchgefühls. Weil der Bürobereich des Hauses, in dem ich lebte und arbeitete, meist ein totales Durcheinander war – oft standen noch Teller mit Hühnerknochen und anderen Essensresten vom Vorabend auf meinem Schreibtisch –, hielten wir alle Treffen mit Kunden im Harvard Club ab. Paul deponierte immer ein sauberes blaues Oxford-Hemd und eine Krawatte in all dem Durcheinander für mich, damit ich etwas Ordentliches zum Anziehen hatte. Im Jahr 1981 entschieden wir, dass wir mit unseren Familien in einer ländlicheren Gegend leben wollten, also zogen wir gemeinsam nach Wilton in Connecticut und betrieben Bridgewater von dort aus.
Pauls und meine Arbeitsweise sah so aus, dass wir die Ideen des jeweils anderen infrage stellten und versuchten, die besten Antworten zu finden. Es war ein ständiges Hin und Her, das uns beiden Spaß machte, vor allem in einer Zeit, in der es viel auszuknobeln gab. Wir diskutierten bis spät in die Nacht über Märkte und die Kräfte dahinter, gaben vor dem Schlafengehen Zahlen in den Computer ein und schauten am Morgen, was er ausgespuckt hatte.
MEINE WARNUNG VOR EINER GROSSEN DEPRESSION
In den Jahren 1979 bis 1982 befand sich die Wirtschaft in noch schlechterer Verfassung als während der Finanzkrise 2007/2008, und die Märkte waren noch volatiler. Tatsächlich sollten manche Beobachter später feststellen, dies sei der volatilste Zeitraum aller Zeiten gewesen. Die Charts auf Seite 34 zeigen die Volatilität bei Zinsen und Gold bis zurück ins Jahr 1940.
Wie Sie in den Abbildungen sehen können, hatte es vor dem Zeitraum 1979 bis 1982 nichts Vergleichbares gegeben. Diese Zeit war eine der kritischsten der letzten 100 Jahre. Weltweit schlug das politische Pendel nach rechts aus und brachte Margaret Thatcher, Ronald Reagan und Helmut Kohl an die Macht. »Liberal« stand nicht mehr dafür, für Fortschritt zu sein, sondern dafür, »Menschen dafür zu bezahlen, dass sie nicht arbeiten«.
Meiner Ansicht nach steckte die Fed in der Zwickmühle. Sie musste entweder (a) Geld drucken, um die Schuldenprobleme abzumildern und die Wirtschaft am Laufen zu halten (was die Inflation schon auf 10 Prozent im Jahr 1981 getrieben hatte und dafür sorgte, dass Anleger Anleihen abstießen und inflationsgesicherte Vermögenswerte kauften), oder (b) der Inflation durch eine brutal straffe Geldpolitik das Rückgrat brechen (was auch Schuldnern das Rückgrat brechen würde, weil sich die Verschuldung auf dem höchsten Stand seit der Großen Depression befand). Das gravierender werdende Problem zeigte sich sowohl an der immer höher werdenden Inflation als auch an der immer schwächer werdenden Wirtschaftsaktivität. Beides schien sich zuzuspitzen. Die Schulden stiegen weiterhin viel schneller als die Einkommen, die die Schuldner für die Rückzahlung ihrer Schulden brauchten, und amerikanische Banken vergaben enorme Summen an Krediten – viel mehr, als sie an Kapital hatten – an Schwellenländer. Im März 1981 schrieb ich eine Daily Observation mit dem Titel »Die nächste Depression in Sicht« und zog an ihrem Ende das Fazit: »Das ungeheure Ausmaß unserer Schulden bedeutet, dass die Depression so schlimm oder noch schlimmer werden wird als die, die wir in den Dreißigern erlebt haben.«
Diese Ansicht war äußerst brisant. Für die meisten Leute war »Depression« ein angsteinflößendes Wort, das Spinner und Effekthascher verwenden und besonnene Menschen nicht ernstnehmen. Doch ich hatte mich mit Schulden und Depressionen bis ins Jahr 1800 zurück beschäftigt. Ich hatte meine Berechnungen durchgeführt und war mir sicher, dass die von den Schwellenländern angeführte Schuldenkrise kommen würde. Ich musste meine Überlegungen mit meinen Kunden teilen. Weil meine Ansicht so brisant war, bat ich andere, meine Beweisführung zu überprüfen und mir zu erklären, wo sie Schwächen sahen. Niemand konnte irgendwelche Lücken darin finden, aber jeder zögerte, sich meiner Schlussfolgerung anzuschließen.
Weil ich überzeugt war, dass die Optionen eine zunehmende Inflation oder eine deflationäre Depression seien, hielt ich sowohl Gold (das sich bei zunehmender Inflation gut entwickelt) als auch Anleihen (die sich in deflationären Depressionen gut entwickeln). Bis zu diesem Punkt hatten sich Gold und Anleihen in unterschiedliche Richtungen entwickelt, abhängig davon, ob die Inflationserwartungen zu- oder abnahmen. Diese beiden Positionen erschienen mir viel sicherer als Alternativen wie Liquidität, die in einem inflationären Umfeld an Wert verlieren würde, oder Aktien, denen in einer Depression ein Absturz drohte.
Zuerst liefen die Märkte gegen mich. Aber durch meine Erfahrungen mit Silber und anderen Geschäften wusste ich, dass ich ein chronisches Problem mit dem Timing hatte. Daher nahm ich an, ich sei nur früh dran und das von mir erwartete Szenario würde schon bald eintreten. Tatsächlich sollte es nicht mehr lange dauern. Bis Herbst 1981 zeigte die straffe Fed-Politik eine verheerende Wirkung, meine Anleihenwetten begannen sich auszuzahlen, und meine verrückten Ideen schienen plötzlich den Nagel auf den Kopf zu treffen. Im Februar 1982 erhöhte die Fed vorübergehend die Liquiditätsversorgung, um eine Bargeldklemme zu verhindern. Im Juni, als die Jagd nach Liquidität intensiver wurde, reagierte die Zentralbank mit dem Drucken von noch mehr Geld und steigerte die Liquidität auf das höchste Niveau seit Volckers Ernennung. Aber es war immer noch nicht genug.
DER GRÖSSTE UMSCHWUNG ALLER ZEITEN
Im August 1982 erklärte Mexiko, seinen Schuldendienst einzustellen. Fast jedem war klar, dass eine Reihe von anderen Ländern bald folgen würden. Das war von enormer Bedeutung, denn US-Banken hatten ungefähr 250 Prozent ihres Kapitals an Länder verliehen, die ebenso sehr gefährdet waren wie Mexiko. Die Kreditvergabe an Unternehmen in den USA kam zum Stillstand.
Weil ich einer der wenigen Menschen war, die diese Entwicklung vorausgesehen hatten, bekam ich viel Aufmerksamkeit. Der Kongress hielt Anhörungen über die Krise ab und lud mich zu einer Aussage darüber ein. Im November war ich der Hauptgast in Wall $treet Week with Louis Rukeyser , einer TV-Sendung, die sich jeder ansah, der mit den Märkten zu tun hat. Bei beiden Auftritten erklärte ich selbstgewiss, dass wir auf eine Depression zusteuerten und warum.
Nach der Zahlungsunfähigkeit von Mexiko reagierte die Fed auf den wirtschaftlichen Kollaps und Zahlungsausfälle von Schuldnern, indem sie Geld leichter verfügbar machte. Dies sorgte dafür, dass der Aktienmarkt um einen Rekordwert in die Höhe sprang. Ich war davon überrascht, deutete es aber als reflexhafte Reaktion auf die Entscheidung der Fed. Schließlich war schon 1929 auf eine Rally um 15 Prozent der größte Crash aller Zeiten gefolgt. Im Oktober hielt ich meine Prognose in einem Memo fest. Meiner Ansicht nach bestand eine Wahrscheinlichkeit von 75 Prozent dafür, dass die Maßnahmen der Fed nicht ausreichen würden und die Wirtschaft einbrechen würde. Mit 20 Prozent bezifferte ich die Wahrscheinlichkeit dafür, dass es der Fed zunächst gelingen würde, die Wirtschaft zu stimulieren, was letztlich aber ebenfalls scheitern würde. Und zu 5 Prozent rechnete ich damit, dass die Stimulierung ausreichen würde, um die Wirtschaft zu retten, sie aber eine Hyperinflation auslösen würde. Als Absicherung gegen die negativsten Möglichkeiten kaufte ich Gold und Terminkontrakte auf den Zinsunterschied zwischen Treasury Bills und Eurodollars; auf diese Weise konnte ich mit begrenztem Risiko darauf wetten, dass die Kreditprobleme noch gravierender werden würden.
Ich lag vollkommen falsch. Nach kurzer Verzögerung reagierte die Wirtschaft auf die Maßnahmen der Fed und erholte sich, ohne dass Inflationsdruck aufkam. Mit anderen Worten: Die Inflation gab nach, während das Wachstum zunahm. Am Aktienmarkt begann ein großer Bullen-Run, und in den 18 Jahren darauf verzeichnete die US-Wirtschaft die längste nichtinflationäre Wachstumsphase ihrer Geschichte.
Wie war das möglich? Irgendwann habe ich es herausgefunden. Als Geld aus den Schuldnerländern in die USA strömte, veränderte sich alles. Der Dollar wurde nach oben getrieben, was in den USA zu Deflationsdruck führte und der Fed die Möglichkeit gab, die Zinsen zu senken, ohne mehr Inflation zu provozieren. Dadurch wurde ein Boom genährt. Die Banken waren zum einen deshalb geschützt, weil die Fed ihnen Liquidität zur Verfügung stellte; zum anderen erarbeiteten Gläubiger-Ausschüsse und internationale Finanzorganisationen wie der Internationale Währungsfonds (IWF) oder die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich Arrangements, in deren Rahmen verschuldete Länder ihre Schulden mit neuen Krediten bedienen konnten. Auf diese Weise konnten alle so tun, als sei alles in Ordnung, und die Kredite über viele Jahre abschreiben.
Die Erfahrungen, die ich in dieser Zeit machte, waren wie eine Reihe von Zusammenstößen eines Baseballschlägers mit meinem Kopf. Dass ich so falschgelegen hatte, zumal so öffentlich, war unglaublich demütigend und kostete mich so ziemlich alles, was ich bei Bridgewater aufgebaut hatte. Ich erkannte, dass ich ein arroganter Kasper gewesen war, der volles Vertrauen in eine vollkommen falsche Meinung gehabt hatte. Nach acht Jahren im Geschäft stand ich da und hatte nichts vorzuweisen. Zwar hatte ich insgesamt gesehen viel häufiger richtiggelegen als falsch, dennoch befand ich mich wieder ganz am Anfang.
Zwischendurch hatte ich so viel Geld verloren, dass ich meine Mitarbeiter nicht mehr bezahlen konnte. Einen nach dem anderen musste ich gehen lassen, bis wir nur noch zu zweit waren – Paul Colman und ich. Dann musste auch Paul gehen. Unter Tränen aller Beteiligten packte seine Familie ihre Sachen und kehrte zurück nach Oklahoma. Bridgewater hatte jetzt nur noch einen Beschäftigten: mich selbst.
Menschen zu verlieren, die mir so sehr am Herzen lagen, und fast den Traum aufgeben zu müssen, selbstständig zu arbeiten, war niederschmetternd für mich. Um über die Runden zu kommen, musste ich mir sogar 4000 Dollar von meinem Vater leihen, bis wir unser zweites Auto verkauft hatten. Ich stand an einer Weggabelung: Sollte ich mir eine Krawatte umbinden und einen Job an der Wall Street annehmen? Das war nicht das Leben, das ich führen wollte. Auf der anderen Seite hatte ich eine Frau und zwei kleine Kinder zu versorgen. Mir wurde klar, dass ich an einem der großen Wendepunkte im Leben stand und meine Entscheidungen große Bedeutung für mich und die Zukunft meiner Familie haben würden.
EINE LÖSUNG FÜR MEIN VERTRACKTES ANLAGEPROBLEM
Geld an den Märkten zu verdienen, ist schwierig. Der brillante Händler und Anleger Bernard Baruch brachte es auf den Punkt, als er sagte: »Wenn du bereit bist, alles andere aufzugeben und die gesamte Geschichte und den Hintergrund des Marktes sowie alle wichtigen Unternehmen, deren Aktien an der Börse notiert sind, so sorgfältig zu studieren wie ein Medizinstudent die Anatomie – wenn du all das tun kannst und zusätzlich die Kaltblütigkeit eines Spielers hast, den sechsten Sinn eines Hellsehers und den Mut eines Löwen, dann hast du den Hauch einer Chance.«
Im Rückblick erscheinen die Fehler, die zu meinem Einbruch führten, beschämend offensichtlich. Erstens war ich übertrieben selbstbewusst gewesen und hatte zugelassen, dass meine Gefühle die Kontrolle übernahmen. Ich musste (erneut) lernen, dass ich, egal wie viel ich weiß und wie hart ich arbeite, niemals sicher genug sein kann, um Sachen wie die zu verkünden, die ich in Wall $treet Week herausposaunt hatte: »Es wird keine sanfte Landung geben. Ich kann das mit absoluter Sicherheit sagen, weil ich weiß, wie Märkte funktionieren.« Ich bin immer noch erschrocken und beschämt darüber, wie arrogant ich damals war.
Zweitens entdeckte ich den Wert der Beschäftigung mit Geschichte wieder. Was passiert war, war am Ende tatsächlich »noch so ein Fall« gewesen. Ich hätte erkennen müssen, dass auf die inländische Währung lautende Schulden mit staatlicher Hilfe erfolgreich restrukturiert werden können und dass Inflation und Deflation einander die Waage halten können, wenn mehrere Zentralbanken gleichzeitig stimulierende Maßnahmen ergreifen (so wie sie es schon im März 1932, auf dem Tiefpunkt der Großen Depression, getan hatten und 1982 erneut taten). Wie im Jahr 1971 hatte ich es versäumt, die Lehren der Geschichte zu erkennen. Als mir das klar geworden war, versuchte ich, mir einen Reim auf alle Bewegungen in allen größeren Volkswirtschaften und Märkten in den vergangenen 100 Jahren zu machen und auf dieser Grundlage sorgfältig überprüfte Kriterien zur Entscheidungsfindung zu entwickeln, die zeitlos und universell gültig sind.
Drittens wurde ich daran erinnert, wie schwierig es ist, das richtige Timing an den Märkten zu finden. Meine langfristigen Schätzungen zu Gleichgewichtswerten waren nicht zuverlässig genug, um darauf zu wetten. Denn zwischen dem Zeitpunkt, zu dem ich meine Wetten einging, bis zu dem Zeitpunkt, zu dem meine Schätzungen erreicht wurden (falls das jemals eintreten würde), konnte zu viel passieren.
Bei der Beschäftigung mit diesen Schwächen wurde mir klar: Wenn ich weitermachen wollte, ohne mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut eins auf die Mütze zu kriegen, würde ich an mir eine objektive Selbstbetrachtung und Veränderung vornehmen müssen. Für den Anfang musste ich einen besseren Umgang mit der natürlichen Aggressivität finden, die ich schon immer gezeigt hatte, wenn ich etwas Bestimmtes verfolgte.
Stellen Sie sich vor, für ein tolles Leben müssten Sie einen gefährlichen Dschungel durchqueren. Würden Sie dort bleiben, wo Sie sind, nämlich in Sicherheit, und ein normales Leben führen, oder würden Sie das Risiko eingehen, sich durch den Dschungel zu schlagen, um ein wunderbares Leben zu führen? Wofür würden Sie sich entscheiden? Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um darüber nachzudenken, denn das ist die Art von Entscheidung, die in der einen oder anderen Form jeder von uns treffen muss.
Selbst nach meinem Absturz wusste ich, dass ich das wunderbare Leben mit all seinen Risiken anzustreben hatte. Also lautete die Frage für mich, wie ich »den gefährlichen Dschungel durchqueren« konnte, ohne dabei auf der Strecke zu bleiben. Im Rückblick war mein Absturz mit das Beste, was mir je passiert ist, denn er hat mir die Bescheidenheit gegeben, die ich als Ausgleich zu meiner Aggressivität brauchte. Ich entwickelte große Angst davor, falschzuliegen, und das hat dafür gesorgt, dass sich mein Denken von »Ich habe recht.« zu »Wie kann ich wissen, ob ich recht habe?« verändert hat. Zugleich erkannte ich deutlich, dass ich am ehesten dadurch eine Antwort auf diese Frage bekomme, dass ich andere unabhängige Denker finde, die auf derselben Mission sind, aber die Dinge anders sehen als ich. Wenn ich sie an Bord hole, um eine respektvolle Uneinigkeit zu fördern, kann ich ihre Schlussfolgerungen verstehen und meine Schlussfolgerungen von ihnen überprüfen lassen. Auf diese Weise sollten alle Beteiligten die Wahrscheinlichkeit dafür erhöhen, dass sie richtigliegen.
Mit anderen Worten: Ich will nichts weiter als richtigliegen – ob die richtige Antwort von mir selbst kommt, ist mir egal. Also habe ich gelernt, radikal aufgeschlossen zu sein, um anderen die Gelegenheit zu geben, mir zu erklären, was ich vielleicht übersehen habe. Für mich gab es nur einen Weg, um erfolgreich zu sein:
  1. Ich musste die intelligentesten Menschen finden, die anderer Meinung waren als ich, und mich darum bemühen, ihre Überlegungen zu verstehen.
  2. Ich musste lernen, wann ich auf eine eigene Meinung zu verzichten habe.
  3. Ich musste zeitlose und universelle Prinzipien entwickeln, testen und systematisieren.
  4. Ich musste Risiken so ausbalancieren, dass ich weiterhin über großes Aufwärtspotenzial verfügte, aber das Abwärtspotenzial sich verringerte.
Die Umsetzung dieser Maßnahmen führte zu einer deutlichen Verbesserung meiner Rendite relativ zum Risiko, und dieselben Prinzipien lassen sich auch für andere Bereiche des Lebens anwenden. Am wichtigsten war, dass mich diese Erfahrung dazu brachte, aus Bridgewater eine Ideen-Meritokratie zu machen – keine Autokratie, in der ich führe und die anderen folgen, und keine Demokratie, in der jede Stimme das gleiche Gewicht hat. Sondern eine Meritokratie, die respektvolle Uneinigkeit fördert und die Meinungen verschiedener Personen entsprechend ihrer Verdienste berücksichtigt und gewichtet.
Entgegengesetzte Meinungen ans Tageslicht zu holen und mich damit zu beschäftigen, hat mich viel darüber gelehrt, wie Menschen denken. Ich habe erkannt, dass die größten Schwächen von Menschen die Kehrseiten ihrer größten Stärken sind. Zum Beispiel neigen manche Personen dazu, zu viel Risiko einzugehen, während andere zu risikoscheu sind; manche konzentrieren sich zu stark auf Details, während andere zu sehr das Gesamtbild sehen. Die meisten von uns sind das eine zu sehr und das andere zu wenig. Üblicherweise tun wir das, was wir automatisch tun, und denken dabei nicht an unsere Schwächen, und genau das führt zum Crash. Doch wichtiger als der Crash ist das, was nach dem Crash passiert. Denn erfolgreiche Menschen verändern sich so, dass sie weiterhin in der Lage sind, Vorteile aus ihren Stärken zu ziehen, und gleichzeitig ihre Schwächen auszugleichen; erfolglosen Menschen gelingt dieser Schritt nicht. Später in diesem Buch werde ich konkrete Strategien für Veränderungen beschreiben. An dieser Stelle ist zunächst einmal wichtig festzuhalten, dass Veränderung zum Besseren beginnt, wenn Sie sich Ihre Schwächen eingestehen und lernen, sie zu akzeptieren.
In den folgenden Jahren stellte ich fest, dass die meisten der außerordentlich erfolgreichen Menschen, die ich kennenlernte, ähnlich große, schmerzhafte Misserfolge erlebt hatten, durch die sie die Lektionen lernten, die ihnen letztlich zum Erfolg verhalfen. Im Rückblick auf seinen Rauswurf bei Apple im Jahr 1985 hat Steve Jobs einmal gesagt: »Es war eine bittere Pille, aber ich glaube, der Patient hat sie gebraucht. Manchmal haut einem das Leben voll eins in die Fresse. Verliere nicht den Glauben. Ich bin überzeugt: Das Einzige, was mich aufrecht gehalten hat, war die Tatsache, dass ich liebte, was ich tat.«
Ich habe erkannt, dass man seine Grenzen verschieben muss, wenn man es außergewöhnlich gut haben will, und dass man, wenn man seine Grenzen verschiebt, einen Crash erleben wird, der sehr schmerzhaft ist. Dann glaubt man, man sei gescheitert – aber das stimmt nicht, solange man nicht aufgegeben hat. Ob Sie es glauben oder nicht: Ihre Schmerzen werden verschwinden, und vor Ihnen liegen viele weitere Gelegenheiten, auch wenn Sie sie zunächst nicht sehen. Das Wichtigste, was Sie tun können, ist, die Lehren zu erkennen, die Ihre Misserfolge bereithalten, und Bescheidenheit und radikale Aufgeschlossenheit zu entwickeln, um Ihre Erfolgschancen zu erhöhen. Und dann machen Sie weiter.
Meine letzte Lektion war vielleicht die wichtigste, denn sie hat sich in meinem Leben immer und immer wieder als gültig erwiesen. Anfangs glaubte ich, vor einer »Alles oder nichts«-Entscheidung zu stehen: Ich konnte entweder ein hohes Risiko eingehen, um hohe Renditen zu erzielen (und mich gelegentlich damit ruinieren), oder ein niedriges Risiko eingehen und mich mit weniger Rendite zufriedengeben. Aber ich wollte sowohl niedriges Risiko als auch hohe Renditen. Indem ich mich auf die Mission begab, herauszufinden, wie das möglich wäre, lernte ich, es langsam angehen zu lassen, wenn ich mich vor der Wahl zwischen zwei Dingen sehe, die ich beide brauche und die scheinbar im Widerspruch zueinander stehen. Auf diese Weise kann man herausfinden, wie man es schafft, von beidem so viel wie möglich zu bekommen. Fast immer gibt es einen guten Weg, den Sie nur noch nicht entdeckt haben, also suchen Sie nach ihm, bis Sie ihn finden, statt sich mit der offensichtlichen Möglichkeit zufriedenzugeben.
So schwierig es auch war: Letztlich fand ich eine Methode, um das eine zu bekommen und auf das andere nicht zu verzichten. Ich nenne sie den »Heiligen Gral der Geldanlage«, und sie ist das Geheimnis hinter dem Erfolg von Bridgewater.