KAPITEL 6
DEN SEGEN WEITERGEBEN:
2011–2015
F
ür mich besteht das Leben aus drei Phasen. In der ersten sind wir abhängig von anderen Menschen und lernen. In der zweiten sind andere Menschen abhängig von uns und wir arbeiten. Und in der dritten und letzten Phase, in der niemand mehr von uns abhängig ist und wir nicht mehr arbeiten müssen, sind wir frei, um das Leben zu genießen.
Bei mir stand der Übergang von der zweiten in die dritte Phase an. Intellektuell wie emotional war ich nicht mehr so sehr interessiert daran, selbst erfolgreich zu sein; lieber wollte ich dafür sorgen, dass mir wichtige Menschen ohne mich erfolgreich sind.
Bei Bridgewater hatte ich zwei Jobs, aus denen ich mich allmählich zurückziehen wollte: die Leitung des Unternehmens als Chief Executive Officer und die Leitung unseres Anlagemanagements als Chief Investment Officer. Ich hatte nicht vor, mich nicht mehr mit den Märkten zu beschäftigen, denn das ist ein Spiel, das ich liebe, seit ich zwölf Jahre alt war, und ich werde damit weitermachen, bis ich sterbe. Aber ich wollte in keiner der beiden Rollen mehr gebraucht
werden. Der Grund dafür war, dass ansonsten ein »Schlüsselpersonen-Risiko« für das Unternehmen entstanden wäre.
Meine Partner und ich wussten, dass der Übergang von der ersten Führungsgeneration zur nächsten in einem gründergeführten Unternehmen mit einer einzigartigen Kultur schwierig ist, vor allem wenn die Spitze schon so lange mit derselben Person besetzt ist. Der Rückzug von Bill Gates aus seiner CEO-Position bei Microsoft im Jahr 2008 war das jüngste Beispiel dafür, aber es hatte auch schon viele andere gegeben.
Am stärksten plagte ich mich mit der großen Frage, ob ich mich komplett aus dem Management zurückziehen oder als Mentor involviert bleiben sollte. Auf der einen Seite gefiel mir die Vorstellung, ganz zu gehen, weil das der neuen Führung die Freiheit bieten würde, ihre eigenen Wege zum Erfolg zu finden, ohne dass ich ihr über die Schulter schaute. Meine Freunde drängten mich genau dazu – ich sollte »den Sieg erklären«, meinen Einsatz vom Tisch nehmen und weiterziehen. Aber ich war nicht überzeugt, dass der Führungswechsel auf diese Weise reibungslos verlaufen würde, denn ich hatte keine Erfahrungen mit so etwas. Ich erledige Dinge mittels Versuch und Irrtum – ich mache Fehler, finde heraus, was ich falsch gemacht habe, entwickle neue Prinzipien und habe am Ende Erfolg – und ich konnte nicht erkennen, warum es bei meinem Rückzug anders laufen sollte. Außerdem hielt ich es nicht für fair, die schwere Arbeitslast, die ich zu tragen hatte, einfach so bei den Leuten abzuladen, die meine Verantwortung als CEO übernehmen sollten. Ich wusste, dass Lee Kuan Yew, der weise Gründer und 41 Jahre lang Premierminister von Singapur, seine Führungsaufgaben abgegeben hatte, um als Mentor zu wirken, und ich hatte gesehen, wie gut das funktioniert hatte. Aus all diesen Gründen beschloss ich, dass ich als Mentor im Unternehmen bleiben wollte. Das bedeutete, dass ich entweder gar nicht oder als Letzter sprechen würde, aber stets verfügbar wäre, um Ratschläge zu geben. Meinen Partnern gefiel die Idee.
Wir vereinbarten, so bald wie möglich zu beginnen, damit meine Nachfolger Erfahrungen sammeln und wir falls nötig Anpassungen vornehmen konnten. Da wir über Führungswechsel nur wenig wussten, war uns klar, dass wir sehr vorsichtig vorzugehen hatten. Wir nahmen an, dass der Übergang einige Jahre dauern würde, vielleicht zwei oder drei, vielleicht sogar zehn. Da wir seit vielen Jahren zusammengearbeitet hatten, waren wir zuversichtlich, dass es eher schneller gehen würde.
Am ersten Tag des Jahres 2011 gab ich im Unternehmen bekannt, dass ich als CEO zurücktreten würde und Greg Jensen und David McCormick meinen Platz einnehmen würden. Am 1. Juli übergab ich meine Managementverantwortung an Greg, David und den Rest des
Management Committee. Gleichzeitig erklärten wir unseren Kunden unseren »Übergangsplan für bis zu zehn Jahre«.
LERNEN, WIE GESTALTER SIND
Natürlich tat sich das neue Managementteam in den nächsten ungefähr anderthalb Jahren schwer. Die Gründe dafür diagnostizierten wir auf dieselbe Weise, wie ein Ingenieur untersucht, warum eine Maschine suboptimal läuft, um sie dann für bessere Leistung umzubauen. Weil unterschiedliche Menschen wegen ihrer persönlichen Unterschiede unterschiedliche Ergebnisse produzieren, versuchen wir bei jeder Teamzusammenstellung, die richtige Mischung aus Eigenschaften und Menschen zu finden, um unsere Ziele zu erreichen. Also betrachteten wir meine Eigenschaften im Vergleich zu denen von anderen Personen, um zu erkennen, was fehlte. Das Ergebnis bezeichneten wir als die »Ray-Lücke«, weil ich eben derjenige war, der ging. Hätten sich Bob, David oder Greg zurückgezogen, hätten wir uns mit den von ihnen hinterlassenen Lücken beschäftigt.
Greg und David erstellten ein Protokoll über meine unterschiedlichen Aufgaben und die Unterschiede bei den Eigenschaften, die ich und sie für den Umgang mit diesen Aufgaben mitbrachten. Alle waren sich einig, dass die Lücke in dem lag, was wir als »gestalten« bezeichneten.
Um eine Vorstellung davon zu bekommen, was ich mit »gestalten« und »Gestalter« meine, denken Sie einfach an Steve Jobs. Er war wahrscheinlich der größte und bedeutendste Gestalter unserer Zeit, gemessen am Umfang und am Erfolg seiner Arbeit. Ein Gestalter ist ein Mensch, der einzigartige und wertvolle Visionen entwickelt und sie auf elegante Weise umsetzt, typischerweise gegen die Zweifel und Proteste anderer. Jobs hat das weltweit größte und erfolgreichste Unternehmen aufgebaut und mit elegant designten Produkten aus den Bereichen Computer, Musik, Kommunikation, Animation und Fotografie revolutioniert. Elon Musk (Tesla, SpaceX und SolarCity), Jeff Bezos (Amazon) und Reed Hastings (Netflix) sind weitere große Gestalter aus der Welt der Wirtschaft. Bei
Philanthropie ist an Muhammad Yunus (Grameen Bank), Geoffrey Canada (Harlem Children’s Zone) und Wendy Kopp (Teach for America) zu denken, und in der Politik an Winston Churchill, Dr. Martin Luther King Jr., Lee Kuan Yew und Deng Xiaoping. Bill Gates war ein Gestalter in der Wirtschaft wie in der Philanthropie, genau wie Andrew Carnegie. Mike Bloomberg war Gestalter in Wirtschaft, Philanthropie und Politik. Einstein, Freud, Darwin und Newton waren enorm wichtige Gestalter in der Wissenschaft. Jesus Christus, Mohammed und Buddha waren religiöse Gestalter. Sie alle hatten ihre eigenen Visionen und haben sie erfolgreich umgesetzt.
Diese Aufzählung nennt die größten Gestalter, doch mir war klar, dass es Gestalter in ganz unterschiedlichen Größenordnungen gibt. Einige kennen Sie wahrscheinlich sogar persönlich. Sie könnten in der Leitung von Unternehmen in Ihrer Nähe, von wohltätigen Organisationen oder der Gemeinschaft zu finden sein: Menschen, die Wandel vorantreiben und langlebige Organisationen aufbauen. Mein Ziel war es, herauszufinden, wer die zukünftigen Gestalter bei Bridgewater sein konnten – indem ich entweder den Menschen, die mich im CEO-Job ersetzten, dabei half, zu Gestaltern zu werden, oder indem ich Gestalter von außen fand und zu uns holte.
Am 5. Oktober 2011, ein paar Monate, nachdem ich begonnen hatte, darüber nachzudenken, was einen Gestalter ausmacht, starb Steve Jobs. Ich schrieb in unseren Daily Observations
über ihn, eine der wenigen Gelegenheiten, zu denen ich meine Kolumne für Informationen ohne Anlagebezug nutzte. Denn ich bewunderte ihn als einen Mann, der sich Dinge auf atemberaubend schöne Weise vorstellen und sie umsetzen konnte. Bald darauf erschien die Biografie über Jobs von Walter Isaacson. Mir fielen eine Reihe von Ähnlichkeiten zwischen uns auf, vor allem, wenn Isaacson Jobs’ eigene Worte zitierte. Wenig später veröffentlichte aiCIO
, eine bekannte Branchenpublikation, einen Artikel mit dem Titel »Ist Ray Dalio der Steve Jobs der Geldanlage?«. Auch darin war von Ähnlichkeiten zwischen uns die Rede. So hätte ich, wie Steve Jobs, mein Unternehmen aus dem Nichts gestartet (er in einer Garage, ich im zweiten Schlafzimmer meiner Wohnung), wir beide hätten innovative Produkte entwickelt, die unsere Branchen veränderten,
und wir beide besäßen einen einzigartigen Managementstil. Bridgewater wurde schon oft als »Apple der Geldanlagewelt« bezeichnet. Aber um es deutlich zu sagen: Ich bin nicht der Meinung, dass Bridgewater oder ich Apple oder Jobs das Wasser reichen konnten.
Isaacsons Buch und der Artikel ließen weitere Parallelen in unserer Geschichte, unseren Zielen und Ansätzen für das Gestalten erkennen – so waren sowohl Jobs als auch ich rebellische, unabhängige Denker, die unermüdlich für Innovation und Spitzenleistung arbeiteten. Wir beide meditierten und wollten »eine Delle im Universum hinterlassen«. Und wir waren beide notorisch hart gegenüber anderen Menschen. Natürlich gab es auch bedeutende Unterschiede. Ich wünschte, Jobs hätte die Prinzipien veröffentlicht, die er genutzt hat, um seine Ziele zu erreichen.
Ich war nicht nur an Jobs und seinen Prinzipien interessiert. Um besser in der Lage zu sein, die Ähnlichkeiten und Unterschiede zu verstehen und so einen Archetypus des typischen Gestalters zu entwickeln, wollte ich mehr über die Qualitäten und Prinzipien verschiedenster Gestalter erfahren. Diesen Ansatz hatte ich bis dahin für alles verfolgt, was ich verstehen wollte. Zum Beispiel hatte ich mich intensiv mit Rezessionen beschäftigt, um ein zeitloses Bild archetypischer Rezessionen entwickeln zu können und dann die Unterschiede zwischen ihnen zu verstehen. Das Gleiche unternahm ich für alle Wirtschafts- und Marktbewegungen, und ich neigte dazu, diesen Ansatz auch bei so ziemlich allem anderen anzuwenden, weil er mir zu verstehen hilft, wie etwas funktioniert. Also hatte es Sinn, genauso vorzugehen, um Gestalter zu verstehen.
Ich begann, indem ich zusammen mit Isaacson die Qualitäten von Jobs und anderen Gestaltern erforschte, erst bei einem privaten Gespräch in seinem Büro und später bei einem öffentlichen Forum bei Bridgewater. Isaacson hatte auch Biografien über Albert Einstein und Benjamin Franklin – zwei weitere große Gestalter – verfasst, die ich las und ihm dann Fragen stellte, um herausfinden, welche Eigenschaften die drei Männer gemeinsam hatten.
Danach sprach ich mit bewährten Gestaltern, die ich persönlich kannte: Bill Gates, Elon Musk, Reed Hastings, Mohammad Yunus,
Geoffrey Canada, Jack Dorsey (von Twitter), David Keller (von IDEO) und weiteren. Sie alle hatten sich bemerkenswerte Konzepte ausgedacht und Organisationen aufgebaut, um die Konzepte zur Realität zu machen, und das wiederholt und über lange Zeiträume. Ich bat sie, sich eine Stunde Zeit für Persönlichkeitstests zu nehmen, damit ich ihre Werte, Fähigkeiten und Ansätze kennenlernen konnte. Diese Einschätzungen waren zwar nicht perfekt, aber trotzdem überaus wertvoll (tatsächlich habe ich sie später angepasst und überarbeitet, damit sie uns bei Recruiting und Management helfen). Durch die Antworten, die diese Gestalter auf die standardisierten Fragen gaben, bekam ich objektive und statistisch auswertbare Daten über ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede.
Wie sich herausstellte, haben sie viel gemeinsam. Sie alle sind unabhängige Denker, die sich von nichts und niemandem aufhalten lassen, ihre kühnen Ziele zu erreichen. Sie haben sehr starke kognitive Karten darüber, wie Dinge anzugehen sind, und sind gleichzeitig bereit, diese kognitiven Karten in der Realität zu überprüfen und Änderungen an ihrer Vorgehensweise vorzunehmen, damit sie besser funktioniert. Sie sind extrem widerstandsfähig, weil ihr Bedürfnis, ihre Ziele zu erreichen, stärker ist als der Schmerz, den sie beim Kampf um die Ziele verspüren. Vielleicht am interessantesten: Sie verfügen über einen breiteren Blick als die meisten anderen Menschen, entweder weil sie diesen Blick selbst haben oder weil sie wissen, wie sie ihn von anderen bekommen, die sehen können, was sie selbst nicht sehen. Alle sind in der Lage, sowohl das Gesamtbild als auch feine Details (und alles dazwischen) zu erkennen und die Perspektiven zusammenzufügen, die sie auf den unterschiedlichen Ebenen gewinnen; die meisten anderen Menschen dagegen sehen entweder nur das eine oder das andere. Sie sind gleichzeitig kreativ, systematisch und praktisch veranlagt. Sie sind entschlossen und aufgeschlossen zugleich. Und vor allem hegen sie eine Leidenschaft für das, was sie tun, sie sind unnachgiebig gegenüber Menschen, die für sie arbeiten, aber nicht exzellent sind in dem, was sie tun, und sie wollen bedeutend und positiv auf die Welt wirken.
Zum Beispiel Elon Musk. Als er gerade mit dem Tesla auf den
Markt gekommen war und mir zum ersten Mal sein eigenes Auto zeigte, hatte er ebenso viel über den Funkschlüssel zum Öffnen der Türen zu erzählen wie über seine übergeordnete Vision von Tesla als Teil der allgemeinen Zukunft des Verkehrs und die Bedeutung für unseren Planeten. Als ich ihn später fragte, wie es zur Gründung seines Unternehmens SpaceX gekommen sei, war ich von der Kühnheit seiner Antwort verblüfft.
»Lange Zeit«, erzählte Musk, »habe ich gedacht, es sei unvermeidlich, dass sich etwas Schlimmes im planetaren Maßstab – eine Epidemie, ein Meteorit – ereignen wird, das die Menschheit zwingt, irgendwo anders von Neuem zu beginnen, zum Beispiel auf dem Mars. Eines Tages ging ich auf die NASA-Website, um mich zu informieren, welche Fortschritte sie in ihrem Mars-Programm machte, und mir wurde klar, dass sie nicht einmal darüber nachdachte, irgendwann dorthin zu fliegen. Ich hatte 180 Millionen Dollar bekommen, als meine Partner und ich PayPal verkauften, und ich dachte, wenn ich 90 Millionen Dollar davon ausgeben würde, um ein paar Interkontinentalraketen aus der früheren Sowjetunion zu kaufen, würde ich für Inspiration für die Erkundung des Mars sorgen können.«
Als ich ihn nach seiner Ausbildung in Raketentechnik fragte, sagte er mir, er habe keine. »Ich habe einfach angefangen, Bücher zu lesen.« Dies ist die Art und Weise, wie Gestalter denken und handeln.
Manchmal kann ihre extreme Entschlossenheit, ihre Ziele zu erreichen, sie brüsk oder rücksichtslos erscheinen lassen, was sich auch an den Testergebnissen zeigte. Nichts ist jemals gut genug für sie, und für sie ist die Lücke zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte, sowohl eine Tragödie als auch eine endlose Quelle der Inspiration. Keiner kann sich in den Weg stellen, um zu verhindern, dass sie das erreichen, was sie anstreben. In einem der Persönlichkeitstests gibt es eine Kategorie, bei der alle Gestalter nur wenige Punkte erreichten: »Sorge um andere«. Allerdings ist damit nicht genau das gemeint, wonach es sich anhört.
Nehmen wir zum Beispiel Muhammad Yunus, einen großen Philanthropen, der sein Leben der Hilfe für andere Menschen verschrieben hat. Für seine bahnbrechenden Ideen zu
Mikrokrediten und Mikrofinanzierungen wurde er mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, außerdem erhielt er die Goldene Ehrenmedaille des Kongresses, die Freiheitsmedaille des Präsidenten, den Gandhi-Friedenspreis und viele weitere Auszeichnungen. Trotzdem erreichte er bei »Sorge um andere« nur wenige Punkte. Geoffrey Canada, der den größten Teil seines Erwachsenenlebens dem Projekt gewidmet hat, sich um all die benachteiligten Kinder in einem Gebiet von hundert Häuserblöcken im New Yorker Stadtteil Harlem zu kümmern, bekam ebenfalls nicht viele Punkte. Bei Bill Gates, der den Großteil seines Vermögens und seiner Energie dafür einsetzt, Leben zu retten und zu verbessern, war es genauso. Offensichtlich sorgen sich Yunus, Canada und Gates sehr um andere Menschen, doch bei den Persönlichkeitstests schnitten sie bei diesem Punkt schlecht ab. Was war der Grund dafür? Als ich mit ihnen sprach und mir die Fragen ansah, die zu den niedrigen Bewertungen geführt hatten, wurde es mir klar: Wenn Gestalter vor der Wahl stehen, ihr Ziel zu erreichen oder anderen zu gefallen (oder sie nicht zu enttäuschen), entscheiden sie sich stets für ihr Ziel.
Durch diesen investigativen Prozess lernte ich, dass es sehr unterschiedliche Typen von Gestaltern gibt. Der wichtigste Unterschied liegt darin, ob sie bei Erfindungen, im Management oder in beiden Bereichen als Gestalter wirken. Zum Beispiel hat Einstein durch Erfindungen gestaltet und hatte keine Managementaufgaben, während Jack Welch (der frühere Chef von General Electric) und Lou Gerstner (der frühere Chef von IBM) großartige Manager waren, aber keine Erfinder. Die seltensten Fälle waren Menschen wie Jobs, Musk, Gates und Bezos, die erfinderische Visionäre sind und gleichzeitig große Organisationen leiten, um ihre Visionen umzusetzen.
Es gibt sehr viele Menschen, die wie Gestalter erscheinen, weil sie eine hervorragende Idee hatten und sie so weit verfolgt haben, dass sie sich für viel Geld verkaufen ließ; aber sie haben nicht konsistent etwas gestaltet. Im Silicon Valley finden sich viele von diesen Leuten – man sollte sie vielleicht als »Erfinder« bezeichnen. Ebenfalls erkannte ich, dass es in Organisationen wunderbare Führungskräfte gibt, die aber keine klassischen Gestalter sind, weil sie nicht die ursprüngliche Vision entwickelt und umgesetzt haben; eher sind sie
in bestehende Organisationen eingestiegen und leisten dort gute Führungsarbeit. Nur echte Gestalter gehen konsequent von einem Erfolg zum nächsten und bleiben über Jahrzehnte erfolgreich. Und genau diese Menschen will ich zu Bridgewater holen.
Meine Beschäftigung mit Gestaltern und meine Reflexionen über meine eigenen Qualitäten machten mir klar, dass niemand die volle Bandbreite von dem sieht, was er sehen müsste, um außergewöhnlich erfolgreich zu sein, obwohl manche mehr als andere sehen. Am besten sind diejenigen, die selbst eine große Bandbreite sehen und sich zugleich gut mit anderen brillanten Menschen abstimmen können, die einen anderen, ergänzenden Blick auf die Dinge haben.
Diese Erkenntnis war wichtig, um für einen guten Verlauf meines Rückzugs aus dem Management zu sorgen. In der Vergangenheit war ich auf Probleme gestoßen, hatte ihre Ursachen erforscht und dann meine eigenen Methoden entwickelt, um damit umzugehen. Andere aber, die anders denken als ich selbst, werden zu anderen Diagnosen und anderen Methoden kommen. Mein Job als Mentor bestand darin, ihnen zu helfen, damit erfolgreich zu sein.
Diese Übung erinnerte mich daran, dass es in der Welt weitaus weniger unterschiedliche Arten von Menschen gibt als Menschen und dass es deutlich weniger Arten von Situationen gibt als einzelne Situationen. Also kommt es entscheidend darauf an, die richtige Art von Menschen für die richtigen Situationen zu haben.
Weil Gates und Jobs kurz zuvor Microsoft und Apple verlassen hatten, beobachtete ich ihre früheren Organisationen intensiv, um herauszufinden, wie ich dazu beitragen konnte, dass Bridgewater ohne mich florieren kann. Mit Sicherheit lag der wichtigste Unterschied zwischen den beiden Unternehmen und Bridgewater in unserer Kultur, also der Art und Weise, wie wir die Ideen-Meritokratie der radikalen Wahrhaftigkeit und radikalen Transparenz nutzen, um Probleme und Schwächen ans Tageslicht zu holen und aufrichtig damit umgehen zu können.
SYSTEMATISIERUNG UNSERER IDEEN-MERITOKRATIE
Je mehr ich über Menschen recherchierte, desto klarer wurde mir, dass es unterschiedliche Arten von ihnen gibt und dass dieselben Arten von Menschen unter denselben Umständen im Großen und Ganzen dieselben Arten von Ergebnissen produzieren werden. Oder anders ausgedrückt: Wenn man weiß, wie jemand ist, erhält man eine relativ gute Vorstellung davon, was man von ihm erwarten kann. Darum war ich motivierter denn je, weiterhin reichlich Daten über die Eigenschaften von Mitarbeitern zu sammeln, um präzise Vorstellungen von ihnen zu bekommen, die uns dabei helfen sollten, sie mit den richtigen Verantwortlichkeiten zu betrauen. Diese evidenzbasierte Vorgehensweise sollte den auf der Ideen-Meritokratie basierenden Prozess ergänzen, Verantwortung auf der Grundlage von Verdiensten zu übertragen.
Mir kam das alles vollkommen klar und einleuchtend vor, doch die praktische Umsetzung erwies sich als weitaus schwieriger. Ungefähr ein Jahr nach Beginn meiner Übergangszeit bemerkte ich, dass viele neue Manager (und manche ältere) immer noch nicht die Verhaltensmuster von Mitarbeitern im Lauf der Zeit erkannten (also die Verbindung zwischen ihren Eigenschaften und den von ihnen produzierten Ergebnissen). Ihr Zögern, wenn es darum ging, Menschen nachdrücklich auf den Zahn zu fühlen, um herauszufinden, wie sie wirklich sind, erschwerte die Sache.
Dann aber hatte ich die zündende Idee, und zwar aus der Beobachtung, dass die Herausforderungen, auf die wir bei unseren Managemententscheidungen stießen, bei unseren Anlageentscheidungen keine Rolle spielten. Mir wurde klar, dass unsere Computer mithilfe von Big-Data-Analytik und anderen Algorithmen die Zusammenhänge viel effizienter erkennen konnten als irgendjemand von uns Menschen, genau wie die Computer uns halfen, Zusammenhänge an den Märkten zu erkennen. Weil es für diese Systeme keine persönlichen Verzerrungen und emotionalen Barrieren gab, die sie zu überwinden hatten, konnten sich die von ihnen analysierten Menschen von den datenbasierten Schlussfolgerungen des Computers nicht beleidigt fühlen. Tatsächlich könnten sie sich die Daten und Algorithmen ansehen, sie selbst bewerten und Änderungen vorschlagen, wenn sie wollten. Wir
waren wie Wissenschaftler, die versuchen, Tests und Algorithmen für objektive Analysen über uns selbst zu entwickeln.
Am 10. November 2012 teilte ich meine Überlegungen in einer E-Mail mit dem Management Committee. Unter der Betreffzeile »Der Ausweg: Gutes Management systematisieren« schrieb ich:
Inzwischen ist mir klar, dass der Hauptgrund dafür, dass sich der Bereich Anlagemanagement bei Bridgewater weiterhin gut entwickeln dürfte und die meisten anderen Teile von Bridgewater wahrscheinlich weniger gut (wenn wir unsere Arbeitsweise nicht verändern), darin liegt, dass die Prozesse zur Entscheidungsfindung im Anlagemanagement so sehr systematisiert wurden, dass Menschen hier kaum noch etwas falsch machen können (weil sie weitgehend den Instruktionen des Systems folgen). Die anderen Bereiche von Bridgewater dagegen sind deutlich stärker abhängig von der Qualität ihrer Mitarbeiter und deren Entscheidungsfindung.
Denkt darüber nach. Stellt euch vor, wie der Prozess der Anlageentscheidungsfindung bei Bridgewater funktionieren würde, wenn er auf dieselbe Weise angelegt wäre wie die Entscheidungsfindung im Management (also abhängig von den Menschen, die wir eingestellt haben, und der individuellen Art und Weise, wie sie im Kollektiv Entscheidungen treffen). Es wäre ein Durcheinander.
Der Prozess der Entscheidungsfindung im Geldanlagebereich funktioniert so, dass eine kleine Gruppe von Anlagemanagern, die diese Systeme entwickelt haben, die Schlussfolgerungen und die Überlegungen unserer Systeme sehen, während wir gleichzeitig unsere eigenen Schlüsse ziehen und uns mit unseren eigenen Überlegungen beschäftigen. (…) Die Maschine erledigt den größten Teil der Arbeit, und wir interagieren mit ihr auf eine hochwertige Weise. (…) Und wir sind dabei nicht auf weitaus stärker fehleranfällige Menschen angewiesen.
Denkt darüber nach, wie anders es in unserem Management aussieht. Wir haben dort zwar Prinzipien, aber keine Systeme zur Entscheidungsfindung.
Mit anderen Worten: Ich glaube, dass der Prozess zur Anlageentscheidungsfindung effektiv ist, weil die Anlageprinzipien in Entscheidungsregeln festgehalten wurden; diese treffen Entscheidungen, und die Menschen folgen ihnen. Der Prozess zur Managemententscheidungsfindung dagegen ist weniger effektiv, weil die Managementprinzipien nicht in Entscheidungsregeln festgehalten sind, denen wir bei Managemententscheidungen folgen könnten.
So muss es nicht bleiben. Nachdem ich (mit der Hilfe von anderen) die Anlagesysteme aufgebaut habe und mich sowohl mit Anlageentscheidungen als auch mit Managemententscheidungen auskenne, bin ich zuversichtlich, dass beides gleich sein kann. Die einzige Frage ist, ob sich das schnell genug umsetzen lässt und was in der Zwischenzeit geschehen wird.
Ich arbeite mit Greg (und anderen) daran, diese Managementsysteme auf dieselbe Weise zu entwickeln, wie ich mit Greg und anderen (Bob etc.) an den Anlagesystemen gearbeitet habe. Erkennen könnt ihr das an der Entwicklung der Baseballkarten, von Dot Collector, Pain Button, Tests, Job-Spezifikationen und mehr. Weil mir nur begrenzte Zeit dafür zur Verfügung steht, müssen wir schnell handeln. Gleichzeitig werden wir die Kämpfe im Schützengraben kämpfen und im Kampf Mann gegen Mann diejenigen aussieben müssen, die ihrer Aufgabe nicht gewachsen sind, und diejenigen zu uns holen oder befördern, die exzellent sind.
Eine der wunderbaren Eigenschaften algorithmischer Entscheidungsfindung ist, dass sie Menschen auf Ursache-Wirkungs-Beziehungen fokussiert und auf diese Weise dabei hilft, eine echte Ideen-Meritokratie zu fördern. Wenn jeder sehen kann, welche Kriterien die Algorithmen verwenden, und wenn jeder zu ihrer Entwicklung beiträgt, können sich alle einig darüber sein, dass das System fair ist, und darauf vertrauen, dass der Computer die Fakten analysiert, die richtigen Einschätzungen über Menschen trifft und ihnen die richtigen Verantwortlichkeiten zuweist. Die Algorithmen sind im Grunde Prinzipien, die kontinuierlich in Aktion sind.
Bis unser Managementsystem so gut automatisiert ist wie unser Anlagesystem, muss zwar noch viel passieren. Doch die Werkzeuge, die das System möglich gemacht hat, insbesondere der »Dot Collector« (eine App, die in Echtzeit Informationen über Menschen sammelt, detailliert beschrieben in den Prinzipien für die Arbeit
), haben bereits einen unglaublichen Unterschied in der Art und Weise gemacht, wie wir arbeiten.
All diese Werkzeuge verstärken gute Angewohnheiten und gutes Denken. Die guten Angewohnheiten entstehen dadurch, dass man wiederholt auf eine prinzipiengeleitete Weise nachdenkt, ähnlich wie man eine Sprache lernt. Das gute Denken entsteht dadurch, dass man sich mit den Überlegungen hinter den Prinzipien beschäftigt.
Letztlich bestand das Ziel darin, den Menschen, die mir am Herzen lagen, dabei zu helfen, ohne mich Erfolg zu haben, was immer dringlicher wurde, denn die Meilensteine des Lebens erinnerten mich immer wieder daran, in welcher Lebensphase ich mich befand. Zum Beispiel wurde ich am 31. Mai 2013 mit der Geburt meines Enkelkindes Christopher Dalio Großvater. Und im Sommer 2013 machte ich mir ernsthafte Sorgen um meine Gesundheit, die sich zwar als falscher Alarm herausstellten, mich aber an meine Sterblichkeit erinnerten. Gleichzeitig war ich noch immer liebend gern an den Märkten aktiv. Weil ich das bis an mein Lebensende machen möchte, war ich noch begieriger darauf, den Übergang von der zweiten in die dritte Phase meines Lebens zu beschleunigen.
IN ERWARTUNG DER EUROPÄISCHEN SCHULDENKRISE
Vom Jahr 2010 an begannen meine Bridgewater-Kollegen und ich, die Entstehung einer Schuldenkrise in Europa zu beobachten. Für eine Reihe von Ländern hatten wir uns angesehen, wie viele Anleihen sie verkaufen mussten und wie viele gekauft werden konnten, und waren zu dem Schluss gekommen, dass bei vielen südeuropäischen Staaten das Ergebnis wahrscheinlich ungenügend ausfiele. Die daraus resultierende Krise konnte so gravierend werden wie die in den Jahren 2008 und 2009, vielleicht sogar noch
schlimmer.
Wie 1980 und 2008 wiesen unsere Berechnungen zwar deutlich auf eine kommende Schuldenkrise hin, doch ich wusste, dass ich mich täuschen konnte. Weil es eine große Sache gewesen wäre, wenn ich richtiglag, wollte ich über das, was ich erwartete, mit wichtigen politischen Entscheidungsträgern sprechen. Einerseits wollte ich sie warnen, andererseits sollten sie meine Einschätzung korrigieren, falls sie die Lage anders sähen. Ich stieß auf denselben Widerstand wie in Washington im Jahr 2008, nur dieses Mal in Europa. Zu der Zeit war die Situation noch stabil, und obwohl ich wusste, dass es keinen Grund zu der Annahme gab, dass sie es auch bleiben würde, waren die meisten Leute, mit denen ich mich unterhielt, nicht bereit, meinen Überlegungen Gehör zu schenken. Ich erinnere mich noch an ein Treffen mit dem Direktor des Internationalen Währungsfonds, als noch Ruhe vor dem Sturm herrschte. Er zweifelte meine scheinbar verrückten Schlussfolgerungen an und war nicht daran interessiert, die Zahlen durchzugehen.
Wie die US-Politik vor dem Jahr 2008 hatten die Europäer keine Angst vor etwas, das sie noch nie erlebt hatten. Weil die Dinge zu der Zeit gut liefen und das von mir gezeichnete Bild schlimmer war als alles, was sie in ihrem Leben bisher mitgekriegt hatten, hielten sie meine Aussagen für nicht plausibel. Außerdem verfügten sie nicht über detailliertes Wissen darüber, wer die Schuldner und wer die Gläubiger waren und wie deren Fähigkeit zur Aufnahme und Vergabe von Krediten sich mit veränderten Marktbedingungen ebenfalls verändern würde. Ihr Verständnis von der Funktionsweise von Märkten und Volkswirtschaften war übermäßig vereinfacht, wie das von Akademikern. Zum Beispiel betrachteten sie Anleger als einheitliches Gebilde, das sie als »den Markt« bezeichneten, statt als Zusammentreffen unterschiedlicher Akteure, die aus unterschiedlichen Gründen kaufen und verkaufen. Wenn die Märkte sich schlecht entwickelten, wollten sie Maßnahmen zur Stärkung des Vertrauens ergreifen, in der Hoffnung, dass das Geld schon fließen und die Probleme verschwinden würden, wenn sie für bessere Stimmung sorgen. Was sie nicht erkannten: Ob bestimmte Käufer optimistisch waren oder nicht, spielte keine Rolle, wenn sie nicht
über genügend Geld und Kredit verfügten, um all die Anleihen zu kaufen, die am Markt untergebracht werden mussten.
So wie jeder menschliche Körper im Wesentlichen gleich funktioniert, so ähneln sich auch die volkswirtschaftlichen Maschinen unterschiedlicher Länder. Und so wie Menschen egal welcher Nationalität von Erkrankungen betroffen sein können, kann das auch bei wirtschaftlichen Erkrankungen passieren. Meine Gesprächspartner aus der Politik waren zunächst skeptisch, also begann ich meine Gespräche mit ihnen, indem ich die Physiologie des vorliegenden Falls betrachtete. Ich diagnostizierte die wirtschaftliche Erkrankung, unter der ihre Länder litten, und zeigte ihnen den Symptomverlauf, indem ich auf frühere analoge Fälle verwies. Dann erklärte ich die besten Praktiken für die Behandlung der Erkrankung in ihren unterschiedlichen Stadien. Es folgten hochwertige Diskussionen über diese Zusammenhänge und die Indizien dazu.
Doch selbst wenn es mir gelang, meinen Gesprächspartnern dabei zu helfen, die Verbindungen zu erkennen, mussten sie in dysfunktionalen politischen Entscheidungssystemen agieren. Nicht nur hatten die Politiker über Maßnahmen in ihren jeweiligen Ländern zu entscheiden, die Mitgliedstaaten der Europäischen Union mussten sich obendrein untereinander einig werden, bevor sie agieren konnten – in vielen Fällen einstimmig. Oft gab es keine klar definierten Methoden zur Beilegung von Meinungsverschiedenheiten, was ein großes Problem darstellte, weil das, was getan werden musste (Geld drucken), von deutschen Wirtschaftskonservativen abgelehnt wurde. Als Folge davon verschlimmerten sich Krisen immer mehr bis hin zum Zusammenbruch, während die europäische Führung in langen Treffen hinter verschlossenen Türen miteinander rang. Diese Machtkämpfe waren eine Belastung für die Nerven aller Beteiligten. Ich kann gar nicht vermitteln, wie viel schlechtes Benehmen die politischen Entscheider aushalten mussten im Namen des Wohls der Bürger, die sie vertraten.
Im Januar 2012 beispielsweise, ein paar Wochen nach seiner Ernennung zum spanischen Wirtschaftsminister durch den neu
gewählten Ministerpräsidenten Mariano Rajoy, traf ich Luis de Guindos, einen Mann, den ich schätzen gelernt hatte für seine Aufrichtigkeit, Intelligenz und heroische Bereitschaft, sich für das Wohlergehen seines Landes zu opfern. Die alte Regierung in Madrid war aus dem Amt geworfen worden, und die neue trat an, als die spanischen Banken vor dem Zusammenbruch standen. Sofort war die neue Regierung gezwungen, sich mit Vertretern von IWF, der Europäischen Union und der Europäischen Zentralbank (der sogenannten Troika) auseinanderzusetzen. Das Treffen dauerte bis in die frühen Morgenstunden, und am Ende musste die Regierung eine Kreditvereinbarung unterzeichnen, mit der sie die Kontrolle über ihr Bankensystem im Grunde an die Troika abgab, im Tausch gegen die so dringend benötigte Finanzhilfe.
Mein Treffen mit Minister de Guindos fand am Morgen nach den ersten und schwierigsten dieser Verhandlungen statt. Mit blutunterlaufenen Augen, aber hellwachem Geist beantwortete er geduldig und offen all meine schwierigen Fragen und teilte mit mir seine Überlegungen darüber, welche Reformen Spanien angehen sollte, um mit seinen Problemen zurechtzukommen. In den nächsten Jahren setzten er und seine Regierung diese Reformen gegen erheblichen Widerstand durch. Er bekam dafür nie das Lob, das er verdient hätte, aber das machte ihm nichts aus, denn seine Befriedigung verspürte er durch die erreichten Ergebnisse. Für mich ist so jemand ein Held.
Im Lauf der Zeit gerieten die europäischen Schuldnerländer tiefer in die Depression. Mario Draghi, der Präsident der Europäischen Zentralbank, traf daraufhin im September 2012 die mutige Entscheidung, Anleihen zu kaufen. Dadurch gelang es, die unmittelbar bevorstehende Schuldenkrise abzuwenden, den Euro zu retten und, wie sich herausstellte, viel Geld für die EZB zu verdienen. Jedoch reichte es nicht aus, um in den Depressionsländern unmittelbar das Kredit- und Wirtschaftswachstum in Gang zu bringen. Die Inflation, die laut dem Mandat der EZB ungefähr 2 Prozent betragen sollte, lag unter dem Ziel und gab weiter nach. Um das Problem zu lösen, hatte die EZB Banken zwar Kredite zu attraktiven Konditionen angeboten, doch die Institute nahmen
dieses Angebot nicht bereitwillig genug an, um etwas zu bewirken. Ich war der Meinung, dass die Lage immer schlechter werden würde, wenn die EZB nicht »Geld drucken« und es durch den Kauf von mehr Anleihen ins System bringen würde. Die Entscheidung für eine quantitative Lockerung erschien mir offensichtlich und notwendig, also besuchte ich Draghi und den Rat der EZB, um dort meine Befürchtungen vorzutragen.
Bei dem Treffen erklärte ich, warum ein solches Vorgehen nicht inflationär wirken würde (weil die Inflation nicht nur von der Menge an Geld bestimmt wird, sondern von den Ausgaben, also der Geldmenge plus dem Kreditvolumen). Bei meinen Ausführungen konzentrierte ich mich darauf, wie die wirtschaftliche Maschine funktioniert. Denn, so überlegte ich, wenn wir uns darüber – und vor allem darüber, wie der Kauf von Anleihen Geld durch das System bewegt – einig werden könnten, würden wir uns auch über die Auswirkungen auf Inflation und Wirtschaftswachstum verständigen können. Bei diesem und bei allen anderen derartigen Treffen informierte ich meine Gesprächspartner über unsere Berechnungen und die wichtigen Ursache-Wirkungs-Beziehungen, wie ich sie sah, damit wir zusammen bewerten konnten, ob die Schlussfolgerungen sinnvoll waren.
Ein großes Hindernis für die Umsetzung meiner Empfehlung war, dass es keinen einheitlichen Anleihenmarkt für die gesamte Eurozone gab und dass die EZB, wie die meisten Zentralbanken, keine einzelne Region und kein Land gegenüber anderen bevorzugen darf. Angesichts dieser Voraussetzung warb ich für meine Theorie, wie die EZB eine quantitative Lockerung vornehmen konnte, ohne gegen ihre Regeln zu verstoßen: Sie sollte in proportionalem Volumen Anleihen von jedem Mitgliedsland kaufen, auch wenn Deutschland die Lockerung, die diese Käufe bringen würde, gar nicht brauchte oder wollte (der deutschen Wirtschaft ging es relativ gut, und dort begannen bereits Inflationssorgen aufzukommen).
Im Verlauf dieser 18 Monate traf ich mehrere hochrangige europäische Wirtschaftspolitiker. Der wichtigste darunter war vielleicht der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble, den ich für außergewöhnlich überlegt und selbstlos hielt. Außerdem
erkannte ich, wie die Politik in Deutschland und Europa funktionierte.
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Wenn es hart auf hart kam, würde die EZB tun müssen, was am besten für Europa war, nämlich Geld drucken und Anleihen kaufen, wie ich es vorgeschlagen hatte. Das zu tun, war mit dem Mandat der EZB vereinbar, und die südeuropäischen Schuldnerländer hatten genügend Stimmen, um der Zentralbank die Möglichkeit dazu zu geben. Also ging ich davon aus, dass es die Deutschen sein würden, die überstimmt und vor die Entscheidung gestellt würden, die Eurozone zu verlassen, was sie letztlich nicht tun würden, weil ihre Führung sich fest auf die Eurozone mit Deutschland als einem Teil davon verpflichtet hatte.
Letztlich gab Draghi die Maßnahme im Januar 2015 bekannt. Sie hatte große Wirkung und schuf einen Präzedenzfall, der weitere quantitative Lockerungen zuließ, falls sie in Zukunft nötig würden. Die Reaktion des Marktes fiel sehr positiv aus. Am Tag der Ankündigung Draghis stiegen europäische Aktien um 1,5 Prozent, die Renditen von Staatsanleihen fielen in allen großen europäischen Volkswirtschaften, und der Euro verlor 2 Prozent gegenüber dem Dollar (was dazu beitrug, die Wirtschaft zu stimulieren). Diese Entwicklungen setzten sich in den Monaten darauf fort, gaben der europäischen Wirtschaft Anschub, unterstützten anziehendes Wachstum und kehrten den Rückgang der Inflation um.
Die Entscheidung der EZB war offensichtlich richtig gewesen, und das aus relativ einfachen Gründen. Doch ich sah, wie umstritten die Maßnahme war. So kam mir die Idee, dass die Welt eine einfache Erklärung der volkswirtschaftlichen Maschine und ihrer Abläufe brauchte. Denn wenn jeder die Grundlagen verstehen würde, könnten wirtschaftspolitische Entscheider in Zukunft deutlich schneller und mit deutlich weniger Angst das Richtige tun. Aus diesem Grund produzierte ich ein 30-minütiges Video mit dem Titel Wie die volkswirtschaftliche Maschine funktioniert
, das ich im Jahr 2013 veröffentlichte. Es erklärt die Funktionsweise einer Volkswirtschaft und bietet eine Vorlage, die Leuten dabei helfen soll, ihre Volkswirtschaften einzuschätzen, und die ihnen Hinweise dazu gibt, was während einer Krise zu tun und zu erwarten ist. Das Echo war viel größer, als ich erwartet hatte, und das Video wurde von
mehr fünf Millionen Menschen in acht Sprachen heruntergeladen. Eine Reihe von Politikern sagte mir unter vier Augen, dass sie es hilfreich fanden für ihr eigenes Verständnis, für den Umgang mit den Wählern und für das Finden von besseren Wegen in die Zukunft. Das war eine große Befriedigung für mich.
Durch meine Kontakte zu Politikern in einer Reihe von Ländern erfuhr ich ziemlich viel darüber, wie internationale Beziehungen wirklich funktionieren. Sie unterscheiden sich sehr von dem, was sich die meisten Leute darunter vorstellen. Länder verhalten sich eigennütziger und weniger rücksichtsvoll, als die meisten von uns bei Menschen für angemessen halten würden. Wenn Länder miteinander verhandeln, benehmen sie sich meist wie Gegner in einer Schachpartie oder wie Händler auf einem Basar, wo es einzig darum geht, den eigenen Vorteil zu maximieren. Kluge Regierungen kennen die Schwächen ihrer eigenen Länder, nutzen die von anderen aus und erwarten, dass andere Länder sich ebenso verhalten.
Die meisten Menschen, die keinen direkten Kontakt mit der Regierung ihres eigenen Landes und von anderen Ländern hatten, bilden ihre Meinung auf der Grundlage von dem, was sie über die Medien erfahren. Als Folge davon sind sie relativ naiv und von ihrer Meinung unangemessen überzeugt. Der Grund dafür ist, dass dramatische Geschichten und Klatsch mehr Leser und Zuschauer anziehen als klinische Objektivität. Außerdem haben »Journalisten« in manchen Fällen ihre eigenen ideologischen Voreingenommenheiten, die sie verbreiten wollen. Dadurch neigen die meisten Menschen dazu, wenn sie die Welt durch die Brille der Medien betrachten, darauf zu achten, wer gut ist und wer böse, statt darauf, wie die versteckten Interessen und die Machtverhältnisse aussehen und was passiert, wenn sie aufeinandertreffen. Zum Beispiel mögen die Leute Geschichten darüber, warum ihr eigenes Land gut ist und ein anderes nicht, obwohl beide Länder in den meisten Fällen schlicht unterschiedliche Interessen verfolgen, die sie jeweils zu maximieren versuchen. Das beste Verhalten, auf das man hoffen kann, ist das von Führungspersönlichkeiten, denen die Vorteile von Kooperation bewusst sind und die einen ausreichend langen Zeithorizont haben, um sehen zu können, dass die Geschenke,
die sie dieses Jahr machen, ihnen in Zukunft Vorteile bringen können.
Diese Konflikte zwischen versteckten Interessen werden nicht nur international ausgetragen – auch innerhalb von Ländern kann es hässlich zugehen. Nur selten wird versucht, die Wahrheit herauszufinden und das zu tun, was im besten Interesse von allen ist, auch wenn die meisten Politiker vorgeben, genau das zu tun. Verbreitet ist eher, dass sie im Sinne der Interessen ihrer Wählergruppen agieren. Zum Beispiel erklären Vertreter von Wählern mit eher hohem Einkommen, dass höhere Steuern das Wachstum behindern, während Vertreter von Wählern mit weniger hohem Einkommen das Gegenteil behaupten. Es ist schon schwierig, alle dazu zu bewegen, wenigstens zu versuchen, sich objektiv das Gesamtbild anzusehen; noch schwieriger ist es, alle dazu zu bewegen, im Interesse des Ganzen zu handeln.
Trotzdem habe ich gelernt, die meisten politischen Entscheidungsträger zu respektieren, mit denen ich zusammengearbeitet habe, und sie für die schreckliche Lage, in der sie sich befinden, zu bemitleiden. Die meisten von ihnen sind höchst prinzipientreue Menschen, die gezwungen sind, in prinzipienlosen Umfeldern zu agieren. Der Job eines Politikers ist selbst unter den besten Umständen anspruchsvoll, und während einer Krise ist er fast unmöglich. Die politische Lage ist dann schon schrecklich genug, und Verzerrungen und echte Falschdarstellungen in den Medien machen alles noch schlimmer. Eine Reihe der Politiker, die ich kennengelernt habe, waren echte Helden – Draghi, de Guindos, Schäuble, Bernanke, Geithner, Summers und viele andere. Sie stellten andere und die Mission, zu der sie sich verpflichtet hatten, über sich selbst. Leider aber beginnen die meisten Politiker ihre Karriere als Idealisten und beenden sie desillusioniert.
Einer der Helden, von dem ich das Glück hatte, lernen zu dürfen, und dem ich, so hoffe ich jedenfalls, helfen konnte, ist Wang Qishan aus China, der seit Jahrzehnten bemerkenswert viel Gutes bewirkt. Zu erklären, wie er ist und was ihn bis an die Spitze der chinesischen Führung gebracht hat, würde zu viel Platz in diesem Buch benötigen. In aller Kürze: Wang ist Historiker, Denker auf sehr hohem Niveau
und extrem praxisorientiert. Ich habe kaum je einen Menschen getroffen, der so extrem klug und gleichzeitig so extrem pragmatisch ist. Als führender Gestalter der chinesischen Volkswirtschaft über Jahrzehnte, der auch für die Bekämpfung von Korruption verantwortlich ist, kennt man ihn als einen Mann, mit dem nicht zu spaßen ist, und bei dem man darauf vertrauen kann, dass er Dinge erledigt bekommt.
Jedes Mal, wenn ich in China bin, treffen wir uns für eine bis anderthalb Stunden. Wir sprechen darüber, was in der Welt passiert und was das mit tausend Jahren Geschichte und der immer gleichen Natur der Menschheit zu tun hat. Wir diskutieren auch über eine große Bandbreite an anderen Themen, von Physik bis zu künstlicher Intelligenz. Wir sind beide überaus interessiert daran, wie fast alles immer und immer wieder passiert, an den Kräften hinter solchen Mustern und an den Prinzipien, die für den Umgang damit funktionieren und nicht funktionieren.
Ich habe Wang ein Exemplar des großartigen Buches Der Heros in tausend Gestalten (The Hero with a Thousand Faces)
von Joseph Campbell geschenkt, weil er ein klassischer Held ist und weil ich dachte, es könnte ihm helfen. Ich habe ihm auch Die Lehren der Geschichte (The Lessons of History)
geschenkt, eine Zusammenstellung der wichtigsten Kräfte in der Geschichte von Will und Ariel Durant, und Und es entsprang ein Fluß in Eden (River Out of Eden)
, in dem Richard Dawkins kenntnisreich die Evolution erklärt. All diese Bücher zeigen, wie die gesamte Geschichte hindurch immer wieder dieselben Dinge passieren.
Die meisten meiner Gespräche mit Wang finden auf der Ebene von Prinzipien statt. Er sieht den Rhythmus der Geschichte und stellt die konkreten Angelegenheiten, die wir besprechen, in diesem Kontext. »Unerreichbare Ziele sprechen Helden an«, sagte er einmal zu mir. »Fähige Menschen sind diejenigen, die dasitzen und sich Sorgen über die Zukunft machen. Die Dummen sind diejenigen, die sich über nichts Sorgen machen. Wenn Konflikte gelöst würden, bevor sie akut werden, würde es keine Helden geben.« Seine Ratschläge haben mir bei meiner Planung der Zukunft von Bridgewater geholfen. Als ich ihn zum Beispiel auf ein System für Kontrollen und Gegengewichte
für mächtige Positionen ansprach, verwies er auf Julius Caesars Alleinherrschaft zu Ende der römischen Republik als ein Beispiel dafür, wie wichtig es ist, dafür zu sorgen, dass keine Einzelperson mächtiger ist als das System. Als ich mich daran machte, das Governance-Modell von Bridgewater zu verbessern, nahm ich mir diesen Ratschlag zu Herzen.
Jedes Mal, wenn ich mit Wang spreche, habe ich das Gefühl, dem Knacken des alles übergreifenden Codes näher zu kommen, der die Gesetze des Universums freigibt. Wang nutzt seine zeitlose Perspektive, um die Gegenwart und die wahrscheinliche Zukunft klarer zu sehen.
In der Nähe solcher Menschen zu sein, vor allem wenn ich ihnen helfen kann, ist aufregend für mich.
DEN SEGEN WEITERGEBEN
Der Heros in tausend Gestalten
von Joseph Campbell habe ich nicht nur Wang geschenkt, sondern auch einigen anderen Helden, die ich kenne. Ich selbst war über meinen Sohn Paul im Jahr 2014 auf das Buch gestoßen. Fast 30 Jahre zuvor hatte ich Campbell im Fernsehen gesehen und erinnerte mich noch, dass ich von ihm beeindruckt war. Das Buch hatte ich aber noch nicht gelesen. Campbell beschäftigt sich darin mit einer großen Zahl von »Helden« aus unterschiedlichen Kulturen – manche real und manche mythologisch – und beschreibt ihre archetypischen Wege durch das Leben. Seine Schilderungen darüber, wie Helden zu Helden werden, passten gut zu meinen Überlegungen über Gestalter. Und sie haben mir mächtige Erkenntnisse über die Helden, die ich kenne, und die Muster meines eigenen Lebens gebracht.
Für Campbell muss ein »Held« kein perfekter Mensch sein, der immer alles richtig macht. Ganz und gar nicht. Ein Held ist jemand, der »etwas gefunden oder erreicht oder getan hat, das über das normale Spektrum von Leistungen hinausgeht«, und der »sein Leben etwas größerem oder anderem als sich selbst gewidmet hat«. Im Verlauf meines Lebens hatte ich eine Reihe solcher Menschen kennengelernt. Am interessantesten an Campbells Arbeit war seine
Beschreibung, wie solche Menschen das wurden, was sie waren. Helden werden nicht als Helden geboren – sie werden dazu durch die Art und Weise, wie eines zum anderen führt. Die Abbildung auf Seite 130 zeigt den Weg seines archetypischen Helden.
Meistens lebt der Held zu Beginn ein normales Leben in einer normalen Welt, worauf dann ein »Ruf zum Abenteuer« folgt. Dieser führt Helden auf einen »Weg der Prüfungen« voller Kämpfe, Verführungen, Erfolge und Misserfolge. Unterwegs wird ihnen von anderen geholfen, oft von Menschen, die auf ihrem eigenen Weg schon weiter vorangekommen sind und zu Mentoren wurden; aber auch Personen, die wesentlich weniger weit fortgeschritten sind, können auf vielerlei Weise hilfreich sein. Außerdem finden die Helden Verbündete und Feinde und lernen zu kämpfen, oft gegen Konventionen. Unterwegs werden sie mit Verführungen konfrontiert und erleben Auseinandersetzungen und Versöhnungen mit ihren Vätern und Söhnen. Durch ihre große Entschlossenheit, zu erreichen, was sie wollen, überwinden sie ihre Angst vor dem Kämpfen und gewinnen dann ihre »Superkräfte« (also Fähigkeiten) – sowohl durch Kämpfe, in denen sie herausgefordert werden und lernen, als auch durch Geschenke (wie etwa Ratschläge), die sie von anderen erhalten. Im Lauf der Zeit haben sie Erfolge wie Misserfolge, aber der Anteil der Erfolge nimmt allmählich zu, weil die Helden stärker werden und immer weiter nach mehr streben, was zu immer größeren und schwierigeren Auseinandersetzungen führt.
Jeder Held erlebt unweigerlich mindestens einen sehr großen Misserfolg (Campbell spricht hier von einem »Abgrund« oder einer »Bauch des Walfisches«-Erfahrung), bei dem sich herausstellt, ob er genügend Widerstandsfähigkeit hat, um zurückzukommen und intelligenter und mit mehr Entschlossenheit weiterzukämpfen. Wenn er das schafft, durchläuft der Held eine Veränderung (eine »Verwandlung«), in der er die Angst erlebt, die ihn schützt, ohne die Aggressivität zu verlieren, die ihn antreibt. Mit den Siegen kommen die Belohnungen. Wenn sie mitten im Kampf stehen, bemerken Helden es noch nicht, doch die größte Belohnung für sie ist das, was Campbell als die »Segnung« bezeichnet: besonderes Wissen darüber, wie man Erfolg hat, das der Held auf dem langen Weg dorthin
gesammelt hat.
Schema der Heldenreise aus Joseph Campbells Buch The Hero with a Thousand Faces
(New World Publishing), Copyright © 2008 Joseph Campbell Foundation (jcf.org), benutzt mit freundlicher Genehmigung.
Später in ihrem Leben wird es für Helden üblicherweise weniger spannend, weitere Kämpfe zu gewinnen und weitere Belohnungen zu sammeln, als ihr Wissen – »den Segen«, wie es Campbell nennt – an andere weiterzugeben. Wenn er das getan hat, kann der Held befreit leben und dann sterben, oder wie ich es sehe, von der zweiten Phase seines Lebens in die dritte übergehen (in der man die Freiheit hat,
das Leben zu genießen, bis man stirbt).
Bei der Lektüre von Campbells Buch wurde mir klar, dass es Helden, ebenso wie Gestalter, in unterschiedlichen Größen gibt, große wie kleine, dass sie echte Menschen sind und dass wir alle einiges von ihnen kennen. Ebenfalls erkannte ich, dass das Dasein als Held keineswegs nur angenehm ist: Sie beziehen viel Prügel, und viele werden angegriffen, gedemütigt oder sogar getötet, selbst nachdem sie triumphiert haben. Tatsächlich ist es schwierig, die Logik hinter der Entscheidung für eine Heldenrolle zu verstehen, wenn man sie denn frei wählen würde. Aber ich konnte sehen und nachempfinden, wie ein bestimmter Typ Mensch dazu kommt, diesen Weg zu beginnen und dann fortzusetzen.
Campbells Beschreibung der Heldenreise erfasste den Kern meines eigenen Wegs durch das Leben und die Wege vieler Menschen, die ich für Gestalter halte. Für mich selbst würde ich aber nicht das Wort »Held« verwenden, und mit Sicherheit würde ich meine Leistungen nicht auf dem Niveau der Helden ansiedeln, über die Campbell geschrieben hat.
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Doch über die Heldenreise zu lesen, hat mir dabei geholfen, herauszufinden, wo ich auf meinem eigenen Weg stand und was ich als Nächstes tun sollte. Der Abschnitt über das Weitergeben des Segens hat mich ganz persönlich angesprochen, so als wüsste Campbell genau, mit was ich zu kämpfen hatte. Durch die dadurch ausgelösten Überlegungen konnte ich sehen, dass mein Leben in relativ kurzer Zeit vorbei sein würde und dass das, was ich hinterlassen würde, wichtiger, dauerhafter und für viel mehr Menschen von Bedeutung sein konnte als nur bei Bridgewater und in meiner Familie. Dadurch wurde mir klar, dass ich die Dinge weitergeben musste, die ich hatte und die anderen jenseits von mir helfen konnten. Das Wichtigste davon sind die Prinzipien in diesem Buch, aber es ging auch um mein Geld.
»Das letzte Hemd hat keine Taschen«, heißt es. Also musste ich anfangen, darüber nachzudenken, wer wie viel von meinem Geld bekommen sollte. Das lag nicht nur an meinem Alter und daran, dass die Vorbereitungen dafür eine Weile dauern würden: Es beruhte auch auf einem Instinkt. Mit der Zeit war der Kreis der Personen und Dinge, die mir am Herzen liegen, größer geworden. Als ich jung war,
umfasste er nur mich allein; als ich Vater wurde, zählten meine Familie und ich selbst dazu, und als ich reifer wurde, auch mein Umfeld. Heute umfasst er auch Menschen außerhalb meines Umfelds und die gesamte Umwelt.
FRAGEN DER PHILANTHROPIE
Erstmals mit »Philanthropie«
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in Kontakt kam ich Ende der 1990er-Jahre, als ich auf die 50 zuging. Damals war Matt 16 Jahre alt, sprach Mandarin und besuchte ein chinesisches Waisenhaus, um jemandem zu helfen; dort erfuhr er, dass eine Operation für 500 Dollar einige Leben retten oder grundsätzlich verbessern konnte. Wir und unsere Freunde gaben ihm Geld dafür. Dann erklärte mein Freund Paul Tudor Jones meinem Sohn, wie man in den USA eine Stiftung nach Paragraph 501(c)(3) einrichtet, und im Jahr 2000 gründete Matt die China Care Foundation. Er nahm unsere Familie mit in Waisenhäuser, also hatten wir engen Kontakt zu diesen Kindern mit besonderem Betreuungsbedarf und verliebten uns in sie. Außerdem beobachteten wir, wie Matt mit der Entscheidung rang, welche Kinder leben sollten und welche sterben mussten, denn es war nicht genügend Geld vorhanden, damit sie alle operiert werden konnten. Stellen Sie sich vor, Sie müssten wählen, entweder luxuriös auszugehen oder das Leben eines Kindes zu retten: Das war im Grunde die Entscheidung, vor der wir ständig standen. Diese Erfahrung führte dazu, dass wir uns stärker mit Philanthropie beschäftigten, also etablierten wir im Jahr 2003 unsere eigene Stiftung, die auf stärker organisierte Weise helfen sollte. Wir wollten unsere philanthropische Tätigkeit zusammen angehen, als Familienaktivität, was sich als fantastisch herausstellte.
Herauszufinden, wie man am besten und sinnvollsten Geld spendet, ist eine nicht weniger komplexe Angelegenheit, als es erst einmal zu verdienen. Zwar wissen wir inzwischen deutlich mehr darüber als ganz am Anfang, aber trotzdem fühlen wir uns weiterhin nicht immer in der Lage, die bestmöglichen Entscheidungen zu treffen. Also handeln meine Familie und ich immer noch sehr stark nach unserem Bauchgefühl. Ich möchte Ihnen ein paar Beispiele für
Fragen nennen, mit denen wir uns geplagt haben, und wie sich unser Umgang damit verändert hat. Beginnen wir mit der Frage, wie viel Geld für meine Familie gespart werden sollte im Verhältnis zu der Summe, die für weiter entfernte Menschen und Anliegen vorgesehen wird, bei denen aber viel verzweifelterer Bedarf besteht.
Lange bevor ich viel Geld besaß, hatte ich beschlossen, dass meine Söhne nur so viel davon erhalten sollten, um sich eine exzellente Gesundheitsversorgung und Ausbildung leisten zu können und eine Anschubhilfe für den Beginn ihrer Karriere zu haben. Mein Blick auf dieses Thema wurde von meinem eigenen Lebensweg beeinflusst, der mich von »nichts haben« zu »sehr viel haben« führte. Dadurch habe ich gelernt, richtig zu kämpfen, und es hat mich stark gemacht. Dasselbe wollte ich für die Menschen, die ich liebe. Als ich also sehr viel Geld verdient hatte, hatte ich das Gefühl, dass ich reichlich davon anderen geben konnte.
Mit der Zeit sammelten wir Erfahrungen bei unseren Versuchen, auf verschiedenen Gebieten zu helfen. Ich lernte, wie schnell Geld weg ist und dass wir nicht einmal annähernd genug davon hatten, um uns um alles zu kümmern, das uns am Herzen lag. Als mein erstes Enkelkind geboren wurde, fragte ich mich zudem, auf wie viele Generationen ich mein Vorsorgebudget auslegen sollte. Ich sprach mit anderen Leuten in einer ähnlichen Lage und stellte fest, dass selbst die reichsten Menschen das Gefühl haben, nicht über genügend Geld zu verfügen, um all die Dinge zu tun, die sie tun wollen. Also untersuchte ich, wie andere Familien mit der Frage umgehen, wie viel sie für sich selbst behalten und wie viel sie in welchem Tempo spenden. Zwar hat unsere Familie immer noch keine definitiven Antworten gefunden, aber ich weiß, dass ich persönlich mehr als die Hälfte meines Vermögens an Menschen außerhalb meiner Familie spenden werde.
Eine weitere grundlegende Frage war, für welche Anliegen wir spenden sollten. Die größte Leidenschaft von Barbara ist, Schülern in den schwierigsten Bezirken von Connecticut zu helfen, vor allem solchen, die als »demotiviert und abgehängt« bezeichnet werden.
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Eine von ihr finanzierte Studie hat gezeigt, dass 22 Prozent der Highschool-Schüler in eine dieser beiden Kategorien fallen, was
erschreckend ist, denn die meisten dieser Schüler werden als Erwachsene wahrscheinlich Not leiden und eine Last für die Gesellschaft sein, statt einen Beitrag zu ihr zu leisten. Weil Barbara viel direkten Kontakt mit diesen Jugendlichen und ihren Lehrern hat, versteht sie ihre Bedürfnisse. Als sie erfuhr, dass 10 000 dieser Schüler keine Winterjacken besaßen, fühlte sie sich dazu berufen, das zu ändern. Was sie mir zeigte, hat mir die Augen geöffnet. Wie kann es im »Land der unbegrenzten Möglichkeiten« einen so gravierenden Mangel an Kleidung und Nahrung geben? Jeder in unserer Familie glaubt daran, dass Chancengleichheit als eines der grundlegendsten Menschenrechte gleiche Bildungschancen erfordert – dass die Bildungschancen in der Praxis aber schrecklich ungleich verteilt sind. Die wirtschaftlichen Kosten – in Form von Verbrechen und Gefängnisaufenthalten – sowie die gesellschaftlichen Kosten, wenn man darauf verzichtet, in die Verbesserung dieser Bedingungen zu investieren, sind immens. Zwar fühlten wir uns verpflichtet, zu helfen, haben dabei aber festgestellt, dass es angesichts des Ausmaßes des Problems sehr schwierig ist, bedeutende Fortschritte zu erzielen.
Ich fühle mich eng mit der Natur verbunden, vor allem mit den Meeren. Die Meere sind der größte Vermögenswert der Erde, denn sie machen 72 Prozent ihrer Oberfläche und 99 Prozent des gesamten bewohnbaren Raums aus. Ich finde es aufregend, Wissenschaftler zu unterstützen, die unsere Meere erforschen, ebenso wie Medien, die sie in diesen unglaublichen Umgebungen zeigen. Ich bin auf einer Mission, die vermitteln soll, dass Meeresforschung noch wichtiger und spannender ist als Weltraumforschung, damit unsere Meere mehr Unterstützung bekommen und vernünftiger verwaltet werden. Noch erfreulicher ist, dass mein Sohn Mark Tierfilmer ist und meine Leidenschaft teilt, sodass wir sie zusammen verfolgen können.
Matts Leidenschaft wiederum ist, günstige und gut funktionierende Computertechnik in Entwicklungsländer zu bringen, um damit Bildung und Gesundheitswesen zu unterstützen und zu verbessern. Pauls Leidenschaft liegt in mentaler Gesundheit und die seiner Frau im Kampf gegen den Klimawandel. Devon konzentriert
sich derzeit stärker auf seine Karriere als auf Philanthropie, aber seine Frau setzt sich sehr für das Wohl von Tieren ein. Nach wie vor unterstützt unsere Familie besonders betreuungsbedürftige Kinder in China sowie ein Institut, in dem chinesische Philanthropen Best Practices erlernen können. Außerdem unterstützen wir Meditationskurse für Kinder in belasteten Umgebungen und für Kriegsveteranen mit posttraumatischen Belastungsstörungen, neueste Herzforschung, Mikrofinanzierungen und andere soziale Unternehmen sowie noch vieles mehr.
Wir verstehen unsere Spenden als Investitionen und wollen sicherstellen, dass wir hohe philanthropische Renditen erzielen. Eine weitere schwierige Frage für uns ist deshalb, wie wir diese Renditen messen können. In einem Unternehmen lässt sich die Effizienz deutlich leichter erfassen, indem man prüft, um wie viel die Umsätze die Kosten übersteigen. Aus diesem Grund haben wir eine Vorliebe für nachhaltige Sozialunternehmen entwickelt. Trotzdem habe ich bei sehr vielen philanthropischen Investitionen gesehen, dass sie sich ökonomisch wie gesellschaftlich gesehen ausgezahlt haben, und es quält mich, dass unsere Gesellschaft auf so viele davon verzichtet.
Außerdem haben wir mit der Frage gerungen, wie groß unsere wohltätige Organisation sein sollte und welche Governance-Kontrollen wir vorsehen sollten, um die Qualität unserer philanthropischen Entscheidungsfindung sicherzustellen. Ich bin diese Entscheidungen auf die gleiche Weise angegangen, wie ich es in Prinzipien für die Arbeit
erkläre – indem ich formale Prinzipien und Richtlinien für unsere Entscheidungen definiert habe. Zum Beispiel werden wir mit mehr Bitten um Zuwendungen bombardiert, als wir vernünftigerweise prüfen können. Also habe ich vorgegeben, dass wir uns nicht mit unerbetenen Vorschlägen beschäftigen, damit unsere Mitarbeiter genügend Zeit haben, um sich um die Bereiche zu kümmern, auf die wir uns konzentrieren wollen. Wir entwickeln alle unsere Prinzipien und Richtlinien kontinuierlich weiter, und ich träume davon, Entscheidungsalgorithmen für unsere philanthropische Arbeit zu entwickeln, auch wenn das zurzeit jenseits meiner Möglichkeiten liegt.
Wie Sie sich vielleicht schon gedacht haben, lassen wir uns zudem
von möglichst erfahrenen und angesehenen Personen beraten. Sehr aufschlussreich waren unsere Kontakte zu Bill Gates und den Menschen, die wir durch unsere Teilnahme am Giving Pledge von Gates, seiner Frau Melinda und Warren Buffett kennengelernt haben. Andere wie Muhammad Yunus, Paul Jones, Jeff Skoll, das Ehepaar Omidyar und die Veranstalter von TED waren ebenfalls sehr hilfreich. Das Wichtigste, das wir gelernt haben, ist, dass es nicht den einen richtigen Weg für Philanthropie gibt, allerdings viele falsche.
Das Geld zu verschenken, das ich im Lauf meines Lebens angesammelt hatte, und zwar auf eine gute Weise, war eine Freude, eine Herausforderung und genau das Richtige für diese Phase meines Lebens.
BRIDGEWATER WIRD 40
Im Juni 2015 wurde Bridgewater 40 Jahre alt, ein bemerkenswerter Meilenstein, den wir mit einer großen Party begingen. Tatsächlich hatten wir eine Menge zu feiern, denn nach den meisten Maßstäben war kein anderes Unternehmen in unserer Branche je derart erfolgreich gewesen.
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Wichtige Menschen, die von Anfang an und im Lauf der 40-jährigen Reise dabei gewesen waren, hielten Ansprachen. Jeder der Redner beschrieb die Entwicklung des Unternehmens durch seine eigenen Augen – wie sich manche Dinge im Lauf der Jahre verändert hatten und andere gleichgeblieben waren, allen voran unsere Kultur, durch radikale Ehrlichkeit und radikale Transparenz im Umgang miteinander Erstklassigkeit sowohl in der Arbeit als auch in Beziehungen anzustreben. Sie erinnerten daran, wie wir auf einzigartige Weise und immer wieder Neues versucht hatten, gescheitert waren, von unseren Misserfolgen gelernt, uns verbessert und es von Neuem versucht hatten, was wir in einer Art Aufwärtsspirale immer und wieder taten. Als ich an der Reihe war, wollte ich erklären, was ich den Menschen bei Bridgewater immer zu geben versucht hatte, und was sie nach meiner Vorstellung in der Zukunft auch ohne mich behalten sollten:
Eine Gemeinschaft, in der man stets das Recht und die Pflicht hat,
den Sinn von Dingen zu verstehen, und einen Prozess für das Durcharbeiten durch Meinungsverschiedenheiten – also eine echte, funktionierende Ideen-Meritokratie. Ich möchte, dass Sie denken statt folgen – und sich dabei darüber im Klaren sind, dass Sie sich täuschen können und dass Sie Schwächen haben. Und ich möchte Ihnen dabei helfen, die wahrscheinlich besten Antworten zu bekommen, selbst wenn Sie selbst nicht glauben, dass es wirklich die besten Antworten sind. Ich möchte Ihnen radikale Aufgeschlossenheit und eine Ideen-Meritokratie geben, die Sie davon befreit, im eigenen Kopf gefangen zu sein, und Ihnen Zugang zu den besten Köpfen der Welt ermöglicht, damit sie Ihnen dabei helfen, die besten Entscheidungen für Sie selbst und unsere Gemeinschaft zu treffen. Ich möchte Ihnen allen helfen, richtig zu kämpfen und sich so zu entwickeln, dass Sie das Optimum aus Ihrem Leben herausholen können.
Zwar gab es noch wichtige Dinge zu erledigen, aber zu dieser Zeit hatte ich das Gefühl, dass wir meinen Ausstieg gut hinbekommen würden. Ich hatte keine Ahnung davon, wie schwierig das nächste Jahr werden würde.