»Work isn’t working«, titelte die britische Tageszeitung THE GUARDIAN im März 2022. Zwei Jahre Coronapandemie und der russische Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 hatten zu Preissteigerungen geführt, die für viele Menschen die sprichwörtliche Wahl zwischen eat or heat – also essen oder heizen – zur Realität werden ließen. Schon vor den Preissteigerungen der vorangegangenen Monate hatten die Arbeitnehmer*innen vom Kuchen steigender Produktivität und wachsenden Wohlstandes nur ein kleines Stück bekommen. In den vergangenen drei Jahrzehnten haben die Löhne in der gesamten industrialisierten Welt mit den Produktivitätsgewinnen und den Renditen auf Kapitalvermögen nicht mehr Schritt gehalten.
Zum Teil wurden die Löhne mit dem Argument niedrig gehalten, dies würde die Wettbewerbsfähigkeit von Standorten steigern. Zudem hieß es, man wolle mit dieser Strategie die Arbeitslosigkeit eindämmen – ein Argument, das bei vielen Menschen auf offene Ohren stieß. Vor Arbeitslosigkeit hat man Angst. Neben den finanziellen Folgen, die Arbeitslosigkeit nach sich zieht, ist sie auch gesellschaftlich stark negativ konnotiert. Wer arbeitslos ist, steht unter dem Verdacht, nicht arbeiten zu wollen, seinen Beitrag nicht zu leisten. Auch wegen der zunehmenden Digitalisierung und Automatisierung in vielen Branchen wird den Beschäftigten die Rute ins Fenster gestellt, ihre Arbeitskraft würde künftig vielleicht nicht mehr gebraucht werden – wenn sie sich nicht darum kümmern, durch neue Fähigkeiten wettbewerbsfähig zu sein.
Trotz des viel beklagten Arbeitskräftemangels in weiten Teilen der industrialisierten Welt stehen viele Erwerbstätige unter Druck. Häufig reicht das Einkommen aus der Erwerbsarbeit nicht aus, um alle Rechnungen zu bezahlen. Andere haben gar kein reguläres Arbeitsverhältnis, sondern arbeiten als Scheinselbstständige oder in anderen Konstruktionen, die dazu dienen, Arbeitnehmerrechte zu umgehen. Für manche hingegen ist die Arbeit so stressig, dass sie sie krank macht. Machen eine Erkrankung oder andere Umstände die reguläre Arbeit zu fixen Zeiten schwierig oder unmöglich, ist man außerdem überhaupt kaum mehr »vermittelbar«.
Gängigen Narrativen zum Trotz sind an diesen Problemen jedoch nicht die Roboter oder die Digitalisierung schuld. Zu verantworten hat es eine Politik, die diese Missstände möglich gemacht hat. Selbst viele Menschen, die 40 Stunden in der Woche arbeiten, können von ihrem Einkommen ihren Lebensunterhalt nur kaum oder gar nicht mehr bestreiten. Diese Entwicklung ist ein Schlag ins Gesicht jener Menschen, die mit der Überzeugung aufgewachsen sind, Leistung lohne sich. Wer in der Schule brav lernt, eine solide Ausbildung macht und hart arbeitet, der ist am Ende auch gut abgesichert. So heißt es – aber so ist es leider nicht. Work isn’t working. Warum nicht?
Wie so oft im Leben sieht man Dinge am klarsten, wenn man auf ihre extremsten Erscheinungsformen blickt. Werfen wir einen Blick in die Vereinigten Staaten, wo die Einkommensschere besonders weit auseinanderklafft. Und wo Arbeitnehmerrechte und auch soziale Absicherung bekanntlich weniger entwickelt sind als in Europa. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Die viel besungene amerikanische Mittelschicht schrumpft rasch. Zur Mittelschicht gehört man in den USA, wenn das jährliche Haushaltseinkommen zwischen zwei Drittel des landesweiten Medianeinkommens bis hin zum doppelten Medianeinkommen beträgt.1 Wenn beispielsweise das mediane Haushaltseinkommen bei 67.521 Dollar liegt – wie dies 2020 der Fall war –, dann wurden jene, deren Haushaltseinkommen zwischen rund 45.000 und 135.000 Dollar lagen, der Mittelschicht zugerechnet. Waren Anfang der 1970er-Jahre noch über 60 Prozent der Bevölkerung Teil der Mittelschicht, so waren es 2019 nur noch 51 Prozent. Das bedeutet, dass ganze 50 Millionen US-Bürger*innen in den vergangenen 60 Jahren aus der Mittelschicht in die Armut abgerutscht sind (der Bevölkerungsanstieg der vergangenen Jahrzehnte ist dabei mitberücksichtigt). Und diese Tendenz verstärkt sich, weil die hohen Einkommen weiter wachsen, während die mittleren und niedrigen Einkommen sinken. Kurz gesagt: Ein immer größerer Teil des Wohlstandskuchens geht an die Reichen.2
Die amerikanische Journalistin Jessica Bruder schrieb 2017 ein Buch – »Nomadland« – über jene Lebenslüge, mit der Generationen von Menschen in den Vereinigten Staaten aufgewachsen sind: Nämlich, dass es in ihren Händen liegt, ob sie es schaffen oder nicht. Dass sie nur hart genug arbeiten müssen, um am Ende abgesichert zu sein. Millionen von Menschen haben einen Kredit für ihr Studium oder für die Ausbildung der Kinder aufgenommen oder mit viel Arbeit und unter großen Entbehrungen ein Haus oder eine Wohnung gekauft. All das taten sie, weil sie annahmen, sie würden ihren Lebensabend gut abgesichert verbringen können. Sie würden zwar nicht in Saus und Braus leben, aber doch ein eigenes Dach über dem Kopf haben, Ersparnisse für die Ausbildung der Kinder und möglicherweise auch genug Geld, um nicht bankrott zu gehen, wenn sie von Krankheit, einer Trennung oder anderen Lebenskrisen betroffen sind.
Wer in der Schule brav lernt, eine solide Ausbildung macht und hart arbeitet, der ist am Ende auch gut abgesichert. So heißt es – aber so ist es leider nicht.
Work isn’t working. Warum nicht?
Bruder beschreibt in ihrem Buch das Leben jener Menschen, für die diese Rechnung nicht aufgegangen ist. Sie erzählt etwa von einem 67-jährigen ehemaligen Taxifahrer aus San Francisco, der trotz seines fortgeschrittenen Alters zwölf Stunden am Tag bei Minusgraden bei der jährlichen Zuckerrübenernte in Minnesota schuftet. Oder von einem 66-jährigen ehemaligen Unternehmer, der seinen Lebensabend als Arbeiter in einem Amazon-Lager verbringt, wo er pro Schicht jeden Tag fast 20 Kilometer laufen muss (wenn er das nicht schafft, droht die Kündigung). Oder von der 64-jährigen Linda, die in einem winzigen Wohnwagen auf einem Campingplatz lebt, wo sie als eine Art Platzwartin Gäste empfängt und die Anlage reinigt, oft 14 Stunden am Tag. Viele der Jobs, die diese Menschen ausüben, sind saisongebunden. Wenn sie nicht mehr gebraucht werden, fahren diese Frauen und Männer weiter durchs Land bis zum nächsten Ort, an dem es Jobs für sie gibt. Ihre Autos, Wohnwagen oder Wohnmobile sind ihr Zuhause. Ihr Haus und ihren Traum vom Ruhestand haben sie aufgegeben, weil sie ihren Job, ihr Unternehmen oder den Traum von einer kleinen Rente verloren haben und sich die Kreditraten ihrer Wohnung oder ihres Hauses nicht mehr leisten konnten.
Und weil es so viele Menschen sind, denen es so ergeht, haben einige Unternehmen einen Weg gefunden, auch daraus Profit zu schlagen. Sie haben spezielle Programme für diese Gruppen geschaffen. Das »CamperForce«-Programm von Amazon dient beispielsweise dazu, älteren Arbeitskräften »eine Chance« zu geben, wie das Unternehmen es ausdrückt.3 Auf der Website des Programms lacht einem eine glücklich aussehende Dame entgegen, die in entspannter Haltung in einer Lagerhalle steht. »Sie möchten das Leben unterwegs weiter genießen?«, steht dort geschrieben. »Schließen Sie sich einem enthusiastischen Team von gleichgesinnten Reisenden und Abenteurern bei Amazon CamperForce an.« Das Unternehmen biete großartige Saisonjobs an einer wachsenden Anzahl von hochmodernen Amazon-Lagerstandorten in den USA an, lauten die Versprechungen auf der Website. »Alles, was Sie tun müssen, ist, sich zu bewerben, Ihren eigenen Platz auf dem Campingplatz zu reservieren, aufzutauchen und Geschichte zu schreiben.«
Die Geschichte, die diese Menschen schreiben, ist eine andere, als die glücklich aussehenden Menschen auf der Website es vermuten lassen. Die Menschen im CamperForce-Programm arbeiten viele Stunden unter krankmachenden Bedingungen. Manche bekommen dafür weniger als den Mindestlohn. Sie haben keine Rentenversicherung und keinen Kündigungsschutz. Die Firma hingegen kann mit diesem Programm ihren erhöhten Bedarf an billigen Arbeitskräften in den Spitzenzeiten decken, wie zum Beispiel in der Vorweihnachtszeit. Es darf vermutet werden, dass sie deshalb so sehr auf ältere Beschäftigte erpicht sind, weil aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen, die diese Firmen bieten, sonst niemand mehr für sie arbeiten will. Was auch immer die Motivation ist: Im Gegenzug für seine »Wohltätigkeit« gegenüber älteren Arbeitnehmer*innen erhält das Unternehmen Steuergutschriften vom Staat.4
Wer die Geschichten dieser Menschen als extreme Situation in einem Land abtun möchte, das sehr wenig mit unserer eigenen Gesellschaft zu tun hat, der blicke nach Europa, wo es vielen Menschen heute ähnlich geht. »Lasst uns nicht vergessen, dass Kapitalismus für alle Scheiße ist«, schrieb die in England lebende Sozialtheoretikerin Jana Bacevic im März 2022 auf Twitter. Der Anlass ihres Tweets war ein Warnstreik der Sicherheitskräfte am Frankfurter Flughafen, die höhere Stundenlöhne forderten.
In Bacevic’ britischer Heimat streikten zu jener Zeit gerade die Hochschulbediensteten; manche schon wochenlang. Der Grund dafür war keineswegs ein Luxusproblem der Eliten. Für viele ging es um die schlichte Existenz: Zwischen 2009 und 2021 waren die Gehälter der Hochschulbeschäftigten um fast ein Viertel gekürzt worden, während immer mehr von ihnen erwartet wurde. In einer Umfrage gab eine von fünf Personen an, im Schnitt ganze 16 Stunden pro Woche mehr zu arbeiten als vertraglich vereinbart – das entspricht zwei ganzen Arbeitstagen.5 Anfang 2022 sagten zwei Drittel der Universitätsangestellten, dass sie ihren Arbeitsplatz an der Universität in den nächsten fünf Jahren verlassen möchten.6 Schlafprobleme, Depressionen und Burn-out kennzeichnen ihren Alltag. Frauen, Angehörige von Minderheiten sowie Personen mit Behinderungen verdienen im Schnitt noch weniger und werden dafür auch noch häufig bei Beförderungen und anderen Karriereentscheidungen diskriminiert.7 2022 drohte den Universitätsangehörigen zu allem Überfluss noch eine Kürzung zukünftiger Pensionsansprüche um 35 Prozent.
Die Streiks im Vereinigten Königreich, die gerade stattfanden, als Bacevic ihren Tweet absetzte, richteten sich gegen die unvermeidlichen Ergebnisse eines jahrzehntelangen Prozesses, in dem sich Universitäten von öffentlichen Institutionen, die sich der Förderung der Wissenschaft und der Bildung junger Generationen verschrieben hatten, in profitorientierte Unternehmen verwandelten. Möglichst viel aus möglichst billigen Arbeitskräften herauszuholen und gleichzeitig die Studiengebühren so hoch wie möglich zu halten ist kein »Zufall«, sondern ihr Geschäftsmodell.
Auch wenn die Privatisierung öffentlicher Güter hierzulande noch nicht so weit fortgeschritten ist wie im Vereinigten Königreich, so liegt auch in Deutschland und Österreich vieles im Argen. Die Ideologie, dass (fast) alles wie ein Markt funktionieren muss, greift immer weiter um sich. Die Kluft zwischen den Arbeitseinkommen wird immer größer – und am besten haben es jene, die überhaupt ihre Vermögen für sich arbeiten lassen, denn diese wachsen am schnellsten. Das drückt sich in wachsenden Ungleichheiten aus. Sowohl für Deutschland als auch für Österreich liegt der sogenannte Gini-Index bereits bei rund 31 Prozent. Diese Messgröße zeigt an, wie hoch die Einkommens- und Vermögensungleichheit in einem Land ist. Je höher der Wert ist, desto höher ist die Ungleichheit. Zum Vergleich: In Island liegt der Gini-Index bei 26 Prozent, in Slowenien sogar nur bei etwas über 24 Prozent. Vor dem russischen Angriff auf das Land rangierte die Ukraine übrigens mit knapp unter 26 Prozent unter den Ländern mit der geringsten Ungleichheit. Südafrika gehört zu den Ländern mit der höchsten Ungleichheit – mit einem Gini-Index von 63 Prozent.8
Was die Einkommen betrifft, gibt es hierzulande im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten noch eine breite Mittelschicht. Laut gängigen Definitionen zählen all jene zur Mittelschicht, die zu den mittleren sechs Einkommenszehnteln gehören; in Österreich waren das vor der Coronapandemie knapp 5,2 Millionen Menschen, also fast 60 Prozent der Bevölkerung.9 In Deutschland gehörten vor der Pandemie sogar satte 64 Prozent einkommensmäßig zur Mittelschicht.10 Nimmt man allerdings die Vermögen auch in den Blick, dann sieht die Situation anders aus: Während in Österreich die ärmere Hälfte der Bevölkerung gerade einmal 2,5 Prozent des Nettovermögens besitzt, hält das reichste Prozent ganze 40 Prozent. Der größte Teil dieser Vermögen stammt dabei nicht von Einkommen aus Arbeit, sondern wird steuerschonend geerbt.11 In Deutschland sieht es ähnlich aus: Dort besitzt die ärmere Hälfte 1,4 des Gesamtvermögens, während das reichste Prozent der Bevölkerung etwa 35 Prozent hält.12 Fast überall in Europa gibt es seit den 1980er-Jahren eine ähnliche Vermögenskonzentration zu beobachten. Weltweit profitieren die Vermögenden »von der Deregulierung der Märkte, Privatisierungswellen, der Orientierung am Shareholder-Value sowie dem internationalen Steuerwettbewerb und den Steuersümpfen«, wie die Österreichische Arbeiterkammer es ausdrückt.13
In einer Meritokratie werden Menschen für ihre Verdienste belohnt. Meritokratien sind Systeme, in denen Amtsträger aufgrund besonderer Errungenschaften oder Erfahrungen ernannt werden, und in denen Bürger*innen adäquat zu ihren Leistungen mit Sicherheit und Wohlstand belohnt werden. Länder wie Deutschland, Österreich oder die Schweiz verstehen sich zwar als Sozialstaaten, haben aber auch ein starkes meritokratisches Selbstverständnis: Es soll zwar niemand verhungern, aber die, die »mehr leisten«, sollen auch mehr haben. So gibt es zwar progressive Einkommenssteuern – also höhere Steuersätze für höhere Einkommen, als Instrument der Umverteilung –, aber geringe Vermögenssteuern. Auch hier wird Kindern gern erzählt, dass sie, wenn sie brav lernen und später hart arbeiten, ein gutes Leben führen und für ihren Fleiß belohnt werden.
Diese Erzählung stimmt aber schon lange nicht mehr, wenn man kritischen Stimmen Glauben schenkt. Die meisten Menschen können sich heutzutage durch ihre Arbeit keinen Wohlstand mehr erarbeiten; für manche reicht das Einkommen aus der Erwerbsarbeit nicht einmal mehr für ein solides Leben aus. Jene, die große Vermögen haben, können im Gegensatz dazu bequem und vergleichsweise gering besteuert davon leben. Das Momentum-Institut in Wien hat errechnet, dass ein Mensch mit durchschnittlichem Einkommen ungefähr 400.000 Jahre arbeiten müsste, um das Vermögen zu akkumulieren, das die 2022 verstorbene Milliardenerbin Heidi Horten besaß. Es profitieren also nicht jene Menschen, die besonders hart arbeiten, sondern jene, die besonders gut erben. Das sehen übrigens nicht nur die »Klassenkämpfer« so, sondern auch die Reichen selbst: »Hört auf damit, die Superreichen zu verhätscheln«, fordert etwa der amerikanische Milliardär Warren Buffett.14 Er sehe nicht ein, so Buffett, warum er prozentuell weniger Einkommenssteuer zahle als die »normalen« Angestellten in seinem Büro. Die Millionenerbin Marlene Engelhorn, Enkelin des BASF-Gründers, sieht es ähnlich und geht sogar noch einen Schritt weiter: Das Geld, das sie erben werde, gehöre ihr nicht, sagt sie – sie hätte ja nicht dafür gearbeitet. Deshalb wird sie 90 Prozent ihres Erbes spenden – und sie setzt sich gleichzeitig für höhere Vermögenssteuern ein.15
Die meisten Menschen können sich heutzutage durch ihre Arbeit keinen Wohlstand mehr erarbeiten; für manche reicht das Einkommen aus der Erwerbsarbeit nicht einmal mehr für ein solides Leben aus.
Sollte es in einem reichen Land nicht so sein, dass alle Menschen – unabhängig davon, wie sie leben und in welche Familie sie hineingeboren wurden – genug für ein würdevolles Leben haben? Zu so einem Leben gehören öffentliche Infrastrukturen und Daseinsvorsorge – wie ein gut funktionierendes Gesundheits- und Bildungssystem, öffentlicher Nah- und Fernverkehr, Zugang zu leistbarem Wohnraum. Dazu gehört auch Geld, um das, was durch öffentliche Dienstleistungen nicht abgedeckt wird, kaufen zu können. Geld, das nach der Vorstellung der meisten Menschen durch Erwerbsarbeit erzielt wird. Dass diese Erwerbsarbeit aber lange nicht für alle möglich ist, wird heute häufig auf Faktoren geschoben, für die Politik in unserem eigenen Land keine Verantwortung trägt. Es wird von Robotern gesprochen, die den Menschen die Arbeit wegnehmen, oder von der immer weiter fortschreitenden Digitalisierung, die die Nachfrage nach menschlicher Arbeitskraft reduziert. Aber das ist in Wirklichkeit nur ein ganz kleiner Teil der Geschichte.
Der Arbeitsmarkt ist keine Naturgewalt, die dem menschlichen Handeln entzogen ist. Er will oder braucht für sich allein gar nichts – sondern seine »Bedürfnisse« werden durch unsere Regeln und Gesetze, aber auch durch ökonomische und gesellschaftliche Praktiken geformt. Wenn etwa der Arbeitnehmerschutz in einem Land stark ist, dann kann das dazu führen, dass in bestimmten Situationen weniger schnell neue Arbeitskräfte eingestellt werden, wenn man sie nicht so leicht kündigen kann. Dafür haben Unternehmen einen höheren Anreiz, in die Aus- und Weiterbildung ihrer Arbeitskräfte zu investieren. Ebenso gilt: Wenn bestimmte Jobs schlecht bezahlt oder mit sehr widrigen Arbeitsbedingungen verbunden sind, dann werden nur Menschen diese Jobs machen, die keine andere Wahl haben. Sobald sie jedoch eine Wahl haben, werden sie weiterziehen und sich eine andere Tätigkeit suchen. Bei Dynamiken wie diesen handelt es sich um Dinge, die von Menschen gemacht sind – und die wir ändern können, wenn wir wollen.
Es ist also nicht so, dass »die Wirtschaft« und »die Technologie« allein dafür gesorgt haben, dass es heute billiger ist, wenn bestimmte Tätigkeiten von Maschinen verrichtet werden als von Menschen. Das waren schon wir Menschen, die das zugelassen haben. Die Lösung des Problems besteht allerdings nicht darin, Firmen durch Maschinensteuern oder ähnliche Maßnahmen dazu zu bringen, die Automatisierung zu verzögern. Bestimmte Jobs, die sinnentleert, demütigend oder gefährlich sind, sollten lieber heute als morgen automatisiert werden. Das Problem, das es zu lösen gilt, ist, dass alle Menschen genug haben müssen, um ein würdevolles Leben zu führen. Dazu gehört auch die Möglichkeit, einer sinnvollen Tätigkeit nachgehen zu können. Zu arbeiten. Aber was bedeutet das eigentlich?
Mit Arbeit ist es ein bisschen so wie mit Liebe: Jeder weiß, was es ist, aber fast niemand kann es aus dem Stegreif definieren. Auch Lehrbücher geben keine eindeutige Antwort. Was unter Arbeit verstanden wird und welche Aspekte bei der Definition im Vordergrund stehen, hängt stark davon ab, in welcher Disziplin man sich bewegt. Einschlägige Wirtschaftslexika definieren Arbeit als »zielgerichtete, soziale, planmäßige und bewusste, körperliche und geistige Tätigkeit«.16 In der Volkswirtschaftslehre ist die Arbeit neben Boden, Kapital und Wissen der vierte Produktionsfaktor. Sie umfasst all jene Tätigkeiten, die der Einkommenserzielung und der Befriedigung der Bedürfnisse anderer Personen dienen. In der Betriebswirtschaftslehre ist Arbeit jede plan- und zweckmäßige Aktivität in körperlicher oder geistiger Form, die eingesetzt wird, um in einem Betrieb Güter oder Dienstleistungen zu produzieren. Unbezahlte Tätigkeiten gelten daher weder im volkswirtschaftlichen noch im betriebswirtschaftlichen Sinne als Arbeit.
Etwas weiter gefasst ist der Begriff der Arbeit in der Psychologie, wo sie – ganz allgemein gesprochen (es gibt auch innerhalb dieser Disziplin unterschiedliche Zugänge) – als eine Aufgabe betrachtet wird, die Menschen unter der Erwartung eines Nutzens verrichten. Der Nutzen kann für die arbeitenden Menschen selbst eintreten – in Form von Entlohnung oder sozialer Anerkennung – oder für andere Menschen, die davon profitieren.
Noch weiter gefasst ist das Verständnis von Arbeit in der Philosophie und in der Soziologie, wo die unterschiedlichen Definitionen, wie es etwa der deutsche Soziologe Gerd-Günter Voß ausdrückt, »durch Ambivalenz gekennzeichnet sind«:17 Arbeit ist belastend und zugleich Sinn gebend. Man muss sich von ihr erholen und kann sich, wenn man Glück hat, durch sie auch verwirklichen. Einig sind sich die unterschiedlichen Definitionen von Arbeit eigentlich nur hinsichtlich der Tatsache, dass es sich bei Arbeit um eine Aktivität handelt; zu allen anderen Aspekten gibt es unterschiedliche Sichtweisen. So wenden einige Autoren den Arbeitsbegriff ausschließlich auf menschliche Tätigkeiten an, während andere auch manche Tätigkeiten von Tieren als Arbeit sehen. Hannah Arendt und auch Karl Marx gehören etwa zu letzterer Gruppe. Keine Einigkeit gibt es auch in der Frage, ob Arbeit immer zweckgerichtet sein muss, ob sie notwendigerweise die Verwendung von Werkzeugen einschließt, ob sie anstrengend sein muss, und ob Arbeit nützlich oder wertbildend sein muss, um diesen Namen zu verdienen. All diese Fragen werden teils unterschiedlich beantwortet. Und obwohl es Konsens darüber gibt, dass eine enge Beziehung zwischen Arbeit und sozialer Anerkennung und Entlohnung besteht, wird auch diese Beziehung auf unterschiedliche Weise beschrieben.
In ihrem Buch ARBEIT. EINE GLOBALHISTORISCHE PERSPEKTIVE hat die österreichische Historikerin Andrea Komlosy gezeigt, wie sehr die jeweils vorherrschenden Erscheinungsformen und Bedeutungen der Arbeit auch in globale Macht- und Herrschaftsverhältnisse verstrickt sind. So bildete sich etwa zur Mitte des 13. Jahrhunderts in den städtischen Regionen Europas ein handwerksorientierter Arbeitsbegriff heraus, der sich deutlich vom Verständnis der Arbeit in der Landwirtschaft unterschied. Gleichzeitig begann sich der Handel damals verstärkt überregional zu vernetzen. Dieser wachsende und immer globaler werdende Austausch von Gütern, so Komlosy, fand keineswegs immer friedlich statt: Raub, Plünderung und der erzwungene »Export« von Arbeitskräften aus den von den dominanten Mächten eroberten und beherrschten Regionen führten zu einer Art der unfreiwilligen, überregionalen Arbeitsteilung. Im 16. Jahrhundert wurde dieser Prozess im Zuge des Kolonialismus ausgeweitet und auch unterworfene Gebiete in der »Neuen Welt« ausgebeutet. Rohstoffe, die durch indigene Bevölkerungsgruppen und Sklav*innen gefördert oder angebaut wurden, konnten in den Gewerberegionen Westeuropas weiterverarbeitet werden – während andere Teile der »Alten Welt«, insbesondere Osteuropa, weiterhin hauptsächlich landwirtschaftlich orientiert blieben.
Eine Entwicklung, die den Arbeitsbegriff in Westeuropa stark veränderte und globale Auswirkungen hatte, war die Industrielle Revolution. Westeuropa hatte mit der Nutzung neuer Maschinen für die Massenproduktion einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Weltregionen. Nicht nur, weil die durch Dampf angetriebenen Maschinen in Westeuropa standen, sondern auch, weil sie die Arbeit in den Kolonien noch effizienter machten – wie etwa auf den Zuckerrohrplantagen in der Karibik. Für die Bevölkerung bedeutete diese Entwicklung massive Einschnitte in ihre traditionellen Lebensformen: Maschinen und Plantagen brauchten billige Arbeitskräfte. Unfreiwillig oder auch freiwillig zogen die Menschen dorthin, wo die Maschinen standen, was wiederum der Urbanisierung und der Landflucht Vorschub leistete – und einer künstlichen Trennung der arbeitenden Menschen von den Produktionsmitteln.18
Für jene, denen das Schicksal der Versklavung erspart geblieben war, bekam damals der Begriff der Lohnarbeit erstmals die Bedeutung, die er in weiten Teilen der industrialisierten Welt heute noch hat: Man ging morgens aus dem Haus, um gegen Entlohnung Produkte zu erzeugen, die jemand anderem gehörten, und kehrte abends wieder nach Hause zurück. Damit waren nicht nur die arbeitenden Menschen von den Produktionsmitteln getrennt, sondern es war auch die Trennung in Arbeit und Freizeit vollzogen – obwohl den Fabriksarbeiter*innen von Letzterem ohnehin nicht viel blieb.
Überhaupt hat sich die Bewertung der Arbeit im Laufe der Geschichte stark verändert. So galt etwa im europäischen Mittelalter nicht die Arbeit, sondern das kontemplative, gottgefällige Leben als Ideal eines gelungenen, sinnerfüllten Lebens. Insbesondere manuelle Arbeit wurde als Mühsal, Last und sogar Strafe aufgefasst. In slawischen Sprachen spiegelt sich diese Bedeutung heute noch im Wort robota wider, mit dem unter anderem Fronarbeit und äußerst mühselige Arbeit bezeichnet werden. Über den Umweg der Science-Fiction hat dieser Wortstamm Eingang in viele andere Sprachen gefunden: Der Roboter ist eine Maschine, die automatisiert und entseelt Arbeit verrichtet.
Auch das englische Wort labour, das sich direkt vom lateinischen laborare als Verb für »mühsam arbeiten« oder »sich plagen« ableitet, spielt auf dieses negative Verständnis von Arbeit an. Es unterscheidet sich vom sinnerfüllten Arbeiten (work). Auf den Unterschied zwischen unterschiedlichen Typen von Arbeit kommen wir im nächsten Kapitel noch mal zurück.
Diese negative Bewertung der Arbeit änderte sich mit der protestantischen Ethik. Gewissenhaftes und fleißiges Arbeiten wurde nun als gottgefälliges Tun gesehen, als Erfüllung einer Pflicht auf Erden. Natürlich stand das in einem engen Zusammenhang mit den sich ändernden Wirtschaftsformen. Der neu entstandene Kapitalismus mit seinem Drang zum Wachstum war darauf angewiesen, dass Arbeit auch im öffentlichen Raum eine wichtige und positive Rolle einnahm. Aber definieren wir zuerst einmal, was unter Kapitalismus verstanden wird.
Der Begriff Kapitalismus wird häufig mit Märkten und Wettbewerb gleichgesetzt. Märkte und Wettbewerb gab es allerdings schon vor dem Kapitalismus. Der Anthropologe Jason Hickel erkennt folgende Eigenschaften als Merkmale des Kapitalismus im 21. Jahrhundert:19
Das erste Merkmal ist das Privateigentum an den Produktionsmitteln, gepaart mit künstlicher Knappheit. Güter, die vormals als Gemeingüter der Allgemeinheit zur Verfügung standen, wurden in Privateigentum übergeführt. Der Zugang zu ihnen wurde eingeschränkt und kostenpflichtig. Bürger*innen waren zunehmend auf Einkommen angewiesen, um allein ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Das zweite Merkmal ist die Konzentration auf Wachstum. Das primäre Ziel der Wirtschaft in kapitalistischen Systemen ist nicht die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, sondern die Optimierung der Profite. Hier muss allerdings ein Unterschied zwischen kleineren Betrieben und großen Unternehmen gemacht werden; die Diagnose Hickels trifft in erster Linie auf Letztere zu. Das dritte Merkmal ist das Zurückdrängen demokratischer Entscheidungsfindung in Bereiche, die die Interessen der Markteliten nicht beeinträchtigen. Während Märkte in der Vergangenheit ein integraler Teil der Gesellschaft waren, wurden sie nach und nach zu eigenständigen Domänen, die ihren eigenen Regeln gehorchten und in die nicht »eingegriffen« werden sollte, um ihre vermeintliche natürliche Selbstregelungskraft nicht zu stören. Staatliches Handeln in vielen Ländern hat dies nicht nur zugelassen, sondern aktiv befördert – teilweise in einem solchen Ausmaß, dass diese Marktlogik in andere Bereiche des Lebens übergeschwappt ist.20 Heute sprechen wir sogar in der Liebe – wie etwa im Bereich der Partnerwahl – von »Angebot und Nachfrage«. Auch der Begriff des Neoliberalismus bezeichnet nicht das Zurückdrängen staatlicher Handlungsmacht, sondern die Verwendung dieser Macht zur Stärkung der Interessen mächtiger Marktteilnehmer. Beispielsweise jene, die vom Ausbau des Rentenkapitalismus profitieren.
Der Rentenkapitalismus wiederum hat nichts mit unserem Pensionssystem zu tun. Damit wird vielmehr ein Wirtschaftssystem bezeichnet, in dem ein großer Teil des Wohlstandes nicht von Arbeit kommt, sondern von Erträgen von Kapitalvermögen (z. B. Miete, Pacht, Patente). In weiterer Folge werden in diesem System die Rentenansprüche selbst – beispielsweise Wertpapiere – zu einer Ware, die gehandelt wird. Häufig konzentrieren sich in der Folge diese Waren (die »Rententitel«) in den Händen einiger weniger, die großen Reichtum anhäufen, während die große Masse hart arbeiten muss, ohne jemals die Möglichkeit zu haben, zu Wohlstand zu gelangen.
Ein weiteres Element des Rentenkapitalismus ist die Auslagerung gesellschaftlicher Aufgaben, die von der öffentlichen Hand erbracht oder zumindest koordiniert wurden, auf private Erbringer, die wiederum vorrangig darauf bedacht sind, Profit aus diesen Aufträgen zu erwirtschaften. Das Chaos auf vielen europäischen Flughäfen im Sommer 2022 veranschaulicht diesen Effekt: Anstatt etwa für die Sicherheitskontrolle Personen anzustellen, die mit einem regulären Einkommen, Pensionsansprüchen und anderen Arbeitnehmer*innenrechten ausgestattet ihre Arbeit tun, war diese Aufgabe von vielen Flughäfen schon vor der Pandemie an private Firmen ausgelagert worden, die dafür einen bestimmten Betrag erhielten – und versuchten, davon möglichst wenig an Personalkosten abzugeben und möglichst viel als Profit zu behalten. Während der Pandemie kündigten viele dieser Firmen ihre Angestellten; und als der Flugverkehr wieder Fahrt aufnahm, gab es nicht genug Arbeitskräfte. Viele wollten zu den schlechten Bedingungen auch gar nicht mehr zurückkommen.
In vielen Ländern ist auch die Pflege ein weiteres, und noch viel traurigeres, Beispiel für die Effekte der Privatisierung. Die Arbeit wird schlechter erledigt und kommt der öffentlichen Hand letzten Endes sogar teurer. Statt einer fix angestellten Pflegekraft einen bestimmten Betrag im Monat zu bezahlen und dann noch einen Spielraum zu haben, um im Krankheitsfall eine Vertretung zu finanzieren, bezahlt das Land oder die Gemeinde nun dieselbe Summe an eine private Firma, die prekär beschäftigte Mitarbeiter*innen für zwei Drittel oder sogar nur die Hälfte dieses Betrages dieselbe Arbeit machen lässt und den Rest als Profit behält.
Mit der starken Trennung zwischen Arbeits- und Wohnort, die zur Wende zum 20. Jahrhundert einzementiert wurde, ging auch eine wachsende Kluft zwischen Produktions- und Reproduktionsarbeit einher. Das, was außerhalb des Hauses stattfand und Geld einbrachte, war die Erwerbsarbeit. Die Tätigkeiten innerhalb des Hauses wurden zur Domäne der »Hausfrau«. Auch wenn dies vorerst nur für die bürgerliche Oberschicht galt – weil in ärmeren Haushalten alle, oft auch die Kinder, für Lohn arbeiten mussten –, entfaltete diese Zweiteilung normative Wirkung. Während der Begriff der Hausfrau im Mittelalter für die Vorsteherin der Hausgemeinschaft verwendet wurde und damit als eine sehr wichtige und aktive Bezeichnung zu verstehen war, wurde er im 20. Jahrhundert zu einem Begriff für Frauen, die »nur« zu Hause waren und »nicht arbeiteten«. Letztere Bezeichnung spiegelt auch die Verkürzung des Begriffes Erwerbsarbeit zu »Arbeit« wider, die inzwischen stattgefunden hatte. Dieser verkürzte Arbeitsbegriff, so argumentiert die Historikerin Andrea Komlosy, übersieht die Wertschöpfung, die aus anderen Bereichen als bloß aus der Erwerbsarbeit kam – wie etwa aus der unbezahlten Sorge- und Reproduktionsarbeit.
Während der Begriff der Hausfrau im Mittelalter für die Vorsteherin der Hausgemeinschaft verwendet wurde, […] wurde er im 20. Jahrhundert zu einem Begriff für Frauen, die »nur« zu Hause waren und »nicht arbeiteten«.
Wenn wir unter Arbeit alle Tätigkeiten verstehen, mit denen Menschen einen Beitrag für andere leisten oder zum Funktionieren der Gesellschaft beitragen, dann ist menschliches Leben ohne Arbeit gar nicht denkbar. Dann gehört Reproduktionsarbeit – also jene Arbeit, die man jeden Tag neu verrichten muss, um essen und schlafen und die Familie erhalten zu können – genauso dazu wie kreative oder handwerkliche Tätigkeiten. Allgemein ausgedrückt schließt Arbeit also alles ein, wodurch und womit Menschen nicht nur etwas für sich selbst tun, sondern einen Beitrag zum familiären, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder politischen Zusammenleben leisten. Natürlich gibt es innerhalb dieser Kategorie zahlreiche Unterteilungen, wie etwa bezahlte und unbezahlte Arbeit, geistige und körperliche Arbeit oder selbstständige und unselbstständige Arbeit. Trotzdem ist es wichtig, alle diese unterschiedlichen Tätigkeiten als Arbeit anzuerkennen. Nur auf diese Weise wird auch unbezahlte Arbeit sichtbar. Viele der am schlechtesten oder gar nicht bezahlten Tätigkeiten gehören zu den gesellschaftlich wertvollsten: Auch wenn die Person, die diese Arbeit verrichtet, den Wert nicht immer sehen kann.
Arbeit ist also sehr vielseitig. Sie findet zu Hause oder auswärts statt, ist bezahlt oder unbezahlt und kann als selbstbestimmt und sinnvoll oder als entseelt und sinnentleert empfunden werden. Angesichts dieser Vielfalt scheint es eigenartig, dass der vorherrschende Arbeitsbegriff in unserer Gesellschaft so eng ist.
Ein arbeitender Mensch ist jemand, der sein Zuhause verlässt, um regelmäßig zur Arbeit zu gehen, für die er entlohnt wird. Reproduktions- und Pflegearbeit, deren Großteil unbezahlt stattfindet, bleibt hingegen meist unsichtbar. Welch wichtige Rolle das Aus-dem-Haus-Gehen dabei spielt, wird klar, wenn wir uns vor Augen führen, dass sogar bezahlte Arbeit oft unsichtbar bleibt, wenn sie »zu Hause« stattfindet – und von Frauen getan wird, wie das etwa bei der 24-Stunden-Betreuung der Fall ist. Auch wenn es in diesem Fall gar nicht das Zuhause der Betreuerin ist – und auch wenn die Verbreitung des Arbeitens von zu Hause (Homeoffice) in der Pandemie gerade dabei ist, diesen engen Arbeitsbegriff etwas aufzuweichen.
Unbezahlte Sorge-Arbeit scheint trotzdem immer noch nicht in den Statistiken auf. Sogar für die Berechnung des Bruttoinlandsproduktes wird sie außer Acht gelassen. Dort werden nur jene Güter und Dienstleistungen erfasst, die verkauft oder gekauft werden. Wenn jemand etwa unbezahlt den Nachbarskindern Nachhilfe gibt, dann trägt diese Person nichts zur gemessenen Wirtschaftsleistung bei. Wenn dieselbe Person sich für die Nachhilfe bezahlen lässt, dann schon. Dies habe, so argumentieren Ökonominnen wie Kate Raworth oder Marianna Mazzucato,21 zu einer Reihe absurder Situationen geführt: So trägt zum Beispiel auch Umweltverschmutzung positiv zur Wirtschaftsleistung eines Landes bei, weil die Entsorgung des Mülls Geld kostet, das in der Gesamtrechnung aufscheint. Selbst die krankmachenden Effekte der Umweltverschmutzung steigern die gemessene Wirschaftsleistung – weil sich die Versorgung von Erkrankungen, die auf schlechte Luftqualität oder andere umweltbezogene Faktoren zurückzuführen sind, wirtschaftlich positiv zu Buche schlägt.
Wer das als kleinen Fehler einer an sich gut funktionierenden Methode zur Berechnung der wirtschaftlichen Leistung eines Landes ansieht, sollte seine Vorstellung von »klein« noch einmal überdenken. Würde man unbezahlte Arbeit nämlich wie andere Formen der Arbeit bewerten, dann würde sie weltweit zwischen zehn und vierzig Prozent der Wirtschaftsleistung ausmachen, wie eine Studie der Vereinten Nationen kalkulierte.22 Hätten Menschen für ihre unbezahlte Arbeit den Mindestlohn erhalten, dann hätten sie im Jahr 2019 über zehn Billionen Dollar verdient.23 Das ist deutlich mehr als der Umsatz der fünfzig größten Unternehmen einschließlich APPLE und AMAZON, berechnete die NEW YORK TIMES.24 Es handelt sich also nicht nur um einen sehr beträchtlichen Anteil der Arbeit, die weltweit verrichtet wird, sondern auch um einen großen Anteil an der Wirtschaftsleistung.
Wenn man sich ansieht, wer den größten Teil der unbezahlten und wirtschaftlich unsichtbaren Arbeit verrichtet, dann sind es Frauen. Vor der Pandemie, so eine Studie der OECD, verrichteten Frauen im Durchschnitt zweieinhalb Mal so viel unbezahlte Arbeit wie Männer. Auf einen Tag umgelegt kamen also auf eine unbezahlte Männerarbeitsstunde zweieinhalb Frauenarbeitsstunden. Den größten Unterschied gab es in Indien, wo Frauen im Durchschnitt sechs Stunden pro Tag unbezahlt arbeiteten, Männer hingegen nur 52 Minuten. Die geringsten Unterschiede wurden in Schweden, Dänemark und Norwegen festgestellt. In Deutschland arbeiteten Frauen vor der Pandemie im Durchschnitt eineinhalb Stunden länger als Männer (4 Stunden statt 2,5 am Tag). In Österreich lag der Unterschied sogar bei mehr als zwei Stunden (Männer arbeiteten etwas mehr als 2 Stunden am Tag unbezahlt, Frauen 4,5).25
Die Pandemie, so zeigt eine Studie des World Economic Forum, hat dieses Ungleichgewicht in vielen Weltregionen noch weiter verstärkt – auch in Europa.26 Ein Grund dafür ist, dass die zusätzlich anfallende Betreuung von Kindern und betagten Verwandten in erster Linie von Frauen übernommen wurde. Während Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen geschlossen waren, reduzierten in Deutschland ganze 27 Prozent der davon betroffenen Frauen, aber nur 14 Prozent der betroffenen Männer ihre Erwerbsarbeitszeit, um Kinder zu betreuen.27
Obwohl Frauen also im Durchschnitt weit mehr Stunden arbeiten als Männer, haben sie einen ungleich kleineren Anteil an Einkommen und Vermögen, und zwar in nahezu allen Ländern der Welt. In Österreich lag der Unterschied bei den Vermögen einem Bericht der Arbeiterkammer aus dem Jahr 2020 zufolge bei 23 Prozent. In Deutschland ist das Alterseinkommen von Frauen um ganze 46 Prozent niedriger als jenes der Männer – in keinem anderen OECD-Land ist der Geschlechterunterschied bei den Renten so groß.28
Der oft gehörte Spruch, Leistung müsse sich lohnen, trifft auf unsere heutige Gesellschaft in Wahrheit also nicht zu. Viele derjenigen, die am meisten und am härtesten arbeiten, und deren Arbeit anderen Menschen viel Positives bringt, verdienen beschämend wenig. Oft müssen sie um ihr Recht auf faire Entlohnung und menschenwürdige Arbeitsbedingungen kämpfen. Obwohl in der Pandemie so viele Menschen für das Gesundheitspersonal applaudiert haben, warten Pflegekräfte oder Pädagoginnen immer noch vergeblich auf eine Verbesserung ihrer Situation.
Um aus dem Trott auszubrechen und etwas zu ändern, braucht man eine Vision einer Zukunft, für die es sich lohnt, in der Gegenwart etwas zu verändern.
Warum tun wir nichts dagegen? Warum lassen wir es zu, dass Vermögen und Einkommen in unserem Land so ungleich verteilt sind? Warum nehmen wir es achselzuckend zur Kenntnis, dass manche Menschen von ihrer Arbeit nicht leben können? Warum akzeptieren wir, dass Arbeit – die idealerweise als sinn- und wertvoll erfahren werden sollte – so viele Menschen krank macht? Jana Bacevic, die in England lebende Theoretikerin, der wir in diesem Kapitel schon einmal begegnet sind, hat eine Antwort auf solche Fragen: Um aus dem Trott auszubrechen und etwas zu ändern, braucht man eine Vision einer Zukunft, für die es sich lohnt, in der Gegenwart etwas zu verändern.29 Auch wenn viele Menschen davon überzeugt sind, dass faire Bezahlung und gute Arbeitsbedingungen für alle wichtig sind – sie glauben nicht mehr daran, dass es ein funktionierendes System gibt, in dem dies möglich ist. Dabei liegt eine solche Vision eigentlich auf der Hand.