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Neues erfinden: Was wir uns wünschen

Die nächsten Jahre werden die Ära einer »worker’s world«, einer Welt, in der Arbeitnehmer*innen, nicht Arbeitgeber*innen, den Ton angeben, titelte die britische Zeitschrift THE ECONOMIST im April 2021. Ein wichtiger Grund dafür ist die sogenannte Alterung der Gesellschaft im Globalen Norden, die von Analysten und Unternehmensberaterinnen bereits als »demografische Dürre«30 bezeichnet wird: jedes Jahr gehen mehr Menschen in Pension, als in den Arbeitsmarkt eintreten. Eine von fünf in der EU lebenden Personen ist heute bereits älter als 65 Jahre; im Jahr 2070 werden es fast eine von drei sein.31

Dies bedeutet, dass Unternehmen um einen immer kleiner werdenden Pool von Arbeitskräften konkurrieren und damit auch vermehrt auf deren Wünsche und Präferenzen eingehen müssen. Gleichzeitig bedeutet es aber auch, dass sich das Profil des typischen Arbeitnehmers verändert. Vor 100 Jahren lag das mediane Alter in Europa bei rund 25 Jahren – das heißt, die eine Hälfte der Bevölkerung unter 25 war, und die andere Hälfte über 25. Heute liegt dieser Wert bei 42,5 Jahren.32 Mittlerweile gibt es viel mehr ältere Arbeitskräfte als junge. Arbeitgebende profitieren damit zunehmend vom Wissen und den sozialen Kompetenzen erfahrenerer Arbeitskräfte, müssen aber auch immer stärker auf die Erfordernisse und Bedürfnisse älterer Beschäftigter eingehen.

Was bedeutet es also, in einer »worker’s world« zu leben? Was wünschen sich Menschen, die einer Erwerbsarbeit nachgehen? Was macht Arbeit sinnvoll? Nach welchen Maßstäben gilt sie als fair entlohnt und gesellschaftlich anerkannt? Zugleich besteht Arbeit aber nicht bloß aus Erwerbsarbeit. Wenn wir eine weite Definition des Arbeitsbegriffs anwenden, dann ist die Frage nach »guter« Arbeit noch viel relevanter. Dann geht es darum, wie wir sicherstellen können, dass die Beiträge aller Menschen zu einer funktionierenden Gesellschaft sichtbar gemacht und entlohnt werden können – ob sie aus Erwerbsarbeit bestehen oder nicht. Letzteren Fragen wenden wir uns am Ende dieses und im nächsten Kapitel zu. Werfen wir jedoch zuvor einen Blick auf die Frage, was gute Erwerbsarbeit ausmacht.

A worker’s world?
Wünsche an die Erwerbsarbeit

2022 führte das Meinungsforschungsinstitut Gallup eine Umfrage unter über 13.000 Beschäftigten in den Vereinigten Staaten durch. Abgefragt wurde dabei, welche Faktoren bei der Entscheidung für eine neue Arbeitsstelle relevant waren. Die Ergebnisse der Studie zeigten, dass die wichtigsten Gründe, einen neuen Job anzunehmen, Bezahlung und Wohlbefinden (wellbeing) waren.33 Daneben war es den Befragten auch wichtig, dass sie in ihrem Job ihre Stärken entfalten können und dass es ein möglichst hohes Maß an Jobsicherheit gibt. Der Stellenwert der Entlohnung war dabei in den Jahren vor der Befragung stark gestiegen. 2015 war Bezahlung nur der viertwichtigste Grund gewesen, einen neuen Job anzunehmen. 2022 war es der wichtigste. Ganze zwei Drittel der Befragten gaben an, dass bessere Bezahlung für sie der Hauptgrund sein würde, einen anderen Job anzunehmen.

Vor dem Hintergrund rasant steigender Kosten für Wohnen, Energie und andere Aspekte des täglichen Lebens ist das wenig überraschend. Und das ist natürlich nicht nur in den USA der Fall: Daten aus Deutschland und Österreich zeichnen ein sehr ähnliches Bild. Auffallend für Österreich ist, dass offene und ehrliche Kommunikation einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Marketagent zufolge überhaupt die wichtigste Anforderung an Unternehmen war. 61 Prozent der Befragten sagten, dass dies gerade in Krisenzeiten wichtig sei.34 Generell gilt: Auch wenn ihnen Einkommens- und Jobsicherheit weiter wichtig sind,35 jüngere Generationen stellen zunehmend immaterielle Werte in den Vordergrund. »Sabbatical statt Dienstwagen, flache Hierarchien statt Beförderungen, Selbstverwirklichung statt Gehorsam« – so fasst die Focus-Redakteurin Julia Kerner die Ergebnisse für die unter 40-Jährigen in einer 2018 durchgeführten Studie in Deutschland, Österreich und der Schweiz zusammen.36 Auch die Werte, die innerhalb eines Unternehmens gelebt werden, sind den Jungen wichtig.37

Zwei Aspekte, die durch die Coronapandemie für Arbeitnehmer*innen jeden Alters in vielen Teilen der industrialisierten Welt wichtiger geworden sind, sind zeitliche und örtliche Flexibilität. Die Ausgangsbeschränkungen während der Pandemie haben dazu geführt, dass in jenen Branchen, in denen das Arbeiten von zu Hause möglich ist, viele Beschäftigte Erfahrungen mit Arbeit von zu Hause gesammelt haben. Und obwohl Homeoffice-Lösungen gerade für Menschen, die Betreuungspflichten haben oder in kleinen Wohnungen leben, nicht nur Vorteile haben, sind sie doch insgesamt sehr beliebt. Man spart sich den Weg zur Arbeit und kann sich die Abläufe oft selbstbestimmter einteilen.

Dabei ist es nicht so, dass alle Büroarbeiter*innen nur noch im Homeoffice arbeiten wollen würden. Für die meisten ist die ideale Situation eine Kombination aus Homeoffice und Arbeiten im Büro. Dabei sollte das Arbeiten im Büro jedoch nicht einfach bedeuten, dass man das, was man sonst am Küchen- oder Wohnzimmertisch zu Hause erledigt, plötzlich am Schreibtisch im Büro hinter verschlossener Türe tut – das wäre ein nur schlechter Anreiz für Angestellte, auch ins Büro kommen zu wollen. Das Büro der Zukunft, so sagen Fachleute, sollte ein Ort sein, der Interaktion, Austausch und auch Teambuilding fördert.

Neben der örtlichen Flexibilität, zu der wir in diesem Kapitel noch mal zurückkehren werden, ist vielen Menschen aber auch die zeitliche Flexibilität wichtig. Produktivität, so sagten uns auch Teilnehmende aus der SolPan-Studie, die ich an der Universität Wien leite, zum Leben in der Coronakrise immer wieder,38 sollte nicht daran gemessen werden, wie viel Zeit jemand am Schreibtisch verbringt. Auch eine Studie aus den Vereinigten Staaten, die während der Coronapandemie durchgeführt wurde, zeigt, dass ganze 86 Prozent der Befragten gerne für ein Unternehmen arbeiten möchten, dem die Qualität der Ergebnisse wichtiger ist als das Arbeitsvolumen – insbesondere als die Zeit, die gearbeitet wird.39

Natürlich muss man hier Vorsicht walten lassen – Unternehmen könnten dies als Argument dafür verwenden, dass sie ihre Beschäftigten nach Ergebnissen bezahlen und nicht nach den gearbeiteten Stunden. Das würde bedeuten, dass die Mitarbeiter*innen alle Risiken tragen – auch jene, die sie nicht selbst kontrollieren können. Man kennt das von Lieferdiensten: Verkehrsbehinderungen, Zustellung im siebten Stock und der Lift ist kaputt? Den Mehraufwand trägt der Bote, die Bezahlung bleibt dieselbe. Wer nicht für die Arbeitszeit, sondern nur für das Ergebnis bezahlt wird – wie die erfolgten Lieferungen –, der hat in solchen Fällen eben Pech gehabt.

Für viele Menschen mit Bürojobs hätte ergebnisorientierte Bezahlung jedoch auch positive Aspekte: Sie müssten dann nicht mehr nur deshalb länger am Schreibtisch sitzen, damit die Chefin sieht, dass sie arbeiten, sondern würden vielleicht mit mehr Energie ihre Arbeit verrichten und dann etwas früher nach Hause gehen. Zudem bedeutet der Wunsch nach einer anderen Bemessung des Werts der Arbeit auch nicht immer, dass Menschen kürzer arbeiten wollen. Oft geht es darum, dass sie Kontrolle darüber haben möchten, wann sie was tun. Wer kennt das nicht aus dem eigenen Alltag? Ein bestimmtes Maß an Struktur haben wir alle gern, aber wenn jede einzelne Stunde des Tages fremdbestimmt ist, dann führt das zu Frustration, Ohnmacht und manchmal sogar zum Burn-out. Zudem arbeiten auch jene von uns, die Bürojobs haben, besser, wenn sie nicht den ganzen Tag in Sitzungen und Besprechungen verbringen, sondern dazwischen immer wieder auch Ruhe, Alleinsein und Zeit für freien, unstrukturierten Austausch mit anderen haben.40 Wie viel man von jedem dieser Dinge braucht, ist individuell sehr unterschiedlich.

Aber natürlich können nicht alle Leute arbeiten, wann und wo sie wollen. Im Handel, in der Gastronomie und in vielen anderen Bereichen, wo regelmäßige Präsenz unabdinglich ist, ist das überhaupt nicht möglich. In vielen Jobs sind die einzelnen Arbeitsschritte zudem so stark miteinander verzahnt, dass Beschäftigte zu bestimmten Zeiten anwesend sein müssen. Für Straßenbahnfahrerinnen oder Krankenpfleger ist das Homeoffice keine Option. Aber auch die Vorgesetzten in Betrieben, in denen Menschen zwar im Büro, aber dort häufig in Teams arbeiten, können nicht einfach die Belegschaft selbst entscheiden lassen, wann sie ins Büro kommt. Der Nachtmensch würde die Frühaufsteherin überhaupt nicht mehr zu Gesicht bekommen. Verbesserungen des Status quo sind vielerorts jedoch trotzdem möglich. In vielen Betrieben und Organisationen sind etwa Kernarbeitszeiten festgelegt – ohne dass die Arbeitskräfte jedoch jemals gefragt wurden, wie es ihnen mit diesen Zeiten geht. Aber warum sollten sie eigentlich nicht darüber mitbestimmen dürfen? Ein gemeinsamer Austausch darüber, wann alle anwesend sein müssen und zu welchen Zeiten jede Person flexibel entscheiden kann, ob sie arbeitet oder nicht, würde für Beschäftigte in Büros bereits viel zur Verbesserung der Situation beitragen.

Und dann ist da natürlich noch die Wertschätzung. Denn der empfundene Sinn und Wert einer Arbeit ergibt sich nicht nur aus der Tätigkeit an sich, sondern auch daraus, wie diese Arbeit gesellschaftlich anerkannt und finanziell bewertet wird. Wenn jemand etwa Reinigungstätigkeiten verrichtet, dann trägt diese Person sehr viel zum gesellschaftlichen Wohl bei – in den meisten Fällen mehr als etwa eine Person, die mit riskanten Finanzprodukten handelt. Es wird jedoch schwierig für diese Person sein, ihre Arbeit als sinnvoll anzusehen, wenn sie von ihrer Umgebung suggeriert bekommt, dass sie einen »Versagerjob« hat. Dass sie in der Reinigung tätig ist, weil sie nichts anderes kann. Die typischerweise sehr niedrige Entlohnung in dieser Branche – wenn die Arbeit überhaupt bezahlt ist, was der Großteil der Reinigungsarbeit, die Menschen verrichten, ja nicht ist, weil er »unsichtbar« in den eigenen vier Wänden passiert – stößt in dasselbe Horn. Die Person, die mit riskanten Finanzprodukten handelt hingegen, wird schon allein deshalb ihre Arbeit als sinnvoll erleben, weil sie viel Geld dafür bekommt. Die Höhe der Entlohnung bezahlter Arbeit spielt also auch eine Rolle, wenn es darum geht, den Sinn und Wert der Arbeit zu bestimmen.

Der empfundene Sinn und Wert einer Arbeit ergibt sich nicht nur aus der Tätigkeit an sich, sondern auch daraus, wie diese Arbeit gesellschaftlich anerkannt und finanziell bewertet wird.

Ob eine Arbeit als sinnvoll erlebt wird, hängt auch damit zusammen, ob einem das soziale Umfeld signalisiert, dass die Tätigkeit, die man verrichtet, wertvoll ist. Daten aus den USA zeigen, dass Personen in Sozial- und Gesundheitsberufen, aber auch in der Bildung und in der Rechtsbranche ihre Arbeit als am sinnvollsten erleben.41 Es hängt also weniger damit zusammen, ob eine Arbeit »Spaß« macht – sondern damit, ob sie wertgeschätzt wird und man das Gefühl hat, damit einen positiven Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Auch Arbeit, die sehr stressig oder mühsam ist – wie der Job einer Lehrerin, eines Elementarpädagogen oder einer Krankenpflegerin –, wird als sinnvoll erlebt, wenn den Beschäftigten klar ist, dass sie damit etwas Nützliches tun. In Summe erleben heute allerdings kaum die Hälfte aller Beschäftigten ihren Job als sinnerfüllend und insgesamt befriedigend.42

In einer Befragung von insgesamt 14.000 unselbstständig erwerbstätigen Personen aus 37 Ländern der Welt zeigte sich, dass Arbeitnehmer insbesondere im Gastgewerbe und im Tourismus unzufrieden sind. Am zufriedensten sind jene, die in der Technologie- und Finanzbranche tätig sind. Bezüglich der Sinnfrage ist Österreich übrigens das Schlusslicht – nur rund 40 Prozent der Befragten empfinden ihre Arbeit als sinnvoll, das sind 20 Prozentpunkte weniger als im weltweiten Durchschnitt.43 Das geflügelte Wort, dass die meisten Menschen, die kündigen, nicht das Unternehmen, sondern den Chef verlassen, spielt hier zweifellos eine wichtige Rolle. Ein menschlicher, fairer Vorgesetzter und auch Kollegen, die die eigene Arbeit anerkennen und wertschätzen, sind für viele Menschen sogar wichtiger als eine Gehaltserhöhung. Eine gute Kommunikationskultur und Entwicklungsmöglichkeiten im Unternehmen sind weitere wichtige Aspekte, damit sich Beschäftigte in ihrem Job wohlfühlen.

Dass viele Menschen lieber kündigen, als in einem Job zu verbleiben, der sie unglücklich oder gar krank macht, zeigen auch Daten aus den USA. Dort und in einigen anderen Teilen der westlichen Welt spricht man vom Phänomen der »Great Resignation«, also einer »großen Kündigungswelle« – die allerdings, wie der englische Begriff signalisiert, auch etwas mit einer inneren Resignation zu tun hat. Die Gründe dafür sind vielfältig: Neben einer Welle von Burn-outs und einem Kündigungs-Rückstau nach den ersten zwei Jahren der Pandemie, weil während des Lockdowns fast niemand kündigen wollte, haben sich auch die Werte und Prioritäten der Menschen verändert. Und dann gibt es noch einen vierten Grund für die »Große Resignation«, die sogenannte RTO-Regel: »return-to-office«. Viele Menschen, die während des Lockdowns von zu Hause gearbeitet haben, waren nicht bereit, wieder zurück ins Büro zu gehen. Zumindest nicht mehr als ein oder zwei Tage in der Woche.

Auch wenn es in unserem Teil der Welt keine »Große Resignation« in Form einer Kündigungswelle gibt, so taucht auch hier das Phänomen auf, dass Arbeitskräfte aus bestimmten Sektoren in andere abwandern oder dass der »natürliche« Abgang von Arbeitskräften nicht, wie es bisher zu erwarten gewesen wäre, durch neue Mitarbeiter*innen kompensiert wird. Fehlende Flexibilität ist dafür nicht der einzige Grund, aber er spielt eine Rolle. Nicht nur die Nähe des Arbeitsplatzes zum Wohnort ist vielen Menschen wichtig.44 In jenen Branchen, wo dies prinzipiell möglich ist, ist auch die Option, manchmal von zu Hause zu arbeiten, für viele von Bedeutung. Trotz aller Nachteile ist das Homeoffice nämlich insgesamt auch hierzulande sehr beliebt. Man erspart sich das Pendeln – und damit Fahrtkosten, wobei der finanzielle Aspekt in Zeiten explodierender Energiekosten schwächer wird –, und man muss auch Kolleg*innen, die man vielleicht lieber nicht sehen möchte, nicht täglich begegnen. Zudem kann das Arbeiten von zu Hause auch die Produktivität steigern – und Beschäftigte sehen es als Zeichen des Vertrauens, wenn Vorgesetzte einer Homeoffice-Lösung zustimmen.45 Letzteres kann sich dann übrigens wieder positiv auf die Firma oder die Organisation auswirken: Arbeitnehmer*innen, die ihre Führungskräfte als vertrauensvoll und unterstützend wahrnehmen, bleiben länger im Unternehmen.

Viele Unternehmen sind aber gerade bei örtlicher und zeitlicher Flexibilität etwas skeptisch. Das Homeoffice macht es jenen, die gerne ein bisschen absacken, noch leichter, ungesehen nichts zu tun. Oder? Ein Unterfangen des amerikanischen Patentamts wirft ein anderes Licht auf wichtige Aspekte dieser Frage.46

2006 führte das amerikanische Patentamt eine Homeoffice-Regelung ein, die es den Angestellten erlaubte, bis zu vier Tage in der Woche ohne Sondergenehmigung von zu Hause zu arbeiten. Weil man die Sache vorsichtig angehen wollte, probierte man diese neue Regelung zuerst mit einer Gruppe von 500 Personen aus. Die Produktivität dieser Beschäftigten sank keineswegs. Weil es so gut lief, ging man einige Jahre später noch einen Schritt weiter: Im Jahr 2021 führte das Patentamt eine sogenannte Work-from-anywhere-Regel (WFA) ein, die es Mitarbeiter*innen erlaubte, von jedem beliebigen Ort am amerikanischen Kontinent zu arbeiten. Der Strand in Hawaii war also tabu, aber sonst konnte man nun von fast überall die Arbeit erledigen – im Hotel in New York nach dem verlängerten Wochenende, bei den Schwiegereltern am Bauernhof in Ohio oder bei der Schwester in Montana. Die Produktivität der Beschäftigten stieg um 4,4 Prozent an. Ein zusätzlicher Vorteil war, dass das Patentamt Arbeitskräfte, die aus bestimmten Gründen umziehen mussten – etwa weil es der Beruf des Ehepartners verlangte oder weil es andere familiäre Gründe gab –, nicht verlor. Sie konnten ihren Job behalten und einfach ihre Arbeit von einem anderen Ort aus verrichten. Das Modell war so erfolgreich, dass die Autoren der Studie, mit der diese Maßnahmen evaluiert wurden, Unternehmen und Organisationen vorschlugen, WFA-Regelungen als Anreiz zu verwenden, um Arbeitskräfte zu rekrutieren oder zu behalten.

Natürlich kann man die Erfahrungen des amerikanischen Patentamts nicht eins zu eins auf andere Branchen oder andere Länder umlegen. Viele Berufe können gar nicht von zu Hause ausgeübt werden – für den Großteil der Angestellten eines Bäckereibetriebes wäre WFA ein schlechter Scherz. Außerdem stehen in manchen Ländern arbeitsrechtliche Bestimmungen einer solchen örtlichen Flexibilität im Weg. Die amerikanische Patentamt-Studie zeigt jedoch deutlich, dass viele Menschen, wenn man ihnen mehr Entscheidungsfreiheit darüber gibt, wo und wie sie arbeiten, nicht weniger, sondern besser arbeiten. Betriebe wären gut beraten, nicht einfach anzunehmen, dass ihre Mitarbeiter*innen faul werden, sobald man ihnen nicht ständig über die Schulter schaut. Gleichzeitig sollte man auch nicht mit religiösem Eifer vorschlagen, dass am besten alle dauerhaft im Homeoffice arbeiten sollen – weil sich die Firma dann etwa die Miete für große Büroräume und Energiekosten für das Heizen und Kühlen spart.

Die Wahrheit liegt also, wie so oft, in der Mitte: Motivierte Mitarbeitende wissen, wo sie selbst gut arbeiten. Für manche ist es der Garten des Elternhauses oder der Balkon der eigenen Wohnung, während andere den täglichen Kontakt mit dem Team im Büro schätzen und zu Hause vereinsamen würden. In jenen Branchen und in dem Ausmaß, in dem das möglich ist, soll man die Menschen einfach öfter selbst entscheiden lassen. Es gibt nicht immer einen guten Grund dafür, dass es am Arbeitsplatz hierarchisch zugehen muss – manchmal ist es einfach nur Gewohnheit.

Wie lang, wie kurz?

Das Thema Arbeitszeitverkürzung war in den letzten Jahren immer wieder auch politisch sehr aktuell. Bürger*inneninitiativen und Vorstöße von Arbeitnehmer*innenorganisationen fordern eine Verkürzung der Arbeitszeit. Und das nicht, wie von den Gegnern dieser Idee behauptet wird, weil es den Leuten zu gut geht und sie weniger arbeiten wollen. Auf einige wenige mag das zutreffen – für die Mehrheit geht es jedoch darum, dass die Beschleunigung des Lebens in den letzten Jahren zu mehr Stress und daraus resultierenden Krankheiten geführt hat. Statistisch gesehen hat mehr als eine bzw. einer von zehn Beschäftigten gesundheitliche Probleme, deren Ursachen in der Erwerbsarbeit liegen. Über Stress berichten noch viel mehr. Bei jenen Menschen, die etwa als Scheinselbstständige in arbeitsrechtliche Konstruktionen gedrängt wurden, die die Arbeitnehmerrechte umgehen, kommen häufig noch existenzielle Sorgen hinzu. Und für viele Menschen, die in fixen Arbeitsverhältnissen arbeiten, ist die Freizeit nur noch eine Zeitspanne, in der sie die Hausarbeit verrichten, wichtige Besorgungen machen und sich gerade genug erholen, um am nächsten Arbeitstag wieder einigermaßen fit für den Joballtag zu sein. Viele Menschen möchten auch deshalb kürzer arbeiten, um ihre Arbeit erholter und besser verrichten zu können – und das erreicht man mit einer besseren Balance zwischen Zeit mit Familie und Freunden, Erholung und Zeit, die für die Arbeit reserviert ist.

Eine repräsentative Umfrage in Österreich im Sommer 2020, die wir im Rahmen des Coronapanels an der Uni Wien durchgeführt haben,47 zeigte, dass mehr als die Hälfte der in Österreich lebenden Menschen eine Verkürzung der eigenen Arbeitszeit befürworten würden. Drei von zehn gaben an, ihre Wochenarbeitszeit sogar um mehr als einen Arbeitstag reduzieren zu wollen. Bemerkenswert an dieser Studie war, dass sie im ersten Pandemiejahr stattfand, also in einer Zeit, in der sich sehr viele unfreiwillig in Kurzarbeit befanden. Trotzdem unterschieden sich die Ansichten der Menschen in Kurzarbeit nicht von jenen, die nicht davon betroffen waren. Auch in Deutschland gibt es eine satte Mehrheit für kürzeres Arbeiten: 71 Prozent würden die rechtliche Möglichkeit begrüßen, die Wochenarbeitszeit auf vier statt fünf Tage zu verteilen. 59 Prozent sagen, dass sie auch selbst von dieser Möglichkeit Gebrauch machen würden. Besonders hoch ist die Präferenz einer Vier-Tage-Woche bei Arbeitnehmern im mittleren und höheren Alter.48 Wie in Österreich würde auch in Deutschland eine Mehrheit eine absolute Verkürzung der Arbeitszeit befürworten – auch dann, wenn das Gehalt proportional dazu sinkt.49

Manche Initiativen zur Arbeitszeitverkürzung fordern einen vollen Lohnausgleich. Von den Arbeitnehmer*innenvertretungen wird dies oft als überspitzt dargestellt. Diese Forderung wirkt aber gleich weniger überzogen, wenn man bedenkt, dass Menschen in vielen Berufen heute mehr Arbeit in kürzerer Zeit verrichten – mit all den Nachteilen, die dies mit sich bringt. Stressbedingte Schlafprobleme oder andere gesundheitliche Symptome gehören dazu. Ein voller Lohnausgleich könnte insofern auch als eine gerechtere Kompensation für Arbeit gesehen werden, die viele ohnehin schon verrichten. Dazu kommt, wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt, dass die Löhne schon seit vielen Jahrzehnten nicht mehr mit den Produktivitätssteigerungen mitgehalten haben. Der wirtschaftliche Wohlstand wuchs, ohne dass die Einkommen der erwerbstätigen Menschen entsprechend gestiegen sind. Die Erträge der höheren Produktivität wurden stattdessen an die Aktionäre als Dividenden ausbezahlt. Eine Arbeitszeitverkürzung bei gleichbleibendem Lohn würde diese Ungerechtigkeit und den schleichenden Lohnverfall zumindest ein wenig ausgleichen.

Die Volksweisheit, dass länger arbeiten nicht unbedingt bessere Ergebnisse bringt, ist übrigens mit Daten belegbar.

Die Volksweisheit, dass länger arbeiten nicht unbedingt bessere Ergebnisse bringt, ist übrigens mit Daten belegbar.50 Studien belegen, dass bei Menschen, die es gewohnt sind, weit mehr als 40 Stunden pro Woche zu arbeiten, die Produktivität steigt, wenn ihre Arbeitszeit verkürzt wird. Eine Studie der Stanford University aus dem Jahr 2014 hat ergeben, dass die Produktivität sinkt, wenn Menschen 50 Stunden pro Woche arbeiten.51 Leider hält diese Evidenz viele Vorgesetzte trotzdem nicht davon ab, eine 50-Stunden- oder sogar eine 60-Stunden-Woche als Ausdruck eines guten Arbeitsethos zu sehen – zum Teil sehen das auch die arbeitenden Menschen selbst so. So stark ist die Idee in unserer Gesellschaft verankert, dass man sich durch besonders harte Arbeit ein gutes Leben »verdient«. Dass diese Erzählung mittlerweile längst zu einer Fiktion geworden ist, die auf immer weniger Menschen tatsächlich zutrifft, haben wir im ersten Kapitel erörtert.

Wie lang eine ideale Arbeitswoche sein soll, ist natürlich auch von individuellen und familiären Bedürfnissen und Umständen abhängig. Trotzdem gibt es ein paar allgemeine Orientierungspunkte. Einige Studien zeigen, dass sechs Stunden am Tag optimal für Wohlbefinden und Produktivität sind. Eine kürzere Arbeitswoche könnte übrigens nicht nur den arbeitenden Menschen, sondern auch den Firmen und Organisationen nutzen. Die höhere Produktivität gut erholter Beschäftigter bedeutet, dass sie weniger Fehler machen, besser mit anderen zusammenarbeiten und dadurch ganze Teams effizienter sind. Und dass es weniger Krankenstände gibt. Trotzdem hält sich die Idee in den Hirnen vieler sehr hartnäckig, dass der Wunsch nach kürzerer Erwerbsarbeitszeit Ausdruck von Faulheit oder anderer moralischer Untugenden ist. Auch das zeigt, wie sehr in den Köpfen vieler Menschen die Idee verankert ist, dass Arbeit mühselig sein oder sogar wehtun muss. In dieser Hinsicht haben wir das Mittelalter in den Köpfen noch nicht überwunden.

Auf dem Weg in eine bessere Gesellschaft: Ein ganzheitlicher Blick auf Arbeit und ihren Wert

In Anlehnung an die Philosophin Hannah Arendt kann man zwischen drei unterschiedlichen Arten von Tätigsein unterscheiden: Arbeiten, Herstellen und Handeln. Unter Arbeit versteht Arendt jene Tätigkeiten, die dem Fortbestand der menschlichen Gattung dienen. Kochen, Waschen und auch andere Tätigkeiten gehören dazu, die der Aufrechterhaltung des Lebens und des Alltags dienen. Ganz ähnlich wie es im europäischen Mittelalter der Fall war, sah auch Arendt Arbeit nicht als Ausdruck von Freiheit, sondern von Zwang, dem jeder Mensch von seiner Geburt bis zu seinem Tod notwendigerweise unterliegt.

Dem gegenüber beschreibt Arendt mit dem Begriff des Herstellens das kreative und handwerkliche Schaffen beständiger Dinge. Die Tätigkeit von Handwerker*innen oder Kunstschaffenden, aber auch viele Bereiche der Sorgearbeit fallen unter diesen Begriff. Das Herstellen ist für Arendt jene Form des Tätigseins, die uns Menschen von Tieren unterscheidet. Im ersten Kapitel wurde schon darauf hingewiesen: Auch Tiere »arbeiten« in dem Sinne, dass sie ihr eigenes und das Überleben der Art zu sichern versuchen. Die Herstellung geistiger, künstlerischer oder beständiger handwerklicher Dinge ist allerdings uns Menschen eigen. Wer also ein Gemälde malt, eine Geschichte niederschreibt oder einen Kasten baut, der tut mehr, als bloß zu überleben.

Und dann nennt Arendt noch eine dritte Form des Tätigseins, das »Handeln«, das den privaten und den öffentlichen Raum verbindet. Es ist unabhängig von den Bedürfnissen des Überlebens und auch vom kreativen oder handwerklichen Herstellen. Es bezeichnet die Art, wie Menschen der Welt gegenüber in Erscheinung treten. Denn wer und wie wir sind, offenbaren wir nicht allein durch Worte, sondern durch unser Handeln. Im Gegensatz zum Arbeiten und Herstellen kommt die Initiative des Handelns nicht von außen, sondern von innen. Das Singen im Chor, das Engagement bei einem Verein oder auch bei einer politischen Partei ist »Handeln« im Sinne Hannah Arendts.

Auch wenn es also große Unterschiede zwischen diesen drei Formen des Tätigseins gibt und uns alle in anderer Weise offenbaren und verändern, so gehörten doch alle drei zu einem aktiven menschlichen Leben.

Interessant in diesem Kontext ist auch die sogenannte 4-in-1-Perspektive auf Arbeit der Soziologin Frigga Haug.52 Haug spricht von vier Dimensionen des Lebens, die das Tätigsein der Menschen zu ungefähr gleichen Teilen prägen sollen: Erwerbsarbeit, Sorge- und Reproduktionsarbeit, kulturelle und Entfaltungsarbeit sowie politische Arbeit. Die kulturelle und die Entfaltungsarbeit, so Haug, sei ein Bedürfnis, das alle Menschen hätten und deren Befriedigung auch allen Menschen offenstehen müsse – und nicht nur jenen, die dafür bezahlen können.

Mit politischer Arbeit ist im Übrigen nicht nur die Mitgliedschaft oder Aktivität in politischen Parteien gemeint, sondern das aktive Mitwirken an der Gestaltung der Gesellschaft über die Ausübung des Wahlrechtes hinaus. Es geht darum, dass alle Menschen mitentscheiden können, wie die Gesellschaft gestaltet ist, in der sie leben.

Auch wenn Arendt und Haug hier teils andere Trennlinien zwischen unterschiedlichen Formen des Tätigseins ziehen, so betonen doch beide zwei Dinge: Erstens, dass sowohl mühsame und schwierige Tätigkeiten, die regelmäßig erledigt werden müssen, um das Leben und Überleben zu ermöglichen, als auch das kreative, handwerkliche und soziale Tätigsein zur Arbeit gehören. Weder Arendt noch Haug reduzieren Arbeit auf Erwerbsarbeit. Zweitens geht es insbesondere Haug darum, zu betonen, dass Menschen an all diesen Tätigkeiten beteiligt sein sollen – und nicht nur politische Arbeit leisten und alles andere auslagern (oder umgekehrt). Zu einem guten Leben – sowohl für die einzelnen Menschen als auch für die Gesellschaft – gehören verschiedene Formen der Arbeit.

Wenn wir vor diesem Hintergrund nun die Frage stellen, was eine »worker’s world« ausmacht, dann geht es nicht nur um Homeoffice, Arbeitszeitverkürzung und selbstbestimmtes Arbeiten. Es geht darum, welchen Wert wir welcher Arbeit in unserer Gesellschaft beimessen. Und darüber hinaus geht es um die Frage, wie es gelingen kann, dass wir auch jene Arbeit, die nicht die Form der Erwerbsarbeit nimmt, sichtbar machen und wertschätzen.

Arbeit fair bewerten

Ein wichtiger Aspekt der Arbeitswelt der Zukunft ist die Notwendigkeit, Arbeit fair zu bewerten. Dies muss sich einerseits in angemessener Entlohnung ausdrücken – und andererseits auch in gesellschaftlicher Anerkennung. Um die Sache noch etwas komplizierter zu machen: Diese beiden Dinge stehen natürlich miteinander in Verbindung. Schlechte Entlohnung kann man nicht einfach mit mehr Applaus wettmachen. Genauso wie wir den Preis mancher Konsumgüter – Autos, Mobiltelefone oder auch Lebensmittel – als Indikator dafür sehen, wie wertvoll sie sind, wird die Entlohnung unserer Arbeit oft als Gradmesser ihres Wertes gesehen. Dass da etwas verrutscht ist – weil gerade einige der wichtigsten und wertvollsten Tätigkeiten in unserer Gesellschaft nicht besonders gut entlohnt werden –, haben wir schon thematisiert. Aber wie würde denn eine faire Entlohnung aussehen, die sich auch in gesellschaftlicher Anerkennung für wertvolle Arbeit widerspiegelt?

Im Rahmen meiner Lehrveranstaltungen zur Zukunft der Arbeit an der Universität Wien stelle ich diese Frage regelmäßig meinen Studierenden. Fast immer sind sich alle einig, dass nicht jede Erwerbsarbeit gleich entlohnt werden soll. Weniger Einvernehmen findet sich bei der Frage, welche Art von Jobs denn besser bezahlt werden sollten als andere. Einige Studierende nennen als Erstes die Verantwortung, die jemand in seinem Beruf trägt, als Indikator des Wertes der Arbeit. Der Chef eines großen Unternehmens oder eine Ministerin müsse ein höheres Gehalt bekommen als ein Verkäufer in einer Bäckerei – weil ja viel mehr schiefgehen kann. Weil man in diesen Positionen Verantwortung für zahlreiche Beschäftigte trägt und viel öfter auch die Arbeit mit nach Hause nehmen muss – zumindest im Kopf.

Klingt einleuchtend, oder? Zumindest so lange, bis man sich überlegt, warum ein Geschäftsführer in einem mittelständischen Unternehmen in Deutschland im Jahr durchschnittlich 130.000 Euro verdient,53 zuzüglich eventueller Prämien, Dienstwagen und anderer Goodies, während eine erfahrene Kindergartenpädagogin gerade mal ein Drittel davon bekommt. Obwohl die Kindergartenpädagogin häufig Verantwortung für mindestens ebenso viele Menschen trägt wie besagter Geschäftsführer. Und vermutlich nehmen beide ebenso häufig Arbeit mit nach Hause, ob in der Tasche oder im Kopf. Die Verantwortung allein ist es also nicht.

Das sehen die meisten meiner Studierenden auch so. Aber für manche Jobs benötigt man nun einmal besondere Fähigkeiten und Talente, sagt dann meist irgendjemand. Eine Konzertpianistin, eine Spitzensportlerin oder ein Schauspieler kann nicht jeder werden. Solche Fähigkeiten kann man nicht einfach lernen. Das stimmt natürlich! Aber bedeuten die Top-Gagen, die Fußball- oder Serienstars bekommen, wirklich, dass ihre Arbeit so viel mehr wert ist als die Arbeit der anderen? In vielen Fällen millionenfach mehr wert?

Die Antwort liegt zu einem erheblichen Teil in den ökonomischen Prozessen der Wertschöpfung, in die diese Berufe eingebettet sind. Beim Fußballstar ist es verkürzt gesagt die Kommerzialisierung dieses Sports, die für die hohen Gagen verantwortlich ist: Ein Top-Fußballspieler ist nicht nur deshalb so viel wert, weil er gut Fußball spielt, sondern weil der Verein durch ihn Fernsehrechte und Fanartikel teuer verkaufen kann. Auch bei anderen hoch bezahlten Berufen handelt es sich nicht bloß um die Vergütung von Arbeit, die man nur mit einem großen Talent verrichten kann, sondern um eine Mischung aus Begabung, harter Arbeit und Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein. Manchmal geht es einfach darum, die richtigen Leute zu kennen.

Als Nächstes nennen meine Studierenden dann meist die Dauer der Ausbildung. Wer länger in der Ausbildung bleibt, beginnt erst später damit, Geld zu verdienen und hat länger höhere Kosten, höre ich. Dieser relative Einkommensnachteil, der bei der Ausbildung zu manchen Berufen – man denke an Chirurginnen, Instrumentenbauer oder Universitätsprofessorinnen – viele Jahre dauert, sollte später durch ein höheres Gehalt in diesen Berufen wieder ausgeglichen werden. Auch das klingt einleuchtend und ist bis zu einem gewissen Grad auch gerechtfertigt. Dass eine Person, die beispielsweise eine Ausbildung als Sanitärtechnikerin absolviert hat, mehr verdient als ihr Bruder, der seit seinem 16. Lebensjahr als Küchenhilfskraft Geld verdient, scheint fair.

Weit weniger plausibel sind die Einkommensunterschiede zwischen unterschiedlichen Branchen. So verdienten etwa zum Ende des zweiten Pandemiejahres die Vorstände großer börsennotierter Firmen in Österreich in fünf Tagen so viel wie ein durchschnittlicher Arbeitnehmer im ganzen Jahr.54 Das war übrigens genau zu der Zeit, als öffentlich breit darüber diskutiert wurde, wie sehr »die Wirtschaft« unter der Pandemie leidet, und großzügige Unternehmenshilfen ausbezahlt wurden. Verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist richtig, kleine und mittelständische Unternehmen zu unterstützen. Aber hier wurde mit der Gießkanne verteilt – auch an jene, die die Hilfe nicht benötigt haben. »Die Wirtschaft« im Allgemeinen verdient anscheinend unsere Unterstützung. Bei den Arbeitnehmer*innen hingegen schreit irgendjemand immer gleich auf, wenn etwas mit der Gießkanne verteilt werden soll. Da muss jegliche Förderung »treffsicher« sein.55

Genau das – also treffsicher – sind Einkommen heute allerdings nicht. Zumindest nicht, wenn es um Leistung geht. In den Vereinigten Staaten, dem Land mit den größten Einkommensunterschieden aller industrialisierten Länder, verdienten im Jahr 2020 die obersten 20 Prozent der Bevölkerung mehr als die Hälfte (52,2 Prozent) des gesamten Einkommens im Land. Ihr durchschnittliches Haushaltseinkommen betrug 446.030 Dollar. Die Reichsten der Reichen, die obersten fünf Prozent, verdienten fast ein Viertel (23 Prozent) des gesamten Einkommens. Auf die untersten zwanzig Prozent entfielen hingegen nur drei Prozent des Gesamteinkommens der Nation. Das durchschnittliche Haushaltseinkommen der Geringstverdienenden betrug 14.589 Dollar56 und liegt damit weit unter der Armutsgrenze, die im selben Jahr für eine vierköpfige Familie bei 26.496 Dollar lag.57 Dazu haben die meisten Geringverdienenden in den USA keine Kranken- oder Pensionsversicherung. Auch das erklärt die höheren Sterberaten ärmerer Menschen – nicht nur an COVID-19, sondern auch an Krebs, Herz-Kreislauf- und Suchterkrankungen.

Und die Schere geht in schnellem Tempo weiter auf: Im Pandemiejahr 2020 wuchsen die Einkommen des einen Prozent der Bestverdienenden in den Vereinigten Staaten um 179 Prozent, während die Gehälter der 90 Prozent Geringerverdienenden durchschnittlich um 1,7 Prozent anstiegen.58 Wenn also ein Manager 2019 noch eine Million Dollar im Jahr verdient hatte, dann wäre sein Gehalt in dem einen Jahr um ganze 1.790.000 Dollar gewachsen. 2020 hätte er also 2 Millionen und 790.000 Euro verdient. Ein deutscher Durchschnittsverdiener59 hätte im selben Zeitraum einen Einkommensgewinn von 836 Euro gehabt – er würde also statt 49.200 knapp über 50.000 Euro im Jahr verdienen.

Das Haushaltseinkommen der Gutverdienenden in den Vereinigten Staaten ist 30-mal so hoch wie das der Schlechtverdienenden. Auch wenn der Unterschied in unseren Breiten nicht ganz so krass ist: Die Ausbildungsdauer der betroffenen Berufe kann diese Unterschiede nicht erklären. Was ist es dann?

Die Unterteilung von Berufen des amerikanischen Technologieexperten Yonatan Zunger, der 14 Jahre lang bei Google arbeitete, bevor er in einem anderen Start-up im Silicon Valley landete, zeigt, wie tief diese Unterschiede in unsere Gesellschaft eingeschrieben sind. Zunger unterscheidet zwischen vier Typen von Jobs:60 Der erste Typ ermöglicht es Leuten, sich ein Stück des gesellschaftlichen Reichtumskuchens abzuschneiden. Dazu gehören zum Beispiel Investment-Banker oder Schönheitschirurginnen. In die zweite Gruppe fallen jene Jobs, in denen das Angebot knapp ist, weil es wenige Menschen gibt, die die entsprechende Arbeit tun können. Darunter fallen die Konzertpianistin, die Spitzensportlerin oder auch Zunger selbst – als Softwareentwickler. Die dritte Gruppe umfasst »normale« Jobs, die keiner anderen Gruppe zugerechnet werden können. In der vierten Gruppe sind jene Jobs, die niemand machen will – und die nur deshalb getan werden, weil Menschen ein Einkommen brauchen.

Eine Gesellschaft, die die Arbeit aller Menschen würdigt und fair entlohnt – im weitesten Sinn des Wortes –, sieht anders aus. Eine solche Gesellschaft würde zuallererst die Tätigkeiten aller Menschen, die etwas zum Wohl anderer Menschen oder zum Schutz der natürlichen Umwelt beitragen, als Arbeit sehen. Damit würde auch die unbezahlte Sorgearbeit, Kulturarbeit und politische Arbeit (im Sinne Frigga Haugs) als Arbeit anerkannt und entsprechend entlohnt.

Dies bedeutet nicht, dass alle Formen dieser Arbeit – das Kochen für Familienmitglieder oder die Teilnahme an einem Chorwochenende – in bezahlte Arbeit umgewandelt werden müssen. Aber es bedeutet, dass der Pensionist, der seine Enkelkinder betreut, oder die alleinerziehende Mutter, die nach heutiger Ansicht »nicht arbeitet«, weil sie keiner Erwerbsarbeit nachgeht, als arbeitende Menschen gesehen werden. Ihr Beitrag zur Gesellschaft wird gewürdigt, und es würde sichergestellt sein, dass sie in jeder Lebensphase genug haben, um ein würdevolles Leben zu führen.

Zusätzlich dazu wären in einer »worker’s world« die Einkommensunterschiede zwischen den bestbezahlten und den am geringsten bezahlten Jobs nicht so groß wie heute. Auch hier geht es nicht darum, Ungleichheiten vollständig abzuschaffen – das wäre nicht möglich und auch gar nicht wünschenswert. Nicht jede Arbeit muss gleich entlohnt werden. Aber es ist nicht einzusehen, dass die Einkommen mancher Menschen in schwindelerregendem Tempo steigen, während andere arbeitende Menschen nicht genug haben, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Entlohnung von Arbeit muss so gestaltet sein, dass sie einerseits den gesellschaftlichen Wert der Arbeit symbolisiert und andererseits sicherstellt, dass alle genug für ein würdevolles Leben haben. Wenn wir dies ernst nehmen, dann ist die faire Entlohnung von Arbeit nicht nur eine Sache derer, die die Erwerbsarbeit ihrer Beschäftigten bezahlen. Sie ist eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung.

Nicht jede Arbeit muss gleich entlohnt werden. Aber es ist nicht einzusehen, dass die Einkommen mancher Menschen in schwindelerregendem Tempo steigen, während andere arbeitende Menschen nicht genug haben, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Auch wenn keine Gesellschaft dazu in der Lage sein wird, völlige Einigkeit darüber zu erzielen, welche Arbeit wie viel wert ist, wäre es schon ein Start, die Unterschiede in den Einkommen der Best- und Geringverdienenden zu verringern. Und dann gibt es noch eine sehr pragmatische Lösung dafür, jede Arbeit als Arbeit anzuerkennen und gleichzeitig die Möglichkeit für Menschen zu erhöhen, Arbeit, die sie krank und unglücklich macht, gegen Arbeit einzutauschen, die sie sinnvoll finden: nämlich die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens.

Damit gäbe es in einer »worker’s world« die vierte Art von Jobs, die Zunger beschreibt, gar nicht: Keine Arbeit wäre so schlecht bezahlt und hätte so schlechte Arbeitsbedingungen, dass Menschen sie nur machen, weil sie ansonsten nicht genug zum Leben haben.

Wie wir eine solche Gesellschaft realisieren können, davon handelt das letzte Kapitel.