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Was wir brauchen: Gebrauchsanleitung für Utopien

Im vorangegangenen Kapitel haben wir uns mit der Frage beschäftigt, was alles unter den Arbeitsbegriff fällt, und welcher Wert Arbeit beigemessen werden sollte. Nun geht es um die größere Frage: Welche Rolle soll Arbeit in unserer Gesellschaft haben? Und welche Art von Gesellschaft fördert »gutes« Arbeiten, das weder die Menschen noch den Planeten kaputt macht?

Arbeit spielt eine zentrale Rolle im Leben der Menschen. Nicht nur im Leben derer, die einer Erwerbsarbeit nachgehen, sondern aller Menschen. Für die meisten von uns bestimmt Arbeit (im weiteren Sinn), wann wir aufstehen und zu Bett gehen, wann und mit wem wir essen, wann und wo wir einkaufen – und wie viel Geld wir zur Verfügung haben (zumindest für jene, die nicht von Kapitalvermögen leben). Sie bestimmt, wie wertvoll und nützlich sich viele Menschen fühlen und wie akzeptiert – oder nicht – in und von der Gesellschaft.

In Zeiten, in denen man sich Wege überlegt, wie unsere Gesellschaft grüner und nachhaltiger werden kann, ist es sinnvoll, bei diesen Überlegungen mit der Arbeit zu beginnen. Weil sie mit allen Tätigkeiten des Alltags und mit allen Bereichen unseres Lebens verwoben ist, ist sie der Schlüssel zu einer weitergehenden Transformation unserer Gesellschaft.

Was gibt es da zu tun? Als Erstes brauchen wir einen breiteren Arbeitsbegriff. Es kann nicht sein, dass Menschen die zehn, zwölf oder mehr Stunden am Tag Familien- oder Betreuungsarbeit leisten, als »arbeitslos« oder sogar als faul angesehen werden. Zweitens muss Erwerbsarbeit fair bezahlt werden. Es gibt keine sachliche Rechtfertigung für die extremen Unterschiede bei der Höhe der Arbeitseinkommen – und auch nicht dafür, dass manche Tätigkeiten, die genauso wichtig und wertvoll sind wie andere, so schlecht bezahlt werden.

Es existieren weltweit viele Initiativen, die dafür eintreten, dass ein Teil der von Familienmitgliedern oder anderen Zugehörigen geleisteten unbezahlten Sorge- und Pflegearbeit in bezahlte Arbeit übergeführt wird. Dafür gibt es gute Gründe: Solange es noch kein bedingungsloses Grundeinkommen gibt, sind die Menschen, die diese Arbeit tun, weder sozial abgesichert noch formal als arbeitende Menschen anerkannt. Beides sind Probleme, die gelöst werden müssen. Zugleich bedeutet dies aber nicht, dass jede Form der Arbeit unbedingt und immer bezahlt sein muss oder soll: Dass jeder, der für die betagten Nachbarn einkaufen geht, dafür Geld bekommen muss, oder dass das Beaufsichtigen der Enkelkinder die Großeltern zu bezahlten und einkommenssteuerpflichtigen Dienstleistern macht. Eine solche Situation würde bedeuten, dass die Marktlogik alle Bereiche unseres Lebens dominiert. Auch wenn ein weiter Arbeitsbegriff, der alle Formen des Tätigseins für andere Menschen oder die Gesellschaft als Arbeit anerkennt, angelegt wird, so heißt das nicht, dass alle diese unterschiedlichen Formen des Tätigseins in einen Topf geworfen werden können oder sollen. Natürlich gibt es weiterhin unterschiedliche Typen von Arbeit: selbstständige und unselbstständige Arbeit, Vollzeit- und Teilzeitarbeit, Sorge- und Kulturarbeit. Und natürlich soll auch weiterhin sowohl Erwerbsarbeit als auch unbezahlte Arbeit verrichtet werden. Im Unterschied zu heute sollen jedoch auch Menschen, die einer anderen Arbeit als Erwerbsarbeit nachgehen, gut abgesichert sein.

Dieses prinzipielle Bekenntnis dazu, dass die Grundbedürfnisse aller Menschen gedeckt sein sollen – egal, was ihr Erwerbsstatus ist –, gibt es in unserer Gesellschaft bereits. Instrumente wie Arbeitslosenversicherung, Mindestsicherungen, Mietkostenbeihilfen oder Zulagen für niedrige Pensionen haben allesamt dieses Ziel. Allerdings wissen wir, dass diese Instrumente nicht treffsicher sind. In Deutschland lebten 2020 über 13 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze,61 also rund 16 Prozent der Bevölkerung; in Österreich und in der Schweiz waren es ein paar Prozentpunkte weniger.62 Zugleich gibt es viele, die Anspruch auf Mindestsicherung oder andere finanzielle Hilfen haben, diese jedoch nicht beantragen – in Österreich waren es vor der Pandemie ganze 30 Prozent der anspruchsberechtigten Haushalte.63 Die Gründe dafür sind unterschiedlich. Manche Menschen können den meist komplizierten Behörden- und Papierweg nicht meistern. Andere haben Angst davor, schlecht behandelt oder als »Sozialschmarotzer« stigmatisiert zu werden.

Die Tatsache, dass soziale Sicherungssysteme nicht treffsicher sind, ist nicht allein einer mangelhaften Sozialpolitik geschuldet. Ein weiterer Grund dafür ist, dass sich die Arbeitswelt verändert hat. Die Grundlagen der heutigen Sicherungssysteme wurden in einer Zeit gelegt, als man davon ausging, dass Menschen (auch wenn man bei »Menschen« damals meist Männer vor Augen hatte) eine Ausbildung absolvieren, sich dann einen Job suchen, in dem sie bis zur Pensionierung verbleiben. Ehepartnerinnen und Kinder konnten mit dem Gehalt des »Ernährers« mit erhalten werden. Die Absicherung im Fall von Arbeitslosigkeit war als Hilfe in einer Ausnahmesituation gedacht. Der Begriff des »sozialen Netzes« symbolisiert den vorübergehenden Charakter dieser Hilfeleistungen: Wenn jemand von einem Balanceakt herunterfällt, wird er durch ein Netz aufgefangen. Dass man darin liegen bleibt, dafür ist es nicht gedacht – und auch nicht gemacht. Das Netz ist äußerst unbequem, wegen seiner mangelnden Stabilität und wegen seiner vielen Löcher – und das soll vielleicht auch gar nicht anders sein. Es handelt sich um ein Auffangnetz in einer akuten Krise und nicht um einen Ort, der zum Verweilen gedacht ist.

Dass Menschen ihre Jobs häufig wechseln, dass in manchen Familien zwei Einkommen nicht ausreichen, um die Lebenserhaltungskosten zu bestreiten, das war damals, als diese sozialen Netze gewebt wurden, noch nicht vorhersehbar. Ebenso wenig, dass es Scheinselbstständigkeit und »Nullstunden«-Verträge geben würde – also die in manchen Ländern völlig legale Situation, dass zwar die Vergütung der Arbeitsleistung festgesetzt ist, nicht aber das Arbeitsausmaß. Das erlaubt es den Arbeitgebern, ganz kurzfristig und je nach Auftragslage auf die Arbeitsleistung ihrer Arbeitskräfte zuzugreifen, die dann mehr oder weniger ständig auf Abruf bereitstehen müssen und niemals wissen, ob sie am Monatsende genug Geld verdient haben, um ihre Rechnungen zu bezahlen. Solche Konstruktionen dienen dazu, jene Arbeitnehmerrechte auszuhebeln, die bei ihrer Einführung noch als große Errungenschaft gesehen wurden – von den Arbeitnehmer*innen, weil es ihnen besser ging, und von den Arbeitgebenden, weil sie nicht ständig fürchten mussten, dass sich die Massen erheben könnten. Auch wusste man damals noch nicht, dass Automatisierung und Digitalisierung dazu führen würden, dass ganze Tätigkeitsfelder von Maschinen übernommen würden. Unsere sozialen Netze brauchen also auch deshalb eine Generalüberholung, weil sie für eine andere Welt geschaffen wurden als die, in der wir heute leben.

Wenn wir soziale Sicherungssysteme so gestalten wollen, dass sie in der heutigen Zeit wirklich sicher sind, dann müssen wir einen Schritt weiter gehen: Wir müssen die Beziehung zwischen Arbeit und Einkommen neu denken. Aus dem Netz muss ein dicht gewebtes Tuch werden, das den Menschen, die darin aufgefangen werden, erlaubt, ihre Energien darauf zu verwenden, wie sie gut leben und arbeiten können – und sich eventuell auch umschulen lassen, anstatt sinnlose Bewerbungen zu schreiben, nur um das Arbeitslosengeld nicht zu verlieren.

Wenn wir soziale Sicherungssysteme so gestalten wollen, dass sie in der heutigen Zeit wirklich sicher sind, dann müssen wir einen Schritt weiter gehen: Wir müssen die Beziehung zwischen Arbeit und Einkommen neu denken.

Bismarck reloaded

Österreich, Deutschland und die Schweiz haben einen Wohlfahrtstaat, der manchmal als Bismarck-Modell bezeichnet wird. Der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck hatte Ende des 19. Jahrhunderts ein System sozialer Sicherungssysteme ins Leben gerufen, das allen arbeitenden Menschen Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung gewähren sollte. Viele europäische Staaten folgten diesem Beispiel – und in vielen Ländern wurden in der Folge auch Arbeitslosenversicherungssysteme geschaffen.

Auch wenn diese historische Entwicklung heute häufig mit verklärtem Blick gesehen wird, ist es wichtig festzuhalten, dass Bismarck nicht aus rein humanistischen Motiven handelte. Mindestens ebenso wichtig war es, der erstarkenden Arbeiterbewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Zugleich gelang es mit der Schaffung sozialer (Ver-)Sicherungssysteme, die Arbeiterschaft an die Wirtschaftsleistung zu binden. Auch daher rührt der Spruch: »Geht es der Wirtschaft gut, geht es allen gut.« Die Arbeiterschaft war nun von Krisen in derselben Art betroffen wie die Unternehmer und musste ein Interesse daran haben, dass es Letzteren gut geht. Damit wurde das revolutionäre Potenzial der selbstorganisierten Arbeiterschaft erfolgreich zerstört.

Wenn wir uns dies vor Augen halten, dann werden einige der Merkmale des sogenannten Bismarck-Systems verständlich. Ein wichtiges Kennzeichen des Wohlfahrtstaates nach dem Bismarck-Modell ist die Ableitung vieler Ansprüche von der Erwerbsarbeit. Viele Zahlungen werden über Beiträge finanziert, die automatisch mit Löhnen und Gehältern abgeführt oder im Verhältnis zu ihnen bemessen werden. Das passiert entweder direkt oder indirekt.

Bei Pensionist*innen leiten sich die Ansprüche aus der vergangenen Erwerbstätigkeit ab, und nicht erwerbstätige Mitglieder eines Haushaltes können mit erwerbstätigen Familienmitgliedern gemeinsam krankenversichert werden. Wer auch über diese Mechanismen keinen Anspruch hat, kann sich selbst versichern, und bei jenen, für die auch dies nicht möglich ist, sorgt der Staat dafür, dass ihre Grundbedürfnisse befriedigt sind – dass sie Zugang zur Krankenversorgung haben, nicht verhungern und ein Dach über dem Kopf. Es ist also nicht so, dass nur Menschen, die gerade aktuell erwerbstätig sind, abgesichert sind. Das Grundprinzip ist jedoch, dass sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – Ansprüche zumindest indirekt auf Erwerbsarbeit zurückführen lassen. Wer Erwerbsarbeit leistet, ist ein produktives Mitglied der Gesellschaft und verdient es, abgesichert zu sein. Dieses Werturteil ist damit bereits in die Wurzeln des Wohlfahrtstaates Bismarckscher Prägung eingeschrieben. Die »Heilung der sozialen Schäden«, schrieb Kaiser Wilhelm I. in einer »Kaiserlichen Botschaft« im Jahr 1881, erfordere die »positive Förderung des Wohles der Arbeiter«. Versicherung gegen Betriebsunfälle, gegen Krankheit, Alter und Invalidität seien notwendige Absicherungen der Arbeiterschaft gegen das Risiko der Erwerbsunfähigkeit.64 Die Grundidee war also, dass nur Menschen, die entweder erwerbstätig sind oder ohne eigene Schuld keiner Erwerbstätigkeit nachgehen können – weil sie zu alt, krank oder invalide sind –, staatliche Fürsorge zuteil werden sollte.

Dieses Modell ist aus einem weiteren Grund nicht mehr zeitgemäß. Es setzt implizit voraus, dass alle, die einer Erwerbsarbeit nachgehen möchten – und sich auf diese Weise auch soziale Absicherung (im wahrsten Sinn des Wortes) verdienen –, dies auch tun können. Diese Situation ist eine völlig andere als jene, vor der wir heute stehen. Auch wenn man heute fast überall in der Welt vom Arbeitskräftemangel spricht, ist es keineswegs so, dass alle Menschen, die dies möchten, einen Job finden, von dem sie leben können. Bereits vor der COVID-19-Pandemie wurde prognostiziert, dass durch Digitalisierung und Automatisierung in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren ein beträchtlicher Teil aller heute existierenden Jobs verschwinden wird.

Für den deutschsprachigen Raum gehen Studien davon aus, dass die Automatisierung zwischen 2018 und Mitte der 2030er-Jahre zu einem Verlust von über einem Drittel (34 Prozent in Österreich und 37 Prozent in Deutschland) der existierenden Arbeitsplätze führen wird.65 In der Schweiz sollten bis 2030 ein Fünftel oder sogar ein Viertel der Arbeitsplätze durch Maschinen ersetzt werden können.66 Die Coronapandemie hat diesen Trend noch verstärkt:67 Viele der Arbeitskräfte, die man während der Lockdowns nach Hause schickte, kamen nicht mehr zurück. Während einige auf eigene Initiative in andere Sparten abwanderten, wurden andere durch Maschinen ersetzt: Maschinen werden nicht krank und stellen auch kein Infektionsrisiko dar. In manchen Branchen hat aber einfach auch »nur« der Umstieg auf digitale Kommunikation während der Pandemie gezeigt, dass es auch ohne menschliche Präsenz geht – so checkt man jetzt in noch mehr Hotels bei Automaten statt bei Menschen ein. Und in wieder anderen Bereichen hat die künstliche Intelligenz in den vergangenen Jahren einfach so große Fortschritte gemacht, dass es fast absurd wäre, sie nicht zu nutzen. In unserem Forschungsgebiet war es beispielsweise bisher immer üblich, Studierende oder andere Personen dafür zu bezahlen, Interviews von Tonaufnahmen zu transkribieren. Heute macht das die künstliche Intelligenz ebenso gut – und »gratis«.

Natürlich sind nicht alle Jobs gleichermaßen vom Risiko der Automatisierung betroffen: Jobs mit vorhersagbaren, routinemäßigen Abläufen können einfacher automatisiert werden als andere. Viele dieser Arbeitsplätze sind im Niedriglohnbereich angesiedelt, wie etwa Fließbandarbeit. Gleichzeitig gibt es zahlreiche Berufe, die schlecht bezahlt werden und wenig formale Bildung oder Ausbildung brauchen, aber trotzdem nicht automatisiert werden können, wie zum Beispiel Pflegearbeit. Gleichzeitig wird auch einigen sehr gut bezahlten Berufen für hoch gebildete Menschen ein hohes Automatisierungsrisiko zugeschrieben, Radiologinnen oder Richter fallen etwa darunter.

Das höchste Automatisierungsrisiko schreibt eine Studie der OECD Arbeitskräften in der Landwirtschaft, Bekleidungsindustrie, in den Kurierdiensten und in der Industrie zu.68 Letzteres ist auch der Grund dafür, dass Studien zufolge in Deutschland deutlich mehr Jobs von der Automatisierung bedroht sind als in anderen reichen Ländern: In Deutschland gibt es noch mehr Industriearbeitsplätze, während etwa in Japan eine große Anzahl von Tätigkeitsbereichen bereits vor Jahren automatisiert wurde. Einen weiteren Unterschied findet man zwischen hochindustrialisierten Ländern des Globalen Nordens, in denen die meisten Jobverluste in der Industrie und im Bereich der Büroarbeit erwartet werden, und Schwellenländern, in denen besonders viele Arbeitsplätze in der Landwirtschaft verloren gehen sollen – ein Prozess, der im Globalen Norden schon früher stattgefunden hat.

Obwohl für Männer und Frauen insgesamt ähnlich große Jobverluste prognostiziert werden, soll dies jeweils andere Sparten betreffen. So gehen Studien davon aus, dass 40 Prozent der erwarteten Jobverluste von Männern die Bereiche der Maschinenbedienung und des Handwerks betreffen. Frauen hingegen sollen eher durch Verluste auf dem Gebiet der routinemäßigen geistigen Arbeit betroffen sein, zum Beispiel im Büroarbeits- und Dienstleistungsbereich. Dort werden über die Hälfte (52 Prozent) der Jobverluste für Frauen erwartet.69 Ein sehr geringes Automatisierungsrisiko besteht für Lehrkräfte (28 Prozent) und Führungskräfte – also jeweils eine von Frauen und eine von Männern dominierte Berufssparte. Der deutsche Ökonom Klaus Schwab, geschäftsführender Vorsitzender des Weltwirtschaftsforums, sprach in diesem Zusammenhang von einer von Digitalisierung und Automatisierung getriebenen »vierten industrielle Revolution«,70 die gemeinsam mit den drei vorhergegangenen industriellen Revolutionen – bei denen Wasser und Dampfkraft, Elektrizität und Informationstechnologie im Vordergrund standen – die Grundfeste unserer Wirtschaft und Gesellschaft radikal verwandeln wird.

Nicht alle sehen die Zukunft der Arbeit so drastisch: Eine der Grundannahmen, die vielen pessimistischen Prognosen zugrunde liegt, ist die Vorstellung, dass es eine begrenzte Anzahl von Arbeitsplätzen gibt, die in der Bevölkerung verteilt werden müssen. Wenn einige dieser Arbeitsplätze von Maschinen übernommen werden, dann führt dies zwangsläufig zu wachsender Arbeitslosigkeit – solange die Weltbevölkerung nicht abnimmt. Diese Annahme wird von kritischen Stimmen jedoch als »Arbeitsklumpen-Fehlschluss« (lump of labour fallacy) bezeichnet: Die zur Verfügung stehende Arbeit ist eben kein Klumpen, der über die Jahre und Jahrzehnte stabil bleibt. Wie die Geschichte gezeigt hat, hat es immer schon Wellen der Automatisierung gegeben, die kurzfristig zu Jobverlusten geführt haben. Mittel- und langfristig entstehen durch Automatisierung und Digitalisierung auch neue Arbeitsplätze.

Der Ersatz menschlicher Arbeitskraft in der Landwirtschaft im 19. sowie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert beispielsweise hatte dazu geführt, dass viele ehemals in diesem Sektor Beschäftigte in die Industrie und später auch in den Dienstleistungssektor abwanderten. Auch die Erfindung der Bankomaten führte nicht zu Massenkündigungen in der Bankbranche. Bankangestellte, die früher mit der Auszahlung von Geld beschäftigt waren, tun heute einfach andere Dinge: Sie führen Beratungen durch und verkaufen Anlagepläne. Zudem gibt es heute viele Berufe, die sich noch vor einigen Jahrzehnten niemand vorstellen konnte: Web-Designer, Pilates-Trainer oder Fahrradboten, die Essen nach Hause liefern. Der Kassierer im Supermarkt wird vielleicht durch eine automatische Kasse ersetzt, so sagen die Pessimist*innen.

Der Mensch, der durch die Automatisierung seinen Job verliert, wird jedoch neue Möglichkeiten zur Erwerbsarbeit haben – etwa als Einkaufshilfe für ältere Menschen –, das ist die Sichtweise der Optimist*innen auf dieses Beispiel. In einer Gesellschaft, in der die Bevölkerung immer älter wird, wird uns die Arbeit sicher nicht ausgehen, heißt es. Das World Economic Forum prognostiziert gar einen Nettozuwachs von zwölf Millionen Jobs weltweit – auch wenn es genau genommen meist nicht die Automatisierung ist, die die neuen Arbeitsplätze schafft, sondern das durch die gesteigerte Produktivität ausgelöste Wachstum.71

Pessimist*innen und Optimist*innen unterscheiden sich also in ihrer Antwort auf die Frage, wie sich Automatisierung und Digitalisierung mittel- und langfristig auswirken. In einem sind sie sich jedoch einig: Kurzfristig werden Arbeitsplätze verloren gehen. Im Gegensatz zu früheren Wellen der Automatisierung, die viele Menschen in die Neue Welt hat auswandern lassen, steht diese Möglichkeit den meisten Menschen, die von Jobverlust betroffen sind, heutzutage nicht offen. Der 50-jährige Fließbandarbeiter aus Niedersachsen, dessen Arbeit nun von einer Maschine gemacht wird, kann nicht einfach sein Glück in Neuseeland versuchen. Die Näherin aus Bangladesch kann das noch viel weniger.

Auch das sogenannte »upskilling«, das in der Fachliteratur typischerweise als Lösung für das Problem der Verdrängung menschlicher Arbeitskraft durch Maschinen vorgeschlagen wird, ist für manche Menschen keine Option. »Upskilling« bedeutet, sich umschulen zu lassen oder sich selbst weiterzubilden, sodass man in einem Mangelberuf beschäftigt werden kann (das »Arbeit-von-Morgen«-Gesetz in Deutschland etwa trägt diesem Ansatz Rechnung). Zu den Mangelberufen gehören beispielsweise Fachkräfte im Metall- und Gartenbau, aber auch im Pflege- und Gesundheitsbereich. Aber nicht alle können die Fähigkeiten erlernen, die eine Geburtshelferin, ein IT-Spezialist oder eine Fertigungstechnikerin braucht. Selbst für die Menschen, die dies können, braucht die Umschulung Zeit. Was machen diese Menschen während der Monate oder sogar Jahre, die die Ausbildung zur IT-Fachkraft oder zum Physiotherapeuten in Anspruch nimmt? Dazu kommt, dass der Dschungel an Leistungen und Maßnahmen, von Weiterbildungszuschüssen über Kurzarbeit bis hin zum Arbeitslosengeld, ungeheuer kompliziert und bürokratisch ist.

Anstatt vor Roboterapokalypse zu warnen und den Menschen zu sagen, sie sollten sich doch bitte »upskillen«, […] muss die Politik die Bedingungen dafür schaffen, dass alle Menschen genug für ein würdevolles Leben haben.

Stabile Erwerbstätigkeit als Schlüssel zu Einkommen und Absicherung: Ist das noch zeitgemäß?

Das Resultat dieser Entwicklungen ist eine Gesellschaft, in der all jene Menschen, die jene Fähigkeiten nicht haben oder nicht erwerben können, die eine digitalisierte Gesellschaft und ein automatisierter Fertigungsbereich benötigen, am Arbeitsmarkt keinen »Wert« mehr haben. Während es für die Hochqualifizierten vermutlich immer einfach sein wird, einen guten und gut bezahlten Job zu finden, wird es auch eine Gruppe von Menschen geben, für die dies nahezu unmöglich wird. Hier ist die Politik gefordert. Anstatt vor Roboterapokalypse zu warnen und den Menschen zu sagen, sie sollten sich doch bitte »upskillen«, um weiterhin am Arbeitsmarkt wettbewerbsfähig zu bleiben, muss die Politik die Bedingungen dafür schaffen, dass alle Menschen genug für ein würdevolles Leben haben. Und dass sie es sich auch leisten können, einer Arbeit nachzugehen, die sie gerne und gut tun können.

Die Grundidee dafür, wie das geht, habe ich in meinem 2021 erschienenen Buch VOM WERT DES MENSCHEN detailliert ausgeführt. Die Gespräche, die ich seitdem mit vielen Menschen in sehr unterschiedlichen Lebenslagen und mit den unterschiedlichsten politischen Meinungen und Einstellungen geführt habe, haben meine Überzeugung vertieft, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen einen unentbehrlichen Teil der Lösung darstellt. Gleichzeitig habe ich in diesen Gesprächen viel gelernt – darüber, wovor sich manche Menschen fürchten, was sie sich wünschen und wie man das Ziel, allen genug für ein würdevolles Leben zu geben, ohne damit den Sozialstaat auszuhöhlen oder die Rolle von Arbeit in unserer Gesellschaft abzuwerten, erreichen kann.

Weg mit den Scheuklappen

Obwohl die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens immer größeren Zuspruch findet, gibt es nach wie vor sehr viele, die mit diesem Begriff nichts Positives verbinden. Bevor wir auf die Mythen eingehen, die sich um dieses Thema ranken, sehen wir uns kurz an, was der Begriff konkret bedeutet. Ein bedingungsloses Grundeinkommen hat vier Eigenschaften: Erstens steht es allen Menschen zu (»universell«) und ist nicht nur auf bestimmte Bevölkerungsgruppen beschränkt, wie etwa auf Kinder oder auf Personen, die keine Erwerbsarbeit finden können. Die einzige Einschränkung ist, dass man in dem Land wohnt, in dem das Grundeinkommen ausbezahlt wird: Die meisten Modelle sehen vor, dass man für eine bestimmte Zeitspanne seinen Hauptwohnsitz oder seinen Lebensmittelpunkt im Inland gehabt haben muss. Das bedeutet, dass die 24-Stunden-Betreuerin aus Rumänien, die im vergangenen Jahr mehr als sechs Monate in unserem Land gelebt hat, bezugsberechtigt wäre, aber der Tourist aus Shanghai nicht. Das zweite Merkmal eines bedingungslosen Grundeinkommens ist, dass es – wie der Name schon sagt – an keine Bedingungen geknüpft ist. Wer einmal bezugsberechtigt ist, kann das Grundeinkommen nicht mehr verlieren. Auch nicht dann, wenn sich wesentliche Lebensbedingungen verändern – wenn man etwa eine besonders lukrative Erwerbsarbeit bekommt, wieder bei den Eltern einzieht oder Subsistenzbäuerin wird. Drittens ist das bedingungslose Grundeinkommen ein individueller Anspruch und nicht etwas, das pro Haushalt ausbezahlt wird – damit jede Person für sich entscheiden kann, wie sie lebt, und nicht von dem*der Partner*in, Kindern oder Eltern abhängig ist. Viertens muss ein bedingungsloses Grundeinkommen existenzsichernd sein. Ein vernünftiger Referenzpunkt dafür ist die Armutsgefährdungsschwelle, die bei 60 Prozent des medianen Einkommens liegt – 2022 waren das in Österreich 1.400 Euro.72 In der Schweiz lag dieser Betrag deutlich höher, nämlich bei 2.279 Franken für einen Einpersonenhaushalt;73 in Deutschland lag 2022 der Schwellenwert für Armutsgefährdung für Alleinlebende bei einem Jahresnettoeinkommen von 15.009 Euro.74

Wer das liest und noch keine Gelegenheit hatte, sich ausführlich mit dem Thema Grundeinkommen auseinanderzusetzen, der hat an diesem Punkt normalerweise mindestens drei Einwände, die ich hier kurz besprechen möchte. Es geht um Fairness, Finanzierbarkeit und Faulheit. Beginnen wir mit dem ersten Einwand. Ist es wirklich fair, dass alle ein bedingungsloses Grundeinkommen erhalten sollen, auch Millionär*innen? Die brauchen es ja nicht. Wäre es nicht klüger, öffentliche Gelder treffsicher einzusetzen, anstatt sie mit der Gießkanne zu verteilen?

Auf den ersten Blick ist es tatsächlich nicht nachvollziehbar, warum die Millionärin genauso wie der Hilfsarbeiter ihr monatliches Grundeinkommen erhalten sollen. Diese Debatte erinnert mich hinsichtlich der Argumentationslogik an eine, die ich als Kind miterlebt habe: Damals erhielten Schulkinder in Österreich alle ihre Schulbücher gratis. Immer wieder gab es Diskussionen darüber, ob dies wirklich nötig sei. Können wohlhabende Eltern nicht selbst für die Schulbücher bezahlen, statt dem Staat auf der Tasche zu liegen? Das Argument derer, die sich für die Beibehaltung der für die Kinder und Eltern kostenlosen Schulbücher aussprachen, war, dass es solidaritätsstiftend sei, alle gleich zu behandeln. Der Sohn der Großindustriellen wird genauso behandelt wie die Tochter erwerbsarbeitsloser Eltern. Niemand muss sich als »Sozialschmarotzer« fühlen und als solcher gebrandmarkt werden. (Heute besteht das Prinzip grundsätzlich weiterhin, auch wenn Eltern in der Praxis häufig mitfinanzieren müssen). Klar, bei den Schulbüchern geht es um weitaus geringere Beträge als beim bedingungslosen Grundeinkommen – aber was im Kleinen zutrifft, ist im Großen noch wichtiger. Stigmatisierung und Demütigung sind wichtige Gründe dafür, dass erwerbsarbeitslose Menschen krank werden oder bleiben. Wie im Folgenden noch gezeigt wird, kann sich ein bedingungsloses Grundeinkommen sowohl auf die psychische als auch physische Gesundheit sehr positiv auswirken. Für viele arme Menschen bewirkt allein die Tatsache, dass das Geld aus einem Topf kommt, auf dem nicht mehr »Arbeitslosigkeit« oder »Sozialhilfe« steht, sehr viel. Sie fühlen sich nicht mehr als Almosenempfänger – denn das Grundeinkommen, das sie erhalten, bekommen alle anderen auch.

Dies beantwortet aber noch nicht die Frage, ob es denn nicht unfair sei, auch jenen Menschen, die es gar nicht brauchen, bedingungslos Geld zu geben. Insbesondere, wenn man der Ansicht ist, dass Personen mit hohen Einkommen und großen Vermögen schon heute zu wenig zum Gemeinwohl beitragen. Genau deshalb sehen alle progressiven Modelle eines bedingungslosen Grundeinkommens vor, Vermögenswerte bzw. Vermögenszuwächse stärker zu besteuern. Viele Modelle würden auch hohe Einkommen stärker besteuern. Die Millionärin, die genau wie alle anderen Bürger*innen jeden Monat ihr bedingungsloses Grundeinkommen überwiesen bekommt, würde an anderen Stellen – über Einkommens- und Vermögenssteuern – also viel mehr beitragen, als sie es heute tut.

Und vergessen wir nicht, dass wir ja genau das heute schon tun – nämlich allen Menschen im Land bestimmte Güter oder Leistungen »mit der Gießkanne« zur Verfügung zu stellen und jene, die finanziell dazu in der Lage sind, zu Beiträgen zu verpflichten. Die Millionärin in unserem Beispiel kann auch heute schon das öffentliche Straßennetz, das öffentliche Schulsystem, die geförderten Öffi-Tickets und das geförderte Kulturprogramm nutzen, obwohl sie es finanziell betrachtet nicht braucht. Die Gießkanne hat an manchen Stellen durchaus ihre Berechtigung. Sir Michael Marmot, ein britischer Epidemiologe, der mit seiner Forschung zu den gesundheitlichen Auswirkungen sozialer Ungleichheiten berühmt wurde, erklärt warum.

Marmot erinnert daran, dass sich Ungleichheit ja nicht bloß in einer Kluft zwischen den Armen und den Reichen ausdrückt. Sie manifestiert sich in einem Gefälle in der gesamten Bevölkerung. Wenn sich soziale und wirtschaftliche Hilfe ausschließlich auf die am stärksten benachteiligten Menschen konzentriert, so argumentierte der Forscher, dann vergessen wir jene Gruppen, die nicht zu den allerärmsten gehören, die aber trotzdem nicht auf die Butterseite des Lebens gefallen sind. Zudem stigmatisieren wir die ganz Armen und vergeben zugleich die Chance, sozialen Zusammenhalt in der ganzen Bevölkerung zu stärken. Um das starke soziale Gefälle zu verringern, müssen die Maßnahmen universell sein, und zwar in einem Umfang und einer Intensität, die dem Grad der Benachteiligung angemessen sind. Diese Art von Methode bezeichnet Marmot als proportionalen Universalismus.75

Universal sind solche Maßnahmen deshalb, weil sie keine Bedarfsprüfung vorsehen und allen Menschen offenstehen – so etwas wie eine absichtliche Gießkanne sozusagen. Und das Wort »proportional« signalisiert, dass zwar allen Menschen bestimmte Dinge, die der Absicherung ihrer Grundbedürfnisse dienen, offenstehen sollen – wie Bildung, die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel bzw. des Straßen- und Wegenetzes und auch Krankenversorgung. Gleichzeitig sind öffentliche Dienst- und Hilfeleistungen jedoch dort besonders stark konzentriert, wo Menschen besonders viel Unterstützung brauchen. Wie zum Beispiel Mütter mit sehr niedrigem Einkommen und anderen schwierigen Lebensbedingungen, die nach der Geburt eines Kindes mehr Hilfe von Hebammen bekommen. Oder wenn Schulen in ökonomisch schwachen Regionen kostenlose Mahlzeiten anbieten. Das ist proportionaler Universalismus.

Das bedingungslose Grundeinkommen trägt dazu bei, diese Idee umzusetzen. Die Subsistenz – also das Geld, das Menschen zum Leben brauchen – wäre für alle bedingungslos sichergestellt. Man bekommt genug für ein würdevolles Leben, weil man ein Mensch ist – egal, wie alt oder jung, und egal, ob man einer Erwerbsarbeit nachgeht oder nicht. Jene, deren Einkommen aus Erwerbsarbeit oder Kapital so hoch sind, dass die diese Absicherung nicht brauchen, tragen an anderer Stelle – über Einkommenssteuern und die Besteuerung von Vermögen – mehr bei, als sie es heute tun. Gleichzeitig – und das ist erneut der »Proportionalismus«-Teil des proportionalen Universalismus – würden Leistungen für Menschen, die besondere Bedürfnisse haben, weiterhin erhalten bleiben. Etwa, weil sie Krankheiten oder Beeinträchtigungen haben oder sogar pflegebedürftig sind. Das bedingungslose Grundeinkommen würde zwar Ausgleichszulagen oder Familienbehilfen ersetzen – weil ja niemand mehr unter dem Existenzminimum leben würde bzw. weil Kinder ja auch Grundeinkommen beziehen. Wohnbeihilfen, Pflegegeld oder Unterstützung für persönliche Assistenz für Menschen, die besondere Hilfe benötigen, würden jedoch weiterhin erhalten bleiben.

Ein zweiter Einwand gegen das bedingungslose Grundeinkommen ist, dass es nicht finanzierbar sei. Dieses Argument ist allerdings ideologie- und nicht evidenzbasiert. Die Finanzierbarkeit ist immer eine Frage des politischen Willens und nicht irgendeiner Naturgewalt, die darüber entscheidet, ob der Staat für eine bestimmte Sache genug Geld hat. Es spricht für sich, dass wir uns bei Verteidigungsausgaben oder auch bei Steuererleichterungen für Großunternehmen niemals Sorgen darüber machen, ob diese finanzierbar sind. Auch in der Coronakrise fand man genug Geld, um Unternehmen zu unterstützen. Wenn es allerdings darum geht, Geld direkt an die Bürger*innen zu bezahlen, dann sorgt man sich um die Finanzierbarkeit.

Hier muss man aber differenzieren: Unternehmen ist nicht gleich Unternehmen. Viele kleine und mittelständische Unternehmen hatten und haben es in den letzten Jahren extrem schwer: Pandemiebedingte Schließungen, die Erhöhung der Energiepreise und der Arbeitskräftemangel in vielen Branchen machen das Überleben vieler dieser Betriebe von Unterstützung abhängig. Auch diese Unternehmen würden von einem bedingungslosen Grundeinkommen profitieren. Wer nicht profitieren würde, sind Großunternehmen und auch jene Betriebe, die von der Ausbeutung der Arbeitskräfte leben. Wie die Unternehmen, die im Buch und im darauf basierenden Film NOMADLAND beschrieben werden, der Arbeitskräfte in einem Amazon-Lager porträtiert. Denn eine Art von Jobs gäbe es mit einem bedingungslosen Grundeinkommen nicht mehr: Jene, die Menschen ausschließlich machen, weil sie unbedingt ein Einkommen brauchen.

Methodische Kalkulation statt Milchbubenrechnung

Kommen wir zurück zur Finanzierung. Wer aus strategischen Gründen gegen das bedingungslose Grundeinkommen Stimmung machen möchte, rechnet häufig so: Ein Land hat soundsoviele Einwohner*innen, die jeweils, sagen wir der Einfachheit halber, 1.000 Euro im Monat bekommen. Das macht also pro Person 12.000 Euro im Jahr. Wenn wir also die Einwohnerzahl mit 12.000 multiplizieren, dann haben wir die Kosten eines bedingungslosen Grundeinkommens errechnet.

Sogar für ein kleines Land wie Österreich ergibt eine solche Milchbubenrechnung eine unglaublich hohe Summe: Neun Millionen mal 12.000 Euro im Jahr ergeben über 100 Milliarden (nämlich 108.000.000.000) Euro im Jahr. Aber eine solche »Rechnung« ist irreführend. Man fuchtelt den Menschen mit einer astronomisch hohen Summe vor den Augen herum und behauptet, dass »wir uns das nicht leisten können«, weil das wohl unweigerlich auf Kosten anderer Dinge gehen müsse. Manchmal spielt man dann auch noch auf die Urangst vieler Menschen an, dass dann die Pensionen nicht mehr bezahlt werden können.

Wie berechnet man die Kosten eines bedingungslosen Grundeinkommens richtig? Ohne hier auf die genauen Details einzugehen (die finden sich in meinem Buch und auch auf einschlägigen Websites und Büchern), lassen sich zwei Grundmodelle unterscheiden: Das erste beruht auf einem Vorschlag des mittlerweile verstorbenen Gründers der Drogeriemarktkette dm, Götz Werner. Er schlug vor, alle Abgaben auf Arbeit abzuschaffen und dafür die Konsumsteuer und vermögensbezogene Steuern zu erhöhen. Dies bedeutet tatsächlich, dass niemand mehr für sein Einkommen aus Erwerbsarbeit Steuer bezahlen würde, und auch die Arbeitgeber*innen von ihren Anteilen befreit würden. Dafür würde man aber eine deutlich höhere Mehrwertsteuer beim Einkaufen bezahlen – nach manchen Berechnungen doppelt so viel wie heute. Wer so viel Geld hat, dass er nicht alles für Konsumgüter ausgeben muss, sondern sich etwas ansparen kann, der bezahlt nach diesem Modell relativ hohe Steuern auf Vermögen.

Für Österreich – um bei diesem Beispiel zu bleiben – hat eine Studie für die Bürgerrechtsbewegung GENERATION GRUNDEINKOMMEN ausgerechnet, dass der zusätzliche Finanzierungsbedarf eines bedingungslosen Grundeinkommens in der Höhe von 1.000 Euro pro Erwachsenen und 500 Euro pro Kind pro Monat zwischen 15 und 28 Milliarden pro Jahr liegen würde. Also weit weg von den 100 Milliarden, die die oben angeführte Milchbubenrechnung ergibt. Auch, weil man sich durch ein bedingungsloses Grundeinkommen einiges andere sparen würde: Zuschüsse und Transfers für besonders niedrige Einkommen – weil es die ja nicht mehr gibt – und auch Familienbehilfen – weil ja auch Kinder nun ein Grundeinkommen erhalten. Zusätzlich käme dann noch mehr Geld über höhere Konsumsteuern und neue bzw. höhere vermögensbezogene und Finanztransaktionssteuern in den Staatshaushalt zurück. Manche Studien gehen zudem davon aus, dass es weitere Einsparungen durch sinkende Kriminalität und weniger gesundheitliche Probleme geben würde. Diese sind in den entsprechenden Berechnungen noch gar nicht enthalten.

Auch das zweite Modell – das man manchmal nach dem Wohnort seiner Erfinder als das Linzer Modell bezeichnet – würde vermögensbezogene Steuern erhöhen. Ansonsten unterscheidet es sich jedoch sehr stark vom ersten Modell: Die Einkommenssteuer bleibt bestehen und der Spitzensteuersatz beginnt sogar bei einer niedrigeren Bemessungsgrundlage, als es heute der Fall ist, zu greifen. Auf diese Weise wäre sichergestellt, dass Personen mit niedrigen Einkommen das Grundeinkommen stark spüren, während es bei hohen Einkommen mit dem Spitzensteuersatz besteuert wird – und damit ein großer Teil wegschmilzt. Gleichzeitig würden Menschen mit viel Geld durch die neuen vermögensbezogenen Steuern viel mehr beitragen, als sie es heute tun. Der zusätzliche Finanzierungsbedarf für das Linzer Modell würde sich auf knapp 37 Milliarden Euro pro Jahr belaufen.76

Zugleich muss jede seriöse Kalkulation des Finanzierungsbedarfs eines bedingungslosen Grundeinkommens auch anerkennen, dass man bestimmte Dinge nicht voraussagen kann: Nämlich die sogenannten systematischen Effekte eines bedingungslosen Grundeinkommens. Wenn jeder Mensch weiß, dass er das, was er zum Leben braucht, sicher erhalten wird, dann ändern sich auch viele Entscheidungen und Verhaltensweisen. Vielleicht zieht man aus der Stadt weg, in der man ohnehin nicht mehr leben wollte, aber musste, weil dort der Arbeitsplatz war. Oder man konsumiert anders, weil man sich nicht mehr – wie das eine Teilnehmerin einer unserer Studien zu den Folgen der Coronapandemie an der Uni Wien ausgedrückt hat – für den Stress und Ärger bei der Ewerbsarbeit durch Konsum belohnen muss.

Diese Effekte, die sich auch in einer Veränderung der Preise für Konsumgüter und Wohnraum niederschlagen können, sind nicht seriös kalkulierbar. Auch die Einsparungen nicht, die sich etwa daraus ergeben, dass Menschen gesünder werden. Experimente mit bedingungslosen Geldzahlungen in unterschiedlichen Ländern – wie etwa Finnland, Kanada, den USA oder Malawi – ergeben, dass Menschen sich häufig körperlich und auch mental gesünder fühlen, wenn ihre Existenz gesichert ist. Manchmal tritt dieser Effekt sogar dann ein, wenn Personen genau dieselbe Summe, die sie bisher als Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld ausbezahlt bekamen, als bedingungsloses Grundeinkommen erhalten. Die Tatsache, dass man sich nicht mehr als Empfänger von Almosen empfindet, dass man etwas bekommt, was alle anderen auch erhalten, macht etwas mit den Menschen.77

Wenn Menschen »Geld fürs Nichtstun« bekommen, so fürchten viele, dann würden alle faul werden.

Wer würde dann noch arbeiten und Steuern bezahlen?

Das letzte der oft gehörten Argumente, warum ein bedingungsloses Grundeinkommen eine schlechte Idee ist, nenne ich das »Sofa-Argument«. Wenn Menschen »Geld fürs Nichtstun« bekommen, so fürchten viele, dann würden alle faul werden. Wer würde dann noch arbeiten und Steuern bezahlen? Wer würde noch jene Jobs machen, die sonst niemand tun möchte, auf die die Bevölkerung aber angewiesen ist? Wer würde die Toiletten reinigen?

Darauf gibt es gleich mehrere Antworten. Erstens findet sich in den bisherigen Studien und Experimenten zum bedingungslosen Grundeinkommen überhaupt kein Hinweis darauf, dass Menschen faul werden. Dort, wo die Erwerbsarbeit geringfügig zurückging, war dies etwa deshalb der Fall, weil junge Männer länger in der Ausbildung verblieben.78 Außerdem hat sich gezeigt, dass die meisten Menschen gar nicht vorhätten, aus der Erwerbsarbeit auszusteigen, wenn sie ein bedingungsloses Grundeinkommen bekämen. Sie fürchten nur, dass dies alle anderen tun. Sozialpsycholog*innen haben für dieses Phänomen einen Namen: Illusorische Superiorität. Der eigene Charakter und die eigenen Fähigkeiten werden höher eingeschätzt als der Charakter und die Fähigkeiten der anonymen Masse anderer Menschen. Das ist übrigens nicht nur negativ: Es ermöglicht uns, auch dann weiterzumachen oder bestimmte Dinge zu tun, wenn wir wissen, dass viele andere daran scheitern. Auch wenn man weiß, dass über ein Drittel aller Ehen geschieden werden, heiratet man trotzdem – die eigene Beziehung wird es schon nicht treffen, oder?

Kommen wir zurück zum Grundeinkommen. Die Angst, dass niemand mehr arbeitet, wenn die Lebenserhaltungskosten durch ein Grundeinkommen gedeckt sind, ist am ehesten psychologisch zu erklären – auf Evidenz gegründet ist sie nicht. Erstens besteht Arbeit nicht nur aus Erwerbsarbeit. Zweitens würde die Erwerbsarbeit aber auch weiterhin getan werden. Auch wenn manche Menschen vielleicht ihre derzeitige Arbeitsstelle aufgeben – weil sie den Job, dem sie gerade nachgehen, nicht mögen, weil der Chef unmöglich ist oder die Arbeitszeiten nicht wirklich vereinbar mit der Familie sind, dann bedeutet das ja nicht, dass sie überhaupt aus der Erwerbsarbeit aussteigen. Es bedeutet nur, dass sie es sich jetzt leisten können, sich die Zeit zu nehmen, die sie brauchen, um eine Arbeit zu finden, die sie gerne und gut tun können. Wenn man davon ausgeht, dass Arbeit – und insbesondere auch Erwerbsarbeit – nicht nur Geld bringt, sondern auch soziale Kontakte, Wertschätzung und idealerweise auch Sinn stiftet, dann gibt es keinen Grund zu fürchten, dass in einer Gesellschaft mit bedingungslosem Grundeinkommen plötzlich alle nur noch in der Hängematte liegen. Und auch die Jobs, die keiner tun will, würden weiterhin getan werden – man müsste sie nur besser bezahlen und in vielen Fällen auch die Arbeitsbedingungen verbessern. Gerade in der Gastronomie gibt es eine Reihe von Menschen, die diese Arbeit an sich gern tun. Aber die Arbeitsbedingungen bringen sie dazu, in eine andere Branche zu wechseln – oder es zu planen.

Es geht um ein Butterbrot

Bisher war in unserer Gesellschaft die Erwerbsarbeit der Schlüssel zu Einkommen und Absicherung. Die Systeme sozialer Sicherheit, die im 20. Jahrhundert entwickelt wurden, waren in vielerlei Hinsicht eine große Errungenschaft – aber sie gaben Antworten auf die Probleme des 20. Jahrhunderts. Die Herausforderungen unserer Zeit benötigen ein tiefergehendes Umdenken, das auch neues Handeln möglich macht. Die Art, wie Menschen arbeiten, spielt dabei eine zentrale Rolle: Ich habe schon mehrfach darauf hingewiesen, dass die Art, wie wir arbeiten, auch Einfluss darauf hat, wie wir viele andere Dinge tun, vom Einkaufen über soziale Aktivitäten bis hin zur Nutzung von Verkehrsmitteln. Arbeit ist der Schlüssel zur Veränderung anderer Lebensbereiche. Gerade wenn wir eine nachhaltigere Gesellschaft wollen, müssen wir damit beginnen, Arbeit zu denken.

Wie das gelingen kann? Zuallererst müssen die Menschen die Freiheit haben, jene Arbeit zu verrichten, die sie gut tun können und die sie auch tun wollen. Dafür müssen die Grundbedürfnisse der Menschen – unabhängig davon, wie sie gearbeitet haben oder arbeiten – befriedigt sein. Der überwiegende Teil davon wird in Europa gar nicht in Form von Geldleistungen gedeckt, sondern findet über den freien Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen und Einrichtungen statt. Die Tatsache, dass Schulbildung, Zugang zu Transport und Information sowie Zugang zu Krankenversorgung nicht Leistungen sind, die sich die Bürger*innen zu Marktpreisen kaufen müssen, ist eine große Errungenschaft europäischer Staaten, die es zu erhalten gilt. Und zu stärken: Gerade die Pandemie hat wieder gezeigt, wie wichtig es ist, starke öffentliche Infrastrukturen zu haben. Sie hat auch sehr schmerzhaft gezeigt, wo diese nicht vorhanden sind oder bröckeln – ein Beispiel für Letzteres ist leistbares Wohnen. Und dann gibt es eine Reihe von Dingen, die durch öffentliche Leistungen nicht zur Verfügung gestellt werden können. Niemand möchte das Land in eine riesige Kommune verwandeln, in der der Staat Kleider und Lebensmittel zur Verfügung stellt. Trotzdem gilt: Je mehr unserer Bedürfnisse durch öffentliche Dienstleistungen bereits befriedigt sind, desto niedriger kann das bedingungslose Grundeinkommen ausfallen. In einem Land, in dem man zwei Autos braucht, um die Kinder in die Schule zu bringen und in die Arbeit zu kommen, weil es keine öffentlichen Verkehrsmittel gibt, und in dem man für die Krankenversicherung monatlich hohe Beträge bezahlen muss, braucht man mehr Geld, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, als dort, wo öffentlicher Verkehr, gute Schulbildung, Krankenversorgung, und ähnliche Leistungen von der öffentlichen Hand günstig oder sogar kostenlos zur Verfügung gestellt werden.

Ein bedingungsloses Grundeinkommen – als ein Geldbetrag, den alle Menschen monatlich ausbezahlt bekommen – kann man sich als die Butter vorstellen, die auf dem »Brot« der öffentlichen Infrastrukturen und Leitungen liegt. Je dicker das Brot, desto dünner kann die Butterschicht sein, um die Person trotzdem satt zu machen. Ohne Brot geht es gar nicht. Ein solches Butterbrot wäre eine Investition in die Menschen und in eine bessere Gesellschaft.

Eine Jobgarantie ist übrigens keine gangbare Alternative zu einem bedingungslosen Grundeinkommen. Weil sich diese Idee gerade wachsender Beliebtheit erfreut, möchte ich kurz darauf eingehen, warum ich sie nicht befürworte. Die Proponentinnen einer Arbeitsplatzgarantie, allen voran prominente Vertreterinnen der sogenannten Modern Monetary Theory79 wie Pavlina Tcherneva und Stephanie Kelton, schlagen vor, dass jede Person, die einen Arbeitsplatz möchte, unabhängig von ihrer Qualifikation einen aus öffentlichen Mitteln bezahlten Arbeitsplatz zu einem Mindeststundensatz erhalten soll. Lokale und kommunale Arbeitsvermittlungsstellen würden nicht nur Schulungen anbieten und die Menschen dazu bringen, sich auf dem Arbeitsmarkt zu bewerben, sondern auch eine ausreichende Zahl sinnvoller und geeigneter Arbeitsplätze kuratieren und verteilen. Diese Arbeitsplätze stünden unter dem Motto der Sorge: Sorge für die Umwelt, Sorge für die Gemeinschaft und Sorge für Menschen.80

Eine solche Arbeitsplatzgarantie hätte in der Tat eine Reihe von Vorteilen. Zunächst einmal bringt sie uns dazu, anders über Arbeitslosigkeit zu denken. Die orthodoxen Wirtschaftswissenschaften betrachten Arbeitslosigkeit als »natürliches Phänomen«, als einen Pool von Arbeitslosen, der unter anderem dazu dient, die Inflation unter Kontrolle zu halten. Die Befürworter*innen von Jobgarantieprogrammen distanzieren sich von dieser Argumentation und betrachten Arbeitslosigkeit als ein Versagen des öffentlichen Sektors, das durch eine fehlgeleitete Politik verursacht wird: Die Vorstellung, so die Ökonomin Pavlina Tcherneva, dass einige Menschen im Kampf gegen andere wirtschaftliche Übel zwangsläufig ihre Arbeit und ihren Lebensunterhalt verlieren, sei ein tiefgreifendes moralisches Versagen der Wirtschaftswissenschaften.81 Hier hat Tcherneva vollkommen recht. Zudem mangelt es unseren Gesellschaften nicht an Arbeit, die erledigt werden muss: Es gibt eine Menge unsichtbarer Sorgearbeit – für Menschen, aber auch für die Umwelt –, die arbeitsintensiv ist und von Personen mit unterschiedlichen Qualifikationen erledigt werden kann. Diese Arbeiten müssen kontinuierlich durchgeführt werden und könnten die erforderlichen Beschäftigungsmöglichkeiten bieten, ohne mit dem privaten Sektor zu konkurrieren – wie auch Tcherneva argumentiert.82

Trotzdem ist eine universelle Arbeitsplatzgarantie die falsche Lösung für das richtige Problem. Erstens wäre sie teuer und bürokratisch. Sie würde es notwendig machen, dass für jede Person, die eine Erwerbsarbeit möchte, ein Arbeitsplatz gefunden oder geschaffen wird, unabhängig von ihrem Wohnort, ihren besonderen Einschränkungen und Stärken, Fähigkeiten und Arbeitsplatzpräferenzen. Zweitens würde eine universelle Jobgarantie die Stigmatisierung der Menschen, die trotzdem nicht in einem Erwerbsarbeitsverhältnis stehen, nicht aufgeben. Sofern sie nicht so reich sind, dass sie von ihrem Vermögen leben, oder eindeutig zu alt oder zu krank sind, würden sie als Trittbrettfahrer abgestempelt werden, vielleicht sogar in höherem Maße als heute. Zudem ist es wahrscheinlich, dass diejenigen, die in einem Jobgarantieprogramm arbeiten, als »Workfare-Schmarotzer« betrachtet würden – als Menschen, die es angeblich einfach haben und in auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Jobs mit großzügigen Leistungen arbeiten. Drittens – und das ist ein wesentlicher Punkt – würde eine universelle Jobgarantie die Ansicht einzementieren, dass nur bezahlte Arbeit als Arbeit gilt. Genau das versucht ein bedingungsloses Grundeinkommen zu ändern. Jobgarantien sind ein sehr wichtiges und wirkungsvolles Instrument, wenn sie gezielt eingesetzt und auf bestimmte Gruppen beschränkt sind – wie etwa ältere Menschen, die ihre Beschäftigung verloren haben, Eltern, die nach einer Karenz wieder in das Erwerbsleben einsteigen, oder Personen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen, die trotzdem einer Beschäftigung nachgehen wollen. Als Vision für die Rolle der Arbeit in unserer Gesellschaft sind Jobgarantien allerdings nicht geeignet.

An die Arbeit!

Aber ganz konkret – welche Schritte müssen wir unternehmen, damit es in Bezug auf die Diskussion über die Abdeckung der Grundbedürfnisse zu einem Umdenken in unserer Gesellschaft kommt? Bezüglich des bedingungslosen Grundeinkommens gibt es derzeit weltweit zahlreiche Initiativen, die ein solches einführen wollen – auch weil, wie Georg Grund-Groiss und Philipp Hacker-Walton in ihrem Buch DAS HALBE GRUNDEINKOMMEN83 zu Recht ausführen, die Coronapandemie viele aufgerüttelt hat. Mit der Pandemie, so schreiben die Autoren, begann das Fördern und Fordern, das bisher die Arbeitsvermittlung gekennzeichnet hatte, »eine sehr große Anzahl von Menschen zu kränken, die ihre Leistungsorientierung in der Erwerbsarbeit oft jahrzehntelang unter Beweis gestellt haben«. Viele, die sich bisher als Leistungserbringer begriffen hätten, sehen sich plötzlich im selben Boot mit jenen, die sie vorher als leistungsschwach oder gar Leistungsverweigerer betrachtet hatten. Das schärft die Wahrnehmung dafür, dass es jedem Menschen passieren kann, erwerbsarbeitslos zu werden – und erhöht bei manchen die Offenheit gegenüber bisherigen Tabus wie einer bedingungslosen Grundsicherung.

Es gibt derzeit auch Vorschläge, ein bedingungsloses Grundeinkommen auf EU-Ebene einzuführen. Das würde nicht nur Menschen im gesamten EU-Raum absichern, so die Autor*innen einer rezenten Studie, sondern es würde auch die europäische Identität stärken.84 Die EU leidet ja unter dem bekannten Problem, dass nationale Regierungen die Segnungen der EU-Politik – wie den Schutz von Konsumentenrechten oder konsumentenfreundliche Datenschutzbestimmungen – gerne für sich beanspruchen, während sie unliebsame Regeln gerne auf »Brüssel« schieben. Würde die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens von der EU initiiert, dann wäre das auch eine Chance für Europa, mit Unterstützungsleistungen für Bürger*innen in Verbindung gebracht zu werden. Das sei gerade bei sozialen Unterstützungsleistungen häufig schwierig, so die Autoren der Studie, weil Mitgliedstaaten die Konkurrenz seitens der EU fürchten. Beim bedingungslosen Grundeinkommen gäbe es dieses Problem nicht, weil es im EU-Raum noch nirgends umgesetzt sei.

Aber wir müssen weit über ein bedingungsloses Grundeinkommen hinausgehen, damit Arbeit wirklich zu einem Schlüssel gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderung werden kann – und Menschen frei und gut arbeiten können. Welchen Stellenwert wir Arbeit geben und wie wir das Thema behandeln, bestimmt, in welche Richtung wir uns als Gesellschaft bewegen – so argumentieren Wissenschaftler aus aller Welt, die sich im Rahmen einer gemeinsamen Initiative (#Democratizing Work) für die Demokratisierung von Arbeit einsetzen. Zählen nur Profite und Wachstum oder wollen wir nachhaltiger leben? Wenn Letzteres der Fall ist, dann muss eine Reform der Arbeit zum Teil eines Europäischen Green Deal werden, wie ihn die Europäische Kommission im Jahr 2020 formuliert hat. Dann muss Arbeit dekommodifiziert werden: Sie ist keine Ware, sondern eine gesellschaftlich wertvolle menschliche Tätigkeit, deren Preis und Wert nicht durch Marktmechanismen bestimmt werden dürfen.

Machen wir uns an die Arbeit.