Kapitel 3

Das Straftatsystem – die Vorgehensweise bei der Prüfung von Strafrechtsfällen

IN DIESEM KAPITEL

  • Die Struktur des Straftatsystems
  • Die Stufe der Tatbestandsmäßigkeit
  • Die Stufe der Rechtswidrigkeit
  • Die Stufe der Schuld
  • Exkurs: Die Strafe bei mehreren Straftaten

Damit sich Juristen über die Lösung von Strafrechtsfällen miteinander verständigen können, müssen sie sich darüber einigen, in welcher Sprache sie miteinander reden wollen. Vereinfacht gesagt, einigen sie sich darauf, dass Juristisch – also eine Fachsprache – verwendet werden soll. Weiter müssen sie sich darauf verständigen, welche Argumente zulässig sein sollen. Das sind solche Argumente, die sich aus den gesetzlichen Regeln und den Lehrsätzen des Strafrechts ableiten lassen – man nennt dies Strafrechtsdogmatik. Schließlich ist es für den Austausch und die Überprüfbarkeit der Gedankenführung sehr wichtig, dass die Lösung in einer bestimmten Ordnung präsentiert wird, sodass zu erkennen ist, wo das geführte Argument anzusiedeln ist. Diese Ordnung der Prüfung nennt man Deliktsaufbau oder Straftatsystem. Wenn Sie diese Regeln nicht beachten, dann wird Ihre »Lösung« eines Falls – auch wenn das Ergebnis nach »dem Bauchgefühl« richtig ist – nicht akzeptiert werden.

In einem Exkurs werde ich Ihnen noch erklären, wie Sie die Strafe bestimmen, wenn ein Täter mehrere Straftaten begeht.

Die Struktur des Straftatsystems

Nur von strafrechtsgeschichtlichem Interesse ist die Tatsache, dass sehr lange wissenschaftlich darüber gestritten worden ist (und bis heute immer einmal wieder gestritten wird), in welcher Weise das Straftatsystem strukturiert werden soll. Durchgesetzt hat sich ein dreigliedriger Aufbau, dem dieses Buch folgt:

  • Tatbestandsmäßigkeit
  • Rechtswidrigkeit
  • Schuld

Ich benutze gerne das Bild von Ebenen: Wenn ein Strafrechtsfall geprüft werden soll, dann muss auf der ersten Ebene zunächst geklärt werden, ob ein Verhalten der Beschreibung eines verbotenen Verhaltens im Tatbestand eines Strafgesetzes entspricht. Wenn ein Mensch einem Tatbestand entsprechend gehandelt hat, nennt man das Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens.

In der Alltagspraxis des Strafrechts ist die Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit meist keine große Herausforderung. Wenn sich jedoch erst aus einer Auslegung des Gesetzes ergibt, was eigentlich als tatbestandsmäßige Handlung eines Strafgesetzes anzusehen ist, dann kann es kompliziert werden.

Hans und Simone geraten in einen heftigen Beziehungsstreit, der zunächst verbal ausgetragen wird. Als Simone Hans vorhält, ständig fremdzugehen, spuckt Hans Simone ins Gesicht.

Es stellt sich hier die Frage, ob Anspucken den Tatbestand der Körperverletzung im Sinne von § 223 StGB erfüllt. Darüber streiten die Gerichte schon seit über einem Jahrhundert. Wenn Sie sich den Tatbestand anschauen, dann ist die Körperverletzung als körperliche Misshandlung oder Gesundheitsschädigung des Opfers definiert. Gesundheitsschädigung meint die Herbeiführung eines pathologischen (krankhaften) Zustandes beim Opfer. Dies ist als Folge von Anspucken auszuscheiden. Bleibt also die körperliche Misshandlung. Der BGH hat erst jüngst in einem Urteil aus dem August 2015 (BGH – 3 StR 289/15) dazu ausgeführt:

»Seelische Beeinträchtigungen als solche genügen nicht zur Verwirklichung des Merkmals der körperlichen Misshandlung i.S.d. § 223 StGB. Nötig sind vielmehr körperliche Auswirkungen, weshalb nicht die bloße Erregung von Ekelgefühlen, jedoch das Hervorrufen von Brechreiz das Tatbestandsmerkmal in objektiver Hinsicht erfüllt

Es wäre also jetzt zu klären, ob Simone das Anspucken einfach nur eklig fand; dann läge keine körperliche Misshandlung vor. Hätte dagegen das Anspucken bei ihr einen Brechreiz ausgelöst, dann läge eine körperliche Misshandlung vor.

In Zeiten von Corona gewinnt das Anspucken jedoch eine ganz andere Bedeutung. Wenn beispielsweise eine mit dem Coronavirus infizierte Person eine andere Person anspuckt, dann besteht die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Person auch ansteckt.

Das AG Braunschweig (Urteil vom 29. Oktober 2020 – 112 C 1262/20) hat hierzu wie folgt entschieden:

»Das Anhusten gegen das Gesicht während der Corona-Pandemie, bei dem unweigerlich körperliche Aerosole freigesetzt werden, ist geeignet, das körperliche Wohlbefinden und die Gesundheit zu beeinträchtigen. Die Gesundheitsbeeinträchtigung resultiert hierbei aus den potentiellen Viren in den körpereigenen Aerosol-Partikeln.«

In diesem Zusammenhang ergeben sich aber Beweisschwierigkeiten, insbesondere die Kausalität (Ursächlichkeit) wird in meisten Fällen schwierig sein. Es muss zunächst festgestellt werden, ob der Täter an Corona erkrankt ist oder nicht. Ist er erkrankt, muss wiederum danach gefragt werden, ob er von seiner Erkrankung weiß. Schließlich ist es auch wichtig, ob das Opfer bereits an Corona erkrankt ist oder nicht. Und wenn es nicht erkrankt ist, muss geprüft werden, ob es zeitlich nachfolgend erkrankt und ob diese Erkrankung auf das »Anhusten« zurückzuführen ist.

In den Fällen des vorsätzlichen Anspuckens ist auch immer an eine Strafbarkeit wegen einer Beleidigung (§ 185 StGB) zu denken, da der Täter durch sein Verhalten zumeist eine Missbilligung und Herabwürdigung seines Opfers ausdrücken möchte.

Haben Sie nun die Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens festgestellt, sagt dies aber grundsätzlich noch nichts darüber aus, ob es sich auch um strafwürdiges Unrecht gehandelt hat. Sie prüfen auf dieser Ebene nur, ob sich eine Person so verhalten hat, dass der Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt ist.

Es kann aber gute Gründe dafür geben, dass sich die Person so verhalten durfte, ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Diese Gründe nennt man Rechtfertigungsgründe und man prüft auf der zweiten Ebene des Straftatsystems, ob sich solche Gründe für das Verhalten finden lassen.

Ein klassischer Rechtfertigungsgrund ist die Notwehr: Wenn ich von einem anderen Menschen rechtswidrig angegriffen werde, darf ich mich dagegen zur Wehr setzen und diese Person im extremen Fall sogar töten. Ich habe dann tatbestandsmäßig gehandelt, zum Beispiel den Tatbestand des Totschlags (§ 212 StGB) erfüllt, aber ich habe damit nicht im Widerspruch zur Rechtsordnung gehandelt. Damit entfällt meine Strafbarkeit auf der Ebene der Rechtswidrigkeit.

Anton schlägt Peter eine Bierflasche auf den Kopf. Das erfüllt ohne jeden Zweifel den Tatbestand der Körperverletzung. Die Ermittlungen fördern aber folgende Vorgeschichte zutage: Anton und Peter hatten einen verbalen Streit. Plötzlich hat Peter ein Messer gezogen und Anton mit den Worten »Verschwinde hier, sonst steche ich dich ab« vor die Brust gehalten. Daraufhin hat Anton Peter die Bierflasche auf den Kopf geschlagen.

Anton durfte sich gegen den rechtswidrigen Messerangriff von Peter so zur Wehr setzen, dass seine körperliche Unversehrtheit (ja vielleicht sein Leben) nicht weiter bedroht wird. Er hat in Notwehr (§ 32 StGB) gehandelt und ist gerechtfertigt. Seine tatbestandsmäßige Körperverletzungshandlung scheidet auf der Ebene der Rechtswidrigkeit aus dem Straftatsystem aus.

Jedoch darf nur für eine schuldhaft begangene Straftat eine Strafe verhängt werden. Nur wenn der Täter zum Zeitpunkt der Tat schuldfähig war und ihm sein Verhalten vorgeworfen werden kann, tritt ihm die Rechtsordnung mit dem Vorwurf entgegen, dass er sich für das Unrecht entschieden hat.

Bleiben wir bei der Auseinandersetzung zwischen Anton und Peter – und bilden wir zwei Fallvarianten:

Peter hat Anton nicht bedroht, vielmehr hat ihm Anton grundlos die Bierflasche auf den Kopf geschlagen. Als die Polizei am Ort des Streits eintrifft, haben die Beamten den Eindruck, dass Anton erheblich alkoholisiert ist. Es wird eine Blutentnahme angeordnet und eine Blutalkoholkonzentration von 3,4 Promille festgestellt.

Peter hat Anton wahrheitsgemäß erzählt, dass dessen Frau einen Geliebten hat. Anton hat dies als Lüge und eine schwere Kränkung seiner Ehre angesehen und war der Meinung, dass er sich gegen eine solche Ehrkränkung körperlich zur Wehr setzen darf.

Im Fall der Volltrunkenheit fehlte Anton infolge der Wirkungen des Alkohols die Fähigkeit zur Einsicht in das Unrecht seiner Tat und die Fähigkeit, sein Verhalten zu steuern. Schuldunfähige bleiben straflos, § 20 StGB.

Im Fall der »Ehrverteidigung« irrt sich Anton über die Existenz eines Erlaubnissatzes für sein Verhalten. Ein solcher »Erlaubnisirrtum« ist wie ein Verbotsirrtum nach den Regeln des § 17 StGB zu behandeln. Das heißt, ein solcher Irrtum entschuldigt nur, wenn er für den Täter unvermeidbar war. Hat ein Täter nicht genug nachgedacht und sein Gewissen befragt, dann entschuldigt ein solcher Irrtum nicht. So wird das bei der impulsiven Reaktion von Anton gewesen sein.

  • Wenn Sie auf der ersten Ebene der Straftatsystems festgestellt haben, dass das Verhalten des Täters den Tatbestand erfüllt,
  • wenn Sie auf der zweiten Ebene keinen Grund finden, der das Verhalten des Täters rechtfertigt,
  • wenn Sie auf der dritten Ebene keine Anhaltspunkte für eine Schuldunfähigkeit oder Entschuldigungsgründe für den Täter finden,

dann haben Sie nach dem Durchgang des Straftatsystems festgestellt, dass gegen den Täter eine Strafe verhängt werden kann.

Schauen Sie sich jetzt einmal die einzelnen Stufen genauer an.

Die Tatbestandsmäßigkeit

Der Tatbestand eines Strafgesetzes meint die Beschreibung einer Situation, von Handlungsweisen und deren Folgen, die zu der Rechtsfolge einer Bestrafung führen. Diese Beschreibungen des gesetzlichen Tatbestandes stehen unter der Anforderung, sehr vielgestaltige Situationen und Handlungsweisen in möglichst allgemeiner Form »auf den Punkt« zu bringen. Dabei muss die verfassungsrechtliche Anforderung der Bestimmtheit von Strafgesetzen (Art. 103 II GG) beachtet werden. Sie erinnern sich, es geht um die Garantiefunktion der Gesetze. Das heißt, die Bürgerinnen und Bürger müssen erkennen können, welches Verhalten den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt und die Gerichte müssen durch das Gesetz klare Anhaltspunkte für ihre Beurteilung von Fällen erhalten. Wie kann es da sein, dass schon die Frage, ob Anspucken eine Körperverletzung ist, zu unterschiedlichen Entscheidungen führt?

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 126, 170 [194 f.]) hat das Problem, bestimmte Strafgesetze zu schaffen, wie folgt beschrieben:

»Allerdings muss der Gesetzgeber auch im Strafrecht in der Lage bleiben, der Vielgestaltigkeit des Lebens Herr zu werden. Müsste er stets jeden Straftatbestand bis ins Letzte ausführen, anstatt sich auf die wesentlichen für die Dauer gedachten Bestimmungen über Voraussetzungen, Art und Maß der Strafe zu beschränken, bestünde die Gefahr, dass die Gesetze zu starr und kasuistisch würden und dem Wandel der Verhältnisse oder der Besonderheit des Einzelfalls nicht mehr gerecht werden könnten. Wegen der gebotenen Allgemeinheit und der damit zwangsläufig verbundenen Abstraktheit von Strafnormen ist es unvermeidlich, dass in Einzelfällen zweifelhaft sein kann, ob ein Verhalten noch unter den gesetzlichen Tatbestand fällt oder nicht.«

Das bedeutet für Sie auf sehr unterschiedlichem Schwierigkeitsniveau, dass Sie bei der Anwendung von Straftatbeständen in der Tatbestandsmäßigkeit mit Auslegungsschwierigkeiten konfrontiert sein können und nach einer Lösung suchen müssen. Zum Beispiel:

  • Ist marktschreierische Werbung (»Cleopatra-Verjüngungsbad«) eine Täuschung im Sinne des Betrugstatbestandes (§ 263 StGB)?
  • Ist das Abrasieren des Bartes im Schlaf eine Körperverletzung (§ 223 StGB)?
  • Ist die Drohung mit dem Outen der Homosexualität des Arbeitsgebers, um eine Lohnerhöhung zu erhalten, eine Erpressung (§ 253 StGB)?
  • Macht sich diejenige wegen Datenveränderung (§ 303 a StGB) strafbar, die heimlich vom Smartphone ihres Freundes anlässlich der Trennung gemeinsame Selfies löscht?
  • Übt derjenige Gewalt (§ 240 StGB) aus, der sich im Rahmen einer Demonstration blockierend auf eine Straßenkreuzung setzt?

Wie Sie bei der Auslegung eines gesetzlichen Tatbestandes vorgehen, werde ich mit Ihnen am Ende von Kapitel 5 besprechen. Hier nur so viel: Bedenken Sie immer, worauf ich Sie in Kapitel 2 hingewiesen habe. Für ein rechtsstaatliches Strafrecht ist seine Begrenzung zentral und nicht seine grenzenlose Ausdehnbarkeit. Auch wenn Sie es vielleicht eine »Riesensauerei« finden, dass jemand unbefugt Fotos vom Handy löscht, sollte es nicht Ihr Ziel sein, noch irgendeinen Auslegungsdreh zu finden, um das in den Bereich strafbaren Verhaltens zu bekommen.

Neben dem objektiven Tatbestand prüfen Sie auf der Ebene der Tatbestandsmäßigkeit noch den subjektiven Tatbestand. Ausführlich informiere ich Sie dazu in Kapitel 10.

Es geht im subjektiven Tatbestand im Kern darum, ob die Vorstellungen des Täters mit dem übereinstimmen, was im objektiven Tatbestand als Voraussetzungen und als Geschehensablauf festgestellt worden ist.

Wenn Anton Peter eine Bierflasche über den Kopf schlägt, dann ist das jedenfalls eine körperliche Misshandlung und wird regelmäßig auch eine Gesundheitsschädigung sein, weil dies zu Verletzungen der Kopfhaut und des darunterliegenden Gewebes führen wird. Es besteht also kein Zweifel daran, dass dieses Verhalten von Anton den objektiven Tatbestand einer Körperverletzung erfüllt.

Im subjektiven Tatbestand fragen Sie nun, ob Anton bei dem Schlag mit der Bierflasche auch weiß, dass er Peter damit misshandelt und ihm höchstwahrscheinlich Kopfverletzungen zufügt. Und Sie fragen weiter nach der Willensbeziehung von Anton zu seiner Verhaltensweise: Wollte Anton bei dem Schlag mit der Flasche Peter verletzen? Wissen und Wollen sind die beiden konstituierenden Elemente der inneren Tatseite.

Bei einigen Straftatbeständen kommen noch weitere, die innere Tatseite steigernde Willenselemente hinzu. Das können Sie gut am Tatbestand des Diebstahls (§ 242 StGB) sehen.

Der Tatbestand beschreibt zunächst eine äußere Situation. Der Täter nimmt eine fremde Sache weg. Diese beiden Momente müssen in seiner Vorstellung präsent sein. Erstens: Ich weiß, dass mir diese Sache nicht gehört. Zweitens: Trotzdem will ich diese Sache wegnehmen. Weiter heißt es dann im Diebstahlstatbestand:

»in der Absicht (…), die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen.«

Dies bedeutet, dass das Geschehen von einem bestimmten Willen geprägt sein muss – nämlich für sich oder einen anderen Besitz von der Sache zu ergreifen.

Diese Stufe in der Strafbarkeitsprüfung weist zuweilen enorme Schwierigkeiten auf. Sie können nicht sehen, was sich hinter der Stirn eines Täters abspielt. Wenn ein Beschuldigter hierzu keine Aussagen macht, müssen Sie versuchen, aus dem äußeren Tatgeschehen Rückschlüsse auf die inneren Vorstellungen des Täters zu ziehen. Klar ist, dass sich gerade bei schweren Tatvorwürfen Täter auf die Verteidigungslinie zurückziehen, dass sie entweder nicht wussten, was sie da taten, oder nicht wollten, was als Folge ihrer Handlungen eingetreten ist.

Die Rechtswidrigkeit

Auch wenn ein Verhalten dem äußeren Geschehensablauf (objektiver Tatbestand) wie der inneren Haltung des Täters (subjektiver Tatbestand) nach alle Elemente aufweist, um den Tatbestand eines Strafgesetzes zu erfüllen, bedeutet dies noch nicht zwingend, dass es sich um Unrecht handelt.

Es ist schon aus der allgemeinen Moral bekannt, dass es kaum eine Verhaltensregel gibt, die nicht auch Ausnahmen kennt.

Dies gilt selbst für ein so unbedingtes Prinzip wie »Du sollst nicht töten«. Hier sind zum Beispiel als Ausnahmen anerkannt: »Es sei denn, dass du als Soldat in einem Verteidigungskrieg einen Feind tötest oder einen rechtswidrigen Angriff auf deine Person nicht anders abwehren kannst.«

So kann es auch gute Gründe dafür geben, eine demente Person am Verlassen ihrer Wohnung zu hindern (Freiheitsberaubung, § 239 StGB), einem jähzornigen Menschen seine Waffe wegzunehmen (Diebstahl, § 242 StGB) oder einen betrunkenen Freund vor Schlimmerem zu bewahren, indem man sein Auto vor der Tür der Gastwirtschaft lahmlegt (Sachbeschädigung, § 303 StGB).

In der Regel wird man auch sagen können, dass eine Handlung, die der Betroffene selber will, kein Unrecht sein kann. Wenn Sie sich die Nase in einem kosmetisch-chirurgischen Eingriff richten lassen, dann ist das ein blutiger und schmerzhafter Eingriff, der den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt. Wenn Sie diesen Eingriff aber selber gewünscht haben, vom operierenden Arzt aufgeklärt worden sind und dem Eingriff dann zugestimmt haben, dann ist nicht zu begründen, warum dies ein Unrecht sein soll.

Freilich enthält das Gesetz (§ 228 StGB) die Einschränkung, dass eine Einwilligung nur dann rechtfertigend wirkt, wenn es sich nicht um ein Geschehen handelt, das gegen die guten Sitten verstößt. Dies wirft zum Beispiel die sehr spannende Frage auf, ob sich Hooligans miteinander zu einer Schlägerei verabreden können und das ganze Geschehen unter dem Gesichtspunkt der Einwilligung straflos ist. Zu solchen sogenannten »Dritten Halbzeiten« hat der Bundesgerichtshof in einem Urteil aus dem Jahre 2013 (BGH 1 StR 585/12) erklärt:

»Findet die Tat unter Bedingungen statt, die den Grad der aus ihr hervorgehenden Gefährlichkeit für die körperliche Unversehrtheit oder gar das Leben des Verletzten begrenzen, führt dies regelmäßig dazu, die Körperverletzung als durch die erklärte Einwilligung gerechtfertigt anzunehmen. Fehlt es dagegen an derartigen Regularien, ist eine Körperverletzung trotz der erteilten Einwilligung grundsätzlich sittenwidrig.«

In den Bereich der Rechtswidrigkeit gehört auch die Frage, in welcher Weise sich betroffene Frauen und Kinder gegen sogenannte Haustyrannen, die mit Gewalt und sexuellen Übergriffen herrschen, zur Wehr setzen dürfen.

Es gibt so vielfältige Situationen und so unterschiedliche Gründe, durch die das Unrecht einer Tat infrage gestellt werden kann, dass ich Ihnen später in den Kapiteln 14 bis 17 nur eine Auswahl der wichtigsten Probleme vorstellen kann. Ich darf Ihnen aber versprechen, dass Sie dabei eine besonders spannende Materie kennenlernen werden – spannend auch deswegen, weil hier das »Bauchgefühl« und die juristische Bewertung weit auseinanderliegen können.

Die Schuld

»Schuld« ist ein Begriff mit vielen Bedeutungen und Verwendungszusammenhängen. Die Redewendung »du bist schuld« wird im Alltag in allen möglichen Zusammenhängen benutzt: Du bist schuld daran, dass es mir schlecht geht, weil du mich betrogen hast; du bist schuld daran, dass ich friere, weil du keinen Pullover für mich eingepackt hast; du hast selber schuld daran, dass du die Prüfung nicht bestanden hast und so weiter. »Schuld« spielt auch eine große Rolle in der Ethik und in vielen Glaubenslehren: So kann man Schuld auf sich laden, weil man eine ethische Pflicht – zum Beispiel die Wahrhaftigkeit – durch eine Lüge verletzt, oder man kann schwere Schuld auf sich laden, wenn man sich von Gott abwendet und nicht mehr seinen Geboten folgt.

Im Strafrecht geht es auf der Ebene der Schuld darum, ob dem Täter ein Vorwurf für sein Handeln gemacht, ob ihm die Tat zur Last gelegt werden kann und damit ein Tadel in Gestalt der Strafe berechtigt ist. Wenn ich einen Menschen für etwas bestrafe, dann setzt dies nach unserem Verständnis von Gerechtigkeit voraus, dass dieser Mensch etwas für sein Verhalten kann. Anders ausgedrückt, dass er die Freiheit hatte, sich zwischen der Befolgung und der Verletzung des strafrechtlichen Verbots zu entscheiden. In den Worten der klassischen Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum Begriff der Schuld (BGHSt 2, 194 [200]):

»Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, dass er sich nicht rechtmäßig verhalten, dass er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfes liegt darin, dass der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, sein Verhalten nach den Normen des rechtlichen Sollens einzurichten und das rechtlich Verbotene zu vermeiden.«

Diese Definition würde zahlreiche sehr grundlegende Fragen nach der Willensfreiheit und Selbstbestimmung aufwerfen, wenn im Straftatsystem auf der Ebene der Schuld jedes Mal positiv festgestellt werden müsste, dass sich der Täter frei für die Begehung eines Unrechts entschieden hat.

Die methodische Vorgehensweise ist aber umgekehrt: Es wird auf der Ebene der Schuld im Normalfall von der Vorwerfbarkeit des Verhaltens ausgegangen und nur nach einem Ausschlussmodell gefragt, ob Gründe für eine fehlende Vorwerfbarkeit des Verhaltens vorliegen könnten.

Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn der Täter von den strafrechtlichen Verboten und ihrer Bedeutung für sein Verhalten in der Situation wegen Intelligenzminderung, Geisteskrankheit, schweren Rauschzuständen und so weiter (vgl. § 20 StGB) nicht erreicht werden konnte. Wenn ich die Kontrolle über meinen Verstand und mein Verhalten verloren habe, dann bin ich nicht mehr in der Lage, mich »für das Recht und gegen das Unrecht« zu entscheiden.

Auch außerhalb von geistigen Störungen kann es sein, dass ich mir bei meinen Handlungen nicht bewusst bin, dass ich mich für Unrecht entschieden habe. Diese Situation wird im Strafrecht unter die Regelung über den sogenannten Verbotsirrtum (§ 17 StGB) gefasst. Dabei geht es um Situationen wie diese:

Der 83-jährigen Martha geht es von Tag zu Tag schlechter, ihr Hausarzt geht davon aus, dass sie keine sechs Monate mehr leben wird. Martha wird von der häuslichen Krankenpflegerin Simone betreut. Martha bittet Simone flehentlich, ihr eine tödliche Dosis eines Schlafmittels zu spritzen. Simone ist der Meinung, dass eine aktive Sterbehilfe unter diesen Umständen erlaubt ist, und tötet Martha durch eine Überdosis.

Tatsächlich ist die Rechtslage so, dass das Verhalten von Simone als Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) strafbar ist. Es steht völlig außer Frage, dass der Tatbestand erfüllt ist: Simone hat Martha durch die Injektion einer Überdosis getötet und ist dabei mit vollem Bewusstsein und Willen vorgegangen. Es ist auch nicht erkennbar, dass es gute rechtfertigende Gründe für ihre Tat gibt; eine Einwilligung in die eigene Tötung ist in der deutschen Rechtsordnung nicht anerkannt.

Freilich hat das Bundesverfassungsgericht in einem aufsehenerregenden Beschluss vom 26. Februar 2020 (BvR 2347/15 u.a.) die rechtliche Dimension der gesellschaftlichen Diskussion über die Sterbehilfe nachhaltig verändert. Sie erinnern sich bestimmt noch an meine Ausführungen zur Anbindung des Strafrechts an das Grundgesetz. Das strafrechtliche Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung durch den im Jahre 2015 eingeführten § 217 StGB hat das BVerfG für nichtig erklärt. Dazu hat das Gericht das Folgende ausgeführt:

»Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs.1 GG) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben.

b) Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.

c) Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.«

Mit dieser fundamentalen Begründung hat der Zweite Senat entschieden, dass das in § 217 des Strafgesetzbuchs (StGB) normierte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung gegen das Grundgesetz verstößt und nichtig ist, weil es die Möglichkeiten einer assistierten Selbsttötung faktisch weitgehend ausschließe.

Der BGH hat kürzlich einen Beschluss (vom 28. Juni 2022, 6 StR 68/21) erlassen, in der eine entsprechende verfassungskonforme Auslegung des § 216 StGB sichtbar wird.

Nach dem BGH hat die Abgrenzung wie folgt zu erfolgen:

»Täter einer Tötung auf Verlangen ist, wer das zum Tode führende Geschehen tatsächlich beherrscht, auch wenn er sich damit einem fremden Selbsttötungswillen unterordnet. Entscheidend ist, wer den lebensbeendenden Akt eigenhändig ausführt. Gibt sich der Suizident nach dem Gesamtplan in die Hand des anderen, um duldend von ihm den Tod entgegenzunehmen, dann hat dieser die Tatherrschaft. Behält der Sterbewillige dagegen bis zuletzt die freie Entscheidung über sein Schicksal, dann tötet er sich selbst, wenn auch mit fremder Hilfe. Dies gilt nicht nur, wenn die Ursachenreihe von ihm selbst, sondern auch, wenn sie vom anderen bewirkt worden war. Solange nach Vollzug des Tatbeitrags des anderen dem Sterbewilligen noch die volle Freiheit verbleibt, sich den Auswirkungen zu entziehen oder sie zu beenden, liegt nur Beihilfe zur Selbsttötung vor«

Danach muss also die Abgrenzung einer strafbaren Tötung auf Verlangen von strafloser Beihilfe zur Selbsttötung anhand einer wertenden Betrachtung vorgenommen werden. Dabei ist wichtig, ob das Opfer, auch wenn ein anderer die Ursachenreihe setzt, noch die volle Freiheit hat, sich den Auswirkungen zu entziehen.

Auf der Ebene der Schuld stellt sich die Frage, ob man Simone ihr Verhalten zum Vorwurf machen kann, wenn sie erklärt, dass sie aktive Sterbehilfe nicht für verboten hielt. Man kann zwar nicht erwarten, dass jeder Mensch die Regelungen des Strafrechts im Einzelnen kennt; man wird aber am Beispiel sagen können, dass ein Mensch in der Krankenpflege eine Vorstellung von für seine Tätigkeit wichtigen Strafrechtsnormen haben sollte. Auch wird man auf die ständige gesellschaftliche Diskussion über Sterbehilfe hinweisen müssen, in der gerade das Verbot aktiver Tötung immer wieder hervorgehoben wird. Vor diesem Hintergrund erscheint es sehr zweifelhaft, dass sich Simone über das Verbot der aktiven Sterbehilfe irren konnte. Der Bundesgerichtshof hat in der gerade zitierten Entscheidung zur Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums ausgeführt:

»(Der Täter hat sich) bei allem, was er zu tun im Begriff steht, bewusst zu machen, ob es mit den Sätzen des rechtlichen Sollens in Einklang steht. Zweifel hat er durch Nachdenken oder Erkundigung zu beseitigen. Hierzu bedarf es der Anspannung des Gewissens, ihr Maß richtet sich nach den Umständen des Falles und nach dem Lebens- und Berufskreis des Einzelnen. Wenn er trotz der ihm danach zuzumutenden Anspannung des Gewissens die Einsicht in das Unrechtmäßige seines Tuns nicht zu gewinnen vermochte, war der Irrtum unüberwindlich, die Tat für ihn nicht vermeidbar. In diesem Falle kann ein Schuldvorwurf gegen ihn nicht erhoben werden.«

Nach diesen Leitsätzen wird Simone also nicht durch einen Verbotsirrtum in der Schuld entlastet und hat sich einer Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) strafbar gemacht.

Schließlich können sich Gründe für eine Entschuldigung des Täters noch aus einer Bedrängnis ergeben. Es kann Situationen geben, in denen man weiß, dass man ein Gesetz verletzt. In denen es klar ist, dass Gründe für eine Rechtfertigung des Verhaltens nicht zu finden sind. Aber man kann nicht tatenlos zusehen und handelt nach dem lutherschen Motto: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir.«

Ein Güterzug droht wegen falscher Weichenstellung in einen Bahnhof zu rasen und auf einen mit über 200 Menschen vollbesetzten stehenden Personenzug aufzuprallen. Ein Weichensteller erkennt im Stellwerk diese Gefahr und leitet im letzten Moment den Güterzug auf ein Nebengleis um. Er weiß zwar, dass dort eine Gruppe von fünf Gleisarbeitern ist, hält aber das drohende Unglück für die Passagiere für gewichtiger. Drei der fünf Gleisarbeiter kommen ums Leben.

Durch die Umstellung der Weiche sind diese drei Menschen zu Tode gekommen. Dem Weichensteller war dies als mögliche Folge seines Handelns auch bewusst. Er wollte zwar nicht die Gleisarbeiter töten, nahm aber deren Tod billigend in Kauf. Es sind auch keine Rechtfertigungsgründe für seine Tat ersichtlich. Der Weichensteller hat bei klarem Verstand gehandelt. Er hat sich auch nicht darüber geirrt, dass die Tötung von Menschen verboten ist.

Gleichwohl stellt sich die Frage, ob es als angemessen und gerecht erscheint, dem Weichensteller sein Verhalten strafrechtlich zum Vorwurf zu machen. Wenn (siehe oben) der Kern des Schuldvorwurfs im »Anders-handeln-Können« besteht und man sich in die Situation des Weichenstellers versetzt, dann war diese nicht so beschaffen, dass man von ihm eine anspruchsvolle und umfassende ethische Abwägung verlangen konnte – er hatte gar nicht die Zeit, groß nachzudenken. Zwar gilt in unserer Rechtsordnung der Grundsatz, dass Menschenleben nicht gegen Menschenleben abgewogen werden dürfen. Man darf die Tötung von Menschen nicht als Mittel zur Rettung anderer Menschen benutzen. Gleichwohl ist es gut nachvollziehbar, dass der Weichensteller in der konkreten Lage etwas Gutes und nichts Böses tun wollte und nur die Alternative hatte, tatenlos dem Ablauf einer Katastrophe zuzusehen. Er wird in der Verarbeitung der Ereignisse noch genug mit eigenen Schuldgefühlen zu tun haben und es ist überflüssig, ihm auch noch einen strafrechtlichen Vorwurf zu machen.

Auf die Einzelheiten der Prüfungsstufe der Schuld werde ich in Kapitel 18 zurückkommen.

Exkurs: Die Strafe bei mehreren Straftaten – Konkurrenzen

In der Realität von Kriminalität kommt es oft vor, dass im Rahmen eines Geschehens mehrere Tatbestände verwirklicht werden.

Anton will später am Abend in eine Villa einbrechen. Deswegen schaut er sich schon einmal nach einem Auto für den Abtransport der Beute um und entwendet schließlich gegen 23 Uhr einen Kombi. Er fährt damit zu der Villa. Um in das Haus zu gelangen, muss Anton einen hohen Zaun um das Grundstück überwinden. An der Rückseite der Villa angekommen, bricht Anton die Terrassentür mit einem Schraubenzieher auf und verursacht einen Schaden von circa 300 Euro. Er nimmt dann Schmuck und eine chinesische Vase im Wert von circa 15.000 Euro mit.

Häufig sind vor Gericht auch mehrere getrennte, im Lauf der Zeit begangene Straftaten zusammen zu beurteilen.

Bert hatte den ganzen Winter über keine Arbeit und zu wenig Geld. Er hat deswegen mehrfach Bekleidungsstücke und Lebensmittel an verschiedenen Tagen und Orten gestohlen. In der Gerichtsverhandlung sind nun aus diesem Zeitraum neun Diebstähle und drei Diebstahlsversuche zu verhandeln und bestrafen.

Erfüllt ein Täter mehrere Tatbestände, so ist die Frage zu klären, in welchem Verhältnis diese Straftaten zueinander stehen und wie die Strafe zu bestimmen ist.

Dafür enthält das Gesetz zwei Regelungen.

§ 52 StGB (Tateinheit) bestimmt:

  1. Verletzt dieselbe Handlung mehrere Strafgesetze oder dasselbe Strafgesetz mehrmals, so wird nur auf eine Strafe erkannt.
  2. Sind mehrere Strafgesetze verletzt, so wird die Strafe nach dem Gesetz bestimmt, das die schwerste Strafe androht. Sie darf nicht milder sein, als die anderen anwendbaren Gesetze es zulassen.

In § 53 StGB (Tatmehrheit) heißt es:

  1. Hat jemand mehrere Straftaten begangen, die gleichzeitig abgeurteilt werden, und dadurch mehrere Freiheitsstrafen oder mehrere Geldstrafen verwirkt, so wird auf eine Gesamtstrafe erkannt.

Die wichtigste Weiche bei der Prüfung von Konkurrenzen ist gleich zu Beginn zu stellen. Es geht um die Frage, ob Sie es mit einer Handlung (§ 52 StGB) oder mehreren Handlungen (§ 53 StGB) zu tun haben. Wie Sie gleich sehen werden, ist diese Frage kompliziert. Eine Handlung liegt nicht nur dann vor, wenn zum Beispiel Anton Bert mit einem Schuss tötet. In bestimmten Konstellationen können auch mehrere Handlungen zu einer Handlung im Rechtssinne verbunden sein.

In der universitären Ausbildung ist diese komplizierte Materie mangels praktischer Anschauung regelmäßig nur schwer zu vermitteln. Häufig wird in den Klausuren bei der Behandlung dieses Themas geraten. Die folgenden Begrifflichkeiten und Regeln sollten Sie unbedingt lernen, weil der Gesetzestext nicht genug hergibt, um das Problem »nach dem Text« ordentlich zu bearbeiten.

Handlungseinheit

Bei der Tateinheit (§ 52 StGB) geht es darum, dass dieselbe Handlung mehrere Strafgesetze oder mehrmals dasselbe Strafgesetz verletzt. Verletzt eine Handlung mehrere Strafgesetze, spricht man von ungleichartiger Idealkonkurrenz; verletzt dagegen eine Handlung ein Strafgesetz mehrfach, dann spricht man von gleichartiger Idealkonkurrenz.

Von einer Handlung im natürlichen Sinne spricht man, wenn ein Willensentschluss in genau einer Handlung umgesetzt wird. Wenn Anton mit dem Willen, Bert zu töten, genau einmal in dessen Hals sticht, dann stellen sich überhaupt keine Konkurrenzfragen.

Davon zu unterscheiden ist die natürliche Handlungseinheit. Hier sind zwar mehrere Handlungen zu erkennen, aber das Geschehen wird von einem einheitlichen Willen bestimmt, die Handlungen weisen einen im Wesentlichen gleichartigen Charakter auf und finden in einem engen räumlich-zeitlichen Zusammenhang statt. Wenn Anton zunächst Bert mit einem Seil erdrosseln will, dann ein Messer zunächst in den Hals und dann in den Rücken sticht, um Bert zu töten, dann stellt sich das als ein zusammenhängendes Geschehen dar. Es wäre natürlich möglich, von einem Tötungsversuch durch Erdrosseln plus Tötungsversuch durch den Messerstich in den Hals plus Tötungsversuch durch den Messerstich in den Rücken auszugehen. Man würde hierdurch jedoch ein Geschehen durch scharfsinnige rechtliche Betrachtungen sezieren und der natürlichen Betrachtungsweise nicht gerecht werden. Auch hier stellen sich keine Konkurrenzfragen, weil es sich um einen eskalierenden Tötungsversuch handelt.

Manchmal enthält bereits die Tatbestandsbeschreibung eine Verschmelzung von einzelnen Handlungen zu einer tatbestandlichen Handlungseinheit. Das gilt zum Beispiel für ein zweiaktiges Delikt wie den Raub (§ 249 StGB). Der Raubtatbestand (§ 249 StGB) besteht aus dem Einsatz des Nötigungsmittels Gewalt oder Drohung mit dem Ziel, eine Sache wegzunehmen. Zerlegt man diesen Tatbestand, dann macht sich der Räuber einer Nötigung (§ 240 StGB) und eines Diebstahls (§ 242 StGB) strafbar. Durch § 249 StGB werden diese beiden Handlungen jedoch zu einer rechtlich-sozialen Bewertungseinheit zusammengefasst.

Sehr lange hat sich die Rechtsprechung (bis zur Entscheidung BGHSt 40, 138) einer pragmatischen Lösung bedient, um Serienstraftaten vereinfacht erfassen zu können. Wenn von einem Gesamtvorsatz (»Ich werde ab sofort eine Reihe von Betrugstaten bei eBay begehen«), einer gleichartigen Deliktsverwirklichung (»Ich biete Produktfälschungen als Originale an«) und einer Angriffsrichtung gegen dasselbe Rechtsgut (»Vermögensschädigung«) auszugehen war, konnten zahlreiche Taten zu einer fortgesetzten Tat zusammengefasst werden. Dies ist von der Rechtsprechung aufgegeben worden. Einige Konstellationen dieser Art werden nunmehr durch die Figur der natürlichen Handlungseinheit erfasst.

Gesetzeskonkurrenz

Hat man im ersten Schritt geklärt, ob Handlungseinheit oder Handlungsmehrheit vorliegt, ist die daraus folgende grundsätzliche Einordnung als Tateinheit oder Tatmehrheit nunmehr einer Art Gegenprobe zu unterziehen. Es ist nämlich möglich, dass gar nicht alle Straftatbestände, die Sie auf den Fall anwenden konnten, in die rechtliche Beurteilung des Gesamtgeschehens eingehen. Wie kann das sein?

Im Rahmen der Gesetzeskonkurrenz prüfen Sie, ob die verwirklichten Gesetze nicht miteinander konkurrieren. Es kann sein, dass

  • eine Strafvorschrift begriffsnotwendig alle Merkmale einer anderen enthält und darüber hinaus noch zusätzliche weitere Merkmale (Spezialität),
  • eine Strafvorschrift bestimmt, dass diese nur nachrangig anzuwenden ist, wenn nicht eine andere Norm einschlägig ist (formelle Subsidiarität ),
  • der weniger intensive Rechtsgutangriff gegenüber dem weitreichenderen Rechtsgutsangriff zurücktritt (materielle Subsidiarität),
  • eine Strafvorschrift den Unrechtsgehalt anderer Delikte mit umfasst (Konsumtion).

Der Vorrang der Spezialnorm gegenüber dem allgemeineren Gesetz (Spezialität) besteht zum Beispiel im Verhältnis von Totschlag (§ 212 StGB) zur Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB). Wenn der todkranke Fred seinen engsten Freund Georg inständig bittet, ihm ein tödliches Gift zu verabreichen, dann handelt es sich nach den Merkmalen des Grundtatbestandes um einen Totschlag. Jedoch wird diese Tat durch den Umstand, dass Georg auf ernsthaftes Bitten von Fred hin handelte, im Unrecht wesentlich anders eingestuft und durch den Tatbestand des § 216 StGB privilegiert. Dieses Gesetz geht nach dem Prinzip der Spezialität vor.

Ein besonders wichtiges und klar erkennbares Beispiel für die formelle Subsidiarität ist der Tatbestand der Unterschlagung (§ 246 StGB). Dort heißt es:

»Wer eine fremde bewegliche Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zueignet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist.«

Damit teilt das Gesetz mit, dass die Unterschlagung als ein sogenannter Auffangtatbestand anzusehen ist. Der Tatbestand greift nur dann ein, wenn nicht andere Eigentums- oder Vermögensdelikte auf die Zueignung der fremden Sache anwendbar sind. Umgekehrt ausgedrückt: § 246 StGB ist subsidiär zu allen gleichzeitig begangenen Eigentums- oder Vermögensdelikten.

Die materielle Subsidiarität orientiert sich an verschiedenen Stadien und einer verschiedenen Angriffsintensität. Daraus folgt zum Beispiel, dass der Versuch gegenüber der Vollendung einer Straftat zurücktritt. Die leichtere Beteiligungsform der Beihilfe ist gegenüber der Anstiftung subsidiär. Die Körperverletzung als Durchgangstat tritt gegenüber der Tötung zurück.

Die Konsumtion tritt zum Beispiel beim Einbruchsdiebstahl (§ 243 StGB) gegenüber den regelmäßig mitverwirklichten Taten der Sachbeschädigung (§ 303 StGB) und des Hausfriedensbruchs (§ 123 StGB) zurück, da der Bestrafung wegen dieser Taten angesichts des Strafrahmens für den besonders schweren Fall des Diebstahls (§ 243 StGB, bis zu zehn Jahre) keine Bedeutung mehr zukommt.

Hat der Täter die verwirklichten Delikte in Handlungsmehrheit begangen, so kann es sein, dass gleichwohl die Bestimmung der Strafe nicht nach der Regelung des § 53 StGB erfolgt, weil die Einbeziehung von Handlungen an folgenden Arten der Gesetzeskonkurrenz scheitert:

Mitbestrafte Vortat: Unter einer mitbestraften Vortat versteht man ein selbstständig strafbares Verhalten, das der späteren Verwirklichung eines anderen Tatbestandes vorausgeht und dessen Unrechtsgehalt mit in die Bestrafung für diese Tat aufgenommen wird.

Wer sich durch Diebstahl oder Unterschlagung einen Autoschlüssel verschafft, um später das dazugehörige Auto zu stehlen, dessen Autoschlüsseldiebstahl kommt gegenüber dem Autodiebstahl keine gesonderte Bedeutung zu.

Mitbestrafte Nachtat: Wenn die Verwirklichung eines Tatbestandes regelmäßig eine nachfolgende Verwertungshandlung mit einschließt, dann liegt ein Fall der mitbestraften Nachtat vor.

Wohnungseinbrecher wollen die entwendeten Sachen natürlich nicht sammeln, sondern zu Geld machen. Wenn sie ihre Beute an einen Hehler verkaufen, machen sie sich durch diese Verwertungshandlung nicht noch der Hehlerei (§ 259 StGB) strafbar.