Die im zweiten Kapitel dargelegt, existierten in der christlichen Theologie tief verwurzelte Strukturen, die es den Akteuren in den politischen Kulturen des Westens erlaubten, verschiedene Ideen – Krieg nach außen, Selbstreinigung beziehungsweise Reinigung der Gesellschaft (oder der Kirche) und Freiheit – miteinander zu verknüpfen. Diese Verknüpfung oder, vorsichtiger ausgedrückt, diese Wahrscheinlichkeit einer Korrelation, wird selbst durch eine spezifische Auffassung von Geschichte ermöglicht, in der Rache und Vergeltung eine entscheidende Rolle spielen. Das Märtyrertum werden diese Ausführungen als ein weiteres Element in diesem Wirkzusammenhang behandeln. Wie so viele religiös aufgeladene Handlungen neigt das Märtyrertum stark zur Wiederholung; es folgt genau festgelegten Mustern. Insofern hat man es bisweilen heuristisch als „Ritual“ angesehen – als durch Muster bestimmtes symbolisches Handeln par excellence – oder es, ohne allzu großes Nachdenken, durch diese begriffliche Brille untersucht. Das „rituelle“ Wesen des Märtyrertums könnte seine Langlebigkeit als eine Form religiöser und postreligiöser Gewalt in der europäischen und amerikanischen Kultur erklären. In einer ähnlichen Sichtweise konnte das Märtyrertum als eine Form der Selbst(auf)opferung neue Gewalt ausbrüten (so kürzlich Jon Pahl, der behauptete, es habe eine Transformation stattgefunden, als das Christentum in der Moderne Hybridbildungen mit anderen Kräften einging); die Bereitwilligkeit, das eigene Leben zu verwirken, rief nach weiteren Opfern – in diesem Modell war es die Bereitschaft, andere zu opfern. Diese Ansätze sind zwar verführerisch, doch werde ich in diesem Kapitel auf der Bedeutung von Theologie und Ideologie beharren – also auf emischen oder intrinsischen Verstehenszugängen zu dieser Praxis und somit auf der Gegenüberstellung von „Märtyrertum“ und „Opfer“. Zudem stelle ich die von manchen Religionsforschern behauptete Differenz zwischen vormodernen und modernen Formen des Märtyrertums in Frage.1
Das Märtyrertum war eine auf die Zukunft gerichtete Praxis und nicht, wie manchmal behauptet wird, rein vergangenheitsbezogen. Letztere Annahme wird problematisch, wenn man eine durch Vergeltung bestimmte und auf Vergeltung ausgerichtete christliche Sichtweise der Geschichte in Betracht zieht. (Eine solche Sichtweise fand ihre Fortsetzung in der politischen Religion des Marxismus, mit der wir uns in Zusammenhang mit dem Prozess gegen Nikolai Bucharin näher befassen werden.) Die Geschichte wurde durch Gottes Rache geprägt, was auch die Rache für das vergossene Blut der Seinen beinhaltete – der Märtyrer. Wie wir gesehen haben, war auf einer ersten Ebene der harte, rachsüchtige Tenor des Alten Testaments und seines Gesetzes durch Christi priesterliches Opfer am Kreuz durch ein Zeitalter der Gnade ersetzt worden. Doch auf einer zweiten Ebene war die Menschheit ebenfalls aus Rache in dieses Zeitalter des Neuen Testaments hineingetrieben worden, und dieses Zeitalter, so glaubte man, werde mit der durch die Offenbarung des Johannes verkündeten rächenden Vergeltung enden. Denn zum einen war Christi Martyrium ein Akt der Ungerechtigkeit, der nach Gerechtigkeit, Ahndung, Rache verlangte – nach iustitia, vindicta oder (gemäß dem Begriffsinstrumentarium römischer Gerichtsprozesse) vindicatio. Das Kreuz und die Verfolgung der ersten Apostel hatten die sogenannte „Rache des Erlösers“ provoziert: die Zerstörung des Tempels von Jerusalem und damit das Ende von Priesterschaft und Königtum der Juden.2 Die Christen hatten von den Juden die Vorstellung übernommen, dass es ein Auserwähltsein nicht ohne Qualen gebe, aber jede an Israel verübte Untat schließlich die Vernichtung der Schuldigen nach sich ziehen werde. Das „neue“ oder „wahre Israel“ (verus Israel) hatte den Titel des auserwählten Volkes an sich gerissen und den Juden (dem „alten Israel“, vetus Israel) die Rolle des Übeltäters zugewiesen. Im späten 11. Jahrhundert hieß es ausdrücklich, dass die Juden das Privileg, die göttliche Rache auf ihrer Seite zu haben, an das neue Israel verloren hatten („haec autem ultionem perdiderunt Iudaei“).3 Diese Inbesitznahme haben die Christen möglicherweise mit einer römischen Rechtsvorstellung verbunden. Im historischen Denken der Römer erschien die Entwicklung von Rechtsinstitutionen bisweilen als Produkt von vindicationes, Vergeltungen für Justizmissbrauch. Berühmt ist der Fall der Verginia. Als sie durch den Spruch eines unsittlichen Richters zur Sklavin werden sollte, sah ihr Vater sich gezwungen, sie zu töten, um ihre Keuschheit zu bewahren, wobei er mit ihrem Blut den verderbten Richter den Göttern der Unterwelt weihte. Verginias Opferung führte zum zweiten plebejischen Aufstand und zur gesetzlichen Einführung verfassungsmäßiger Befugnisse für die Plebs (Livius, Ab urbe condita, 3, 44–55).4 Auf ähnliche Weise sorgte in der frühen christlichen Theologie das Märtyrertum für den Fortschritt der Geschichte. Das erste Martyrium von allen, die Kreuzigung Christi, hatte zum Verschwinden der jüdischen Institutionen geführt. Und gegen Ende der Geschichte würde die Zunahme von Martyrien die Zeit in ihre letzte Phase vorantreiben. In der blutrünstigen Offenbarung des Johannes schlossen sich die Märtyrer ihren Brüdern an, um laut zu Gott zu flehen: „Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, wie lange richtest du nicht und rächest nicht unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen?“ (Offb 6,10.) Dieser Ruf ist eine Frage nach dem Zeitpunkt der Vergeltung und nach dem Verlauf der Geschichte. Die heiligen Toten müssen warten, bis ihre Zahl erfüllt ist, bis sich alle, denen es bestimmt ist, getötet zu werden, in Reih und Glied eingefunden haben. Dann beginnt das Ende.
Zunächst also wird es in den folgenden Seiten darum gehen, die Langlebigkeit dieser Vergeltungstheologie bis in das amerikanische 19. Jahrhundert und darüber hinaus zu dokumentieren. Das ist sicher kein Anliegen, mit dem die historischen Akteure jederzeit sympathisiert hätten. Wäre ein radikaler Protestant mit dem Nachweis einverstanden, dass er kulturell in der Schuld des katholischen Mittelalters steht? Wie weit würde selbst ein gebildeter bolschewistischer Intellektueller der Einsicht zugestimmt haben, dass sein Dasein immer noch von religiösen Formen geprägt war? Das Thema mag auch Forschern, die sich mit der Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit befassen, rätselhaft erscheinen. In der Tat macht sich in dieser Fragestellung der Mediävist bemerkbar. Bei Betrachtung der neueren westlichen Gewaltkulturen kann der Mittelalter-Historiker darin umfangreiche ideologische „Schollen“ erkennen, die aus seinem Forschungsfeld in unsere gegenwärtige Geologie geraten sind. Das ist bereits für die Französische Revolution (Kapitel II) und die Rote Armee Fraktion (Kapitel III) nachgewiesen worden. Daraus rechtfertigt sich der Aufbau dieses Kapitels, das in der Moderne beginnt und im Mittelalter endet. Ein zweites Anliegen besteht darin, die in diese Vergeltungstheologie eingebettete Vorstellung, das Märtyrertum bringe die Geschichte voran, herauszuarbeiten.5 Und drittens soll die Beziehung zwischen Märtyrertum und Reinigung untersucht werden – worunter sowohl die gegen die Bösen gerichtete Säuberung durch die Auserwählten als auch die Selbstreinigung der Auserwählten verstanden wird (sei es durch Eliminierung von „schwarzen Schafen“, die in einer scheinbar reinen Avantgarde verborgen sind, oder durch die Reinigung etwa der von Gott erwählten Kreuzfahrer von verbliebenen Sünden).6 Die Quellenbasis dieses Kapitels bilden im Wesentlichen drei Dossiers, die ausgewählt wurden, um einen Brückenschlag zwischen Mittelalter und Moderne zu vollführen und so die angebliche Zäsur auf dem Gebiet der Gewalt zu hinterfragen.7 Bei diesen Fallbeispielen handelt es sich um John Brown, einen radikalen Gegner der Sklaverei, der 1859 gehängt wurde, sodann um Nikolai Bucharin, der als einer der Hauptbeschuldigten der Moskauer Schauprozesse 1938 erschossen wurde, und schließlich um eine Reihe von Personen in einer Chronik des ersten Kreuzzugs, dem Liber des Raimund von Aguilers. Man könnte die Fallstudien vermehren (die Einleitung hat zum Beispiel das Doppelmartyrium der Brüder Guise und ihres Rächers, Jacques Clément, beschrieben, worauf wir in Kapitel VII zurückkommen). Weitere Fälle würden natürlich andere Dimensionen in der Beziehung zwischen dem Märtyrertum und einer durch Gewalt vorangetriebenen sakralisierten Geschichte eröffnen, jedoch, so steht zu hoffen, die durch diesen dreipoligen Vergleich gewonnenen Einsichten nicht ungültig machen.
Am 16. Oktober 1859 stahl sich eine 19-köpfige Gruppe von Männern, angeführt durch den selbsternannten Hauptmann John Brown, nach Harpers Ferry, Virginia, hinein. Hier, wo zwei Flüsse zusammentreffen, gab es eine Munitionsfabrik und ein Waffenarsenal.8 Brown besetzte rasch beide Gebäude. Es war sein Ziel, einen umfassenden Sklavenaufstand anzuzetteln9 und die Schwarzen mit der in Harpers Ferry lagernden Militärausrüstung zu bewaffnen. Aber statt dass die Sklaven sich erhoben und sich ihm anschlossen, wurde John Brown schon bald von Bundestruppen belagert. In dem Angriff, der zu seiner Gefangennahme führte, wurden zwei seiner Söhne und acht weitere Mitstreiter getötet, er selbst wurde schwer verwundet. Mit vier anderen Gefangenen wurde John Brown eilig vor ein Gericht gestellt und vom Staat Virginia verurteilt. Am 2. Dezember fand er am Galgen sein Ende. Zwischen seiner Gefangennahme am 18. Oktober und seiner Hinrichtung befand sich die öffentliche Meinung über den Coup von Harpers Ferry in höchster Erregung.10 Historiker, darunter auch jene (die Mehrheit), die John Brown nicht für einen typischen Gegner der Sklaverei halten, stimmen darin überein, dass der Überfall und Browns Hinrichtung die Kluft zwischen den Nord- und den Südstaaten vertieften und so zum amerikanischen Bürgerkrieg beitrugen.11 In gewisser Weise war Browns Überzeugung, Märtyrertum treibe die Geschichte voran, kein Irrtum. Seine abolitionistische Anhängerschaft begriff seinen Tod am Galgen als Aufruf zum Handeln; was für sie vorher nur flammende Reden gewesen waren, wurde nach dem Dezember 1859 zur Bereitschaft für feurige Taten. Der Glaube an die Wirksamkeit führte zur Wirksamkeit.
John Browns letzte Tage folgten, zumindest in seiner Version, dem roten Erzählfaden eines klassischen Martyriums. Da ist, in knapper dialogischer Form, die Konfrontation mit der Obrigkeit. Da ist der freundliche Gefängniswärter, der eigentlich zum Feind gehört, dessen Güte aber die Wahrheit in der Position des Märtyrers offenbart und auf seine (des Wärters) und anderer Leute Bekehrung hindeutet. Da ist die Kommunikation mit der Außenwelt, die es dem Märtyrer erlaubt, seine Position zu definieren, öffentlich zu machen und sein Schicksal selbst zu interpretieren. Und da ist das, was aus den Gesprächen mit dem Gegner hervorgeht: die Kompromisslosigkeit des Märtyrers und eine eindringliche Verurteilung der Häresie.
Historiker haben hervorgehoben, welche Rolle die öffentliche Meinung und Interpretation für das Werden eines Märtyrers spielen.12 Damit haben sie recht. Browns Feinde und Anhänger wetteiferten miteinander darin, ihm das Märtyrertum zu- oder abzusprechen. Sympathisanten malten ihn in mehr oder weniger leuchtenden Farben, je nachdem, wie sie den Einfluss seines gewaltsamen Vorgehens auf die Sache des Abolitionismus oder der Republikanischen Partei so kurz vor den Präsidentschaftswahlen von 1860 einschätzten. Es gibt viele Beispiele dafür, wie ein Märtyrer von A bis Z konstruiert wird, sogar bis hin zu der Erfindung der Person selbst. Das war im frühen Mittelalter, als religiöse Institutionen wundertätigen menschlichen Überresten eine Identität und eine Geschichte verschaffen mussten, eher die Regel als die Ausnahme.13 Näher steht uns der Fall Horst Wessel (1900–1930), der als Opfer eines kriminellen Racheakts eher in der Halbwelt von Zuhältern und Prostituierten zu Hause war als in Glanz und Gloria des Dritten Reichs, den jedoch Goebbels mit propagandistischer Zauberkraft in den nazideutschen Junghelden schlechthin verwandelte.14 Wir werden zu dieser Konstruktion an jenen Punkten zurückkehren, wo sie, in Übereinstimmung mit Browns „Selbstformung“ (self-shaping) als Märtyrer, die Theologie beleuchtet, die ihn zum Handeln motivierte und seinen Äußerungen zugrunde lag.15
Hauptmann Brown arbeitete tatsächlich aktiv an seiner Laufbahn als Märtyrer. Die Selbstaufopferung für die gottgewollte Sache der Freiheit lag auf einer Linie mit seinem früheren Denken und Tun. Ein Jahr vor dem Überfall bedachte er das sündige Amerika mit apokalyptischen Bildern: „Wahrlich, ich zittere um mein Land, wenn ich darüber nachdenke, dass Gott gerecht ist und dass seine Gerechtigkeit niemals schläft &c. &c. Die Natur betrauert ihre ermordeten und geplagten Kinder. Die Himmel seien mit Scharlachrot verhängt.“ Hier sah er sich bereits als ein zweiter Samson (der mit seiner Selbsttötung die götzenanbetenden Philister vernichtete) und zukünftiger „Schnitter“ (Mt 13, 30).16 Offensichtlich ist es riskant, Browns Äußerungen nach seiner Gefangennahme mit der Absicht zu durchforsten, darin schon vorher vorhandene Beweggründe für den Überfall zutage zu fördern. Doch kann man ebenso wenig sagen, dass Brown sich erst nach der Gefangennahme für das Märtyrertum entschied – gleichsam als Rationalisierung ex post evento seiner erzwungenen passiven Situation im Gefängnis. Anders gesagt ist Brown, der „Terrorist“ (wenn man ihn so nennen will), ganz und gar eins mit Brown, dem Märtyrer; seine Bereitschaft zu sterben geht Hand in Hand mit seiner Bereitschaft zu töten.17 Wie wir in Kapitel V sehen werden, gehört die Überzeugung, dass man, um Missstände zu beheben, sogar das Recht hat, gegen den Staat zu den Waffen zu greifen, zum Wesen des westlichen Verständnisses von dem Recht auf und der Pflicht zum Widerstand, was die Terroristen problematischerweise immer in eine Reihe mit den Widerstandskämpfern stellte, die diese politische Tradition so bewundert.18 Brown war der Ansicht, dass die aufrechte Minderheit, die er vertrat, gegen jede Institution, den Staat eingeschlossen, die sich nicht um den Erhalt der Gerechtigkeit kümmerte, zu den Waffen greifen durfte. De facto waren für seine Apologeten, die Existenz eines Höchsten Richters immer vorausgesetzt, „Minderheit“ und „Mehrheit“ zugleich relative wie absolute Begriffe. Ein Sympathisant bemerkte: „Unser guter VATER ist auf Eurer Seite, und damit gehört Ihr zur Mehrheit.“ Wendell Phillips (gest. 1884) fasste das Paradoxon prägnant zusammen: „In Gottes Welt gibt es weder Mehrheiten noch Minderheiten; ein [Mann] auf Gottes Seite ist eine Mehrheit.“ Browns Freund zufolge lag darin „das Fundament jeder Moral“.19 Das Paradoxon war kein spezifisch amerikanisches; Robespierre und die französischen Revolutionäre ersannen einen „Gemeinwillen“, der in bestimmten Augenblicken von einer faktischen Minderheit repräsentiert werden konnte.20
Brown war ein militanter Abolitionist, aufgewachsen in einer streng kongregationalistischen Familie mit einem für die Puritaner typischen starken Gefühl für Sündhaftigkeit, Auserwähltheit und strafende Gerechtigkeit.21 Im Gefängnis verhielt er sich kompromisslos und lehnte den spirituellen Beistand von Geistlichen aus den Südstaaten ab. „Meine Knie werden sich nicht im gemeinsamen Gebet beugen“, erklärte er, „während ihre Hände mit dem Blut von Seelen befleckt sind.“22 Für ihn waren diese Geistlichen keine Diener des Evangeliums, sondern Schwindler, die entweder selbst Sklaven hielten oder die Sklaverei befürworteten.23 Diese falschen Brüder entsprachen den traditores, den Apostaten und Häretikern der Märtyrerberichte aus vorkonstantinischer Zeit.
Selbst Worte christlicher Demut waren mit Rachegelüsten durchsetzt. Brown verzieh den Einwohnern Virginias die Hinrichtung, indem er auf Christi Worte am Kreuz Bezug nahm (Lk 23,34): „Ich vergebe ihnen, und möge Gott ihnen vergeben, denn sie wissen nicht, was sie tun.“24 Aber was war das für eine Art von Vergebung? Sah Brown voraus, dass Gott vergeben würde? Die puritanische Gnade war eine düstere Sache. Sie forderte dazu auf, die Sünder nicht zu hassen, sondern zu lieben – das hieß, bis die andere Welt gekommen war und die Sünder in der Hölle schmorten. Dann würde es, wie der heilige Hieronymus gelehrt und wie Jonathan Edwards 1758 bekräftigt hatte, gut sein zu hassen, weil „die Gründe für die Liebe vergehen“.25 Zumindest in der hier erwähnten Passage lehnte Edwards diesseitige Gewaltanwendung ab. Andere jedoch konnten andere Schlüsse ziehen. Wenn jemand das Gefühl hatte, die Endzeit stehe bevor oder er lebe in einer Epoche, die eine Ausprägung der Endzeit sei, konnte er in die Rolle von Gottes Scharfrichter schlüpfen. „Möge Gott ihnen vergeben, denn sie wissen nicht, was sie tun“: Mittelalterliche Interpreten gingen davon aus, dass die Juden nicht gewusst hatten, dass sie ihren eigenen Messias umbrachten und damit Jerusalem zusammen mit dem jüdischen Königreich und der Priesterschaft zum Untergang, zur Zerstörung durch die Römer verurteilten. John Wesley (1703–1791) sprach, wie seine katholischen Vorfahren, vom „Aufschub der Rache selbst für die Verstockten“, einem Aufschub, der vierzig Jahre währte, die Zeit zwischen Christi Kreuzigung und der Zerstörung des Zweiten Tempels.26 Die Geneva Study Bible bemerkte zu der direkt darauf folgenden Episode (Lk 23,39: die beiden Schächer), die traditionell mit Christi Bitte verbunden wurde, Christus habe hier bekundet, er besitze „die Macht des Lebens, die Gläubigen zu erretten, und [die Macht] des Todes, Rache an den Aufrührerischen“ zu nehmen.27 Die Bitte um Vergebung war die Aufforderung an die Peiniger, die richtige Seite zu wählen oder wie der schlechte Schächer verdammt zu werden.28 Wie in der mittelalterlichen Exegese bedeutete auch in der nach Neuengland exportierten protestantischen Tradition Barmherzigkeit nicht immer den Verzicht auf Vergeltung.
Bis weit ins 19. Jahrhundert also überlebten die mittelalterlichen Überzeugungen, dass Frieden nicht gleichbedeutend war mit Gewaltlosigkeit, und dass Personen, die als Männer des Friedens bezeichnet wurden – oder sich selbst so bezeichneten –, dem rechtmäßigen Waffengebrauch zustimmen und ihn sogar fördern konnten. Das wird deutlich, wenn man Browns eigenen Äußerungen gewisse positive Reaktionen auf seine Tat gegenüberstellt. William Lloyd Garrison, ein pazifistischer Abolitionist, nahm Browns Überfall beifällig auf. Der Gebrauch materieller Waffen im Dienste der Freiheit war in seinen Augen gegenüber dem Waffeneinsatz für den Despotismus ein Fortschritt hin zum Endziel: dem Ideal des reinen Pazifismus. Garrison war ideologisch in der Position eines mittelalterlichen Geistlichen, dem zwar sein Orden das Tragen von Waffen verboten hatte, der aber dennoch einen Kreuzritter ermahnt hätte, sein Tötungswerk zu verrichten.29 Verständnis brachte auch eine Quäkerin aus Rhode Island auf, die mit dem inhaftierten Brown zwei Briefe wechselte. Obwohl die Quäker den Gebrauch von Waffen ablehnten, konnten sie Brown doch als „Befreier“ sehen, der seine Legitimation aus der von Gott vollzogenen Vernichtung der Heere Pharaos im Roten Meer bei der Verfolgung der Israeliten bezog. In seiner Antwort argumentierte Brown auf eine Weise, der die Quäkerin wohl keine Zustimmung zollen konnte, die für sie aber zumindest nachvollziehbar war: Er erinnerte sie daran, dass es Christus selbst gewesen war, der Petrus eine Waffe in die Hand gegeben hatte. Auf vergleichbare Weise war er, Brown, von der Vorsehung mit einem Schwert versehen worden. Aber nun, fuhr er fort, habe Gott ihm die Waffe genommen, und er schwinge jetzt mit jeder Hand das „Schwert des Geistes“.30
Auf diese Weise vermochte er beide Rollen in sich zu vereinigen: die des heiligen Kriegers, der sich im Dienste Gottes mit dem Schwert gürtet, und die des Märtyrers mit dem spirituellen Schwert, der seine Mission heiligt, indem er auf dem Weg zum Galgen predigt. In einem weiteren Brief schrieb er: „Christus, der große Hauptmann der Freiheit wie auch der Erlösung, … hielt es für richtig, mir das Schwert aus Stahl zu nehmen … aber Er hat mir ein anderes [Schwert] in die Hand gegeben (das Schwert des Geistes), und ich bete zu Gott, dass Er mich zu einem getreuen Soldaten macht, wo immer Er mich hinschickt, auf dem Schafott ebenso wie im Kreise meiner treuesten Mitstreiter.“31
Gott hatte Brown als sein Werkzeug auf dem Schlachtfeld eingesetzt und beabsichtigte nun, ihm eine andere Aufgabe zuzuweisen – die des Zeugen für die Wahrheit des Abolitionismus, die des Märtyrers.32 Die Fähigkeit, Kriegführung und Predigt miteinander zu verbinden, verlieh Brown eine starke Aura für die Ausübung heiliger Gewalt; zumindest ein Wiedertäufer, der 1537 den langen Weg zum Martyrium ging, gedachte voller Verehrung des Revolutionärs Thomas Müntzer als eines Mannes, der „so vil das innere wort ergreift, und bewerets damit, dass er das eusserliche schwert mit dem innerlichen wort gefurt habe“.33
Neben Predigten und Reden führte Browns Gefangenschaft zu einer wahren Briefflut von Sympathisanten, von denen einige ihre Interpretation der bevorstehenden Hinrichtung mitteilten. Man findet dort ein breites Spektrum von Konzeptionen des Märtyrertums, von der direkten und dreisten Forderung nach unmittelbarer göttlicher Vergeltung für die Sünden der Südstaaten bis hin zur Hoffnung, dass das Märtyrertum den Süden ohne Blutvergießen zur Sklavenbefreiung bekehren werde – aber bisweilen mit der deutlich geäußerten Furcht, dass dies nicht auf friedliche Weise geschehen werde und dass Gottes korrigierende Gewalt schon hinter der nächste Ecke lauere.34
Die Briefe zeigen, wie präsent noch im 19. Jahrhundert Vorstellungen waren, die mittelalterlichen Konzeptionen nahestanden – und wie darum von diesen Konzeptionen her Licht auf die Rolle der Gewalt in der politischen Kultur Amerikas fallen kann. Wenigstens zwei Briefschreiber(innen) erbaten sich von Brown eine Locke seines Haars – eine Art protestantischer Reliquie.35 Viele baten ihn um die Ehre einer schriftlichen Antwort, und seien es nur ein paar Worte, die offenkundig ebenso als Andenken dienen sollten.36
Ein Briefschreiber, ein selbsternannter Covenanter (Mitglied einer presbyterianischen Bewegung) aus New Alexandria (Pennsylvania), sah den Prozess gegen Brown als Gelegenheit für die „schuldbeladene Nation“, zu bereuen. Browns Glaubensbekenntnis in Sachen Sklavenbefreiung werde, so stand zu hoffen, die USA „reinigen“.37 Aber für den Briefschreiber stellte der Prozess auch eine Art von Gott gesandte „Kriegführung“ dar. Indem er zur Kategorie spiritueller Schlachten, die sich gleichsam materialisiert hatten, überwechselte, erinnerte er an das alttestamentarische Beispiel todbringenden Märtyrertums: „Und selbst auf dem Schafott werdet Ihr, gleich Samson, mehr Philister in Euren Tod mitreißen, als es Euch je in einem langen Leben gelungen ist oder sein würde; und ich bete zu Gott, dass Ihr im Todeskampf voller Genugtuung spürt, wie die Säulen von Dagons Tempel unter Eurem Griff zerbrechen.“38 In dieser Anspielung auf das Buch der Richter (16, 29) – ein Modell, auf das sich Brown selbst vor und nach Harpers Ferry berufen hatte39 – mag der Briefschreiber vielleicht gedacht haben, kein wirkliches Blutvergießen, sondern nur den rein spirituellen Kampf zu befürworten, aber das lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Zumindest hat er erwartet, dass das Märtyrertum der Geschichte einen unwiderstehlichen Impuls verleihen und sie in die richtige Richtung lenken werde.
Auch ein anderer Sympathisant entwickelte Vorstellungen von spiritueller Kriegführung im Hinblick auf den von Gott vorgesehenen Geschichtsverlauf. Dieser Briefschreiber bezeichnete sich als „Presbyterianer alter Schule“ und bekundete seine Übereinstimmung mit dem Glauben der Quäker, dass „Christi Königreich Frieden sein wird“. Dieser friedfertigen Zukunft setzte er das kriegerische Wesen der Gegenwart entgegen: „Aber jetzt hat Christus seinen Jüngern gesagt, wer ein Schwert habe, solle es ergreifen. Daher denke ich nicht, dass Ihr Euren Auftrag überschritten habt, und ich bin glücklich darüber, dass ein Mann für wert befunden wurde, für Christus zu leiden.“ Hierauf folgte ein Verweis auf die Offenbarung des Johannes (6, 10): Nach dem Martyrium werde Brown direkt zu Christus geleitet und „sich den Seelen unter dem Altar anschließen, die da schreien: Wie lange dauert es noch, bis Du unser Blut rächst auf Erden?“40
Allerdings waren nicht alle Briefschreiber mit John Browns Handlungsweise einverstanden, und manche Kritik nahm klassische Formen an. Ein Reverend namens Humphrey drückte sein Erstaunen darüber aus, dass Brown angenommen habe, die Sklaven befreien zu können, „ohne in Blut zu waten“. Er fuhr fort:
„Die Zeit ist nicht gekommen. Es ist nicht der richtige Weg und wird es niemals sein. Es ist recht zu beten: ‚O Herr, wie lange noch?‘, doch nicht, dem zuvorzukommen und das rächende Schwert in die eigenen Hände zu nehmen.41 … Ihr werdet inständig betend fragen müssen, wie weit Ihr vor Gottes Richterstuhl für das Blut verantwortlich seid, das in Harper’s Ferry vergossen wurde, und für das Schicksal derer, die mit Euch sterben werden. Ich richte nicht über Euch; aber es gibt Einen, Der da richtet und Der barmherzig und voller Vergebung ist denen gegenüber, die aufrichtig bereuen und um ihrer Erlösung willen an Ihn glauben, dessen Blut von allen Sünden reinigt.“42
So stand dem militanten Hauptmann ein Gott gegenüber, der sein eigenes Blut vergossen hatte, ein barmherziger Gott, der diese blutige Angelegenheit richten werde. Aber Reverend Humphreys Gott war auch (wie die Anspielung auf Offb 6, 10 zeigt) derjenige, der am Zeitenende Rache übt (der Brief lässt im Unklaren, ob die Menschen dann zum Schwert greifen können). Noch allerdings galt: „ Die Zeit ist nicht gekommen.“
Brown stimmte den Briefschreibern zu. Auch er wusste, dass seinem Märtyrertum die für den heiligen Krieg typische Rache innewohnen würde. In einem auf den 8. November 1859 datierten Brief setzte er seine Frau und Kinder davon in Kenntnis, dass er bereit sei, „mein Vermächtnis für Gott und die Menschheit mit meinem Blut zu besiegeln“. Er fügte hinzu, er sei, „nebenbei bemerkt, recht fröhlich, da (wie ich fest glaube) ‚der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft‘ [Phil 4, 7] in meinem Herzen herrscht“.43 Friede wohl, aber nicht der des Pazifisten, wie man hervorheben sollte. In seinem Kommentar zu diesen Paulusworten stellte der Exeget Matthew Henry, ein protestantischer Nonkonformist (1662–1714), die Worte – wie der Apostel selbst – in den Kontext des nahenden Jüngsten Gerichts: Gott „wird euch an euren Feinden rächen und eure Geduld belohnen“.44 Brown fühlte sich tatsächlich dem Ende der Zeiten nahe, und dieses Gefühl ermöglichte es ihm, Rache und Märtyrertum in sich zu vereinen. Ein Jahr vor Harpers Ferry hatte er sich daran erfreut, sich ein bisschen mehr Leben auf dieser Erde erlaubt zu haben, um dann „ein Schnitter bei der großen Ernte“ zu sein.45 In Henrys Kommentar zu Philipper 4, 7 war „Friede“ gleichbedeutend mit der Versöhnung mit Gott, schloss die Hoffnung auf das Paradies ein und hatte die Erfüllung der „Pflicht“ zur absoluten Vorbedingung.46 Brown trennte die apokalyptischen Nebentöne von der Friedensmelodie. Seine „Pflicht“ bestand darin, Gottes Sache der Sklavenbefreiung zu verfechten; sein „Friede“ schloss Gewalt keineswegs aus, sondern forderte dazu auf, „Schnitter“ zu werden.47
Auf dem Weg zum Galgen überließ John Brown seinen Anhängern eine letzte, berühmt gewordene Notiz: „Ich, John Brown, bin mir jetzt völlig gewiss, dass die Verbrechen dieses schuldbefleckten Landes niemals weggewaschen werden können, es sei denn mit Blut.“ Amerika brauchte, wie das biblische Heilige Land und viele andere heilige Länder im Verlauf der europäischen Geschichte, Gottes unsagbare Gewalt.48 Thomas Müntzer hatte in Sangerhausen eingekerkerte Glaubensbrüder getröstet und sie daran erinnert, dass Christus sein Blut für ihre Erlösung vergossen habe, im selben Atemzug aber verkündet: „Es ist dye zeyt vorhanden, das ein blutvorgyssen über die vorstogkte welt soll ergehen umb yres unglaubens willen.“49 Das Gespann aus Märtyrertum und rächender Gerechtigkeit also sollte die Geschichte voranbringen. Brown und einige andere erwarteten, dass sein Tod Vergeltung hervorrufen werde. Auch William Garrison, Anführer der Antisklavereigesellschaft und der Gewaltlosigkeit verpflichtet, rief aus: „Ob die Waffen im Kampf gegen den Despotismus spirituell oder materiell waren, der Urteilsspruch lautet: Ruhm all jenen, die für die Sache der Freiheit sterben! … Ihr, die ihr die irdische Hülle der Märtyrer übel zurichtet … Rache wartet im Hintergrund und Gerechtigkeit wird kommen!“50 Gott wird richten – aber auch die Geschichte. Browns Anhänger Wendell Phillips „appellierte … an das amerikanische Volk in fünfzig Jahren“, wenn der Fortschritt sein Werk getan haben werde. Die jetzige Position der Avantgarde der Sklavereigegner, „einer kleinen Gruppe“, werde sich dann die Mehrheit zu eigen gemacht haben.51 Wendell Phillips beendete seine Rede im Glauben daran, dass Browns Tod „in die Zukunft“ weise:
„Hoffnung! Überall gibt es Hoffnung. Es ist nur die universelle Geschichte: Immer steht das Recht auf dem Schafott, immer sitzt das Unrecht auf dem Thron.
Aber jenes Schafott ist die Wiege der Zukunft, und hinter dem vagen Unbekannten
Steht Gott im Schatten und hält Wacht über die Seinen.“52
Der Gott der Rache und der Gerechtigkeit, der Richter am Ende der Geschichte, verweist auf den sakralisierten Geschichtsprozess des 20. Jahrhunderts mit seinem je nach politischer Spielart so verschiedenen Streben nach Erlösung, den Albert Camus 1951 so beredt entlarvt hat, und auf einen anderen Prozess – vielleicht ebenfalls ein Martyrium –, nämlich jenen Prozess, der Nikolai Bucharin gemacht wurde.53
In der Nacht des 15. März 1938 wurde Nikolai Bucharin zusammen mit 17 weiteren Bolschewiki erschossen. Diesen Männern (und drei anderen, denen die Todesstrafe erspart blieb), die seit 1937 im Gefängnis saßen, war seit dem 2. März öffentlich der Prozess gemacht worden. Bucharin sei, so lautete die Anklage, der Anführer einer Verschwörung zwischen einer trotzkistischen Linken und Bucharins eigenem Flügel innerhalb der Kommunistischen Partei gewesen. In Verbindung mit nationalistischen und ausländischen, vor allem faschistischen Kräften, habe er schon seit Langem Pläne gegen die Revolution geschmiedet und sogar erwogen, erst Lenin und dann Stalin umzubringen,54 gewissermaßen eine Weltverschwörung, ähnlich dem, was schon die Reformer des 11. Jahrhunderts oder die Jakobiner unter Robespierre gefürchtet hatten. Und wie bereits im westeuropäischen Diskurs vorgeprägt waren auch hier einige Verschwörer quasi hypnotisiert worden und dem Wahnsinn verfallen. Der amtliche Verteidiger für drei der Angeklagten (Kasakow, Pletnjew und Lewin) behauptete, dass der ehemalige NKWD-Chef Genrich Jagoda sie „mit unheildrohendem Blick, mit durchdringendem Blick“ verführt habe. Das Bild, das er malte, war dramatisch: „Ich stelle mir vor, dass dieser verhängnisvolle, durchbohrende Blick ihr Bewusstsein erstickt, ihren Willen gelähmt, ihr Gefühl getötet hat“, sagte er. „Der erschütterte Verstand, Genossen, hält oft das eigene Gewicht nicht aus und verfällt in Wahnsinn, und der Mensch, innerlich aufgelöst, bricht zusammen.“ Ganz auf einer Linie mit der Tradition wurden die Abweichler als Selbstmörder und Mörder zugleich gebrandmarkt: „In jener Minute, als sie Jagoda brach, als sie ihre Zustimmung gaben, wurden sie zu moralischen Leichnamen; mordeten sie sich selbst“ in einem Akt „moralischen Selbstmords“, auf den dann der „Mord der Übrigen“ gefolgt sei.55
Verrückt oder nicht, sie wurden erschossen. Die Hinrichtungen bildeten den Höhepunkt einer Welle von Säuberungen, die in erster Linie der herrschenden Kommunistischen Partei galten. Einerseits waren diese Säuberungen von Stalin ins Werk gesetzt worden, um sich der alten bolschewistischen Garde, der Veteranen von 1917 und Genossen Lenins, deren Ansehen das seine immer noch in den Schatten stellen konnte, zu entledigen. Andererseits waren sie (wie kürzlich von Jochen Hellbeck dargestellt) die Frucht von zwei Jahrzehnten bolschewistischer „Säuberungskultur“ – Säuberung der Partei, aber auch des Individuums beinhaltend.56
Die Prozesse gingen mit den abschließenden Erklärungen der Angeklagten zu Ende – mit Plädoyers und Bekenntnissen, die durch unterschiedliche Zwangsmaßnahmen bewirkt worden waren.57 Jedoch macht die Tatsache, dass Bucharin stark unter Druck gesetzt worden war, den hier gewählten Ansatz nicht ungültig. Auch die Märtyrer der Frühen Neuzeit konnten, da sie ebenfalls nur unvollkommene Menschen waren, unter Zwang und Druck zusammenbrechen, zeitweise oder vollständig.58 Im Angesicht des Todes griff Bucharin zu einer Mischung aus Zugeständnissen und Trotz, ähnlich wie vor ihm Jan van Leyden, der König von Münster, in den letzten Monaten vor seiner grausamen Hinrichtung (darüber mehr in Kapitel VII).
Gleich nach der Hinrichtung wurden die Protokolle des Prozessverlaufs mitsamt diesen „Letzten Worten“ veröffentlicht und in viele Sprachen übersetzt.59 Vor allem Bucharins am 12. März gehaltene eloquente Schlussrede faszinierte die westliche Intelligenzia. Die meisten der 21 Angeklagten hatten ihre Verbrechen vollständig eingeräumt, aber darum gebeten, von der Hinrichtung verschont zu werden. Viele baten um die Gelegenheit, sich durch Arbeit für die Sowjetunion von ihren „Sünden“ oder dem „Schmutz“ zu säubern.60 Das von den Reumütigen benutzte Vokabular sticht ins Auge: „sühnen“, „wiedergutmachen“, „abbüßen“. Einer der Angeklagten, Wladimir Iwanowitsch Iwanow, formulierte eindringlich, warum er trotz seiner unermesslichen Schuld weiterleben wollte: „Bürger Richter, ich muss sagen, dass ich das schwerste Urteil hinnehmen werde. Aber es ist mir unaussprechlich schwer, zu sterben, da ich mich endlich von all diesem Schmutz, dieser Abscheulichkeit gereinigt habe.“ Wenn man ihm nur die Möglichkeit gäbe, so werde er zum Nutzen des Volkes ergeben arbeiten.61 Bucharin verhielt sich anders, zumindest vor dem Gericht. Viele einzelne Anklagepunkte wies er zurück, so etwa die Ausarbeitung von Plänen zur Ermordung von Lenin und Stalin oder die Existenz einer Verschwörung linker und rechter Abweichler, für die er der Dreh- und Angelpunkt gewesen sein sollte. Aber er akzeptierte die Anklage in ihrem Kern. Er habe, sagte er, die Sowjetunion tatsächlich verraten, sehe jetzt aber ein, dass er beim Marsch der Geschichte in die Zukunft auf der falschen Seite gestanden habe. Im Gefängnis habe er über seine Vergangenheit nachgedacht und sich gefragt: „Wenn du stirbst, wofür stirbst du dann?“ Die Notwendigkeit, für etwas zu sterben, – erklärte seine Bußfertigkeit; das, wofür er sterben würde – die Revolution –, erklärte seine Bereitschaft, das Todesurteil anzunehmen. Auch andere, die im März 1938 verurteilt wurden, fürchteten sich vor einer Leere im Tod.62 Grigorij Fjodorowitsch Grinkos einziger Wunsch lautete: „Die letzten mir verbleibenden Tage oder Stunden, wie wenig sie auch sein mögen, will ich nicht als Feind, der sich in der Gefangenschaft der Sowjetunion befindet, erleben, sondern als ein Bürger der UdSSR sterben, der den allerschwersten Verrat an der Heimat begangen hat und hart dafür bestraft wurde, der aber bereut hat.“63 Auch Akmal Ikramow wollte nicht als „Volksfeind“ sterben. Er hoffte, das Volk werde davon erfahren, dass er wenigstens in der letzten Zeit seines Lebens „von dieser Position [des Verrats usw.] abging und als ehrlicher Sowjetbürger starb“.64 Sie waren eifrig darum bemüht, durch Reinigung wieder als Bürger aufgenommen zu werden, wenn notwendig, auch im und durch den Tod. Sie wollten am positiven Fortschritt der Geschichte teilnehmen. Auch Bucharin wollte das, wenngleich sein Wunsch von der Anklagevertretung und einigen Mitangeklagten zurückgewiesen wurde. Isaak Selenskis bittere Beschuldigung stieß ihn in die Reihen der Verdammten zurück: „Sie, Bucharin, wollen rein dastehen. Das wird Ihnen nicht gelingen. Sie gehen in die Geschichte zusammen mit uns ein, mit dem gleichen Schandmal (klejmo), das uns allen auf die Stirn gebrannt ist.“65
„In Wirklichkeit aber ist alles klar. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht.“66 In diesem seit 1938 berühmten Diktum zitiert Bucharin gegen Ende seiner „Letzten Worte“ Hegel. In gedrängter Form gibt der Satz eine komplexe Sicht der Geschichte wieder, die von vielen Marxisten geteilt wurde. Das Individuum spielte darin keine Rolle. Wie immer es sich politisch entscheiden würde, wurde die Wahl durch die Richtung der historischen Entwicklung bestätigt oder widerlegt. Hier marschierte Bucharin, der Intellektuelle, im Gleichschritt mit seinen Mitverschwörern, die häufig die plötzliche Enthüllung ihrer Irrtümer ihrer Erkenntnis der kommunistischen Erfolge zuschrieben.67 Bucharin hatte gewählt und seine Wahl war für falsch erwiesen worden. Indem er seine Aufrichtigkeit betonte und zugleich die sowjetischen Errungenschaften unter Stalins neuem Kurs anerkannte, bewahrte er seine Authentizität als Revolutionär und in eins damit die revolutionäre Rechtmäßigkeit der kommunistischen Partei.
Zwei der interessantesten Köpfe der Jahrhundertmitte, Ernst Bloch und Maurice Merleau-Ponty, traten mit großem Nachdruck für die Aufrichtigkeit von Bucharins Rede vor Gericht ein. Bloch meinte, Bucharin habe gegen Stalins politische Linie gekämpft, am Ende aber deren Erfolg gesehen. Das Geständnis war nicht durch Gewalt oder Drogen erzwungen worden, sondern entsprang einer authentischen revolutionären Haltung. Bucharin hatte, wie er selbst eingestand, endlich sein zwischen kriminellen Instinkten und dem Lob für die Errungenschaften des Sozialismus gespaltenes Ich erkannt.68 Bloch begriff Bucharins Geständnis als das Ende seiner metaphysischen Isolation:
„Es ist mitsamt dem Tod, der nachfolgt (und Bucharin hat nicht um sein Leben gebeten), die Rückkehr in die Sowjetunion. ‚Wofür stirbst du?‘ – für die Sowjetunion, und mit dem letzten Bekenntnis zu ihr; sie ist, vom Ende des individuellen Lebens aus gesehen, das Jenseits kommunistischer Atheisten … Das hat Bucharin … all denen klar gemacht, die gläubige Menschen noch verstehen.“69
Auch Merleau-Ponty hob die paradoxe Authentizität der Situation hervor: „Die Moskauer Prozesse sind nur unter Revolutionären verständlich, das heißt, unter Menschen, die überzeugt sind, die Geschichte zu machen, und die infolgedessen die Gegenwart bereits als Vergangenheit und die Zögernden als Verräter betrachten.“70
Hatten Bloch und Merleau-Ponty in irgendeiner Weise recht, als sie an die Aufrichtigkeit von Bucharins Aussagen aufgrund ihrer ideologischen Schlüssigkeit glaubten? War Bucharin tatsächlich mit sich selbst im Reinen und sprach er die revolutionäre Zukunft mit fester Stimme an? Ende der 1980er Jahre wurde Bucharins „Politisches Testament“ veröffentlicht. Er hatte es am Vorabend seiner Verhaftung – also Anfang März 1937 – seiner zweiten Frau, Anna Larina, diktiert und ihr eingeschärft, es auswendig zu lernen.71 Anja (wie er sie nannte) prägte es durch in Abständen wiederholtes Abschreiben ihrem Gedächtnis ein. Dieses Dokument mit dem Titel Einer zukünftigen Generation von Führern der [Kommunistischen] Partei verstärkte bereits bestehende Zweifel an der Glaubwürdigkeit des veröffentlichten „Letzten Wortes“. Etliche Jahre später, 1993, tauchte aus den sowjetischen Archiven ein Brief Bucharins vom 10. Dezember 1937 an Stalin auf, ein furchtsam-schmeichlerisches Bittgesuch, dessen mäandernde Sätze und flehentliche Bitten, ihm die schmerzhaften Kugeln des Erschießungskommandos, die öffentliche Demütigung eines Prozesses und vielleicht gar die Todesstrafe zu ersparen, nicht zu der stoischen, selbstaufopferungsbereiten Stimme vom 12. März 1938 passen wollte.72 War der Wille eines Schwächlings gebrochen und Bucharin gezwungen worden, vor seinem Tod einen nicht von ihm verfassten Text zu verlesen?
Wo finden wir Bucharins wahre Stimme? Eine klassische Interpretation hatte sich in den 1970er Jahren angeboten: Das „Letzte Wort“ war eine Fassade, und der echte Bucharin sprach im „Politischen Testament“. Aber schon im März 1938 hatten Beobachter gemutmaßt, dass Bucharins Verteidigungsrede zwischen den Zeilen zu lesen sei. 1965 edierte Robert Tucker eine Neuausgabe der offiziellen sowjetischen Prozessprotokolle und erklärte, Bucharin habe der Verhandlung in der Hoffnung zugestimmt, dass sie zur Verurteilung Stalins führen würde. Er wollte „durch seine Selbstopferung im Schauprozess veranschaulichen, was Stalin dem Bolschewismus antat“ und so „den Prozess in einen Anti-Prozess umwandeln“.73 Folgt man dieser Argumentation, war das „Letzte Wort“ eine Botschaft für künftige Generationen. Bucharins Seitenhieb – „Die Geständnisse der Angeklagten sind ein mittelalterliches juristisches Prinzip“ (und in diesem Fall eigentlich unnötig) – spielte auf die mittelalterliche Inquisition an, eine Institution, die dank der Figur des Großinquisitors in Dostojewskis Die Brüder Karamasow den Beobachtern Russlands präsent war.74 Und Hegels Satz „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ konnte als Appell an den weiteren Verlauf der Geschichte gegen den Prozess selbst verstanden werden.75 In der Tat war dies ein klassischer Schachzug von mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Märtyrern bis hin zu John Brown Mitte des 19. Jahrhunderts: ein Appell an Gott, der die Geschichte lenkt und an ihrem Ende alles und jeden richten wird. Das „Testament“ hat schließlich konstatiert, dass die Zeit Bucharins Ansehen wiederherstellen werde: „Ich bin mir gewiss“, diktierte er Anna, „dass mich die Geschichte früher oder später wieder reinwaschen wird.“ Eines Tages werde die Partei ihn „entlasten“ und wieder in ihre Reihen aufnehmen.76
Aber es ist unwahrscheinlich, dass Bucharins „Letztes Wort“ als Code zu verstehen ist. Schließlich hätte Stalin, der nicht dumm war, verfängliche Formulierungen entdeckt und alles Verdächtige zensiert. Auch durch Bearbeitung von anderer Seite hätte Bucharin seine tragische Größe genommen werden können, und dies umso mehr, als wir aus kürzlich entdeckten Archivdokumenten erfahren konnten, dass der sowjetische Diktator und die Ankläger den Text des „Letzten Wortes“ vor der Veröffentlichung manipuliert haben.77 Allerdings ist erstaunlich, wie wenig sie streichen oder einfügen mussten. Bucharins Botschaft war für das Opfer und den Betreiber der Säuberungen gleichermaßen akzeptabel. Hielt Stalin also mit Bucharin dafür, dass dieser mit dem Tod seine Vergehen abgebüßt hatte? Wenn er persönlich nicht so dachte, ging er zumindest davon aus, dass die öffentliche Meinung in der Sowjetunion diese Vorstellung akzeptieren werde.78
Wir sollten nicht annehmen, dass Bucharin mit sich völlig eins war. Er war erschöpft, hatte Angst um seine Familie und war besorgt um seinen Ruf in der Nachwelt. Er selbst diagnostizierte bei sich eine Bewusstseinsspaltung. Viele Bolschewiki, unter den Anklagten wie auch in der Bevölkerung, empfanden ähnlich, wie wir jetzt aus von Jochen Hellbeck gründlich erforschten Tagebüchern wissen.79 So erklärte zum Beispiel Iwanow, dass „der Defätismus ebenso wie die Doppelzüngigkeit buchstäblich in die Psychologie eines jeden von uns einging“ und dass es „nicht wenig Momente [gab], wo in mir das Gewissen nagte und beharrlich der Gedanke bohrte, hinzugehen und über die Organisation der Rechten zu erzählen, aber ich tat das nicht“; und schließlich sagte er, dass er „jetzt in Bezug auf das Urteil ein zweifaches Gefühl“ empfinde.80 Die Gegensätze zwischen dem „Politischen Testament“, dem Brief an Stalin und dem „Letzten Wort“ zeigen die Spannweite von Bucharins menschlich sehr verständlichem Zögern. Er zögerte bis in die letzten Stunden hinein. Am 13. März 1938, gleich nach seinem „Letzten Wort“, schrieb er einen vor kurzem erst entdeckten Brief an den Obersten Sowjet, in dem er um sein Leben bat, für die Sowjetunion zu arbeiten versprach und sich als neuen Menschen bezeichnete.81 Aber das Zögern ergab kulturell Sinn. Wie andere Angeklagte auch erklärte Bucharin seinen Verrat. Seine Mitbeschuldigten hatten ihre „Doppelzüngigkeit“ und ihr „Pharisäertum“ durch partielle Blindheit erklärt, durch die Furcht vor Entdeckung (Iwanow), durch das „Beharrungsvermögen eines langjährigen zähen und gefährlichen illegalen Kampfes gegen die Sowjetmacht“ (Grinko), oder vollständige Blindheit und libido dominandi (Rakowski).82 Diese Blindheit, so erläuterte der Angeklagte Rakowski in einer Erklärung, die dem öffentlichen Widerruf eines mittelalterlichen Häretikers das Wasser reichen konnte, hatte es den Verschwörern erlaubt, sich der Illusion hinzugeben, einer Avantgarde von Erwählten anzugehören: „Wir hielten uns für Leute, die von der Vorsehung (prowidenie) gesandt sind, trösteten uns damit, dass man uns rufen wird (posowut), dass wir notwendig sind“; und wir „bemerkten nicht, dass die ganze Entwicklung der Sowjetunion an uns vorbeigegangen war“.83 Die Doppelzüngigkeit ging Hand in Hand mit den inneren Kämpfen eines gespaltenen Bewusstseins. Iwanow berichtete von seiner inneren Zerrissenheit in der Erfahrung der Oktoberrevolution. Damals fühlte er „Freude und Angst: Freude zusammen mit den siegreichen Massen, Angst vor der drohenden Entlarvung. … Je weiter die Zeit schritt, um so mehr glich ich einem Menschen, der mit einem Stein an den Füßen ins Wasser geworfen wurde, einem Menschen, der leidenschaftlich wünscht, das Ufer zu erreichen, während ihn seine Last unaufhörlich auf den Grund zieht“.84 Der Apostel Paulus würde wohl bemerkt haben, dass in Iwanow zwei Gesetze miteinander im Streit lagen (vgl. Röm 7, 21–23). Wie seine Mitangeklagten hatte auch Bucharin durch die bolschewistische Kultur der vor der Partei zu leistenden „Kritik und Selbstkritik“ und das Führen von Tagebüchern gelernt, das Ich zu befragen und innere Kämpfe zwischen dem „alten“ (bürgerlichen oder reaktionären) und dem „neuen“ Ich zu kontrollieren.85 Möglicherweise war er hin- und hergerissen zwischen Hassgefühlen für Stalin und der Akzeptanz einer geschichtlichen Sicht, in der Stalin von der Vorsehung emporgehoben und er, Bucharin, für den Tod vorgesehen war.86 Davon abgesehen stimmten das „Letzte Wort“ und das „Testament“ in zwei bemerkenswerten Punkten überein: Beide zogen in Betracht, dass es so etwas wie ein Märtyrertum für den richtigen Verlauf der Geschichte gebe. Das „Testament“ endete mit dem rotgefärbten Bild eines neuen Märtyrertums: „Ihr sollt wissen, Genossen, dass sich auf dem Banner, das ihr auf dem siegreichen Weg zum Kommunismus tragt, auch ein Tropfen meines Blutes befindet.“87 Und in beiden Dokumenten wird die Idee des proletarischen Terrors akzeptiert. Der NKWD, die politische Polizei der Sowjetunion, war bankrott, nicht aber die Ideen von Zwang, Terrorismus und Säuberung, die ihm Leben einhauchten, wie sie auch schon seinem Vorgänger, der Tscheka, Leben eingehaucht getan hatten. Das „Testament“ beginnt mit diesen Worten:
„Ich scheide aus dem Leben. Ich beuge mein Haupt nicht vor dem proletarischen Fallbeil, das gnadenlos, aber auch keusch ist. Hilflos bin ich vielmehr angesichts jener teuflischen Maschinerie, die sich offenbar mittelalterlicher Methoden bedient, aber über gigantische Kräfte verfügt, Verleumdungen fabriziert und frech und selbstsicher vorgeht.
Nichts von Dserschinskij ist geblieben, nach und nach sind die besten Traditionen der Tscheka in die Vergangenheit gerückt. Traditionen, mittels derer die revolutionäre Idee all ihr Handeln steuerte, Härte gegenüber den Feinden rechtfertigte, den Staat vor jeglicher Konterrevolution schützte.“88
Der Altbolschewik Bucharin wusste sich in vielerlei Hinsicht mit der Tscheka einig. „Uns ist alles erlaubt“, hatte es in Das Rote Schwert, der Zeitschrift der Organisation, geheißen. Und es wurde erklärt, warum man sich diese Freiheit im Namen der Freiheit nehmen konnte: „Unsere Menschlichkeit ist absolut. … Wir sind die ersten in der Welt, die nicht um zu versklaven und zu unterdrücken das Schwert gezogen haben, sondern im Namen der Freiheit.“89 Bucharin hatte kein Problem mit dem „proletarischen Fallbeil“, als es im ersten Jahrzehnt der russischen Revolution betätigt wurde. „Unbarmherzigkeit“ oder „Härte“ stellten ebenfalls keine Probleme dar, solange alles sauber blieb – vielleicht ein fernes Echo von Robespierres berühmtem Diktum über die Verbindung von Tugend und Terror.90 Im „Testament“ ließ Bucharin durchblicken, dass er vor dem Fallbeil einer reinen Institution der proletarischen Säuberung „sein Haupt gebeugt“ hätte. Im „Letzten Wort“ beschränkte er sich darauf, von einer noch nicht reinen Institution getötet zu werden.
Es mag seltsam erscheinen, aber Bucharins Haltung wirft ein Schlaglicht auf die mittelalterliche Vergangenheit des Märtyrertums. In den Jahren 1937 bis 1938 muss er sich zu irgendeinem Zeitpunkt – als sein Wille zum Widerstand gegen Stalin dem Wunsch, sich für die Partei aufzuopfern, die Waage hielt – als sündhaft und doch der Erlösung nahe, als werdender Märtyrer, welcher der Reinigung bedarf, gesehen haben.
Wir wenden uns nun dem dritten Dossier und damit dem ersten Kreuzzug zu. Die Tragödie der Moskauer Schauprozesse erhellt eine auffällig analoge Konfiguration bei den „Soldaten Christi“ des 11. Jahrhunderts: Sie waren Gottes Schnitter im Eschaton und zugleich selbst einer Reinigung unterworfen.
„Und ihm folgten nach die Heere im Himmel [Offb 19,14] … Mit den Heeren, die Johannes im Gefolge Christi sah und die vom Himmel kamen, sind die Heiligen gemeint, die am Ende der Welt geboren werden und gegen den Antichrist kämpfen werden.“91
Raimund von Aguilers dürfte der interessanteste Chronist des ersten Kreuzzugs sein.92 In seiner Interpretation, die er im Jahr 1100 oder kurz danach verfasst hat, konnten die Mühen der Kreuzritter als Märtyrertum und als Reinigung verstanden werden. Jean Flori hat nachgezählt: in Raimunds Liber gibt es acht Erwähnungen von Kreuzrittern, deren Tod sie zu Märtyrern machte oder ihnen direkten Eingang ins Paradies verschaffte.93 Die etwas schwammige Vorstellung, dass selbst Kreuzfahrer, die schlicht verhungerten oder ertranken, Märtyrer waren, die die göttliche Rache heraufbeschworen, oder dies zumindest sein konnten, schien verbreitet zu sein.94 Diese geheiligten Toten schlossen sich, mitsamt den bereits im Himmel versammelten Heiligen, bei entscheidenden Waffengängen den Lebenden auf dem Schlachtfeld an („wahrhaftig begleiteten uns verschiedene Heilige, Ritter Christi“).95 In einem späteren Kapitel wird erklärt, wie das Töten und das Sterben für die gerechte Sache gleichermaßen in den Glanz von Gottes erhabener Gerechtigkeit getaucht wurden.
Auch den päpstlichen Legaten Adhemar von Le Puy, der kurz nach der entscheidenden Schlacht vor Antiochia (im Juni 1098) starb, gesellte man gedanklich jenen bei, die mit der Waffe in der Hand gefallen waren, und entsprechend glaubten manche, er kämpfe wie jene als Geist oder Heiliger für den Erfolg des Kreuzzugs. Neben dieser wechselseitigen Durchdringung von Himmel und Erde im Kampf vertritt Raimunds Liber eine rabiat gleichmacherische Theologie, die mit der Auffassung verbunden ist, der Kreuzzug sei der heilige Krieg, der allen Kriegen ein Ende mache – der letzte Akt der Heiligen Geschichte.96 Die Armen und einige Vertreter der niederen Geistlichkeit bildeten die Vorhut des Heeres Christi. Ihnen wurde in Visionen geoffenbart, wie die Kreuzfahrer Gottes Gnade erlangen konnten und wie sie sich, häufig in Bußgottesdiensten, des göttlichen Beistands zum Sieg über die Muslime versichern konnten. Diese Visionen enthielten auch Kritik an der offiziellen Führern des Zuges, sprich an den dem Laienstand angehörenden Fürsten und an der hohen Geistlichkeit (zu der auch Bischof Adhemar gehörte).97 Die Armen, die „Kinder Gottes“, sorgten für den Fortgang des Kreuzzugs, indem sie die Fürsten zwangen, die unterwegs besetzten Festungen und Städte wieder zu verlassen, denn wenn man dort blieb und sich über ihren Besitz zerstritt, verzögerte das die Ankunft in Jerusalem. Die Armen drohten sogar damit, ihren eigenen Anführer zu wählen.98 Der Fürst, der trotz seiner Schwächen diesen Radikalen und ihren Propheten am nächsten stand, war der Provençale Raimund von Saint-Gilles. Er wollte sich nicht als Kandidat für den Königsthron von Jerusalem zur Verfügung stellen, weil er sich der klerikalen Position angeschlossen hatte, dass es „falsch ist, dort einen König zu wählen, wo der Herr litt und gekrönt wurde“, denn der irdische König könnte der Korruption verfallen. Zudem verkündete der Prophet Daniel: „Wenn der Heilige aller Heiligen gekommen ist, wird die Salbung aufhören.“ Dachte Raimund vielleicht, er könnte ein Antichrist werden?99
Einerseits waren die Kreuzfahrer die Reinsten der Reinen. Andererseits bedurften gerade sie am meisten der Reinigung. Der heilige Andreas sprach in einer Vision wie folgt zu ihnen:
„Wisst ihr nicht, warum Gott euch hierhergeführt hat? Und wie sehr Er euch liebt, und wie Er gerade euch erwählt hat? Er ließ euch herkommen, um Seine Schmähung und die Seines Volkes zu rächen. Er liebt euch so sehr, dass die Heiligen, die schon im Schoße [des Paradieses] ruhen, durch göttliche Vorkehrung von der [euch zuteil werdenden] Gnade wissen und in Fleisch und Blut mit euch kämpfen wollen. Gott hat euch unter allen Völkern erwählt, so wie der gute Weizen von der Spreu getrennt wird [vgl. Mt 13], denn an Verdienst und Gnade seid ihr all jenen voraus, die vor euch kamen und nach euch kommen werden, so wie der Preis von Gold höher ist als der von Silber.“100
Der Apostel Andreas wusste, was eine Avantgarde war, und auch Maximilien Robespierre wusste es: Die ihm nahestehende Gruppierung der Bergpartei („La Montagne“) war „rein“ und „erhaben“; „Verschwörer gehören nicht zur Montagne“.101 Allerdings gehörten nicht alle Kreuzfahrer zu den Erwählten. Wie die Jakobiner den eher lauen Danton und seine Anhänger aus der Bergpartei eliminierten, so bedurfte auch Gottes Heer einer Reinigung, denn in seinen Reihen gab es „unaufrichtige Männer“, deren Bestimmung es war, „zu ihm zurückzukehren, der sich der Gerechtigkeit verweigerte [Satan]“.102 Eine weitere Vision wurde durch Peter Bartholomäus’ Wunsch ausgelöst, Christus als den Gekreuzigten zu sehen (er war bis jetzt nur aufrecht stehend erschienen). Christus willigte ein und verwandelte sich entsprechend, um dann die Bedeutung seiner fünf Wundmale zu erklären.103 Sie standen stellvertretend für diejenigen, die seiner Passion beigewohnt hatten, sowie für fünf Typen von Kreuzfahrern: Der erste Typus gleicht Christus; er fürchtet keine Waffen und kämpft aktiv im Heer. Er ist für das Märtyrertum bestimmt: „Wenn solche Männer sterben, werden sie zur Rechten Gottes emporgehoben, wo ich nach meiner Auferstehung und Himmelfahrt saß.“ Der zweite Typus gleicht den Aposteln und bildet die Reservearmee. Der dritte versorgt die Kämpfer und gleicht denen, die über das Christus angetane Unrecht klagten. Der vierte Typus bleibt im Krieg neutral, er gleicht den Kreuzigern. Der fünfte flieht und hält andere vom Kämpfen ab; er gleicht darin den Juden und Pilatus. Nach dieser Selbstexegese erbot sich Christus, die Identität der „Verräter“ (proditores), „Zweifler“ oder „Ungläubigen“ (increduli, wie die verhassten Juden) – also die beiden untersten Ränge – durch ein Wunder zu enthüllen. Sobald das Heer für den Kampf aufgestellt und der geheiligte Schlachtruf „Gott hilf“ dreimal ertönt sei, werde der Herr die fünf Gruppen sichtbar machen. Auf die Frage, was mit den Zweiflern geschehen solle, antwortete Christus kalt: „Zeigt kein Erbarmen; tötet sie; sie haben mich betrogen, es sind Brüder von Judas Ischariot. Ihre weltlichen Güter verteilt unter die dem ersten Rang Angehörenden nach deren Bedarf; und durch diese Tat werdet ihr den rechten Weg [nach Jerusalem] finden, den ihr bis jetzt umgangen habt.“104 Dieser Befehl zur blutigen Säuberung passte zur Vision von Christus als Gekreuzigtem – dieses Bild rief nach Rache.105 Neben anderen Befehlen mahnte Christus noch zu äußerster Vorsicht gegenüber Feinden, die zum Christentum konvertierten106, und gegenüber Kreuzfahrern, die vom Glauben abgefallen und dann wieder zu ihm zurückgekehrt waren. Raimunds Herr war kein barmherziger Gott.
Für Raimund von Aguilers also war die Reinigung die Begleiterin von Märtyrertum und Gottes Krieg. War dieser Radikalismus typisch? Wohl nicht ganz. Die klösterlichen Chronisten, die ihre Kreuzzugshistorien etwa ein Jahrzehnt nach der 1099 erfolgten Einnahme von Jerusalem redigierten, dürften so extreme Ansichten, wie sie von Raimund propagiert wurden, nicht mehr vertreten haben.107 Aber der Deutsche Ekkehard von Aura, der sich 1101 im Heiligen Land aufhielt (wo er ein Büchlein, libellus, über die von ihm nicht selbst erlebten Ereignisse befragte), schlug eine Note an, die zu Raimunds Melodie passte.108 Ekkehard begann seine Erzählung mit einer detaillierten Auflistung der vielen Wunder, die alle gesellschaftlichen Schichten mobilisierten. Aber mit dem Erfolg stellte sich eine satanische Reaktion ein (wie in Mt 24, 24 und, dem Evangelisten folgend, von dem Endzeitszenario des Pseudo-Methodius vorhergesagt):
„Während sich durch diese und ähnliche Zeichen die ganze Schöpfung zur Teilnahme an der Heerschar des Schöpfers anfeuerte, zögerte jener Feind … keinen Augenblick, unter die gute Saat sein Unkraut zu säen, falsche Propheten zu erwecken und unter die Heere des Herrn falsche Brüder [vgl. Gal 2, 4] und ehrlose Weiber unter dem Vorwand der Frömmigkeit [2 Tim 3, 4] zu mischen; so wurden durch die Heuchelei und die Lügen [2 Thess 2, 9] der einen, durch die abscheuliche Befleckung der anderen die Herden Christi derart beschmutzt, dass nach der Weissagung des guten Hirten auch die Auserwählten in Irrtum fielen [vgl. Mt 24, 24].“109
Ekkehards Besorgnis ist ein Widerhall dessen, was schon Raimund äußerte. In seiner nach 1102, vielleicht 1105 verfassten Chronik riet Ekkehard dazu, die Verführer nach den Einzelheiten ihrer (angeblichen) Teilnahme am Kreuzzug genau zu befragen und sie Buße tun zu lassen.
Dagegen schafften es die „Führer der Heerschar, die wahrhaft des Herrn war (vere dominicae militiae duces)“, also Gottfried und andere Fürsten, nach Jerusalem zu kommen. Auf dem Weg dorthin wurde die Spreu durch die Wurfschaufel „aus der göttlichen Tenne hinausgeworfen“, während „die Weizenkörner (grana triticea) infolge ihrer natürlichen Beständigkeit ausdauerten“.110 Wie Raimund schrieb auch Ekkehard vor dem Hintergrund eschatologischer Erwartungen.111 Die Epoche am Zeitenende, die das Märtyrertum hervorbrachte, machte auch eine Reinigung notwendig. Wie in späteren Konzeptionen sollte sie „im Heiligtum“ beginnen. Es sei der Jakobiner Garnier de Saintes zitiert: „Wenn wir [die Nationalversammlung] reinigen, dann mit dem Recht, Frankreich zu reinigen. Wir werden in der Republik keine fremdartige Körperschaft dulden. … Wir wollen diesen großen Baum von seinen toten Ästen befreien.“112 Augustinus hat geschildert, wie auf dieser „Tenne“ die „für das ewige Feuer“ bestimmte Spreu „ausgesondert“ wird, das heißt: „alle für die Verdammnis Bestimmten“. Somit konnte die Gruppe der „Gereinigten … ohne Angst, dass jemand von den Bösen sich unter sie mischen würde, zur Rechten [Christi] stehen“.113 Isidor von Sevilla hatte erwidert, dass „viele von denen, die jetzt erwählt und heilig zu sein scheinen, am Tag des Gerichts vielleicht zugrunde gehen, denn wie der Prophet Amos [7, 4] sagt: ‚Der Herr wird durch Feuer strafen, und der Abgrund wird viele verschlingen und einen Teil des Hauses [Gottes] zerstören.‘“114
Die assoziative Verbindung von Reinigung, Kreuzzug und Märtyrertum wurde vermittels zumindest zweier literarischer Formate über die Jahrhunderte weitergetragen. Einmal gab es verschiedene Romanversionen der biblischen Geschichte der Makkabäer, die im Mittelalter überaus beliebt war. Die Illustratoren waren offenbar besonders erpicht darauf, Mattathias darzustellen, wie er einen götzenanbeterischen Juden am Altar tötete (1 Makk 2, 23–24).115 Auch die Erzählung selbst schilderte neben dem Tod für Gott, den die alttestamentarischen Krieger-Märtyrer erlitten, ihr Abschlachten von halbherzigen Juden und hellenisierten Heiden. Predigten über das Kreuz und den Kreuzzug stellten den zweiten literarischen Vermittlungsweg dar. In diesem Medium verband sich der Diskurs über den Lohn für kriegerisches Märtyrertum mit Sozialkritik. Eine der frühesten Predigten stammt von Jakob von Vitry, einem Mitglied der reformistischen Gruppierungen, die mit der Pariser Schule an der Wende zum 13. Jahrhundert verbunden waren. Jakob wählte als Thema Verse aus der Offenbarung, die ihn zu einem Kommentar zu jener Passage im Buch Hesekiel veranlassten, die das von Engeln verübte Massaker an all denen, die nicht das Zeichen Gottes auf der Stirn tragen, ankündigt:
„Es wurde ihnen befohlen, im Heiligtum zu beginnen [Hes 9, 6], also mit den Priestern, weil, wie das Buch der Weisheit sagt, die Mächtigen mächtig gepeinigt und über die Hochgestellten die härtesten Urteile gefällt werden.“116
Für Jakob von Vitry waren alle, die nicht mit Christus waren, de facto gegen ihn:
„Der Drache fegte den dritten Teil der Sterne hinweg [Offb 12,4]. Der erste Teil verteidigt den Glauben mit dem Wort wie die doctores gegen die Häretiker; der zweite Teil verteidigt den Glauben mit dem Schwert wie die Soldaten Christi; der dritte Teil verteidigt weder mit dem Wort noch mit dem Schwert und gehört dem Teufel.“117
Tatsächlich gab es in den nächsten einhundert Jahren zwei vom Volk ausgehende Kreuzzüge – die sogenannten Hirtenkreuzzüge von 1251 und 1320/21 –, die eine revolutionäre Wendung nahmen, indem sie Adlige, Vertreter der Krone, bisweilen Amtsträger, die Geistlichkeit und sogar, fürwahr, Universitätsprofessoren angriffen.118 „Im Heiligtum beginnen“: Bis in die Moderne begegnet die Vorstellung, dass die Reinigung mit den Erwählten beginnen müsse – seien es Statusgruppen oder ganze Völker. So stellte zum Beispiel der zu den Fifth Monarchy Men gehörende Christofer Syms die rhetorische Frage: „Muss nicht das Gericht im Hause Gottes beginnen? Wenn diese nordbritische Nation das von Gott erwählte sein soll, um die letzten Wunder der Welt zu vollbringen, die Kirche von Häresie, Schisma, Atheismus und Heuchelei zu reinigen … muss dann nicht das Volk zuerst gereinigt werden?“119 Und ein anderer Radikaler des 17. Jahrhunderts namens William Aspinwall (gest. 1662), ebenfalls ein Fifth Monarchy Man, meinte: „Die Kirche ist Gottes Schmelzofen“, in dem ihre rechtmäßigen Herrscher „gründlich gereinigt und von ihrer Schlacke geläutert“ werden sollten.120 Wir haben bereits im zweiten Kapitel im Hinblick auf diese moralische Kriegsfront die Parallelen zwischen der Französischen Revolution und dem ersten Kreuzzug erkundet.
Kehren wir zu diesem Kreuzzug zurück. Die manichäische Vorstellung einer radikalen Reinigung wurde durch einen seltsamen Mechanismus kompensiert. Wir wollen hier den merkwürdigen Fall des päpstlichen Legaten Adhemar von Le Puy erörtern. Adhemar, der zur Führungsgruppe der ganzen Unternehmung gehörte, hatte die Echtheit der Visionen, von denen die prophetische Gruppe der armen Kreuzfahrer und niederen Geistlichen so beeindruckt worden war, bezweifelt.121 Insbesondere hatte er die Offenbarungen, mit deren Hilfe die machtvolle Reliquie der Heiligen Lanze entdeckt worden war, für betrügerisch gehalten; er war von der Authentizität des Boten – Peter Bartholomäus – ebenso wenig überzeugt wie von der des Gegenstands.122 Die Lanze war als siegbringendes, in der Schlacht Wunder wirkendes Objekt der symbolische Schlussstein des ganzen, seinem Grundton nach radikalen und egalitären Bündels von Botschaften, das die Gruppe dem Heer und dessen Führungsspitze übermittelte. Bald nach der Auffindung dieser Reliquie konnten die Kreuzfahrer vor Antiochia einen großen Sieg erringen und Adhemar, „ein von Gott und den Menschen geliebter Mann“ und „allen in jeder Weise teuer“, starb.123
Doch war diese allgemeine Wertschätzung offenbar nicht ganz gerechtfertigt. Schon bald erschien Adhemar dem Peter Bartholomäus, einem einfachen Mönch, um ihm mitzuteilen, er, Adhemar, habe gerade eine Höllenfahrt hinter sich.124 Der Bischof bekannte, dass ihm aufgrund seiner Zweifel an der Echtheit der Lanze Kopf und Gesicht übel verbrannt worden seien.125 Jedoch verkündete Adhemar auch, dass er, wie die Märtyrer des Kreuzzugs, den Marsch auf Jerusalem unterstützen werde. „Wenn sie [die Kreuzfahrer] bereit sind, sich an Gottes Gebote zu halten, kann ich im Tod sehr viel nützlicher sein als im Leben. Ich und alle meine dahingeschiedenen Brüder werden mit ihnen leben, und ich werde erscheinen und besseren Rat geben, als ich es im Leben tat.“126 Das machte er wahr: Er ermahnte einen Priester, der aufgrund seiner Zweifel krank geworden war, und diktierte, als das Heer gen Jerusalem zog, die siegbringenden Bußübungen.127 Und nicht nur das: Beim Sturm auf Jerusalem sah man ihn, wie er „den Weg über die Mauern wies [und] die Ritter und anderen drängte, ihm zu folgen“.128 Adhemar war insofern der Erste, der das Gelobte Land betrat.
Der seltsame Fall des Bischofs Adhemar, dieses zugleich fehlerhaften und vollkommenen Heiligen, des hochgerühmten Toten und Mitstreiters der kämpfenden Heiligen, gibt Anlass zu zwei Kommentaren. Zunächst einmal wurde darauf hingewiesen, dass der Westen keines Toten unter den Teilnehmern am ersten Kreuzzug als Märtyrer gedachte, obschon zeitgenössische Chronisten von Märtyrern sprachen und einige sogar mit Namen nannten.129 Die Zweifel, die Raimund von Aguilers am inneren Wert von Führern und Gefolgschaft der Unternehmung ausdrückt, Ekkehards Besorgnis, dass Satan die Reinheit der kämpfenden Reihen beschmutzt habe, und beider Gefühl, dass der Tod auf dem Kreuzzug Teil einer göttlichen Trennung der Spreu vom Weizen sein könnte, bieten dafür eine partielle Erklärung. Wer vermochte zu sagen, was der Tod im Heiligen Land vor und für Gott bedeuten würde?130 Selbst Raimund verfiel kurzzeitig in Zweifel wegen der Lanze, und selbst Peter Bartholomäus hatte anfänglich nicht an den Auftrag des heiligen Andreas, die Lanze zu finden, geglaubt (was seine Verbrennungen während der Feuerprobe erklärte, der er sich zum Beweis der Echtheit der Reliquie unterzog).131 Doch musste, zweitens, die Trennung der Spreu vom Weizen nicht notwendigerweise die Verstoßung der Lauen oder Halbherzigen bedeuten. Im Gegensatz zu meinen Erwartungen ließ selbst das manichäische Schwarz-Weiß-Schema des ersten Kreuzzugs Raum für religiöse Zwischentöne. Es gab Menschen, die zwischen Täuschung und Heiligkeit standen und die durch Tod und Buße eine Reinigung erfahren konnten, mittels derer sie in die Ränge der Erwählten zurückgelangten.132 Adhemar war in der Hölle zum Konvertiten geworden – ein Privileg, das den gefallenen Muslimen wahrscheinlich nicht gewährt wurde. So konnte der Bischof posthum dem großen Tag entgegenarbeiten – dem „neuen Tag“, der mit der Eroberung von Jerusalem am 15. Juli 1099 verkündet wurde, dem Tag, der „alles Heidentum vertrieb“.133 Auch hierin war Bucharin in seinem Vertrauen darauf, „dass sich auf dem Banner, das ihr auf dem siegreichen Weg zum Kommunismus tragt, auch ein Tropfen meines Blutes befindet“, der Erbe der mittelalterlichen Märtyrerkultur.
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Die folgenden Gedanken bilden weniger ein Fazit dieses Kapitels als eine Reihe von Reflexionen. Die Parallelen zwischen den drei Episoden sind augenfällig. Weit über den mittelalterlichen Katholizismus hinaus belegen sie noch für eine postchristliche Kultur die Macht der die eschatologischen Dimensionen der Geschichte auslotenden Ideen der Reinheit, Gewalt, elitären Avantgarde, des Märtyrertums und der Rache. Diesem Komplex von potenziellen kulturellen Reisegefährten sollten wir noch Freiheit und Universalismus hinzufügen (dazu mehr in Kapitel VI). Für die Dauerhaftigkeit eines auf Konfrontationskurs gehenden Märtyrertums muss eine ganze Anzahl von Kräften gesorgt haben. Dazu gehörte offenbar als Erstes der in den westeuropäischen Kulturen und ihren Einflussbereichen durch Erzählungen, Kunst und Denkmäler übermittelte, weit verbreitete Glaube an die Wirksamkeit dieser Todesart. Das Märtyrertum stellte die ideale Möglichkeit für ein Individuum dar, für eine Sache zu sterben. Zudem herrschte die Erwartung, es werde Gott zum Handeln bewegen und die Geschichte vorantreiben. Aber zum Tango gehören zwei. Wie Brad Gregory zeigte, konnte sich das Märtyrertum auch durch die Bereitschaft von Eliten halten, Dissens öffentlich und auf dem Rechtswege zu verfolgen (statt ihn einfach nur schnell und ohne Aufhebens zu unterdrücken).134 Schließlich wussten die Gegner der Möchtegern-Märtyrer normalerweise nur zu gut, dass sie mit deren Tod der Gegenseite eine Trumpfkarte zuspielten. Dessen ungeachtet mussten sie sich häufig auf dieses Spiel einlassen. In der westlichen Rechtstradition konnte, so wollten es die Normen, ein Verbrecher erst nach einem fairen Prozess zum Tode verurteilt werden. Dieser zweite Glaubenssatz, der Glaube an den Primat von Recht und ordnungsgemäßem Prozess, brachte es mit sich, dass die Ankläger – jedenfalls sehr häufig – das Risiko einer öffentlichen Verhandlung eingingen, selbst wenn sie erkannten, dass eine öffentlich geführte Gerichtsverhandlung dem künftigen Märtyrer die Gelegenheit bot, seine abweichende Meinung darzulegen und so für weitere Schwierigkeiten zu sorgen.135
Die Kontinuitäten sind augenfällig, aber die Unterschiede sind es auch. Sie werden sichtbar vor dem Hintergrund der Märtyrertode der ersten christlichen Jahrhunderte, denen Raimund von Aguilers nähersteht als John Brown oder Nikolai Bucharin. Die frühchristlichen Märtyrer fanden den Tod durch die Hand von Gegnern, die völlig Außenstehende waren: die heidnischen Magistrate und ihre Helfershelfer. Diese bildeten gegenüber den willigen Opfern im wörtlichen Sinn eine Outgroup.136 Bisweilen, wie in der Passio des Polycarpus oder der Passio der Perpetua und Felicitas, verkündeten die Opfer die – spirituelle oder körperliche – Vernichtung ihrer Verfolger. Das Schauspiel der Hölle werde letztlich auf die Schauspiele der römischen Arena die Antwort geben. Tertullian erfreute sich an der Aussicht, zuschauen zu können, wie „die Magistrate, die den Namen des Herrn verfolgten, in wütenden Flammen vergehen, die wilder sind als jene, mit denen sie die Christen zurichteten“.137 Ganz anders wurde Bucharin von den eigenen Leuten verurteilt, ohne dass er Zweifel an seiner Partei und ihrem Auftrag geäußert hätte. Die Märtyrer waren in Gottes Willen und den Verlauf der Heilsgeschichte eingeweiht und nahmen den Tod an, indem sie sich diesem Wissen unterwarfen. Allerdings bekannten sie sich normalerweise nicht zu größeren Verfehlungen gegen die Kirche, so wie Bucharin den Verrat an der Partei zugab. (Bischof Adhemar und Peter Bartholomäus sowie der Chronist Raimund selbst räumten lediglich Zweifel an der wichtigsten Reliquie der armen Pilger ein.) John Brown wurde auf Betreiben seiner amerikanischen Landsleute hingerichtet. Er stritt seine Mitbürgerschaft heftig ab, bestätigte sie aber sub specie aeternitatis. Brown führte mit seinen Gegnern aus den Südstaaten einen Dialog und ließ die Tür für ihre Bekehrung zum Abolitionismus offen. Er vertraute darauf, dass die Geschichte den Sieg seines Glaubens in ganz Amerika erleben werde – wenn auch erst nach gewaltsam-blutigen Bemühungen. Zwar sprachen Brown und seine Freunde einem Staat, der die Sklaverei verteidigte, die Legitimität ab (was viele Abolitionisten genauso sahen, wenn sie lieber die Union zerfallen ließen, als die Ausweitung der Sklaverei zu dulden), doch hofften sie weiterhin auf seine Reform als politisches Gesamtgebilde.138 Bucharin dagegen glaubte an die Partei und den Staat, die UdSSR, die ihm den Prozess machte. Wenn es eine Entfremdung gegeben hatte, dann aufgrund seines, Bucharins, Versagens, seiner Doppelzüngigkeit. Der letzte Satz des „Testaments“ gab seiner Hoffnung Ausdruck, auch weiterhin zum Fortschritt der Geschichte beitragen zu dürfen; aus ihm spricht das schmerzliche Verlangen, dazuzugehören. Im Gegensatz dazu gibt es in den authentischen Märtyrerberichten – verfasst, bevor Kaiser Konstantin in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts das Christentum zur Staatsreligion erhob – keine Hinweise darauf, dass die Opfer oder ihre Hagiographen den Übertritt Roms, sei es gänzlich oder in bedeutenden Teilen, erwarteten.139 Einige Märtyrer erklärten hoch und heilig, dass sie den Götzen nicht opfern müssten, weil sie für das Reich oder den Kaiser gebetet hatten.140 Aber wenn die übliche Antwort auf die Aufforderung des Magistrats, der Angeklagte möge sich zu erkennen geben, lautete: „Ich bin Christ“, war damit klar, dass hier eben kein römischer Bürger sprach.141 Prudentius, dem Dichter und Hagiographen des 4. Jahrhunderts, sind wir bereits im dritten Kapitel begegnet. Er schildert eine neue Konstellation im Hinblick auf die Andersartigkeit des Märtyrers, die nach Konstantins Hinwendung zum Christentum wahrscheinlicher geworden ist. Sein Hymnus auf die Passion des heiligen Laurentius beginnt so: „Die uralte Mutter der heidnischen Heiligtümer, Rom, nunmehr Christus geweiht, siegt unter Laurentius’ Führung und triumphiert über barbarische Riten.“142
Durch die „nicht unblutigen Kämpfe“ der Märtyrer zur Bekehrung bewegt, werde Rom, das alle Völker unterwarf, nun auch die „monströsen Götzen“ unterjochen. Laurentius, der auf dem Rost zu Tode gequält wurde, kündigte einen künftigen Fürsten, Konstantin oder Thedosius I., an und betete mitten in seinem Schmerz für die Bekehrung von Rom, der „Stadt des Romulus“. Von der Hauptstadt des Römischen Reichs selbst sollte die Christianisierung des Erdkreises ausgehen. Dergestalt ist Laurentius im Augenblick seines Todes zwar ein ganz anderer als die römischen Folterknechte, doch, betrachtet aus der Perspektive einer durch Gottes Vorsehung bestimmten Zukunft, ein Römer: Sein Märtyrertum ist, sakramental gesehen, Ursache und Prophezeiung der Christianisierung Roms und seiner universellen christlichen Mission. Allerdings führt keine direkte Linie von Prudentius zu Bucharin, vielleicht gibt es nicht einmal eine Linie. Bei Raimund von Aguilers finden wir kein großes Interesse an der Bekehrung oder Erlösung einer so oder anders gearteten Ganzheit. Vielleicht dachte er in Kategorien wie „die Franken“ oder „die Christenheit“, aber über Letztere als eine umfassende Ganzheit hören wir kaum etwas. Er misstraute all jenen, die vom Islam zum Christentum übertraten und auch den christlichen Apostaten, die zu ihrem ursprünglichen Glauben zurückkehren wollten.143 Er meinte, dass die Heiden Dalmatiens, denen er unterwegs begegnete, die Wahl zwischen zwei Alternativen hatten: Sobald sie die Stärke der Soldaten Gottes und ihre Leidensbereitschaft (patientia) kennengelernt hätten, würden sie entweder angesichts jener Stärke konvertieren oder Ziel von Gottes erbarmungsloser Verdammnis werden.144 Er hieß einen leicht angerösteten Bischof Adhemar wieder in den Reihen der Reinen willkommen, richtete den Blick aber nicht voraus auf eine allumfassende Gemeinschaft der Geretteten. Für Raimund bestand die Totalität, wenn es denn eine gab, aus Christus und in Christus, jetzt, an diesem Tag, der mit der blutigen Reinigung der Heiligen Stadt „alles Heidentum vertrieb“.145 Raimunds Auffassung von Universalität war nicht optimistisch und offen, umfasste nicht alle oder die meisten oder auch nur viele Menschen. Darum ging es ihm nicht.146 Näher stehen uns zweifellos die apokalyptischen Bestseller von Timothy LaHaye (und das Genre, dem sie angehören), die ebenfalls zwischen der Errettung der Wenigen und der Vielen oszillieren.147 In der Kultur des christlichen und postchristlichen Westens existieren im Hinblick auf das Märtyrertum zwei radikal gegensätzliche Konstellationen nebeneinander. Die eine ist inklusiv und universalistisch, die andere exklusiv und sektiererisch. Erstere lässt sich mit dem Nationalismus und verschiedenen Formen von manifest destiny leichter vereinbaren, während Letztere mit terroristischen Bestrebungen einhergehen kann. Beides sind natürlich idealtypische Formen; das Elitedenken der Sekten kann sich auch mit der Ideologie der Avantgarde vermischen und so Anschluss an den Universalismus finden.