VII. DAS SUBJEKT DER GESCHICHTE UND WIE GESCHICHTE GEMACHT WIRD

Schlagt zu, Barone, lasst nicht nach! … Gott hat uns geschickt, das wahre Urteil zu fällen.
 (Rolandslied, Strophe 248)

Da Zukunft für uns die Machbarkeit der Geschichte bedeutet …
 (Rainer Langhans und Fritz Teufel, Klau mich)

Die Geschichte, so wie es jetzt läuft, hat keinen Sinn. Wir müssen sofort konkret mit dem bewaffneten Kampf anfangen. (Bommi Baumann, Tupamaros Westberlin)

Moderne

Wie modern ist die Gewalt der Moderne? Forscher, die sich auf den Terror des 20. Jahrhunderts oder die Terreur der Französischen Revolution spezialisiert haben, gehen für gewöhnlich von einem Unterschied zwischen moderner und vormoderner Gewalt aus. Beginnen wir mit einem Beispiel: dem revolutionären Märtyrertum von 1789–1794, das sich in mancher Hinsicht dem gemeinsamen Einfluss römischer und christlicher Vorbilder verdankte. Antoine de Baecque kann in einem Essay, der sich mit großer Feinfühligkeit dem Einfluss des katholischen Diskurses widmet, dennoch en passant behaupten, dass der Leichnam des revolutionären Märtyrers glorreich sei, während die christliche Tradition doch den Körper für verabscheuungswürdig hält.1 Ein anderer Gelehrter, Alphonse Jourdan, arbeitet den Gegensatz sehr viel trennschärfer heraus:

„Immer mehr Helden wurden zu Märtyrern. Aber ein republikanischer Märtyrer war etwas anderes als ein christlicher. Seine unermüdliche Energie machte den Unterschied aus. Der Republikaner war ein grimmiger Verteidiger des neuen und gänzlich säkularen Glaubens, und er musste nicht nur zu leiden und zu sterben wissen, sondern auch, wie man den bewaffneten Kampf bis zur Erschöpfung fortführt … Der christliche Märtyrer war gänzlich passiv, hatte die Augen gen Himmel gerichtet, war gleichgültig gegenüber seinen Mitbürgern. Im Gegensatz dazu arbeitete der revolutionäre Märtyrer für das Gemeinwohl, für die Menschheit und für dieses Leben, um Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für das Glück aller zu bewirken. Und damit war er den Helden der Antike viel näher als den katholischen Heiligen, selbst wenn er, wie letztere, für einen neuen Glauben eintrat, sein Leben für seine Überzeugungen hingab und unbeugsam den schlimmsten Gefahren trotzte.“2

Mediävisten und Historiker des Frühen Christentums dürften über Jourdans Einschätzung des christlichen Märtyrers – Gleichgültigkeit gegenüber anderen und dem Gemeinwohl, Passivität, Mangel an „unermüdlicher Energie“ – wohl lächeln, schließlich sprechen schon die frühesten Schilderungen der Leiden und Taten der Märtyrer von deren Heldentum und Willenskraft. Der Aktivismus des Märtyrers durchmisst die Jahrhunderte. In größerer Nähe zur Französischen Revolution verachten Miltons christliche Helden, statt geduldig zu leiden, das Böse voller Tatendrang. Dieser Dichter der Englischen Revolution interessierte sich mehr für den Sieg als für die Todesqualen.3

De Baecques kleiner Fauxpas und Jourdans Antithesen über Tod und Sterben sind in der Forschung kein Einzelfall. Reinhart Koselleck, ein Gelehrter, der sich intensiv mit dem Übergang von der Vormoderne zur Moderne beschäftigte, begreift die Kriegerdenkmale – eine Erinnerungspraxis, die sich in Westeuropa zur Zeit der Französischen Revolution ausbildete – als „politischen Totenkult“ der Gefallenen, die für das „politische Heil des ganzen Volkes“ starben. Koselleck zufolge wurde die „Nachwelt“ (das aktive und organisierte menschliche Erinnern in dieser Welt) um 1800 der Garant eines Gedenkens, das an die Stelle des liturgischen Gedenkens, der memoria, trat, bei der die Namen jener Toten, die man zur ewigen Seligkeit berufen wähnte, in der Messe rezitiert wurden. Ein grundlegender Wandel, der „das Ewigkeitsversprechen verzeitlicht“. Nun war es die politische Gemeinschaft, die mit dem Seelenheil des einzelnen Soldaten, also seinem fortwährenden Gedenken, betraut war. Für Koselleck besteht „das Neue des politischen Totenkults der Neuzeit … nun darin, daß es der gewaltsame Tod ist, der die Handlungseinheit [Vaterland, Republik, Nation, Staat, Heimat, Volk, Reich, oder sonstwie] legitimiert“.4

Unzweifelhaft trat in der Spätmoderne das ein, was Albert Camus in seiner 1951 erschienenen Kritik am stalinistischen Terror so beredt geißelte: Gott wurde durch die Geschichte ersetzt. Der Kult um dieses neue Idol, so führte Camus aus, unterlief das vorherige ethische Gleichgewicht zwischen Zwecken und Mitteln zu diesen Zwecken zugunsten Ersterer. Von da an war der Terror durch Heuchelei, Missachtung der Selbstaufopferung und Abwesenheit von Liebe gekennzeichnet.5 Aus Wien, noch vor seinem Exil in Stockholm, hat Eric Voegelin 1938 die gleiche Diagnose gestellt: Der „Auftrag Gottes“ sei synonym geworden mit innerweltlichen Formeln wie „Auftrag der Geschichte“, „geschichtliche Sendung“, „Befehl des Blutes“ usw.6 Damit war, wie oben zitiert, „das Ewigkeitsversprechen verzeitlicht“. In vielen europäischen Ländern verwandelte sich die ecclesia als Gemeinschaft der Gläubigen in eine nationale Gemeinschaft. Dennoch ist auf drei Feinheiten hinzuweisen. Erstens bilden, wie auch Koselleck einräumen würde, das Paar Religion/Politik und das verwandte (aber nicht äquivalente) Paar Kirche/Staat keine Dichotomien. Auch geht es der Kirche nicht nur um „Religion“ in ihrer eingeschränkten, modernen Bedeutung. Zweitens konnte das vormoderne Gedenken an Märtyrer (und an Heilige allgemein) auch soziopolitische Gruppierungen legitimieren und zielte auch auf das kollektive Heil. Drittens ist, wie auch sonst häufig, das, was modern zu sein scheint, nicht ohne Präzedenzfall, und Grenzsteine können am historischen Zeitstrahl auch nach hinten verschoben werden. Der „politische Kult“ um die Gefallenen ist nicht erst im 18. Jahrhundert entstanden. Schon Johanna von Orléans hatte die Errichtung von Kapellen gefordert, in denen extra zu diesem Zweck bestellte Geistliche für das Seelenheil der Kriegstoten beten sollten, also „für jene, die im Krieg für die Verteidigung des Königreichs (pro defensione regni) gestorben waren“.7 Sie hatten für Frankreich gekämpft. Wäre das nicht als politisches Heil aller einzustufen? John Foxes Buch der Märtyrer, das vom späteren 16. bis ins 17. Jahrhundert hinein in diversen Ausgaben erschien, heiligte den englischen Protestantismus und krönte England als jene Nation, die mit dem reinen Christentum in eins fiel. Das Buch schweißte das Phänomen des heiligen Todes mit dem Scheitern der Pulververschwörung von 1605 (Gunpowder Plot) – einem geplanten katholischen Attentat gegen den protestantischen König Jakob I. von England – und dem Untergang der spanischen Armada zusammen.8

Indem die Forscher Unterschiede zwischen vormoderner und moderner Gewalt herausarbeiten, bedienen sie sich klassischer historiographischer Meistererzählungen. Wie eben erwähnt, geht Koselleck von einem grundlegenden Wandel im späteren 18. Jahrhundert aus, einer Epochenschwelle [etwa zwischen 1770 und 1830; d. Ü.], die er „Sattelzeit“ nannte. Andere Historiker haben den Fokus darauf gerichtet, dass sich die Beziehung von politischem Handeln und Legitimität zur „Wahrheit“ gewandelt habe („Wahrheit“ verstanden als jene objektiven Wirklichkeiten, von deren Existenz eine Kultur überzeugt ist). Wiederum andere rücken eine oder mehrere von drei miteinander verbundenen kulturellen Dimensionen in den Mittelpunkt: die Einstellung zum Wandel, das Wesen der politischen Sphäre und handlungstheoretische Konzeptionen. Bevor wir uns diesen drei Aspekten zuwenden, werden wir uns aber mit der Frage nach der „Wahrheit“ beschäftigen.

Einem Erklärungsmodell zufolge entspringt der Terrorismus in einer religiösen Welt aus einer radikalen Kritik, die sich der Begrifflichkeiten der etablierten Religion bedient; dagegen ist der Terrorismus der säkularen Moderne ein im Namen der „Wahrheit“ lancierter Angriff auf einen Staat, der seit Thomas Hobbes seine Legitimität einzig aus seiner Fähigkeit, Wohlergehen und Frieden zu verbreiten, bezieht. Authoritas non Veritas facit legem – die Autorität, nicht die Wahrheit macht die Gesetze, schrieb Hobbes, womit er meinte, dass es nur der souveränen Obrigkeit, nicht den Moralphilosophen zukomme, das Naturrecht zu interpretieren. Hobbes’ Formel zielte auf eine „Wahrheit“ (veritas) religiöser Provenienz (oder auf diesbezügliche Ansprüche).9 Im Rechtspositivismus, der heute in den westlichen Demokratien vorherrscht, ist der Bereich dieser veritas, auf den das Recht nicht mehr gegründet werden kann, auf alle Fakten und Normen ausgeweitet worden. Der Staat der Moderne kann seine Legitimität nicht länger in der „Wahrheit“ oder einer die Wahrheit transzendierenden Entität (Gott, das Gute, die Natur) oder einem Wunder verankern – eine Situation, die Carl Schmitt in seiner Politischen Theologie bedauerte.10 Um es mit Günter Rohrmoser und Jörg Fröhlich zu sagen: Da der gegenwärtige Staat auf Verträgen beruht, ist er ziemlich hilflos, wenn seine Legalität „im Namen einer höheren und anderen Legitimität“ angegriffen wird. Unvermeidlich wird er beschuldigt, Verkörperung „struktureller Gewalt“ zu sein, und als ein monströses politisches „System“ dargestellt, eine Hülle, die ein umfangreiches System verborgener wirtschaftlicher und geistiger Zwangsmechanismen umfasst, mit deren Hilfe die Menschen betäubt, versklavt und entfremdet werden.11 Da, anders gesagt, der gegenwärtige Staat auf Wahrheit zu gründen sich versagt hat, zieht er die radikale Kritik und Ablehnung all jener auf sich, die zu solcher „Wahrheit“ Zugang zu haben behaupten.

Doch in welcher Hinsicht unterscheidet sich diese moderne Konstellation grundlegend von ihrer vormodernen Vorgängerin? Zuallererst sollte man sich keine falschen Vorstellungen machen von einer angeblichen Deckungsgleichheit zwischen den politischen Gemeinwesen der Vormoderne und jenem Universum von Bildern, Begriffen, Überzeugungen und Praktiken, das wir Religion nennen. Der heilige Baldachin, der (wie etwa Peter Berger sagt) die archaischen politischen Systeme stabilisierte, war niemals völlig undurchdringlich. Man darf allerdings getrost behaupten, dass diese älteren Gemeinwesen sich auf das Transzendente und das Absolute berufen konnten und mit ihrer Hilfe nach einer Krise die Hobbes’sche veritas neu erschaffen werden konnte: Das zeigt die Entwicklung der französischen Monarchie in den zwei die Religionskriege beschließenden Jahrzehnten.12 Aber welche Krise musste das vorangegangene halbe Jahrhundert durchmachen! Damit verglichen hat die Pathogenese der Moderne (der kollektive, angeblich durch die beschleunigten Wandlungsprozesse in Industrie und Politik verursachte Wahn Europas), die Zeit des völkermordenden Nazismus und Stalinismus, nur ein kurzes halbes Jahrhundert gedauert, mit Pausen. Warum sollten die Jahre von 1917 bis 1953 schwerer wiegen als eine vergleichbare Zeitspanne fünf Jahrhunderte zuvor? Einfach deswegen, weil unsere Zeit wichtiger, weil uns näher, ist? Zweitens hat auch schon der vormoderne heilige Baldachin Europas systematisch Krisen erzeugt, gerade weil es ein christlicher Baldachin war, unter dessen Schutz Kritik an der Welt geübt wurde. Noch vor der sogenannten Krise von Kirche und Staat, die Papst Gregor VII. im späten 11. Jahrhundert ins Rollen brachte, wurde aus der Sphäre des Religiösen regelmäßig Kritik an der Ordnung der diesseitigen Welt laut. Sie richtete sich zumeist gegen Amtsinhaber, das heißt gegen einzelne Herrscher in Kirche und Staat. Aber es gab auch, wenngleich seltener, Angriffe auf die Existenzgrundlagen der Institutionen. Macht war göttlich und zugleich des Teufels.13

Ein anderes Erklärungsmodell für die Gewalt der Moderne geht ebenfalls von einer belasteten Beziehung zur Wahrheit aus, diesmal aber nicht seitens der zeitgenössischen Demokratien, sondern seitens ihrer Feinde. In seinem insgesamt überaus gründlichen Buch Fanaticism behauptet Alberto Toscano, dass „der Fanatismus des 20. Jahrhunderts … im Gegensatz zu den von der Aufklärung diagnostizierten religiösen Fanatismen … kein Fanatismus der Gewissheit ist“, sondern immer nur auf Verdacht sich gründe. Und ebendiese Instabilität führe zur Gewalt. Toscano bezieht sich hier auf den französischen Philosophen Alain Badiou und sein Buch Le siècle, wo es heißt: „Wir sind im Reich des Verdachts, wenn uns ein formales Kriterium fehlt, um Sein und Schein unterscheiden zu können.“ Toscano kommentiert: „Das erklärt den autophobischen und autophagischen Charakter der modernen Militanz, denn der Verdacht schreibt vor, dass wir auch dort, wo eine Überzeugung höchst real erscheint, nach Verrat und Falschheit fahnden müssen.“14 Tatsächlich sind die Moskauer Prozesse von 1938 in dieser Hinsicht überaus angstbesetzt, denn die Sieger befürchteten die Existenz von Verrätern bis tief in die Reihen der Revolutionäre hinein und die Opfer zweifelten an der Identität ihres revolutionären Selbst. Auch die Rote Armee Fraktion glaubte, dass sich der faschistische Imperialismus immer hinter geeigneten „Charaktermasken“ verberge, seien es „Nixon und Brandt, Mosche Dayan oder Genscher, Golda Meir oder McGovern“, eine „Galerie von Charaktermasken“, zu denen der Imperialismus auch die „Regierungen der Länder der Dritten Welt“ gesellte.15

Aber auch hier schwächt ein Mangel an tieferem Wissen über frühere Jahrhunderte die Vergleichskomponente der Argumentation. Auch des Teufels Fähigkeit, falsche Kirchen zu erschaffen (was zum Beispiel in der Kontroverse um die Donatisten von beiden Seiten ins Feld geführt wurde), Hexen aufzubieten, die von Heiligen fast nicht zu unterscheiden waren, und in den Reihen der Auserwählten für Abtrünnige zu sorgen (wie es Raimund von Aguilers und Ekkehard von Aura im Hinblick auf den ersten Kreuzzug annahmen), deutet auf das Fehlen eines „formalen Kriteriums“ zur Unterscheidung von Sein und Schein hin. Wenn der für die säkulare Moderne bezeichnende axiomatische „cartesianische“ Zweifel und ihr fehlender Glaube an die „Wahrheit“ pathogen sind, säte der christliche axiomatische Glaube an den Teufel und seine Ränke systematisch Zweifel. Satan war von Anbeginn ein Betrüger gewesen, und der Antichrist würde es am Zeitenende sein. Macht stammte entweder von Gott oder von seinem Gegenspieler.16 Zwei von den Helden des Raimund von Aguilers, Bischof Adhemar und Peter Bartholomäus, hatten, wie der Chronist selbst, manchen Zweifel an der Heiligen Lanze – der im Falle des Prälaten erst in der Hölle überwunden wurde. Natürlich könnten wir psychoanalytische Verfahren, wie Toscano sie für die „moderne Militanz“ benutzt, auch auf Raimund und Petrus anwenden, die buchstäblich von der Vernichtung hartnäckiger Zweifler in den Reihen der Kreuzfahrer träumten. Dieser Ansatz würde eine doppelte Projektion ihrer Zweifel beinhalten: zuerst auf die glaubensschwachen Brüder und dann auf Außenseiter, auf die infideles – die, im Sinne des Wortes – „glaubensleer sind“. Gemäß dieser Analyse würde Raimunds und Petrus’ deutlicher Wunsch, Muslime abzuschlachten, aus solcher Projektion sich herleiten. Aber wir haben die Grenzen ähnlicher Methoden, insbesondere hinsichtlich des Antisemitismus, im Kapitel über den Wahnsinn erörtert. Hier geht es vielmehr darum, dass die von Toscano und Badiou vorgelegte Analyse der Besonderheit fanatischer Gewalt in der Moderne nicht überzeugt.17

Vereinfachend sind auch Positionen, die von jähen Transformationen in der westlichen Einstellung gegenüber Veränderung, dem Wesen des Politischen und des Handelns ausgehen.18 Erstens wird behauptet, die Gewalt der Moderne sei zukunftsorientiert und ziele auf eine radikale Veränderung der soziopolitischen Ordnung, während ihr vormodernes Pendant vergangenheitsorientiert gewesen sei und, dementsprechend konservativ, nur die Wiederherstellung eines gewesenen Goldenen Zeitalters angestrebt habe. Zweitens habe die vormoderne religiöse Gewalt die religiöse Reform, nicht die Erneuerung des Politischen im Auge gehabt. Drittens sei für die Moderne der Mensch das Subjekt der Geschichte, was bedeutet, dass er sich selbstbewusst als derjenige begreift, der Veränderung bewirkt. So heißt es bei Karl Marx: Die Geschichte „ist nichts als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen“.19 Dagegen sei, so die landläufige Auffassung, für das frühere Zeitalter ein allmächtiger Gott das Subjekt der Geschichte gewesen und der Mensch in seinem Tun unfrei. Im Folgenden werden verschiedene Forschungsmeinungen als Grundlage zur Erörterung dieser Axiome dienen. Wie so häufig wird ein Kompromiss näher an der Wirklichkeit liegen, doch sollen auf diesen Seiten die Ähnlichkeiten zwischen Vormoderne und Moderne kompromisslos herausgearbeitet werden. Glanz und Freude des Kompromisses überlasse ich anderen.

Charles Townshends Terrorism: A Very Short Introduction erkennt die sprachlichen Gemeinsamkeiten zwischen der revolutionären Terreur des aufklärerischen Zeitalters auf der einen Seite und den Kreuzzügen sowie dem chiliastischen heiligen Krieg auf der anderen. Das Buch berücksichtigt auch die kulturell bestimmten Grenzen der Dichotomien heilig/säkular sowie Kirche/Staat. Aber es wird schwammig, wenn es die vorherrschende Auffassung diskutiert, wonach es dem vormodernen religiösen Terror nicht um soziopolitische Veränderung geht, während der Terror der Moderne gerade deren Möglichkeit annimmt:

„Die Praktiker religiöser Gewalt scheinen nicht von dieser Annahme [dass sie Veränderung bewirkt] auszugehen. Zwar waren zum Beispiel die Assassinen mit gesellschaftlicher Veränderung befasst – mit der Abkehr der Gesellschaft von früheren Maßstäben religiöser Observanz –, doch ging es ihnen nicht darum, Menschen durch direktes Handeln zu bekehren. Vielmehr legten sie Zeugenschaft ab vor Gott, in einer bilateralen Beziehung, die die übrige Welt ausschloss.“20

Die Experten werden uns sagen, ob das tatsächlich für diese mittelalterliche schiitische Sekte zutrifft, aber es gilt ganz sicher nicht für Märtyrertum und Terror der Christen. Deren Märtyrertum war kaum jemals in der Weise bilateral, dass es nur den Heiligen und Gott umfasste; es wandte sich an eine Gemeinschaft (die der Nichtgläubigen oder die der Christen oder beide). Wie in den Schlussbemerkungen zu Kapitel IV ausgeführt, gab es zwei einander nicht ausschließende Arten von Märtyrern. Die eine wollte Außenseiter bekehren, die andere war mehr auf die Ingroup bezogen. Durch sein öffentliches Sterben stellte der Märtyrer des ersten Typs die nichtgläubigen Zuschauer vor eine Wahl: Sie konnten zum wahren Christentum übertreten oder im Irrtum verharren und den ewigen Tod erdulden.21 Der Märtyrer des zweiten Typs wollte das Verhalten seiner Gemeinschaft in die richtige Richtung lenken. So forderte der Sterbende laut einem Passionsbericht die Rückkehr von Abtrünnigen und Häretikern in die Gemeinde, verlangte von den Frauen Keuschheit, von den Geistlichen Einigkeit und Einmütigkeit ohne Streitereien, und von den Gemeindemitgliedern Respekt für die Priester.22

Townshend schwächt die Dichotomie dahingehend ab, dass der vormoderne religiöse Terrorist durchaus den (wenngleich nicht immer besonders starken) Wunsch haben kann, seine Umwelt zu verändern. Schmuel Eisenstadt ist da entschiedener: In ihrem Umfang haben die vom modernen Fanatiker intendierten Veränderungen seiner Meinung nach kein vormodernes Äquivalent. Eisenstadt verortet den entscheidenden Unterschied zwischen den protofundamentalistischen Bewegungen der Vormoderne und den fundamentalistischen Bewegungen der Moderne in der für letztere charakteristischen „starken Betonung der Rekonstruktion von Staat, Gesellschaft und Individuum durch politische Mittel und politisches Handeln“. Dieses Handeln findet in der politischen Arena statt.23 In seinem maßgebenden enzyklopädischen Beitrag konstatiert auch Gerd van der Heuvel einen Bruch in der Haltung zur Gewalt, den er mit der französischen Terreur ansetzt. Die Revolutionäre rechtfertigten die Gewalt unter Verweis auf das Naturrecht, was im Vergleich mit den älteren Theorien des Tyrannenmords, die die Hinrichtung eines Herrschers gestatteten, insofern neu war, als nun nicht mehr der Herrscher allein betroffen war. Vielmehr wurde „die ganze Sphäre von Staat, Politik und Gesellschaft im Sinne der radikalen und universalistischen Philosophie der Aufklärung … mit der Hilfe von Terror durch die Einschüchterung oder Vernichtung des politischen Gegners neu gestaltet“.24

Wie Townshend, der oben wegen einer Kleinigkeit kritisiert wurde, treffend bemerkt, eignen sich unsere im 20. Jahrhundert zur Vorherrschaft gelangten dichotomischen Kategorien – Kirche/Staat und Religion/Politik – nicht, um eine im Namen Gottes verübte Gewalt angemessen zu begreifen. Und wie dieser Essay ausgeführt hat, ist die neuere säkulare Gewalt besser zu verstehen, wenn man heuristisch so vorgeht, dass man ihre Ideologie in religiöse Termini zurückübersetzt. Mithin laufen auf die Gegenwart spezialisierte Forscher einerseits Gefahr, frühere Gewaltausübung im Namen Gottes misszuverstehen, während sie andererseits nicht immer sehen, wie frühere Gewaltausprägungen für die Analyse ihrer aktuellen Pendants fruchtbar gemacht werden können. Diese Unangemessenheit kann mit Beispielen aus den mittelalterlichen Kreuzzügen und den französischen Religionskriegen belegt werden.

Die aus dem 13. Jahrhundert stammende Chanson de la croisade albigeoise (Gesang vom albigensischen Kreuzzug) schildert die Eroberung der katharischen Festung Termes und „wie Jesus Christus dort Seine Macht offenbarte“; parallel dazu befasst sie sich mit der Reform der Grafschaft Toulouse. Reformanliegen sind unter anderem das Ende von Wucher und Zollerhebung, die Entlassung von Söldnern, die Rückerstattung von Recht und Besitz an die Geistlichkeit und die dem Grafen und seinen Vasallen auferlegten Bußen bei Speise und Kleidung.25 Im selben Jahrhundert setzte, wie wir sahen, Jean d’Abbeville die Gefangenschaft des irdischen Jerusalem mit der der Kirche gleich, die durch die Laster eines Teils der Geistlichkeit und durch die Ausbeutung der Armen versklavt war. Dagegen half nur die Unterdrückung der Laster; der heilige Krieg war eo ipso mit dem Krieg gegen soziale Laster und also mit einem Programm der Erneuerung verbunden.26 In den Kreuzzügen, so Jonathan Riley-Smith, „entstammte die geheiligte Gewalt immer der Überzeugung, dass Christi Wünsche für die Menschheit mit einem politischen System oder einem Verlauf politischer Ereignisse in dieser Welt verbunden waren“.27 Das erstaunliche Gedicht Fides cum idololatria aus dem 12. Jahrhundert zum Beispiel forderte die absolute Gleichheit von Arm und Reich.28

Wie die päpstliche Revolution des 11. Jahrhunderts vermengten die Hussiten vier Jahrhunderte später Forderungen aus jenen beiden Sphären, die wir jetzt als getrennte Bereiche des „Religiösen“ und des „Soziopolitischen“ unterscheiden. So heißt es im letzten der Vier Prager Artikel: „Wir stehen ein für die Reinigung von allen öffentlichen Todsünden und ihre Beendigung, zu leisten von einem jeden in eigener Person, und für die Säuberung des böhmischen Königreiches und Volks von falscher und böser Verleumdung, und in diesem Zusammenhang für das Gemeinwohl unseres Landes.“29

Die Hussiten hielten es nicht für unpassend, moralische und kirchliche Reformen mit der Behebung soziopolitischer Missstände zu verbinden. Und die radikaleren Taboriten versuchten schon bald, in Prag ganz besondere soziale Maßnahmen durchzusetzen, deren Grundton František Šmahel zu Recht mit den Heeresverordnungen ihres Hauptmanns Jan Žižka vergleicht.30 Zumindest gelegentlich drohten die Hussiten all jenen, die sich diesem Programm widersetzen würden, Krieg und Zwang an. Der Landtag von Čáslav (Tschaslau) verkündete, dass diejenigen „Personen oder Gemeinden“, die sich der eben erreichten Übereinkunft und den Vier Prager Artikeln, dazu einer provisorischen Regierung von zwanzig Hauptmännern zur Verwaltung und Führung des böhmischen Königreichs „nicht anschließen wollten“, als Feinde betrachtet und dazu gezwungen würden.31 Etwas weiter im Westen waren sämtliche am Hundertjährigen Krieg beteiligten Parteien – Engländer, Armagnaken und Burgunder – nicht bereit, einen Frieden ohne eine (und sei es rudimentäre) Vision der Erneuerung von Gesellschaft und Politik ins Auge zu fassen.32

Ein Jahrhundert später vermischten Calvinisten und Katholiken fortwährend Themen, die in der Moderne den Kategorien des Religiösen oder des Politischen zugewiesen worden wären. Für die Katholiken soll dies ein Lied zeigen, das dem Prediger der Heiligen Liga, Jean Boucher, zugeschrieben wird. Es wäre, heißt es darin, abscheulich, die Liga aufzulösen, mit Häretikern zu verkehren, mit Heiden Frieden zu schließen, einem häretischen König zu dienen, den Handel mit (kirchlichen) Pfründen und mit (königlichen) Ämtern zu dulden, in Rechtsangelegenheiten den Sieg nicht der Gerechtigkeit, sondern von Beziehungen zu erleben, Verbrechern Straffreiheit zu gewähren, neue Steuern und die „Verderbnis aller Stände“ zu gestatten. Passivität war für den Autor des Liedes verdammenswert, und Toleranz ein inakzeptabler, perverser Friedensschluss mit dem äußersten Bösen; man verhielt sich damit „neutral zwischen Gott und dem Teufel“. Der Refrain war eine begeisterte Aufforderung zum Märtyrertum: „Sus, sus, faites-moy donc mourir! Il n’est que de mourir martyr“ (Kommt, kommt! und [wenn es so ist,] macht, dass ich sterbe! Am besten stirbt’s sich als Märtyrer).33 Boucher forderte ein Märtyrertum zugunsten eines Programms, in dem sich die Reform der Kirche mit der des Staates verband. Und er war damals, um 1589/90, nicht der Einzige. In diesem Augenblick einer tiefen Krise gedachte die ultrakatholische Heilige Liga ihrer Märtyrer: der beiden Guisen und des gerechten Mörders Jacques Clément, und rief zum Handeln auf in Worten, die den religiösen wie den weltlichen Bereich umspannten: Der Kampf gegen den König und seine Anhänger sollte „Gottes Ehre“ bewahren, galt aber auch dem „Frieden“ und der „Verteidigung“ Frankreichs.34 Auch ein einem Gedenkporträt der beiden ermordeten Brüder, der Guisen, beigegebenes Gedicht vereinte Kirche und Gemeinwohl: „Sie starben für Jesus Christus und die Allgemeinheit und werden ewig leben.“35 Ein Jahr später verkündeten die Ligisten, dass ihr Märtyrer, der Tyrannenmörder Clément, König Heinrich III. „ohne Todesfurcht“ umgebracht habe, um „Kirche und Volk in Freiheit zu setzen“.36 Ein paar Jahre zuvor hatte eine Flugschrift die guten Katholiken zum Handeln aufgerufen, und zwar gleichermaßen zur „Bewahrung der Ehre Gottes“ und der Einheit des Glaubens gegen Häresien, zu „Verteidigung, Schutz und Förderung“ des Königreichs und, schließlich, für die „allgemeine Ruhe aller guten und loyalen Untertanen, Diener Gottes und des Königs“. Pazifistisch gemeint war das nicht; vielmehr fragte der Text, ob es nicht angemessen sei, „die grausamsten Demütigungen und skandalösesten Grausamkeiten zu rächen, von denen man je in diesem Königreich gehört habe? Denn haben sie nicht so viele und so schreckliche Gotteslästerungen, Entweihungen, Befleckung, Morde, Plünderungen, Räubereien, Banditenuntaten, Beutezüge, Vergewaltigungen und Entjungferungen von Gott geweihten Jungfrauen und viele andere unmenschliche Taten begangen?“ Es ging um Vergeltung. Unter Verweis auf das vertraute sechste Kapitel der Offenbarung schloss die Flugschrift mit der Aufforderung: „Seht zu, dass das Blut der Gerechten und Unschuldigen, der Ermordeten und den Märtyrertod Gestorbenen mit lauter Stimme zu Gott schreit.“37

Auch aus dem calvinistischen Lager kamen Forderungen nach religiöser und zugleich soziopolitischer Erneuerung, die mit Blut zu besiegeln war. Ein Text, der 1563 in Lyon erschien, rief nach Reform und bestätigte zugleich Tertullians Diktum, dass das Blut der Märtyrer die Pflanzstätte (pépinière) der Kirche sei. Der Text wandte sich gegen erzbischöfliche Korruption, „Götzenanbetung und Verfolgung“ (aber nicht gegen die Verfolgung der Wiedertäufer und Gotteslästerer; sie waren vielmehr zu bestrafen), gegen katholische „Prunksucht“ und „Exzesse“, gegen den Schacher mit Rechtsprechung und Ämtern. Gefordert wurde die Rückkehr zur alten Praxis, für ein Amt „die besseren Männer auszuwählen, solche, die Gott fürchten und die Gier hassen“. So war es in den Anordnungen der Könige alter Zeiten und auch von der Schrift vorgesehen.38

Der Lyoner Text von 1563 berief sich insbesondere auf Moses, der „tüchtige Leute, die Gott fürchten, wahrhaftig sind und Habgier hassen“ zu Vorstehern und Richtern für geringere Fälle erwählte (2 Mose 18, 13–26). In dieser Passage schlägt Jethro, Moses Schwiegervater, dem Gesetzgeber und Propheten vor, dieser solle sich auf Angelegenheiten des Kults und der Moral, also auf Angelegenheiten Gottes, konzentrieren. Mithin erkannte die biblische Kultur die Existenz unterschiedlicher Sphären an, zog aber auch in Betracht, dass „politische“ Sachverhalte wie die Rechtsprechung mehr oder weniger direkt der Befehlsgewalt und Kontrolle der „Religion“ unterstanden. So jedenfalls lautete der Tenor des Pentateuchs. Er regelte den Gottesdienst, die Moral und das Rechtswesen und entwarf sogar etliche Modelle für die Organisation des Politischen. Auf diese Weise war die synagoga eine Kirche und ein politisches Gemeinwesen, ganz wie später für die meisten christlichen Gruppen die ecclesia, deren Präfiguration die Synagoge gewesen war. Hauptsächlicher Streitpunkt zwischen Konfessionen und Exegeten war die Frage, was genau durch die Fleischwerdung Gottes aufgehoben war, was auch unter dem neuen Gesetz bindend blieb und was ohne Sünde nachgeahmt werden durfte (und tatsächlich nützlich sein konnte). Erinnern wir uns daran, dass die Wiedertäufer das Argument vorbrachten, mit der ersten Ankunft Christi sei alles, was das Alte Testament im Hinblick auf „Schwert und Krieg und Regierung“ erlaubt habe, hinfällig geworden.39 Der Dominikaner Thomas von Aquin, der Gelehrte mit dem größten Einfluss auf den Katholizismus des 16. Jahrhunderts, ist hier maßgebend – nicht für die Lösungen, von denen es mehrere gab, aber für den begrifflichen Rahmen der Debatte.

Gemäß den Ausführungen des Thomas von Aquin in der Summa Theologiae (II.I. q. 99, a. 4) enthielt das Alte Testament drei Arten von Vorschriften: moralische (welche Prinzipien aufführen, die wesentlich im Naturrecht enthalten sind), zeremonielle (bei denen es um den Gottesdienst und die Beziehung der Menschen zu Gott geht) und juristische (welche die für Menschen gültigen Rechtsprinzipien formulieren). Thomas von Aquin ging (wie die meisten Theoretiker der verschiedenen christlichen Konfessionen) davon aus, dass die zeremoniellen Vorschriften mit der Fleischwerdung des göttlichen Wortes hinfällig geworden waren und ihre typologische Rolle als „Vorahnungen des kommenden Christus“ vorüber war. Die Rechtsvorschriften befassten sich mit der Beziehung des Volkes zu seinen Herrschern, mit Geschäften und Händeln zwischen Bürgern einer Gemeinschaft (wie etwa Kauf und Verkauf, Rechtsprechung, Bestrafung), mit Beziehungen zu Auswärtigen inklusive Krieg und Gastfreundschaft und mit häuslichen Angelegenheiten wie Heirat, Kinder, Dienerschaft (Summa II.I., q. 104, a. 4). Gott hatte sie formuliert, um die „Verhältnisse (status) jenes Volkes“ (der Juden) zu regeln, das für Christus bestimmt war. Insoweit die entstehende Kirche Nichtjuden zusammen mit jenen Juden, die in Christus ihren Erlöser erkannten, aufgenommen hatte, veränderte sich dieser status (Summa II.I., q. 104, a. 3), folglich waren die Rechtsvorschriften im neuen Bund nicht länger verpflichtend. Im Hinblick darauf könnte Thomas das ganz ähnliche Argument von Origenes, geäußert in seiner Schrift Gegen Celsus, gekannt haben: Nach Christi Ankunft forderte und ermöglichte die Ausweitung der ecclesia auf die Nichtjuden, in Verbindung mit der Existenz des Römischen Reichs, den Pazifismus, während der Pazifismus (und die Ablehnung aller Formen gerichtlichen Zwangs) unter dem alten Bund die Vernichtung der jüdischen politeia bedeutet hätte.40 Aber es sei, fährt Thomas fort, für Christen keine Sünde, eine Rechtsvorschrift aus dem Alten Testament zu bewahren (solange es nicht geschehe, um dem alten Gesetz Genüge zu tun, was als „Judaisierung“ eine Häresie wäre). Eine solche Vorschrift könne von einem christlichen Gemeinwesen übernommen werden, wenn und wo die Umstände dieser Gemeinschaft (insofern sie sich auf die Vorschrift beziehen lassen) jenen ähneln, in denen die Juden sich im alten Bund befanden.

Die Einzelheiten von Thomas’ Argumentation spielen für unsere Diskussion keine Rolle, auch wenn hervorzuheben ist, dass Calvin und die Calvinisten sich an seiner Dreiteilung und der flexiblen Haltung hinsichtlich der Übernahme alttestamentarischer Rechtsvorschriften orientierten.41 Hier geht es vielmehr um die in christlichen Sekten, Konfessionen und Denominationen weitverbreitete Präsenz von Konzepten, in denen religiöse Institutionen und Normen für das Gemeinwohl (wie immer es im Einzelnen bestimmt sein mag) verantwortlich sind. In Übereinstimmung damit zielte die vormoderne religiöse Gewalt auf eine Wiederherstellung jener Bindungen, die für das Gemeinwohl der ecclesia als der Gemeinschaft gläubiger Menschen von Bedeutung waren. Wenn man also davon ausgeht, dass mittelalterliche und frühneuzeitliche Gewalt nicht die Erschaffung gänzlich neuer Verhältnisse intendierte, ist ihre Bezeichnung als wesentlich „religiös“ unangemessen (gemäß der modernen, laizistischen Definition von Religion, die ihr jegliche soziale und politische Dimension abspricht).

Das Subjekt der Geschichte

Paradoxerweise ist gerade das Handeln – die dritte Dimension in der Konfrontation zwischen Moderne und Vormoderne – ein Fall, in dem eine klischeehafte, oberflächliche Bekanntheit mit der Theologie das Verständnis des Historikers für vormoderne Mentalitäten schwächt und, mehr noch, ihn in die Irre führt. Wenn es um das Handeln geht, sind die Grenzen zwischen Vormoderne und Moderne alles andere als deutlich, und zwar weder mit Blick auf die fernere Vergangenheit noch auf uns nähere Zeiten. Die Vereinigten Staaten bewahren immer noch viele Charakterzüge des alten Europa, darunter die Vorstellung von einem doppelten Subjekt der Geschichte: Mensch und Gott. In den 1770er Jahren mochte Gott die treibende Kraft der Geschichte sein, aber auch der revolutionäre Kampf gehörte zu seinen auserwählten Mitteln. In einem Gedicht über die Gründung von Zion – im neuen Zeitalter waren das die aufständischen Kolonien – forderte ein Geistlicher die Menschen zum Handeln auf:

„Dass niemand wohl mein Thema mir verleide!

Zion steht fest, doch müssen wir uns wehren,

Wenn uns der Feind bedrängt mit einer Flut von Speeren:

Verflucht sei, wer sein Schwert lässt in der Scheide.“42

Die letzte Zeile ist eine Anspielung auf Jeremia 48, 10, übrigens auch der Lieblingsvers Papst Gregors VII. aus den Büchern der Propheten. Dagegen bleibt in zeitgenössischen amerikanischen Darstellungen des endzeitlichen Kampfes die Spannung zwischen menschlichem Handeln und Gottes eisenharter Weltlenkung erhalten. In der äußerst populären Reihe Left Behind sind diejenigen, die dem Antichrist Widerstand leisten, zwar entschlossen, ihn zu töten, ermahnen sich aber zugleich, dass sie sich „davor hüten müssen, Gott bei der Erfüllung seiner Versprechen gleichsam helfen zu wollen“.43

Wenn aber die Sache schon in dieser zeitlichen Nähe unklar ist, wie steht es dann um die fernere Vergangenheit? Die Menschen des Mittelalters, so wurde oft behauptet, waren nicht in der Lage, sich als Subjekt der Geschichte zu begreifen.44 Das scheint auf der Hand zu liegen, denn was sollten Ausdrücke wie „so Gott will“ (Deo volente) oder „mit Gottes Hilfe“ (Deo adiuvante) sonst bedeuten? Wie frei können Menschen in einer theologischen Kultur sein, die so häufig von der Vorsehung und der Vorrangigkeit des göttlichen Willens ausgeht? Oder, bezogen auf das Thema dieses Essays: Inwiefern können Menschen das Subjekt von Gewalt sein? Um diese Frage zu beantworten, gibt es eine geeignete Methode: Man geht in der Zeit rückwärts und hält nach einer Genealogie für die Vorstellung vom Menschen als Handelndem Ausschau.

Für viele Historiker und Soziologen bilden das 16. und 17. Jahrhundert die Schwelle zur Moderne. Es ist also sinnvoll, mit der Untersuchung dort zu beginnen und die konfessionellen Konflikte sowie die Englische Revolution ins Auge zu fassen. Denis Crouzets Rekonstruktion der französischen Religionskriege stellt gegenüber der französischen Annales-Schule der 1970er und 1980er Jahre insofern einen bemerkenswerten methodologischen Fortschritt dar, als Crouzet die Religion, und damit religiöse Kräfte und Ursachen, sehr ernst nimmt. Er hat den Menschen wiederentdeckt, dessen Triebkräfte – Ehrgeiz oder Enttäuschung – nicht einfach in religiöse Formen drapiert werden, sondern der in aller Aufrichtigkeit religiöse Szenarien durchlebt, deren Drehbuch die heiligen Schriften und astrologische Prophezeiungen vorgaben.45 Allerdings besteht eine implizite methodologische Spannung zwischen diesem äußerst reduzierten Handlungsverständnis und dem, was Crouzet ebenfalls dokumentiert und hervorhebt (besonders wenn er die Lehre von der Verstellung erörtert): die Raffinesse hochgestellter politischer Persönlichkeiten, wenn sie einen Aufstand oder mörderische Unterdrückung planten. Kurz nach dem Massaker der Bartholomäusnacht schrieb der jesuitische Subprior des Collège de Clermont in Paris an den Abt von Sankt Gallen: „Alle preisen einmütig die Voraussicht und Großmütigkeit des Königs; nachdem er die Häretiker mit Wohlwollen und Toleranz (gewissermaßen) wie Hausvieh gemästet hatte, ließ er seine Soldaten plötzlich ihre Kehlen durchschneiden.“46 Arnaud Sorbin, des Königs Hofprediger, stieß ins gleiche Horn: Karl IX. habe genau gewusst, wie man Dinge verbarg, die Gott und dem Volk nutzen konnten. Man müsse „seine äußere Kälte, die das Feuer in seinem Herzen“ verbarg, einfach bewundern. Tatsächlich konnten fromme Fürsten in der frühen Neuzeit in einer Art von umgekehrtem Machiavellismus eine religiöse Agenda sehr gut hinter machtpolitischen Vorwänden verstecken.47 Indem Frankreichs heilige Krieger im 16. Jahrhundert die heiligen Schriften „lebten“, waren sie auch selbstbewusst Handelnde, die von den Mitmenschen ebenfalls Handeln verlangten. So viel jedenfalls geht aus einem hugenottischen Aufruf zu den Waffen hervor, der im Frühjahr 1562 verfasst wurde, nachdem Herzog Franz von Guise in Vassy drei Dutzend Calvinisten massakriert hatte:

„I: Diese göttliche Vorsehung/Die durch Ihre Macht/die Welt und all ihre Bürger regiert/bedient sich vieler Mittel. In all diesen Dingen, die man Sie tun sieht,/nimmt Sie Hilfe und Beistand/von menschlichen Handlangern (instruments) an./Also erflehen die Menschen, die Sie verehren/Ihren Beistand ganz umsonst,/wenn sie sich ihrer eignen Hände nicht bedienen wollen.

II: Gelöbnisse, Wünsche, Klagen,/Begehren, fromme Gebete/und selbst der Glaube können nicht immer/von Gott erhalten, was erfleht wird:/Oftmals ist es notwendig,/ihnen unsere Bemühungen hinzuzufügen,/wenn wir unsere Pläne vollenden wollen …

III: …/Nichts nutzloser/als [dies:] ein saumseliger Mensch,/der auf dem Beistand seiner vergeblichen Hoffnung ausruht/und nicht voller Freude/die Mittel nutzt, die Gott ihm gibt,/um Seinen Willen zu verwirklichen/…

IV: …/Wir seufzen und klagen umsonst,/rufen in Tränen Gott an, erheben gemeinsam die Hände gen Himmel/und weinen wie die Weibischen:/Die Bösen werden ihre Massaker ausführen,/und Gott schickt, sie zurückzuschlagen,/keine Schwadron bewaffneter Engel [vgl. Mt 26, 53] …

V: Doch wenn wir aufhören, vergeblich zu weinen,/nehmen wir starke Waffen in die Hand,/und wenn wir auf Gott/mehr Hoffnung setzen als auf unsere Macht,/wird Er uns mit Seiner Gnade bewaffnen,/um die Tollkühnen weit zurückzuschlagen,/die es wagen, uns anzugreifen,/und um der Kirche eine so lange/Atempause zu verschaffen,/dass diese niemals aufhört.“48

Man könnte versucht sein, diese Idee menschlicher Vorsehung und also menschlichen Handelns – eine Idee, die calvinistische Geistliche zur Zeit des Unabhängigkeitskriegs nach Amerika brachten – auf die frühneuzeitlichen Konfessionskriege zu übertragen.49 Doch dagegen sprechen zwei Erwägungen. Zunächst einmal sind die Argumente in diesem vermeintlich modernen Aufruf zum Handeln in religiöse Sprache gefasst und theologisch unterfüttert. Christliche Konzeptionen ließen dem menschlichen Subjekt durchaus Freiraum: So verfasste am Vorabend des Englischen Bürgerkriegs (1642–1651) der spätere „Königsmörder“ John Cook (der 1660 hingerichtet wurde) eine weitschweifige Flugschrift mit dem ebenso langatmigen Titel Die Monarchie, kein Geschöpf Gottes etc., worin durch die Schrift und durch Vernunft bewiesen wird, dass eine monarchische Regierung gegen den Geist Gottes ist, und dass die Hinrichtung des verstorbenen Königs eines der fettesten Opfer war, die Königin Justitia jemals dargebracht wurden. Cook behauptete (unter Zuhilfenahme von Jesaja und der Offenbarung), in seiner Zeit Zeuge eines „gerechten Krieges“ zu sein, den Gott gegen das Böse führte. Warnend wies er darauf hin, dass in diesem Krieg die Guten die Pflicht hätten, tatsächlich zu kämpfen: „Es ist ein Irrtum zu meinen, dass die Macht des Antichrist nicht durch das weltliche Schwert vernichtet werden muss, und [dieser Irrtum] wird nur von denen aufrechterhalten, die die ganze Schrift in Allegorie verwandeln.“ Aus diesem Grund schätzte er die polnischen Adligen, die sich beim Glaubensbekenntnis erhoben, um zu zeigen, dass sie „gegen allen Widerstand für ihre Religion kämpfen“ wollten.50 Auch andere Puritaner (jedoch nicht alle)51 befürworteten direktes Handeln. Während der 1647 geführten Putney Debates vertrat ein anderer Königsmörder, William Goffe, die Ansicht, dass die Vernichtung des Antichrist in Glaubenssachen mit großen Umgestaltungen in den politischen Angelegenheiten einhergehen müsse, weil das „Geheimnis der Ungleichheit“ mit den „Interessen der Staaten eng verwoben“ sei. Diese Reformarbeit werde von Jesus Christus zusammen mit „einer Gemeinschaft von Heiligen … die auserwählt und berufen und gläubig sind [vgl. Offb 17, 14]“ ins Werk gesetzt. Goffe, der nach der Cromwell-Episode in die amerikanischen Kolonien floh, beteuerte zwar, es sei „unter den Heiligen umstritten, inwieweit sie das Schwert gebrauchen sollten“, wies aber auf Episoden in der Vergangenheit hin, in denen „Gott sich ihrer für diese Arbeit bedient hat“.52 Und im Freundeskreis des eingekerkerten John Rogers, der zu den Fifth Monarchy Men gehörte, hieß es einem an Cromwells Sekretär John Thurloe geschickten Spitzelbericht zufolge, „dass wir nicht in einem Zeitalter leben, Wunder zu erwarten; dass Babylon nicht zerstört und der Heilige [Rogers] nicht aus Windsor befreit werden kann nur durch Glauben und Gebet; man muss Mut beweisen und zu materiellen Gerätschaften (instruments) greifen und mit Gewalt vorgehen; wenn zum Beispiel (sagte er) dieses Haus in Lambeth niedergerissen werden soll, muss man mit Werkzeug daran gehen und nicht erwarten, dass es durch den Glauben oder das Gebet zusammenfällt.“53 Auf der anderen Seite des Atlantiks, im puritanischen Neuengland, verkündete etwa zeitgleich John Cotton seiner Gemeinde, indem er Offenbarung 11, 15 kommentierte, dass sie, „da sie das Königreich Christi seien, die Pflicht hätten, gegen alle [heidnischen] Völker vorzugehen und alle zu unterdrücken, die schwächer seien als sie selbst“. Hier ging es nicht um dematerialisierten spirituellen Krieg, oder zumindest nicht nur darum: Ein Jahrzehnt später drückte Cotton Oliver Cromwell (dessen Kämpfe alles andere als nur allegorisch oder moralisch waren) seine Befriedigung darüber aus, dass der Lord Protector die Schlachten des Herrn ausgefochten hatte.54

Solche Ansichten waren im Jahrhundert zuvor, auf Seiten der Reformierten in den Religionskriegen, weit verbreitet gewesen. Der Radikalreformer Thomas Müntzer übte, wie Cook nach ihm, harsche Kritik an denen, die da behaupteten, dass das Schwert rein allegorisch zu verstehen sei: „Unser Gelerten … sagen … mit ihrer gottlosen, gestolenen Weise, das der Widerchrist soll an Hand (ohne Gewaltanwendung) vorstöret werden“. Im Gegenteil aber haben die Auserwählten „das [Gelobte] Lant nicht durch das Schwert gewonnen, sonder durch die Kraft Gottis, aber das Schwert war das Mittel, wie uns essen und trinken ein Mittel ist zu leben“. Müntzer wendet sich in seiner Fürstenpredigt ironisch gegen die allzu Friedfertigen: „Gebt uns keine schale Fratzen (Possen) vor, das die Kraft Gottis es tun sol an eur Zutun des Schwerts, es möchte euch sunst in der Scheiden vorrusten (verrosten)“.55 Ein Jahrzehnt später trieb Bernhard Rothmann, ein Theologe der Wiedertäuferbewegung, seine Glaubensbrüder von Münster mit diesen Worten zum Handeln an:

„Eth meinen wallische ethlicke vnde wachten genslick darvp, dat Godt sulven mit synen Engelen van de hemmel kommen sal vnde wreken de godtlosen. Neen, leven broeder, he vil kommen, dat is war, oeverst de wrake moeten Gades Knechte voer erst vithrichten vnde den godtlosen, vngerechten recht vergelden, als em Godt bevallen hefft. Got wyl dar tho myt synen volcke weßenn, wyl em iserene hoerne vnde ernene klawen (vgl. Mic 4, 13) tegen oere fyande bereiden, dan kort vmme, de wy den Heeren [sic] verbunden syn, wy moethen syn wercktuich (Werkzeuge) syn vnde den godtlosen in den dage, den de her woert maken, angripen.“56

Dass theologisch für das menschliche Handeln argumentiert wurde, mag an sich nicht der stärkste Einwand gegen die vermeintliche Verbindung zwischen der Modernität und der Herausbildung des Menschen als Subjekt der Geschichte sein. Schließlich muss das Neue aus dem Alten erwachsen und dessen Sprache sprechen, um sich erklären und sich seiner selbst versichern zu können. Michael Walzer hat das Ausmaß menschlichen Handelns im puritanischen Denken unterstrichen, aber dies der Moderne zugeschrieben, auch wenn das Lehrbuch für diesen Aktivismus die biblische Erzählung vom Exodus war.57 Mithin – und hier folgt die zweite Erwägung – könnte ein stärkeres Argument in dem Hinweis bestehen, dass dieser moderne Aktivismus seine Vorläufer hatte. Gehen wir weiter in die Vergangenheit zurück, begegnen bereits ein Jahrhundert früher, mit Johanna von Orléans, Apologien für menschliches Handeln. Anfang 1429 waren Karl VII., der Thronanwärter aus dem Haus Valois, und sein Hof von dem plötzlichen Auftreten dieser jungen Frau überrascht. Sie behauptete, von Gott gesandt zu sein, um Frankreich von den Engländern zu befreien. Die moderne, säkular orientierte Geschichtsschreibung bietet eine einfache Erklärung für das überraschende Auftreten der Jungfrau. Sie betrat die Bühne nach einem Jahrhundert des Kriegs, in dem die Engländer, deren königliche Linie sich von Isabella, der Tochter Philipps des Schönen, herleitete, die Anhänger der rivalisierenden Dynastie, die von Philipps Bruder, Karl von Valois, abstammte, mehr als einmal besiegt hatten. Der Hundertjährige Krieg war von den üblichen traurigen Begleiterscheinungen geprägt – Plünderungen, Morde und Vergewaltigungen, unter denen die Zivilbevölkerung zu leiden hatte. Diese lang andauernde Krise hatte schon vor Johanna Propheten und Visionäre auf den Plan gerufen.58

Wir also können uns Johanna erklären, doch ihren Zeitgenossen war sie nicht so transparent. Sie fragten sich, ob es sich bei dieser heiligen Kriegerin nicht um einen Schwindel handeln könnte. In Poitiers nahmen besorgte Theologen aus Karls Gefolge Johanna ins Kreuzverhör. Brauchte Gott, um Frankreich zu retten, einen Menschen, der handelte? „Du versicherst uns, dass dir eine Stimme sagte, es sei Gottes Wille, das französische Volk zu befreien. … Doch wenn Gott diese Befreiung will, bedarf es dazu keiner Soldaten.“ Johanna antwortete: „In Gottes Namen: Bewaffnete (gens d’armes) werden kämpfen, und Gott wird für den Sieg sorgen.“59 Dem Dominikaner Guillaume Aimeri gefiel ihre Antwort, anderen aber nicht. Die pazifistische Komponente der christlichen Dialektik von Krieg und Frieden setzte auf göttliches, nicht menschliches Handeln. Konnte Gott dafür garantieren, dass er Johanna gesandt hatte, indem er ihr einen Kriegserfolg sicherte? Wäre der Entsatz von Orléans, den Johanna als Beweis für ihren göttlichen Auftrag anführte, ein eindeutiges Zeichen? Dem Einwand, der Herr könne selbst handeln, um Frankreich zu retten, hielt Jacques Gélu (gest. 1432) entgegen, dass es verboten sei, ihn zu versuchen. Die Menschen sollten nicht Gott um ein Wunder bitten, wenn sie selbst die Sache in die Hand nehmen könnten. Natürlich, erklärte Gélu, müssten die Menschen, wenn Gott eingreife, mit ihm zusammenarbeiten, weil sie, wie Paulus im ersten Korintherbrief (3, 9) betont, „Gottes Mitarbeiter“ (lat. coadjutores, griech. synergoi) seien. Das aber, so erläuterte Gélu in seinem Traktat, bedeute umfassende und kluge militärische Maßnahmen für einen gottgewollten gerechten Krieg.60

Gélu hat diese Ideen nicht eigens erfunden und mit autoritativen Bibelstellen unterfüttert, weil er sich gezwungen sah, Johannas Eingreifen für Karl von Valois zu rechtfertigen. Schon im 13. Jahrhundert hatte die biblische Exegese die Vorstellung entwickelt, dass ein Herrscher Gott versuchte, wenn er sich ausschließlich auf ihn verließ und keine Maßnahmen ergriff, die menschliche Klugheit oder Voraussicht (providentia) ihm nahelegten. So lautete insbesondere das Mantra des im Spätmittelalter meistgelesenen Bibelkommentators, des Franziskaners Nikolaus von Lyra. Er war ein Freund der Valois-Dynastie und ein Befürworter starker königlicher Macht. Der König musste seine Voraussicht beweisen, indem er plante und zur Kriegsvorbereitung ein Heer auf die Beine stellte und Festungen erbaute.61

Wie so oft rufen im Zusammenhang mit dem ersten Kreuzzug entstandene Texte diese Vorstellungen in ihrer vollen, blutigen Bedeutung ins Bewusstsein, drei Jahrhunderte vor Bischof Gélu.62 Erinnern wir uns an die im zweiten Kapitel analysierte Predigt, von der Baldric von Dol (vielleicht nur aus seiner Phantasie) berichtete, sie sei 1099 direkt vor dem Angriff auf Jerusalem gehalten worden. Die Predigt schloss mit einem eindringlichen Appell: „Handelt also, legt mit Zuversicht eure Waffen an und stürmt mit Zuversicht diese Stadt, ihr Helfershelfer Gottes (coadjutores Dei).“63 Die Predigt spiegelt hiermit, was damals ein Gemeinplatz gewesen sein muss. Jedenfalls teilte Baldric, der am Zug nicht teilnahm, mit dem Kreuzritter Raimund von Aguilers diese Auffassung vom menschlichen Handeln. Die letzte Schlacht des ersten Kreuzzugs wurde nach der Eroberung Jerusalems am 12. August 1099 bei Askalon gegen ein fatimidisches Heer gefochten. Wie Jay Rubinstein gezeigt hat, war die apokalyptische Aufladung der Ausdrucksweise immer noch hoch. Die Christen nannten Kairo, die Hauptstadt der Fatimiden, „Babylon“; was seit der Frühzeit der christlichen Exegese die Stadt des Antichrist bezeichnete. In Erinnerung an die Stimmung der Kreuzritter vor dem Kampf bezog sich Raimund auf dieselbe Passage aus Paulus’ erstem Korintherbrief: „Wir wollten, dass Er in unserer Sache unser Verteidiger ist, und [wir wollten] in Seiner Sache Seine Helfer sein (in nostra parte defensorem et in sua adiutores illi esse voluimus).“64 Die frühmittelalterliche Legende vom letzten Kaiser, die den Kreuzrittern wohlbekannt gewesen sein dürfte, wies implizit dem christlichen heiligen Krieger eine Rolle als Subjekt der Geschichte zu: Ein christliches Heer werde die letzten Tage einläuten und es werde nicht besonders barmherzig sein.65

In einer Überlieferungsvariante von Raimunds Liber findet sich eine lange, an die Ritter Christi gerichtete Predigt, die mit grausiger Freude und Antisemitismus die Jerusalemer Massaker vom 15. bis 18. Juli 1099 feierte und dabei ebenfalls das Thema vom christlichen Heer aufgriff. Die Predigt erinnerte die Zuhörer daran, dass Gott seine Rache an den Muslimen hätte verüben können, indem er mehr als zwölf Legionen Engel zusammengerufen hätte. Raimund verweist dabei, wie der calvinistische Aufruf von 1562, auf Matthäus 26, 53: Jesus tadelt Petrus, weil dieser sein Schwert gezogen hat, um den Erlöser zu verteidigen: „Denkst du, dass ich nicht meinen Vater bitten könnte, auf dass er mir sofort mehr als zwölf Legionen Engel schickt?“ Aber Gott, so heißt es bei Raimund weiter, „hat, um euch zu ehren, entschieden, durch euch [das Heer der Kreuzritter] das zu vollbringen, was Er durch [die Macht der Engel] zu vollbringen sich weigerte“.66

Ein paar Jahrzehnte später erklärte Bernhard von Clairvaux die Idee der Zusammenarbeit mit Gott theologisch: Gott gewähre „in Güte dem Menschen dort die Verdienste, wo Er ihn in Gnaden durch Ihn und mit Ihm etwas Gutes wirken lässt“. Die Menschen seien durch Konsens und freien Willen miteinander dem göttlichen Willen verbunden; eine Erklärung, die Bernhard militärische Bilder in die Feder fließen ließ: Gott „gebraucht die Engel und die Menschen guten Willens wie (tamquam) Seine Mitstreiter (commilitones) und Mithelfer (coadiutores), die Er nach der Erringung des Sieges aufs reichste beschenken wird“.67 Eine geänderte Sichtweise, die bei dem bemerkenswertesten Parteigänger der Templer, dieser Synthese aus Mönchen und Rittern, aus spiritueller und physischer Kriegführung, wohl nicht überraschen dürfte.

Im 13. Jahrhundert wurde die Idee einer Zusammenarbeit mit Gott im heiligen Krieg, wie Jakob von Vitrys Kreuzzugspredigt zeigt, zum Gemeinplatz: „Ihr müsst euch sorgfältig merken, dass Gott zwar Sein Land selbst mit einem Worte befreien könnte, Er aber Seine Knechte ehren und bei der Befreiung Gefährten haben möchte. Damit gibt er euch die Möglichkeit, eure Seelen zu retten, die Er erlöste, und für die Er Sein Blut vergoss und die Er also nicht verlieren will.“68

Die militante Passion Raynalds von Châtillon, Fürsten von Antiochia (ca. 1187/89) führte die Idee zum Äußersten. Weil Rainald sich prinzipiell nicht an Waffenstillstandsvereinbarungen hielt, löste er Saladins Angriff auf das Königreich Jerusalem und die Niederlage der Kreuzzugsheere bei Hattin aus (1187). Er wurde dann vom Anführer der Muslime höchstselbst enthauptet. Peter von Blois beschloss seinen hagiographischen Text mit einer Rechtfertigung der Schwertmission, jener Mischung aus Kreuzfahrer- und Missionstätigkeit:

„Selbst wenn sie [die Heiden] mit einem zum Bösen gewendeten Willen den Gott schuldigen Dienst verächtlich machen, muss man sie, ob sie wollen oder nicht, zwingen, dem Lebendigen Gott zu dienen. Ich halte dafür, dass diese Art von Zwang Gott insofern am besten gefällt, als Er die Errettung von Menschen bewirkt. Fördern wir Gottes Willen mit allem, was in unserer Macht steht; wir sind in der Tat ‚Gottes Helfer‘. Wie wir beten, dass Gottes Reich kommen möge, so sollten wir durch die Tat (actualiter) dafür sorgen, dass Sein Reich sich ausbreitet, dass die Heiden mit eiserner Rute Ihm unterworfen werden, und dass diejenigen, die es nicht freiwillig betreten wollen, mit Gewalt zum Königreich geschleift werden. Über diese Gewalt spricht der Herr durch den Mund des Propheten [Hes 20, 33]: ‚Ich werde über euch herrschen mit starker Hand und ausgestrecktem Arm und Meinem Zorn und euch in die Bande Meines Bundes zwingen.‘“69

Paulus’ Wort von den Helfern oder Helfershelfern oder Mitarbeitern (συνεργοί, sunergoi) Gottes hatte sich ursprünglich auf die Missionsarbeit bezogen, doch sollte man über seine Bedeutungsausweitung auf den heiligen Krieg und den Kreuzzug nicht erstaunt sein. Benjamin Kedar hat gezeigt, dass, im Widerspruch zu unseren Vorannahmen, Kreuzzug und Mission keine Gegensätze bildeten. In der Geschichte Karls des Großen und Rolands des Pseudo-Turpin gibt es eine Episode, deren bildliche Darstellung sich auch im Charlemagne-Fenster der Kathedrale zu Chartres wiederfindet: Roland kämpft gegen den sarazenischen Riesen Farragut (oder Ferracutus); während einer Kampfpause erläutert der Paladin seinem Gegner in einer Predigt Schritt für Schritt (es handelt sich um eine disputatio) die schwierigen Punkte der christlichen Lehre. Am Ende tötet er ihn als Beweis für die Wahrheit seiner Predigt.70

Zu ebenjener Zeit, als der Mensch in gewisser Weise das Subjekt der Geschichte sein konnte, war diese immer noch Gottes Geschichte. Der Kreuzzug war genau jener von Gott gesandte Augenblick, in dem zugleich Gottes Wille und seine Wahl der Auserkorenen sich auf der Erde und in der Geschichte verwirklichten. Es ging darum, auf der Tenne der Leiden die Auserwählten unter den Kreuzrittern von den Nicht-Auserwählten zu sondern. Um es provokativer zu formulieren: Menschliches Handeln trat in Erscheinung, wenn es um die Sache Gottes ging, insbesondere also, wenn Christen im heiligen Krieg für die causa Dei kämpften. In den epochalen Momenten der durch göttliche Vorsehung bestimmten Geschichte waren es Menschen, die, durch göttliche Gnade, heilige Rache übten. Das war die paradoxe Möglichkeit, wie Gott bei außerordentlichen Anlässen seinen grundsätzlich machtlosen Geschöpfen verdienstvoll zu sein vergönnte.71 Predigten zur Kreuzerhöhung formulierten es ähnlich. Kaiser Heraklius war die Gnade zuteil geworden, durch einen Krieg das wahre Kreuz, die siegbringende Reliquie par excellence, zurückzugewinnen. Siegbringend war sie, weil sie, zu ihrer und des christlichen Herrschers Erhöhung, im Krieg hatte erbeutet werden können. Vergleichbare Gedanken bewegten den Zisterzienser Heinrich von Marcy, Kardinalbischof von Albano, als er über die Niederlage bei Hattin und den Verlust des Heiligen Kreuzes an Sultan Saladin grübelte:

„Diese Ereignisse trugen sich nicht zu, weil Mohammed sie vollbringen konnte, sondern weil Christus sie wollte. Er wollte den Christen eine Gelegenheit geben, für den Ruhm ihres Herrn zu eifern, eine dem Vater zugefügte Verletzung zu rächen und ihr [der Christen] Erbe zu verteidigen. Wisst indes, dass dies die [für den Herrn] günstige Zeit ist, wenn jene, die die Prüfung bestanden haben, geoffenbart werden, da der Herr prüfen wird, wer zu den Seinen gehört, wer an Ihn glaubt und wer ungläubig ist, wer zu den falschen und wer zu Seinen [wahren] Söhnen gehört.“72

Die Erbeutung des Kreuzes durch die Muslime im Jahr 1187 gehörte zu einer Kette von Verlusten und glorreichen Wiedereroberungen – durch Helena, Heraklius, Karl den Großen und die ersten Kreuzritter. In besonderen Momenten der Heilsgeschichte waren Gott und der Mensch der Vormoderne im Handeln einander verbunden. Auch wenn es uns unerfreulich erscheinen mag, fand dieses menschliche Handeln auf zwei Feldern statt: Mission und heiliger Krieg. Aber auch in der Moderne ist das Göttliche nicht hinter dem Menschen verschwunden. Marx, der darauf bestand, dass Geschichte von Menschen gemacht wird, konnte die Geschichte immer noch als Richter und das Proletariat als Urteilsvollstrecker bezeichnen.73

Gottes souveräner Wille manifestierte sich in wundersamen Ausnahmen von seiner gewöhnlichen Weltlenkung. Er zeigte sich, wenn Gott den Kreuzrittern gestattete, seine Arbeit zu tun, selbst wenn die Menschen, wie hoch sie gesellschaftlich auch stehen mochten, im Grunde machtlos waren verglichen mit dem göttlichen Subjekt der Geschichte; er zeigte sich (wie wir in Kapitel V sahen), wenn Gott gewöhnlichen Christen seine Pläne auszuführen gestattete, ungeachtet der Existenz der Obrigkeit im Römerbrief (Kapitel 13). In den Schilderungen solcher Ausnahmemomente haftet diesen stets etwas Erhabenes an.74

Das Erhabene

In diesem irdischen Jerusalem fließen Ströme von Blut,

da das Volk des Irrtums untergeht!

O Jerusalem!

Und das Pflaster des Tempels ist gerötet vom Blut der Sterbenden.

O Jerusalem!

Sie müssen ins Höllenfeuer; wir sind gesegnet und frohlocken,

da die Übeltäter untergehen.

O Jerusalem!

Die Schuld des Eindringlings ist erwiesen, und die vertriebenen Juden

trauern, weil Christus, weil Gott nun die Stadt hält.

O Jerusalem!

Ruhm sei der Höhle, von wo der Löwe auferstand, erweckt von Gott!75

Dieser grässliche Gesang folgt unmittelbar auf die soeben erörterte Kreuzzugspredigt, die verkündete, Gott habe die Ritter den himmlischen Heerscharen vorgezogen. Seine Ästhetik von Blut und Tod führt uns zu einer zweiten Facette, die von der Theologie erhellt werden kann: Es geht um Terror und Schönheit in der heiligen Gewalt – anders gesagt, um das Erhabene.

Das Erhabene des ersten Kreuzzugs

Mit jener ethischen Asymmetrie, die die westeuropäische Kultur zumindest bis zur Aufklärung prägte, wurden dem Horror unterschiedliche Wertigkeiten zugewiesen, je nachdem, ob die Kreuzritter oder ihre Feinde seine Quelle waren. Vor dem Hintergrund mittelalterlicher Mentalitäten ist diese Asymmetrie sinnvoll – so ist es zum Beispiel richtig, den Feind aus dem Hinterhalt anzugreifen, umgekehrt jedoch handelt es sich um Verrat. Diese Asymmetrie war darüber hinaus auch theologisch motiviert. Wie Jay Rubenstein kürzlich erhellte, berichten die meisten Chroniken des ersten Kreuzzugs, dass das hungernde christliche Heer kurz nach (oder während) der Eroberung von Ma’arrat al-Nu’man in Syrien Kannibalismus verübte.76 Hierbei war, so sei hier behauptet, zumindest für einen direkten Beobachter etwas Erhabenes im Spiel. Ihm schien der Kannibalismus jedenfalls keine geplante Taktik, anders – wenn wir Ademar von Chabannes (gest. 1034) Glauben schenken wollen – als während des Feldzugs, den Roger von Tosny, ein Normanne, um 1020 in Spanien führte. Der normannische Adlige hatte an hingerichteten sarazenischen Gefangenen Kannibalismus vorgetäuscht, und als diese „monströse“ Geschichte sich verbreitete, geschah es, dass die spanischen Muslime „ihren Mut verloren“, „die Gräfin Ermesende von Barcelona um Frieden baten“ und „die Zahlung eines jährlichen Tributs versprachen“. Der Chronist Ademar klang fast amüsiert,77 während Fulcher von Chartres um 1104 zwar kein Augenzeuge war, die Episode von Ma’arrat aber mit „großem Erschrecken“ (dicere perhorreo) erzählt.78

Man konnte den Schrecken als Bestandteil der Vorsehung verstehen. Raimund von Aguilers, im Gegensatz zu Fulcher ein Augenzeuge, berichtet von zwei Folgen dieses Vorfalls. Erstens stürzte er einige fränkische Kreuzritter in die Verzweiflung, die daraufhin die Expedition (iter) verließen. Zweitens gelangten die Muslime zu der Auffassung, die Franken seien „halsstarrig und blutrünstig“, und nahmen an, dass es Kannibalismus und „andere äußerst blutrünstige Praktiken bei uns gab“. Bezeichnenderweise fügt Raimund hinzu: „Gott hatte allen Heiden Furcht vor uns eingeflößt, aber wir wussten es nicht.“ Genauer betrachtet handelte es sich bei dieser Furcht um Ehrfurcht, wie ein umfangreicheres Zitat verdeutlicht:

„Unterdessen gab es im Heer so große Hungersnot, dass das [gewöhnliche] Volk mit großer Gier viele Leichen von Sarazenen verzehrte, die bereits am Verwesen waren und schon zwei Wochen oder länger im Morast jener Stadt gelegen hatten. Diese Taten erschreckten (terrebant) viele zutiefst, Menschen unseres Volks und Fremde. Um derentwillen wandten sich viele der Unsrigen von uns ab, weil sie die Hoffnung verloren hatten, vom Volk der Franken Hilfe für unsere Reise zu erhalten. Doch die Sarazenen und Türken sagten: ‚Wer kann diesem Volk widerstehen, das so halsstarrig und blutrünstig ist, dass weder Hunger noch das Schwert noch sonstige Gefahren es von der jahrelangen Belagerung Antiochias abhalten konnten, und das sich nun von Menschenfleisch ernährt?‘ Die Heiden meinten damit, dass es diese Praktiken bei uns gab und noch andere äußerst blutrünstige gegen sie [ausgeübt] würden. Denn Gott hatte allen Heidenvölkern Furcht (timor) vor uns eingeflößt [vgl. 2 Mose 23, 27], aber wir wussten es nicht.“79

Erstens also schlug Gott die Muslime durch den Kannibalismus mit Furcht, eine Furcht, die umso mehr göttlichen Ursprungs war, als die Kreuzritter sie nicht geplant hatten. Zweitens reinigte der Kannibalismus das christliche Heer von allen Lauen, also von jener Gruppe „feiger Männer, die, unbrauchbar für den Krieg, uns verlassen haben“. Raimund von Aguilers hat sie im Vorwort seines Liber als Abtrünnige geschmäht, und sie sind in der Vision von den fünf Wunden Christi (siehe Kapitel IV) für die Vernichtung bestimmt.80 Während Jay Rubenstein darin zuzustimmen ist, dass viele Chronisten (wie etwa Fulcher) für den Kannibalismus der Kreuzritter Unbehagen empfanden, hatte Raimund kaum Bedenken. Gott hatte Kannibalismus gewollt, und er diente seinen Zwecken: Das Heilige Land wurde vom „Heidentum“ und Christi Heer von den Lauen gereinigt.81 Die Episode wurde von zwei Wundern begleitet. Das erste war eine von den vielen Visionen, die Peter Bartholomäus zuteil wurden: Im Lichte der früheren göttlichen Gunsterweise vor Antiochia wurden die Laster der Kreuzritter gerügt, wurde „Gerechtigkeit“ im Heer gefordert und die dank Gottes Gnade bevorstehende Übergabe von Ma’arrat an das christliche Heer angekündigt. Um diese Botschaft zu übermitteln, waren dem Petrus Bartholomäus Andreas und Petrus erschienen, anfänglich in der ärmlichen Kleidung, in der sie das Martyrium erlitten hatten, bis sie ihre Schönheit als Märtyrer enthüllten. Der Visionär war zutiefst erschrocken (perterritus), und ihm brach der Schweiß aus.82 In Ma’arrat wurde der Kannibalismus von einem anderen Akt der Überschreitung begleitet, der ein weiteres Wunder darstellte. Der Marsch gen Jerusalem war von Verzögerungen behindert worden, die aus Zwistigkeiten unter den Fürsten über den Besitz von Städten und Festungen, insbesondere Antiochias, erwuchsen. Auch wegen Ma’arrat gab es Streit. Die gemeinen Soldaten gerieten in Wut und schleiften, um den Weitermarsch nach Jerusalem zu erzwingen, gegen den ausdrücklichen Willen der Fürsten und Bischöfe die Mauern der Stadt, wobei sie übermenschliche Kräfte entwickelten: Ein ausgehungerter Krieger konnte von der Mauer aus Steine schleudern, „die drei oder vier Ochsengespanne kaum hätten ziehen können“. In diesem Moment begriff Raymund von Saint-Gilles (seinem Kaplan Raimund von Aguilers zufolge), dass, weil die Armen nicht aufzuhalten waren, eine göttliche Kraft wirken musste. Er folgte den Wünschen der Armen.83

Die naheliegende Erklärung des Historikers dürfte darauf hinauslaufen, dass der Kannibalismus die schlichte Folge der schrecklichen Bedingungen für ein riesiges Heer ohne Vorräte war. Doch theologisch gesehen war er auch ein ein furchtbares Element in einem ehrfuchtgebietenden Zyklus von Auserwähltheit, Sünde, Mühsal und göttlicher Erlösung, einem Zyklus, der seinen Höhepunkt in Jerusalem in den Tagen vom 15. bis 18. Juli 1099 in den Geschehnissen von Sieg und Massaker fand.

Die erhabene Bedeutungsschwere des Schreckens wurde, und hierin liegt die erwähnte Asymmetrie, der Gegenseite, den Muslimen, verweigert. Auf dem Marsch nach Jerusalem durchlebten die Kreuzfahrer ihr eigenes Narrativ aus Belagerungen und Hunger, während ihnen die Rache des Erlösers (vindictas salvatoris) im Kopf herumging, eine legendenhafte Überlieferung, die auf dem Jüdischen Krieg des Flavius Josephus beruhte und mindestens seit dem 9. Jahrhundert im Westen verbreitet war. In dieser Geschichte bildete ein Akt des Kannibalismus den symbolischen Schlussstein für Israels Niederlage im Jahre 70 n. Chr. durch Titus.84 Die geheiligte Geschichte der Juden, die aus Zyklen von Auserwähltheit, Versagen und Erlösung bestand, war durch den Gottesmord definitiv beendet worden. Die Bestrafung bestand in der römischen Belagerung und Eroberung Jerusalems, die ihren Höhepunkt in der Zerstörung des Tempels fand. Der Hunger hatte die Verteidiger der Stadt so mitgenommen, dass eine Frau ihr Neugeborenes briet und das Fleisch dann mit den Soldaten, die dem Bratenduft gefolgt waren, teilte.85 Diese Tat enthielt nichts Positives, vielmehr war in der Texttradition der Rache des Erlösers die durch den Kannibalismus der Besiegten hervorgerufene Ehrfurcht nicht die des Auserwähltseins, sondern der zornerfüllten Verdammnis. Und um 1099 waren die Juden, die Mörder des fleischgewordenen Gottes, ein Typos für den Feind, der jetzt das irdische Jerusalem besetzt hielt und seine Bildnisse auslöschte – für die Muslime. Raimund hatte, schon bevor er über den Kannibalismus von Ma’arrat berichtete, auf die Rache angespielt: In Antiochia eingekeilt zwischen einer noch von den Muslimen gehaltenen Zitadelle und Kerboghas Entsatzheer, waren die Kreuzfahrer von einer übernatürlichen Vision zum Kampf ermahnt worden, wollten sie nicht in der Stadt gefangen bleiben, „bis sie einander aufäßen“. Aber die Botschaft hatte sie ihrer Auserwähltheit versichert: „Wisset sicher, dass die Tage gekommen sind, die der Herr der gesegneten Maria und Seinen Aposteln versprochen hat, die Tage, da Er das Königreich der Christen errichtet und das Königreich der Heiden stürzt und mit den Füßen zertritt.“ Nein, das christliche Heer würde nicht gegessen werden, sondern selbst essen. Raimund von Aguilers begriff die Kreuzfahrer wahrscheinlich im Licht der Offenbarung des Johannes. Sie waren die Vögel (oder vielleicht ein Typos für die Vögel), die der Engel „zum großen Mahl Gottes“ ruft, wo sie sich sättigen am „Fleisch der Könige und der Hauptleute, am Fleisch der Mächtigen und der Pferde und derer, die darauf reiten, und am Fleisch aller Freien und Knechte, und am Fleisch der Kleinen und der Großen“ (vgl. Offb 19, 17–21).86 Der Schrecken wirkte sich für die Auserwählten positiv aus und führte zur Verdammnis für die Vorverurteilten. Erinnern wir uns daran, dass der Geruch des versengten Fleisches des Märtyrers Laurentius die Nüstern der Heiden „mit dem Schrecken der Rache erfüllte“, während die Christen davon „erfreut und besänftigt“ wurden.87

Auch die Massaker wurden von den Chronisten auf gegensätzliche Weise bewertet. Die Weissagungen des Alten Testaments beschrieben für Babylon und Jerusalem im Wesentlichen die gleichen Formen von massenhaften Tötungen, aber mit unterschiedlicher Wertigkeit. In Bezug auf Babylon handelte es sich um eine gute Säuberung, bei der die Missetaten der Heiden gegen die Auserwählten gerächt wurden; in Bezug auf Jerusalem war es eine gottgewollte Strafe und Reinigung seines Volkes, die den Übeltätern jedoch keinerlei Verdienste bescherte. Das Jerusalemer Massaker vom Juli 1099 bildete, mehr noch als der Kannibalismus, ein Zeichen für Gottes ehrfurchtgebietende Präsenz. Die Beschreibungen davon und ihr Tenor haben moderne Interpreten daran zweifeln lassen, dass das Massaker so intensiv war wie von den zeitgenössischen Chronisten dargestellt.88 Norman Housley hat sich gefragt, „warum die Kreuzfahrer selbst so roh frohlockten über das, was sie getan hatten“. Sein Erklärungsversuch lief darauf hinaus, dass die Kreuzfahrer wussten, was die Christen daheim in Europa erwarteten, nämlich eine „radikale Enteignung der Verunreiniger“. Mithin „war es am besten zu behaupten, dies sei geschehen, um die Fortsetzung der notwendigen militärischen Unterstützung zu sichern“.89 Der Militärhistoriker John France geht davon aus, dass tatsächlich ein gewaltiges Massaker stattgefunden hat, schreibt dessen Intensität aber nicht religiösem Eifer, sondern den enormen Belastungen eines langwierigen, an Entbehrungen und Rückschlägen reichen Heereszuges zu. Verglichen mit anderen Kriegsgräueln des 11. Jahrhunderts sei das Massaker in Jerusalem nicht außergewöhnlich gewesen.90 Wieder ein anderer Forscher – Kaspar Elm, der damit womöglich der Wahrheit näher gekommen ist – hat behauptet, dass die Chronisten das Massaker übertrieben, weil dieser Krieg der Krieg Gottes war. Folglich malten sie ein Bild von dem Blutvergießen in den furchteinflößenden Farben der „literarischen Tradition“, die von Altem Testament, Flavius Josephus’ Jüdischem Krieg und ähnlichen Quellen gebildet wurde. Elm schreibt: Raimund von Aguilers bemühte sich, „die theologische Relevanz der von ihm miterlebten und geschilderten Ereignisse deutlich zu machen und im Lichte der Heiligen Schrift zu sehen“.91 Aber diese Erklärungen überzeugen nicht. Erstens könnte man, wie es Benjamin Kedar vorgeschlagen hat, von Elms Hypothese ausgehend noch einen Schritt weitergehen und annehmen, dass die Kreuzfahrer selbst die theologische Vorlage in Handlung umsetzten.92

Das rohe Frohlocken der Kreuzfahrer spielte sich nicht einfach nur auf den Blättern der Chroniken ab, sondern in der Wirklichkeit. Sie frohlockten über die Massaker, weil es genau das war, was die Psalmen und die prophetischen Bücher der Bibel den heiligen Kriegern vorschrieben. Fünfhundert Jahre später sollte ein Jesuit angesichts des blutigen Massakers an den Calvinisten in der Bartholomäusnacht auf ähnliche Weise vor Schrecken und Freude erschauern. Es war eine horrenda tragedia, bei der man nicht allzu lange verweilen sollte. Dennoch beschrieb dieser Jesuit, Joachim Opser, der spätere Fürstabt von Sankt Gallen (1577–1594), das, was „die christliche Welt in höchstes Staunen versetzt“ und, mehr noch, „auf die Gipfel der Freude geführt“ hatte: „Ungeheures Massaker! Meine Seele erschauerte (horruit) beim Anblick dieses Flusses, angefüllt mit den nackten Leichen der Getöteten mit schändlich verwundeten Körpern.“93 Katholische Verzückung und Verrenkungen à la Caravaggio, doch präsent im vorbarocken Mittelalter! Und schließlich war, um gegen John France zu argumentieren, das Vorgehen der Kreuzfahrer in Jerusalem 1099 nicht die gewöhnliche Plünderung einer gewöhnlichen Stadt.94 Wie soll man erklären, dass die Kreuzfahrer ihre Gegner manchmal mit einfachen Mitteln rasch töteten, manchmal unter Anwendung komplexer Foltermethoden? Waren Steinigungen etwa die schnellste und wirksamste Methode für ein Massaker?95 Wie damit umgehen, dass die Kreuzfahrer Frauen und Kinder abschlachteten und dabei bisweilen die Köpfe der Kleinen gegen die Mauern schmetterten?96 Wie das Schweigen über Vergewaltigungen in den christlichen Quellen bis hin zu der Chanson d’Antioche aus dem 12. Jahrhundert erklären? In diesem Gedicht geht die Vergewaltigung „der schönen Heidenfrauen“ auf das Konto der grotesken, wilden und pöbelhaften Tafuren. Der Dichter bemerkt mit Abscheu, dass dies Verhalten „Jesus, dem König des Paradieses, schwer zu schaffen machte“.97

In Jerusalem wurde auf sexuelle Gewalt verzichtet, so wie sie wohl schon während des ganzen Kreuzzugs Missbilligung fand. Fulcher von Chartres zufolge töteten die Kreuzfahrer nach dem Sieg über Kerbogha vor Antiocha bei der Plünderung des türkischen Lagers „die Frauen, die sie in den Zelten vorfanden“. Später überarbeitete Fulcher diese Passage, um klarzustellen, dass „die Franken den Frauen, die sie in den Zelten vorfanden, nichts weiter Böses taten, außer dass sie ihre Bäuche mit Lanzen durchstießen“ (wahrscheinlich eine Übernahme aus 4 Mose 25, wo Pinehas die heidnische „Metze“ durch einen Stich in den Schoß tötet).98 Was Jerusalem betrifft, so lassen jüdische Briefe, die in der Geniza von Kairo gefunden wurden, recht deutlich erkennen, dass die Europäer (hebräisch Ashkenas) die Juden in der Synagoge verbrannten, aber die jüdischen Frauen nicht vergewaltigten („im Gegensatz zu anderen“, das heißt den Muslimen, möglicherweise gelegentlich der Wiedereroberung Jerusalems von den Türken durch die ägyptischen Fatimiden im August 1098 nach einer vierzigtägigen Belagerung).99 Man sollte hier hervorheben, dass religiöse Erwägungen – die Ablehnung sexueller Beschmutzung – die normalen Triebe des Kriegers bändigten. Eine sehr viel frühere westgotische Quelle drückt es so aus: „Denkt daran, das Urteil durch den Kampf steht bevor; wäre es da erfreulich, wenn jemand Hurerei treibt (libet animam fornicari)?“100

Die Vergewaltigung wurde also aus dem Skript getilgt, nicht aber andere grausame biblische Vorbilder. Die jüdischen Briefe aus der Geniza bestätigen Raimund von Aguilers: Die Kreuzfahrer folterten einige ihrer Gefangenen, gewiss keine effiziente Methode für ein Massaker.101 Ein Gutteil des christlichen Heeres lebte ein biblisches Vergeltungsszenario aus. Die brutale Tötung von Kindern, Kinderschädel, die gegen eine Mauer oder einen Stein geschmettert wurden, entsprachen der Heiligen Schrift. Beide Varianten beziehen sich auf Babylon; da ist zum einen Jesaja 13, 16 (es geht dort um die Plünderung dieser Hauptstadt der Chaldäer durch die Meder): „Es sollen auch ihre Kinder vor ihren Augen zerschmettert werden“, zum anderen Psalm 136/137, 9: „Wohl dem, der deine [Babylons] jungen Kinder nimmt und zerschmettert sie an dem Stein.“ Ohne Martin Aurell zu nahe treten zu wollen: Albert von Aachen, der den Umfang des Blutvergießens und die grausamen Kindstötungen hervorhob, hat sich davon nicht distanziert. Die Kreuzfahrer „durchbohrten mit dem Schwert die Frauen, die sich in die turmgeschmückten Paläste und Häuser geflüchtet hatten, rissen Säuglinge vom Schoß ihrer Mütter oder aus der Wiege, schmetterten sie gegen die Wände oder Türstürze und brachen ihnen so das Genick“. Ein letzter Akt des Massakers beinhaltete Steinigungen, ebenfalls keine besonders effiziente Tötungsmethode.102 Ein Gedicht, das den Heereszug feiert, der sich 1087 von Pisa aus gegen das muslimische Mahdia in Nordafrika richtete, beschrieb ebensolche Vorgehensweisen.103 Ein weiteres Gedicht, das schwer zu datieren ist, angesichts der darin gesetzten Akzente aber nach dem ersten Kreuzzug entstanden sein könnte, verströmt vergleichbar faulige Düfte. Es fordert dazu auf, das irregeleitete Heidentum zu bekehren – doch sollte die Bekehrung durch Gottes Wirken im Krieg geschehen, ausgeführt durch Schwerter von „gesegneter Grausamkeit“. Wie in der chiliastischen Vorstellung des Kreises um Raimund von Aguilers war das Ziel der Eroberung (die von „den Reichen im Bunde mit den Armen“ durchgeführt werden sollte) die soziale Gleichheit: „Die Letzten werden die Ersten sein, und die Ersten die Letzten; vielleicht waren sie unterschiedlich berufen, aber sie werden gleichen Lohn erhalten … Es wird hier keine Großen über den Niederen geben, keine Armen verglichen mit den Reichen; niemand wird eines anderen Gegner sein, und für Scham und Schande ist kein Platz.“104 Rein zufällig (?) gehörte zu diesem Rachefeldzug auch das Zerschmettern von Schädeln:

„Wie der Prophet bezeugt,

Du verderbte Tochter Babylons,

Ist gesegnet, wer deine Kleinen

Gegen den Stein schmettert.

Jetzt wirst du, Hauptstadt von Chaldäa,

Vergeltung zahlen für deine uralten Verbrechen.“105

Einige Jahrhunderte später folgten die Massaker der Bartholomäusnacht von 1572 demselben Leitstern. Die Pariser Katholiken lebten Jesajas Prophezeiung über das heidnische Babylon in ihrer Gegenwart gegen die häretischen Calvinisten aus. Die Übertragung war unproblematisch, denn die Worte des Propheten waren durch ihre mystische Interpretation geprägt. Hieronymus hatte Jesaja 13, 17–18 wie folgt kommentiert:

„[Ich werde gegen sie sich erheben lassen die Meder, die kein Silber suchen noch Gold begehren, aber die ihre Kleinen mit Pfeilen töten werden und auch nicht verschonen, die (noch) im Mutterschoß Milch saugen] … Möge Gott uns die Kraft geben, nicht das Silber und das Gold der Beredsamkeit und der weltlichen Weisheit zu begehren, sondern mit spirituellen Pfeilen (das heißt, mit den Zeugnissen der Heiligen Schrift) die Sünden der Häretiker und all jener, die getäuscht wurden, zu töten. Und dass wir diejenigen, die von der Milch des Irrtums genährt wurden, gnadenlos abschlachten, auf dass sie durch milde Grausamkeit sterben. Und dass wir keinem Kind oder Säugling gnädig sind, sondern würdig der nachfolgenden Schönheit. ‚Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und sie zerschmettert an dem Stein‘ [vgl. Ps 136/137, 9]“.106

Allerdings hatte die kirchenväterliche Exegese der realen, buchstäblich verstandenen Gewalt nicht die Zähne gezogen. In Paris setzten die ultrakatholischen Eiferer den Buchstaben in die Tat um: Es war ein „grausamer Tag“, ein „Tag des Zorns und des Grimms“ (Jes 13, 9), verübt von einer „Kriegsmiliz von starken Männern“, Gottes „Geheiligten“, die „frohlocken in seiner Herrlichkeit“ (Jes 13, 3–4), wenn Häuser geplündert, Frauen vergewaltigt (was die französischen heiligen Krieger vermieden) und Kinder vor den Augen ihrer Eltern zerschmettert werden, auch Säuglinge und Föten (Jes 13, 16, 18). Wer (auf der Straße) angetroffen werde, solle erschlagen werden, und wer zu Hilfe eile, durch das Schwert fallen (Jes 13, 15). Zeugnisse aus unterschiedlichen Quellen berichten insbesondere von der Abschlachtung von Säuglingen und Kindern wie auch schwangeren Frauen.107 Ein Straßburger Bürger bezeugte folgenden Vorgang im calvinistischen Heidelberg:

„Am donnerstage habe er gesehen ein gar schon weibsbilt, so ein grevin gewesen, die haben sie uff der mülbrucken fadennacket ausgezogen; die ist neben schoner kleidunge mit schonen kostlichen arm und halsbendern aufs kostlichst gezieret, auch grosz schwanger gewesen, das man die frucht sich in irem leib regen sehen, die haben sie, nach dem sie also gar ausgezogen gewesen, mit irem har zuruck gerissen, sie mit etzlichen stichen uber alles ir jammerlichs schreien, allein das kind lebendig von ir zu nehmen und mit ir hernacher ires gefallens zu handeln, durchstochen und ins wasser geworfen, das man noch augenscheinlich, als sie rücklingen im wasser gestossen, das kind sich in mutter leib regen sehen.“108

Die Bezugnahme auf die Bibel war viel mehr als nur literarisches Kolorit. Sie zeigt, dass viele Protagonisten auf ein gewaltiges Massaker aus waren (und es soweit möglich auch in die Tat umsetzten). Der Chronist und Kreuzzugsteilnehmer Peter Tudebode unterrichtete seine Leser durch eine Anspielung auf die Schrift vom Umfang des Gemetzels: „Wer hat je solche Massaker an Heiden gesehen oder davon gehört? Niemand kennt ihre Zahl denn Gott allein.“ („Tales occisiones de paganorum gente quis unquam vidit nec audivit? Numerum quorum nemo scivit, nisi solus Deus.“)109 Hier hallen Verse aus Jesaja (66, 8) wider: „Quis audivit unquam tale, et quis vidit huic simile?“ („Wer hat solches je gehört? Wer hat solches je gesehen?“)110 Wir befinden uns hier im letzten Kapitel von Jesajas Prophezeiung, worin Jerusalems wundersame Erneuerung, die Bekehrung der Nichtjuden und die göttliche Rache verkündet werden („Gott übt Vergeltung an Seinen Feinden“, Jes 66, 6). Tudebodes Hinweis sollte ernst genommen werden; es ging ihm nicht darum, Zweifel zu wecken, vielmehr deuteten seine Worte auf die Verwirklichung der großen endzeitlichen Reinigung durch die wahren Söhne Zions hin. Sie werde, wie von Jesaja prophezeit, das Land mit Leichen bedecken. Und so geschah es im Juli 1099 in Jerusalem.

Raimund von Aguilers’ berühmte Beschreibung des Massakers enthält auch Formulierungen, die den heutigen Leser wie eine Distanzierung anmuten können. War das große Töten „kaum glaubhaft“?111

„Aber was wir bisher sagten, ist wenig und begrenzt. Kommen wir jedoch auf den Tempel Salomonis zu sprechen, wo die Heiden immer ihre Riten und Zeremonien feierten. Und was wurde dort vollbracht? Wenn wir die Wahrheit berichten, müssen wir über das Glaubhafte hinausgehen (Si verum dicimus, fidem excedimus). Es genüge also zu sagen, dass im Tempel Salomonis und im Vorhof das Blut bis an die Knie der Reiter und an die Zäume der Pferde reichte.“112

Das letzte Bild ist bekanntlich ein Zitat aus der Offenbarung des Johannes (14, 20). Was also zu sagen genügen sollte, um das Ausmaß des Massakers anzudeuten, war das Zitat aus Johannes’ blutrünstiger Vision – eine Vision, die in Bildern eine höhere Wirklichkeit ausdrückte, als menschliche Worte beschreiben konnten.113 Für Raimund, Tudebode und die Gesta Francorum war die Beschreibung der Massaker eine rhetorische Figur, was Joseph-François Michaud bis zu einem gewissen Grad verstand: „Diese Behauptungen … sind offenkundig eine Hyperbel und zeigen, dass die lateinischen Historiker Dinge übertrieben, die sie hätten verschweigen sollen.“114

Dem stimmte der Gregorianer Bruno von Segni in einem zur Zeit des Kreuzzug abgefassten Kommentar zu ebendieser Bibelstelle zu: „Die Grammatiker nennen diese Redeweise eine Hyperbel.“ Aber um was genau handelte es sich dabei im christlichen Mittelalter? Für Seneca weist die Hyperbel den Weg vom Unglaublichen zum Glaubhaften („incredibilia adfirmat, ut ad credibilia perueniat“). Diese rhetorische Figur führt zur Wahrheit (verum, das von Raimund verwendete Wort) durch das Falsche („in hoc omnis hyperbole extenditur, ut ad uerum mendacio ueniat“). Gemäß der Definition des antiken Grammatikers Quintilian besteht die Hyperbel „aus einer angemessenen Übertreibung der Wahrheit (est haec decens ueri superiectio)“. Angemessen ist eine solche Übertreibung, wenn es um etwas Außerordentliches geht. „Wenn die Sache, von der wir sprechen, die Grenzen der Natur überschreitet (cum res ipsa de qua loquendum est naturalem modum excedit)“, darf der Autor „in einem üppigeren Stil schreiben (amplius dicere), weil es nicht möglich ist, der Größe dieser Sache Ausdruck zu verleihen (quia dici quantum est non potest), und die Rede (oratio) ist wirksamer, wenn sie über [etwas] hinausgeht, als wenn sie kurz davor innehält.“115 Am Ende seines Kommentars zur Offenbarung des Johannes betonte Augustinus in Übereinstimmung mit Quintilian, dass jemand, der eine Hyperbel verwendet, um auf die Wahrheit hinzuweisen, „nicht täuschen will“.116 Später ging dieser Grundsatz in die einflussreichen Etymologiae des Isidor von Sevilla ein117 und verblieb auch weiterhin im Hauptstrom der Bibelkommentare: Alkuin nahm ihn ebenso auf wie ein Beda Venerabilis zugeschriebener Kommentar;118 er fand seinen Platz in der Glossa ordinaria, dem maßgeblichen Bibelkommentar für das Hoch- und Spätmittelalter.119 Hrabanus Maurus erwähnte die Hyperbel in seinem Kommentar zum zweiten Buch der Makkabäer, einer apokryphen Schrift von großer Bedeutung für den frühmittelalterlichen heiligen Krieg insofern, als der miles Christi in den jüdischen Kämpfern gegen das Heidentum der Seleukiden einen Typos fand.120

Die mittelalterliche Auffassung vom Erhabenen erklärt, warum den Berichten zufolge die Kreuzfahrer ihrer Freude im Gesang Ausdruck gaben, nicht in Reden: „Ihr Geist bot dem siegreichen und triumphierenden Gott Danksagungen dar, die sie nicht in Worten ausdrücken (explicare) konnten.“121 Michaud, für den die Beschreibungen übertrieben waren, zeigte sich als Wortführer seines aufgeklärten Zeitalters, indem er betonte, dass „die Vorstellungskraft sich mit Erschrecken (effroi) von diesen Szenen der Verwüstung abwendet“. Aber die mittelalterliche Hyperbel leitete die mittelalterliche Vorstellungskraft, damit sie solche trostlosen Szenarien als Zeichen für Gottes Gegenwart begierig ins Auge fassen konnte. Insgesamt zeigt eine sorgfältige Würdigung von Raimunds Wortwahl, dass erstens ein Massaker stattfand; dass es zweitens viel umfangreicher war, als Worte es auszudrücken vermögen (deshalb der Rückgriff auf eine Vision); und dass es drittens gerade deshalb so intensiv und der Sprache unzugänglich war, weil Gott hier seine Hand im Spiel hatte. Es dürfte also nicht allzu weit hergeholt sein, sich mit Guy Lobrichon das Erleben der Kreuzfahrer beim Sturm auf Jerusalem so vorzustellen: „Zweifellos haben sie während der Eroberung von Jerusalem … geglaubt, daß ihre Trompeten das Ende der Kriege des Herrn ankündigten, und somit das Ende der Geschichte, den Moment, wenn endlich die Pforten des Königreichs Gottes durchschritten werden.“ Das Ende der Geschichte mit dem letzten Krieg der Geschichte!122

Der hyperbolische Symbolismus erklärt auch ein auffälliges Merkmal der Raimund’schen Chronik. Sein Liber erwähnt meiner Kenntnis nach Schönheit oder einen erfreulichen Anblick nur an vier Stellen, die allesamt mit dem Tod in Verbindung stehen. Zwei dieser Stellen beziehen sich auf den massenhaften Tod der türkischen Feinde – Pferde und Reiter stürzen eine Klippe hinab, verstümmelte Leichen treiben in einem blutgeröteten Fluss.123 Ein dritter Moment der Schönheit war die erschreckende Verwandlung von Andreas und Petrus in Ma’arrat, wo aus in Lumpen gehüllten Märtyrern leuchtende Heilige wurden. Die vierte Stelle bezieht sich auf den ruhmreichen Tod von zwei Kreuzrittern, wobei der eine dem anderen in geisterhaft glänzender Pracht erscheint. Kurz vor seinem Tod in der Schlacht hatte Anselm von Ribemont eine Vision, in der er den verstorbenen Engelrand von Saint Pol sah. Anselm fragte Engelrand, „wie er seine außerordentliche Schönheit erlangt habe“ („de pulchritudine eius que nimia erat, unde accidisset ei“). Engelrand antwortete, indem er Anselm seine himmlische Behausung zeigte und ihm verkündete, er werde eine noch schönere bewohnen. Am nächsten Tag wurde Anselm zum Märtyrer.124 Diese Beziehung zur Ästhetik – die etwa in den Gefühlen von Entzücken und Schönheit, die evangelikale Amerikaner des 18. Jahrhunderts angesichts der göttlichen Gerechtigkeit hegten, eine Nachfolgerin fand – unterscheidet sich deutlich von jener des Jean de Joinville, eines Laien, der Mitte des 13. Jahrhunderts den siebten Kreuzzug chronikalisch festhielt.125 Joinville schildert mit sichtbarer Freude, wie die Galeere seines Verwandten, des Grafen von Jaffa, neben dem Schiff des Königs auftauchte: Sie „schien dank der Ruderer, die sich gewaltig in die Riemen legten, zu fliegen; dazu hörte man den Klang, der von den knatternden Bannern und dem Dröhnen der Kesselpauken, der Trommeln und der sarazenischen Hörner auf der Galeere herüberscholl, und so schien es, als falle ein Blitz vom Himmel“. Der Ritter Joinville, der seinen muslimischen Feinden eine raffinierte Wertschätzung entgegenbringt, hatte Sinn für Schönheit. Beeinflusst durch die Kultur höfischer Dichtung sah er sie überall: in der glitzernden Rüstung der mamelukischen Krieger an der Küste vor Damiette oder in einem über Bord geworfenen brennenden Tuch, das sanft auf der nächtlichen See flackerte, oder (in derselben Szene) in der beweglichen Nacktheit von Ludwigs junger Königin.126 Für Raimund von Aguilers dagegen kristallisierte sich aller Glanz in den Geheimnissen Gottes im Krieg. Marcabru war zwar mit höfischer Schönheit vertraut, doch eines Sinnes mit Raimund. In einem Lied mit dem bezeichnenden Titel Frieden im Namen des Herrn versprach der Troubadour all jenen, die zum „Waschplatz“ gehen würden, nämlich dem Krieg, der alle Sünden in Spanien fortwaschen sollte, letztendlichen Glanz: „Und ihre Schönheit wird – wisst ihr, was sie sein wird, die Schönheit all derer, die zum Waschplatz gehen werden? Größer als die Schönheit des Morgensterns. Nur müssen wir Gott rächen für das Unrecht, dass sie [die Muslime] hier und dort drüben, bei Damaskus, Ihm antun.“127

In Raimunds Liber finden menschliches Handeln und das Erhabene zueinander. In einem außergewöhnlichen Ereignis – das für den chiliastisch gestimmten Chronisten endgültig war – erfuhren die Kreuzfahrer den erhabenen Einbruch des Transzendenten in die menschlich erfassbare Welt und zugleich sich selbst als vollwertig Handelnde, die die Heilsgeschichte vorantrieben, als Helfershelfer Gottes. Man sollte einen Schritt über Elms Annahmen hinaus in der Argumentationslinie von Crouzet davon ausgehen, dass 1099 nicht nur die Chronisten von der „literarischen Tradition“ beeinflusst wurden.128 Wenn die spezielle Art des Krieges, den der erste Kreuzzug darstellte, die verbalen Exzesse der Chronisten veranlasste, hat sie wahrscheinlich – auf dem Wege der Nachahmung heiliger Vorbilder – auch die tatsächlichen Gewalttaten der christlichen Krieger geprägt.129 Offenkundig wurden nicht alle Kriege, nicht einmal alle Kreuzzüge, auf diese Weise wahrgenommen und geführt. Aber auf ebendiese Weise lebten einige der ersten Kreuzfahrer die heilige Gewalt bei der Erstürmung von Jerusalem am 15. Juli 1099.

Doch wie „christlich“ war diese Art der Wahrnehmung und Anwendung von Gewalt? Wenn es zu Gewalt im Namen Gottes kommt, haben wir es da nicht mit einer „anthropologischen Universalie“ zu tun? Das ist die Position von Kaspar Elm, der sich dabei auf René Girard, Walter Burkert und Mary Douglas beruft und „die Gleichzeitigkeit von entfesseltem Blutrausch und enthusiastischer Gottesverehrung, die schockierende Nähe von ‚la violence et le sacré‘ und diese Vorstellung von einem schrecklichen, herrsch- und rachsüchtigen Gott“ beklagt.130 Kulturelle Nuancen sollten vom Historiker selbstverständlich in Betracht gezogen werden. Das Jahr 1099 kann nicht das erste Mal in der europäischen Geschichte gewesen sein, in dem der Horror auf das Numinose traf! Eine gute Vergleichsmöglichkeit bietet einer der unerfreulichsten Texte der Antike: Martials De spectaculis Liber (Buch über die Schauspiele), eine Sammlung von panegyrischen Gedichten, die Macht und Göttlichkeit (numen) des Herrschers feiern. Martial hat sie wohl für Kaiser Titus (reg. 79–81) oder seinen Bruder und Nachfolger Domitian (reg. 81–91) geschrieben. Sinn und Bedeutung dieser Abfolge von Gedichten sind von Kathleen Coleman in einem mittlerweile als klassisch geltenden Beitrag rekonstruiert worden.131 Jedes Gedicht erzählt von einer Aufführung im römischen Kolosseum (sodass Martial gewissermaßen Darstellungen darstellt). Einige dieser Darbietungen inszenieren Legenden aus der griechischen Mythologie, wobei sie bisweilen auf überraschende Art von der überlieferten Handlung abweichen und sich dabei häufig raffinierter mechanischer Requisiten bedienen. In anderen Szenen vollbringen Tiere erstaunliche Dinge oder messen ihre Kräfte mit Menschen. Wieder andere feiern einen Gladiatorenkampf oder bieten eine Wiederaufführung großer Seeschlachten aus der griechisch-römischen Vergangenheit (wozu der Boden des Kolosseums unter Wasser gesetzt werden musste). Vorherrschende Themen sind Zwang, Gewalt und Unterwerfung. Eine Frau, die Pasiphae verkörpert (die lüsterne Mutter des Minotaurus), wird von einem Stier sexuell penetriert (und stirbt wahrscheinlich dabei); eine trächtige Sau wird vom Speer durchbohrt und wirft; ein Bandit wird von einem Bären übel zugerichtet, wie es Prometheus durch den von Zeus gesandten Adler zu seiner Bestrafung geschah, und so weiter. Ein Elefant wirft sich nach dem Kampf gegen einen Stier vor dem Kaiser nieder; eine von Hunden gejagte Hirschkuh sucht bei selbigem Schutz, woraufhin die Hunde wundersamerweise von der Jagd ablassen.

Diese Szenen strapazierten den Glauben und bewirkten ihn zugleich. Martial verwendet in Über die Schauspiele fünfmal das Verb credere im Sinne von „Glaubwürdigkeit/Vertrauen schenken“, „beglaubigen/bekunden“ und „glauben“. Die betreffenden Stellen lauten:

„ – Ihr müsst glauben (credite), dass Pasiphae sich mit dem kretischen Stier paarte: Wir haben gesehen, wie es geschah, der uralte Mythos ist bestätigt worden (accepit prisca fabula fidem).

– Wer leugnet, dass Bacchus durch den Tod seiner Mutter zur Welt kam? So wurde eine Gottheit geboren, das müsst ihr glauben (credite): [denn] so wurde ein wildes Tier geboren.

– Respektvoll und demütig verehrt Euch, Caesar, der Elefant, der eben noch so tapfer gegen einen Stier gekämpft hat. Er tut dies nicht auf Befehl, nicht auf Anweisung eines Dresseurs: Glaubt mir (crede mihi), auch er spürt die Gegenwart unseres Gottes.

– Du glaubst nicht (non credis), [dass dort einst Land war, wo jetzt Wasser ist]? Schau hin (specta)!

– Indem [die Hirschkuh] ihren Fürsten erkannte, trug sie diese Belohung davon [die Immunität]. Der Caesar besitzt eine göttliche Aura (numen): heilig (sacra), heilig ist seine Macht (potestas). Glaubt es (credite), [denn] wilde Tiere haben zu lügen nicht gelernt.“132

Die Darbietungen, so Martial, verliehen der „heiligen Macht“ und Göttlichkeit (numen) des Kaisers Glaubwürdigkeit, wie sie auch den blutrünstig inszenierten Legenden Glaubwürdigkeit verliehen. Im ursprünglichen Sinn bedeutete credere den Glauben an die Existenz der Götter – den Glauben mit einem Beweis, wobei der beste Beweis sichtbar ist, eine greifbare Manifestation.133 Aber der Kaiser war auch diejenige Person, welche diese technisch ausgereiften Schauspiele ermöglichte und dadurch den Legenden Glaubwürdigkeit verlieh. Martial scheint angestrebt zu haben, dass die so vermittelte Glaubwürdigkeit wiederum die göttliche Natur des Herrschers beglaubigte. Und zu diesem Plan gehörte es, dass Gewalt, indem sie das Unglaubliche den erstaunten Augen enthüllte, Glauben hervorrufen sollte.

Der Heide Martial teilte diese letzte Annahme mit jenen christlichen Autoren, die sich der Hyperbel bedienten, um das Massaker von Jerusalem aus dem Jahr 1099 nachzuerzählen. Der Unterschied liegt darin, dass der Panegyriker die Präsenz des Numinosen in der Arena und im Kaiser behauptete, aber als Panegyriker wahrscheinlich nicht selbst an dieses Numinose glauben musste (und ebenso wenig musste sein Publikum ihm glauben, wenn es mit der Logik des Genres vertraut war). Dagegen hatten die Chronisten der Eroberung von Jerusalem die Manifestation von Gottes Hand in der Geschichte als Zeugen wirklich erlebt.

Ein christlicher Autor (oder Herrscher) musste den Glauben an das Äquivalent zu den alten griechischen Legenden (prisca fabula), das Alte Testament, nicht erst einflößen. Der Einbruch des Erhabenen im Jahre 1099 war ein einmaliger Vorgang – ein EREIGNIS (Event)–, während die römischen Spiele jedes Jahr erneut die Göttlichkeit des Kaisers und die göttliche Bestimmung des Reichs zu bestätigen suchten. Im Erhabenen des Jahres 1099 manifestierte sich – für Raimund von Aguilers und ähnliche gesinnte Teilnehmer – die Wahl einer auserwählten Schar von Übriggebliebenen, nicht eines umfassenden politischen Gemeinwesens. Das sollte sich im Lauf der Zeiten ändern; die Reinigung von Jerusalem wurde zur Gründungsstunde eines irdischen messianischen Reichs, des Königreichs Jerusalem, das bis zu einer jetzt neu verschobenen Endzeit, bis zu einer nun unbekannten Zukunft, dauern sollte.134 Wir werden auf diesen Vorgang zurückkommen, wollen uns jetzt aber den reinigenden Vorteilen gottgewollter Gewalt zuwenden.

Das Erhabene, der Horror, die gnadenlose Reinigung, der Terror

Szenarien der Endzeit enthüllen und erklären die Logik der Gewalt, die sich in normaleren Zeiten ereignet. Der Zisterziensermönch Aelred von Rielvaux (ca. 1110–1167) schilderte die gegensätzlichen Schicksale der Erwählten und der Verdammten am Tag des Jüngsten Gerichts, wenn Christus in seinem Glanze erscheint:

„Denn das Feuer geht Ihm voraus und wird Seine Feinde entflammen. Wie werden sie dann erzittern! Wie werden sie beben! Wie werden sie sich verbergen wollen und es nicht können! Dann aber wird von ihnen kein süßer Duft ausgehen, sondern Gestank [vgl. 2 Kor 2, 15–16]; statt des Gürtels [werden sie] einen Strick [tragen], statt lockigen Haars einen Kahlschädel, und statt des goldbestickten ein härenes Gewand.“

Unter den Verworfenen würden auch viele Geistliche sein, die gezwungen seien, Bußgewänder zu tragen. Sie hätten dann zwar ihren Irrtum erkannt – so wie die reuigen Bolschewiki der Moskauer Prozesse –, aber es sei – wie für die Mehrheit der Angeklagten von 1938 – zu spät, Vergebung zu erlangen. Eine erste Lehre aus dieser Predigt besteht darin, dass am Zeitenende die rächende Gerechtigkeit so dominant ist, dass Gnade undenkbar wird. Die zur Verdammnis Bestimmten werden eines Christus gewahr, der ihnen ein ganz anderes Gesicht zeigt als den Guten und ihnen, den Verdammten, gegenüber ganz andere Töne anschlägt:

„Ob sie [die Verdammten] es wollen oder nicht, sie werden an diesem Tag Jesus sehen, aber einen schreckenerregenden (terribilis), der schrecklich donnern wird: ‚Weicht von Mir, ihr Verdammten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel vorbereitet ward‘ [Mt 25, 41]. Aber ihr, die ihr nun in eurer Seele Bethlehem erbaut und die Verlockungen der Welt, ihre Reichtümer und falschen Ehrentitel hinter euch lasst … ihr werdet Sein Gesicht sehen, wie es euch verzaubert, und ihr werdet Seine Stimme hören, die sanft zu euch spricht: ‚Kommt, ihr Gesegneten Meines Vaters, empfangt das Reich, das [euch] bereitet ist von Anbeginn der Welt‘ [Mt 25, 34].135

Eine weitere Lektion der Endzeit lehrt, dass der Schrecken nicht nur verderbte Menschen zähmt (oder reinigt), sondern sich auch auf die Guten auswirkt. Der Höhepunkt des Schauspiels am Ende der Geschichte, die Bestrafung Satans, wird reinigend auf jene Auserwählten wirken, die im Augenblick der Wiederkunft Christi noch am Leben sind. Das war seit Isidors Sentenzen so Allgemeingut:

„Am Tag des Jüngsten Gerichts werden die Gottlosen durch einen spirituellen Schmerz insofern besonders hart bestraft, als sie sehen, dass die Auserwählten die glorreiche Seligkeit verdient haben. Der Teufel wird [in die Grube] niedergeworfen und alle werden zusehen. Dann wird er im Angesicht aller Guten, Engel und Menschen, mitsamt denen, die ihm gefolgt sind, hinweggeführt in das ewige Feuer. Während der Teufel so seiner Verdammnis entgegengeht, werden viele Auserwählte, die noch im Körper weilen, wenn der Herr zum Jüngsten Gericht erscheint, von Furcht (metus) erfasst, wenn sie sehen, dass solch ein Urteil die Gottlosen straft. Und diese [lebenden] Auserwählten werden durch solchen Schrecken (terror) [von ihren Sünden] gereinigt. Und sollte wirklich noch eine Sünde in ihrem Körper verharren, werden sie durch die [in ihnen erweckte] Furcht angesichts der Verdammung des Teufels gereinigt. Deshalb sagt Hiob [41, 16, Vulgata]: ‚Wenn er fortgeführt wird, fürchten sich die Engel, und die Erschreckten werden gereinigt.‘“

Weiter ging Isidor, wie Raimund d’Aguilers, davon aus, dass im apokalyptischen Augenblick die falschen Brüder demaskiert werden. Dergestalt verband sich die Reinigung der wahrhaft Guten mit der Entfernung der Heuchler aus ihren Reihen, wozu auch Leute gehörten, die im Namen des Herrn Wunder wirkten und Exorzismen betrieben: „Viele von denen, die jetzt auserwählt und heiligmäßig zu sein scheinen, könnten am Tag des Gerichts zugrunde gehen, wie es der Prophet sagt: ‚Der Herr wird ein Urteil sprechen durch Feuer (iudicium ad ignem), und der Abgrund wird vieles verschlingen und einen Teil des Hauses [Gottes] fressen‘.“ (vgl. Amos 7, 4).136

Auch in der gewöhnlichen Zeit, in jenen numinosen Momenten, in denen Gottes Hand sich zeigt, kann die nämliche Dualität von Blindheit und wahrem Einblick wirksam werden. Erinnern wir uns an Laurentius auf dem Feuerrost – schon an und für sich ein Moment des Schreckens: Das verbrannte Fleisch des Heiligen duftete den Erwählten süß, während die Heiden nur Gestank wahrnahmen, der in ihnen „racheerfüllten Schrecken“ auslöste.137 Dieser horror vindex verwies auf die erhabene Rache, die am Ende aller Geschichte kommen wird, aber die blinden Heiden konnten den hinter dem Ereignis wirkenden Geist nicht begreifen; sie blieben auf der Ebene nackter Furcht. Bei den frühmodernen Puritanern finden wir bisweilen eine ähnliche Auffassung von heiliger Gewalt. William Bradford beschreibt die massenhafte Verbrennung der Pequot-Indianer in ihrem befestigten Dorf am Mystic River (im Mai 1637) so: „Der Gestank war schrecklich, aber der Sieg erschien als süßes Opfer.“138 Einer der Hauptleute namens Mason wunderte sich über die quasi selbstmörderische Panik der Indianer: „Der ALLMÄCHTIGE ließ so furchtbaren Schrecken auf ihren Geist fallen, dass sie vor uns direkt in die Flammen flohen, wo viele von ihnen zugrunde gingen.“139 Auch ihre calvinistischen Nachfolger, die im 18. Jahrhundert während der Franzosen- und Indianerkriege und während der amerikanischen Revolution predigten, betonten, dass „kranke Augen“ und ein „blinder und schuldiger Geist“ (mind) Gottes Gerechtigkeit nicht begreifen könnten, die zwar „schrecklich“, doch für die Auserwählten von rechtschaffener Freude und Schönheit sei. Den „Bösen“ bringe sie „vielfachen Schrecken“, erfreue jedoch „alle heiligen Wesen“ gerade so wie Gottes Gnade.140 Insofern wäre die Annahme, zwei andere am Massaker von Mystic beteiligte Hauptleute hätten ein schlechtes Gewissen gehabt, verfehlt.141 Wenn man Gottes Racheplan ausführte, gab es, wie beim Jüngsten Gericht, keinen Raum für Gnade. Philip Vincent schrieb, es sei „Mitleid“ durch „strenge Gerechtigkeit“ ersetzt worden. John Underhill beschrieb die Gefühle, die das Ereignis hervorrief: „Großartig und traurig war der blutige Anblick für die jungen Soldaten, die noch nie im Krieg gewesen waren, sahen sie doch so viele Seelen keuchend am Boden liegen, an manchen Stellen so dicht, dass man kaum daran vorbeikam. Es könnte gefragt werden: Warum seid ihr so wutentbrannt (wie manche sagten)[;] sollten Christen nicht mehr Mitleid und Gnade zeigen?“

Underhill verwies seinen imaginären Zweifler auf die Kriege im Alten Testament, wo für jedes Volk, das „so viel Blutschuld auf sich geladen und sich gegen Gott und die Menschheit versündigt hatte“, die Auslöschung gefordert wurde, die auch Frauen und Kinder einschließen konnte. Außerhalb solcher Szenarien war Mitleid selbstverständlich normal: „Hätte Gott nicht die Herzen der Menschen für diesen Dienst [der Auslöschung] bereit gemacht, wäre in ihnen Mitgefühl gegenüber jenen [den Sündern] entstanden: Doch machten sich alle, des Mitleids ledig, ohne Mitgefühl ans Werk.“142 Underhill und Vincent hatten ihre Klassiker gelesen. In seinem Kommentar zu den grausamen Vorschriften des fünften Buchs Mose, die sogar die Tötung von Verwandten, ja selbst des Eheweibs und des besten Freundes verlangten, wenn diese den Versuch unternahmen, zum Götzendienst zu verleiten, erklärte Calvin, die Heilige Schrift wolle hier vermitteln, dass Gott in jenen Fällen, in denen „Sein Ruhm zu rächen“ sei, von den Frommen die Überwindung ihrer stärksten natürlichen Gefühle erwarte; sie sollten „die natürlichen Affekte niedertreten“, wenn es um Gottes Ehre gehe.143 Wie im Alten Testament entsprach das Ergebnis des Massakers der göttlichen Vorsehung: Das Land der Pequot „wurde vollständig unterworfen und fiel in die Hände der Engländer“.144 Das schreckliche Zerschmettern von Kinderschädeln an Steinen und das Durchbohren schwangerer Frauen waren prophezeit worden; diese Dinge brauchten kein Mitleid zu erregen. Noch einmal Calvin: „Mag es auch grausam erscheinen, wenn er [David] fordert, dass die kleinen, noch zarten und unschuldigen Kinder an Steinen zerschmettert werden, ist es doch nur der Lobpreis eines gerechten Urteils, denn er spricht nicht aus eigenem Antrieb, sondern nimmt die Worte von Gottes Mund.“145 1642 bediente sich Stephen Marshall dieses schrecklichen Bildes, um für ein rigoroses Vorgehen gegen die Monarchisten zu plädieren.146 Einige Jahre später sollte John Milton gegen die Presbyterianer, die den König verschonen wollten, den Vorwurf des Mitleids richten.147 Die calvinistische Position war nicht nur den Calvinisten eigen. Auch die Jakobiner begriffen recht gut, dass man aus Liebe zur Menschheit bisweilen die menschlichen Gefühle vergessen musste. So dachte Robespierre über den bemitleidenswerten Louis Capet: Sein Tod war notwendig, um die Republik zu gründen.148

Mithin war Mitleid, wenn es in einem Schlüsselmoment der Geschichte zum Ausdruck kam, per definitionem abwegig oder, um das bedeutungsgeladene mittelalterliche Adjektiv zu verwenden, welches das Mittelalter überlebte, „falsch“. Die revolutionären Mitglieder des französischen Konvents beklagten, dass die Rückeroberung Toulons, einer wichtigen Hafenstadt, aus den Händen der Royalisten durch Mitleid in einigen Fällen verhindert worden war. Mit vor Pathos strotzender Feder jammerten Fouché, Albitte, Sébastien de Laporte und Collot d’Herbois: „Ach! … Wenn die ewige Gerechtigkeit auf ihrem Schreckensweg doch nicht durch Ausnahmen aufgehalten würde, die, um einigen Individuen Tränen zu ersparen, dazu führen, dass Ströme von Blut vergossen werden.“149 Solche Fehlberechnungen in der revolutionären Ökonomie bildeten ein beliebtes Angriffsziel für den radikalen Revolutionär Jean-Paul Marat. Er schlug – wie Augustinus auf seine Art – die blutige Opferung der Wenigen für das Heil der Vielen vor. Das war sinnvoll. Wir haben seine Argumentation bereits zitiert: „Sechshundert Köpfe zu opfern, um drei Millionen dreihunderttausend zu retten, ist eine sehr einfache Rechnung, empfohlen von Weisheit und Philosophie.“150 Das war Menschlichkeit; das Umgekehrte aber, wie er bereits 1789 verkündet hatte, „fausse humanité“.151 Neben vielen ähnlichen Äußerungen, die das vernunftgemäße Vergießen von Blut verlangten, erinnerte Marat seine Leserschaft daran, dass durch das gemeine Volk ausgeführte Hinrichtungen (exécutions populaires) gleich zu Beginn der Revolution Geistlichkeit und Adel gezähmt und zu „spontaner Unterwerfung“ angehalten und so die Erklärung der Menschenrechte ermöglicht hätten. Aber „falscher Ehrgeiz“ auf Seiten der vaterländischen Soldaten und „falsches Mitleid“ auf Seiten der redlichen Bürger hatten die konsequente Anwendung dieser ökonomisch durchgerechneten Gewalt verhindert. Jetzt – er schrieb dies im Juli 1792 – musste man zu diesen „exécutions populaires“ zurückkehren und erneut Blut vergießen, nur diesmal leider in größeren Strömen, à grands flots.152

Dennoch war die revolutionäre Kultur nicht immer so erfrischend berechnend und rational. Wie kürzlich von Antoine de Baecque erörtert, nahm sie auch, bisweilen unbewusst, bisweilen bewusst, das Erhabene und sein erschreckendes Gesicht – la gloire et l’effroi – in Anspruch. De Baecque zitiert ein Panegyrikon, eine Lobeshymne, für einen gewissen Geffroy, der mitgeholfen hatte, ein Attentat auf Collot d’Herbois zu verhindern, und dabei leicht verwundet worden war. Die Hymne ist bemerkenswert, weil sie auf neokatholische Weise die Endzeit heraufbeschwört:

„Welch ein Tag der Furcht für die Verderbten, an dem ihr, Gesetzgeber, den Menschen zu seiner ursprünglichen Würde, zu einem anderen Leben zurückführtet, diesem Tag, an dem ihr das Göttliche selbst in Dienst nahmt für die Sache der Freiheit! Welch ein Tag des Schreckens für die Korrupten, an dem die Märtyrer sich zu Tausenden erheben, um aus ihren Körpern einen Schutzwall gegen die Anschläge der Attentäter zu bilden … Unsere Erneuerung wird erhaben sein, sie wird den alten Menschen verzehren, um den neuen zu formen; sie wird die Könige und Priester vernichten. Stattdessen wird sie einen Gott, Tugend, das Gesetz schenken, ein großes Vaterland denkender, freier, glücklicher Wesen. Ja! Ein Volk, welches das Höchste Wesen anerkennt, welches bereit ist, absolut alles für das Gesetz zu opfern, ist ein tugendhaftes Volk, und ein tugendhaftes Volk geht niemals unter: Es hat ein Recht auf die Unsterblichkeit der Seele.“153

Das Lobgedicht führte bekannte Bilder vom Jüngsten Gericht und der Auferweckung der Toten einer Wiederverwendung zu. Es bezog sich auf die christliche Vorstellung vom heiligen Krieg, wonach die Heiligen und die toten Kreuzfahrer auferstehen, um gegen die Heere des Teufels zu kämpfen.154 Es verband die Bereitschaft zu sterben kausal mit der Unsterblichkeit. Es sprach von einem neuen Menschen, einem neuen Tag und der Wiedergeburt. In den vielen Proklamationen, die sich im Mai und Juni 1794 mit dem Attentatsversuch und dem lebenden Märtyrer Geffroy befassten, war „Rache“ das Leitmotiv.155 Ohne direkte Signale von der Führungsriege der Jakobiner erhalten zu haben, sangen die patriotischen Gesellschaften mit einer Sturzflut neokatholischer Akkorde ihr Loblied. Oder hatte es doch Hinweise gegeben? Paris hatte insofern ein Zeichen gesetzt, als es mit dem Kult des Höchsten Wesens die Phase der offiziellen „Entchristianisierung“ beendet und nun dem Atheismus den Krieg erklärt hatte.

La Fabrique de l’Histoire: Die Erzeugung von Geschichte durch eschatologische Gewalt

Wie bereits im zweiten Kapitel gezeigt, hat die christliche Typologie nicht in einer simplen Eins-zu-eins-Beziehung einen Typos auf einen einzigen Antitypos und ebenso wenig eine Person oder ein Ereignis aus dem Alten Testament auf ein einziges entsprechendes Vorkommnis aus dem Neuen Testament bezogen. Die Schematik, die im 4. Jahrhundert mit Hieronymus zur Verfügung stand, erlaubte die Zuordnung vieler Antitypoi zu einem Typos bis hin zum Eschaton. Das hatte Auswirkungen auf die Vorstellung vom geschichtlichen Prozess. Plurale, partielle Erfüllungen eines Typos wurden zu Knotenpunkten sakraler Zeitlichkeit auf der Achse des letzten Zeitalters der Geschichte, dessen Anfang durch Christi erstes Kommen bezeichnet worden war. Diese bedeutsamen Ereignisse (oder Charaktere) hatten ihre Vorläufer in biblischen Typoi und Prophezeiungen, so wie sie ihrerseits wiederum in die Zukunft wiesen als Typoi und Prophezeiungen einer vollständigen Erfüllung am Ende der Zeiten.

Diese Entwicklung vollzog sich nur allmählich. Die frühe patristische Theologie kannte noch keinen Geschichtsprozess im Sinne eines durch vielfältige Ereignisse vorangetriebenen Marsches der Geschichte in die Zukunft. Am radikalsten verfuhr Augustinus. Um die Ineinssetzung des christianisierten Römischen Reichs mit der Gemeinschaft der Auserwählten ebenso zu vermeiden wie die Kehrseite dieser Medaille, die Abwertung aller irdischen Politik als satanisch, hatte Augustinus die Idee verworfen, dass die Geschichte der weltlichen Institutionen eine Bedeutung für die Vorsehung haben könne. Für ihn unterstanden zwar alle Geschehnisse der Lenkung Gottes, doch konnte kein einziges für sich den göttlichen Plan enthüllen, geschweige denn, ihm Ausdruck verleihen.156 Ein konkurrierendes Modell, das Eusebius von Caesarea und Augustinus’ Schützling Orosius entwickelten, ging davon aus, dass sich Gottes Wille in verständlicher Weise im Schicksal von Königreichen zeigte und entfaltete. Diese Auffassung setzte sich in den subrömischen „barbarischen“ Königreichen des Westens und in Byzanz durch. Orosius’ Modell vermittelte jedem regnum die Hoffnung, dass es bei tugendhaftem Verhalten ein neues Israel, ein neues Heiliges Land und auserwähltes Volk werden könne. Aber auch dieses Modell sah nicht vor, dass Geschichte sich Schritt für Schritt zum Fortschritt hin weiterentwickelte. Die Abfolge der Königreiche, die gemäß der translatio imperii zur Würde weltumspannender Herrschaft berufen waren, hätte auch zu einer zyklischen Geschichtsauffassung gepasst, sieht man einmal von der Tatsache ab, dass diese Reihe schließlich mit der Kirche oder Christi Königreich endete. So bedeutete der Übergang der Herrschaft von den Franken zu den Sachsen, wie ihn die imperiale Geschichtsschreibung des 10. Jahrhunderts schilderte, keinerlei Fortschritt.157 Erst im 12. Jahrhundert begannen die Geistlichen mit der Vermehrung jener Ereignisse in der Vergangenheit der Kirche, die sie als bedeutsame Wendepunkte,158 als (partielle oder totale) Erfüllungen von Prophezeiungen, insbesondere der Posaunen, Heimsuchungen und Siegel der Offenbarung, begriffen.159 Diese Ereignisse wurden von historischen Gestalten personifiziert, die häufig mit den Engeln der apokalyptischen Vision in Verbindung gebracht wurden.

Einige Kommentare des Hoch- und Spätmittelalters, die sich mit der Offenbarung des Johannes beschäftigten, begannen damit, einige der großen Konflikte des Christentums als Wegmarken zum apokalyptischen letzten Krieg in ihr Geschichtsmodell zu integrieren. Während die Zwischenstationen nicht klar sind, war es der logische Endpunkt dieser Entwicklung: eine völlig von transzendenter Bedeutung durchsetzte Geschichte, die in jedem Augenblick durch Gewalt und Vergeltung vorangetrieben wurde. Im 18. Jahrhundert traf ein neuer Begriff von aufgeklärter „Revolution“, die die Geschichte umgestalten werde, mit dem Blutvergießen der Französischen Revolution zusammen. Im 19. Jahrhundert erblühte die Auffassung von Gewalt als Motor der Geschichte in Hegels „List der Vernunft“.160 Aber wie konnte ein Ereignis sich als Motor der Geschichte bemerkbar machen? Und welche Art von Ereignis hatte die Chance, diese Rolle zugewiesen zu bekommen? Dieser Prozess kann nicht mit Gewissheit rekonstruiert werden, weshalb die folgenden Erwägungen auch eher ein Herantasten sind. Zuerst untersuchen wir, wie die weiter oben zusammengefasste exegetische Logik zur Umwandlung eines Ereignisses (event) in ein EREIGNIS (Event), d.h. ein Ereignis von besonderem heilsgeschichtlichen Rang, beitrug. Zweitens blicken wir kurz auf den ersten Kreuzzug als ein solch zentrales EREIGNIS in der mittelalterlichen Exegese und Literatur. Drittens schließlich vertreten wir die Auffassung, dass die apokalyptische Aufladung einiger Ereignisse ihre Umwandlung in besonders bedeutsame EREIGNISSE wahrscheinlicher machte.

Wie wir gesehen haben, verkündeten für die Kirchenväter die alt- und neutestamentarischen Prophezeiungen vom Niedergang Jerusalems zwei Ereignisse beziehungsweise Typoi: zum einen die partielle Verwirklichung durch die römischen Heere 70 n. Chr., zum anderen die vollständige apokalyptische Zerstörung der irdischen Stadt am Zeitenende.161 Diese exegetische Kette von Prophezeiungen besaß umso mehr Gewicht, als Christus seine Stimme dem Trauerchor der sogenannten „kleinen Apokalypsen“ der synoptischen Evangelien geliehen hatte. Er beweinte Jerusalem. Sehr wahrscheinlich haben viele der ersten Kreuzfahrer geglaubt oder vermutet, dass sie diese zweite und letzte „Rache des Erlösers“ im vollen Umfang verwirklichten.162 Aber das Zeitenende kam nicht (auch wenn, wie Guy Lobrichon und Jay Rubenstein gezeigt haben, die Erwartung erst nach mehr als einem Jahrzehnt dahinschwand).163 Die Erwartung jedoch war so groß gewesen, dass sie nicht völlig ausgelöscht werden konnte. Die Chanson d’Antioche zeigt, wie die apokalyptische Aufladung sich verwandeln konnte.

Im Jahrhundert nach 1099, vielleicht zu der Zeit, als nach der Niederlage gegen Saladin bei Hattin (1187) für den dritten Kreuzzug gepredigt wurde, vielleicht auch erst in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, vielleicht auch erheblich früher,164 setzte die Chanson d’Antioche, ein anonymes Epos in altfranzösischer Sprache, den ersten Kreuzzug in einen typologisch-prophetischen Rahmen, ohne den Kreuzzug länger zum „Krieg, der alle Kriege beendet“ zu erklären.165 Am Kreuze hängend habe der gute Schächer Christus gefragt, ob er Rache an den Juden nehmen werde. Christus habe mit der Vorhersage einer zweifachen Vergeltung geantwortet. Die erste werde 40 Jahre nach seinem Tod von Titus und Vespasian durch die Eroberung von Jerusalem bewirkt; die zweite sei allgemeiner und zeitlich weiter entfernt: Nach eintausend Jahren würden die Heiden von einem zu Christi Zeit noch nicht existierenden Volk ausgelöscht werden, von den fränkischen ersten Kreuzfahrern, deren Taten der Dichter nacherzählte.166 Wahrscheinlich hat der Anonymus hier Haymo von Auxerres Kommentar zu Jesaja 63 (oder ein vergleichbares theologisches Deutungsmuster) einer Prüfung unterzogen und übernommen. Haymo hatte erklärt, dass Jesus am Kreuz bereits den „Tag der Rache“ in seinem Herzen bedacht habe. Es sei dies ein zweifacher Tag. Zuerst werde die römische Vergeltung für den Gottesmord der Juden, sodann „die Bestrafung der Dämonen, der verworfenen Juden, aller Ungläubigen und die Belohnung der Gerechten“ stattfinden.167 Man sieht, wie hier innerhalb der Chanson d’Antioche ein zeitlicher Gliederungsprozess stattfindet.168 Der erste Kreuzzug verlor den Status, der letzte apokalyptische Krieg zu sein, den er für viele Teilnehmer noch gehabt hatte, und wurde in eschatologischer Hinsicht abgewertet, aber nicht säkularisiert. Er war nun eine unvollständige Erfüllung der ursprünglichen Prophezeiung und ein Beispiel für die Zukunft – auf einer Ebene mit der „Rache des Erlösers“, wie sie Titus und Vespasian bewirkt hatten. So war es gute exegetische Logik, wenn die Chanson behauptete, dass „unser Herr an ihnen [Pilatus und den jüdischen Hohepriestern] gerächt wurde und erneut gerächt werden wird“. Die Chanson forderte ihr adliges Publikum auf, sich einem weiteren Kreuzzug anzuschließen: „Wer sich aufmacht, um Ihn zu rächen, wird guten Lohn erhalten: Er wird im himmlischen Paradies eine Krone tragen.“169 Man hatte die Pflicht, „für Christus das Kreuz auf sich zu nehmen, um Ihn am Geschlecht des Antichrist zu rächen, das nicht an Ihn glaubt, noch Ihm dient, noch Ihn liebt, noch Zuneigung zu Ihm empfindet“.170 Der Dichter sah im ersten Kreuzzug einen Typos für die Expedition, zu der die Chanson aufrief, und der erste Kreuzzug bildete auch einen Antitypos für die Rache vom Jahre 70 n. Chr.

Die Chanson verdankte ihre Rekrutierungskraft mithin der Tatsache, dass der erste Kreuzzug beispielhaft war genau als Typos des vollständigen und ultimativen – und deshalb zugleich materiellen wie spirituellen – Endkampfes. Die neuen Kreuzfahrer würden einem Feind begegnen, den die Chanson als das „Geschlecht des Antichrist“ bezeichnete.171 Die familiäre Assoziation sollte ernst genommen werden. Die Muslime waren die „Bastardsöhne“ (wörtlich die adulterini filii, entsprungen aus der Mesalliance Abrahams mit der Sklavin Hagar). Die Juden waren die legitimen (mit Sarah gezeugten) Kinder, die ihr Erbe durch die Tötung ihres Vaters verwirkt hatten. Aber die Kreuzfahrer waren, wie von Christus verkündet, Christi adoptierte Nachkommen: „Sie werden mir dienen, als hätte ich sie gezeugt …; sie alle werden meine Söhne sein.“172

Eine genaue Datierung der Chanson ist schwierig. Doch wie Jay Rubensteins Forschungen zeigen, scheint der Prozess, den das Gedicht sichtbar macht, in den ersten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts angelaufen zu sein, wenn auch interessanterweise nicht unmittelbar.173 Der erste Kreuzzug begann im Licht der Exegese eschatologisch neuen Sinn zu ergeben. Im Gegenzug wurde er dann im Lauf des 12. Jahrhunderts und später in die Exegese, auch in die des Eschaton, eingebunden.174 Geroh von Reichersberg, der über Schutzengel und die schützende Kraft des Kreuzes sinnierte, verfertigte eine Zusammenfassung des Kreuzzugs, wobei er sich auf Robert den Mönch und Raimund von Aguilers stützte.175 In diesen hoch- und spätmittelalterlichen Kommentaren zur Offenbarung des Johannes, die die Siegel und Posaunen als Prophezeiungen geschichtlicher Ereignisse interpretierten, wurde der erste Kreuzzug zu einer bedeutenden Station auf dem Weg zum Ende. Der deutsche Franziskaner Alexander „Minorita“ baute in seine Auslegung der Kapitel 17 bis 19 der Offenbarung chronikalische Schilderungen des ersten Kreuzzugs ein, insbesondere zu Gottfried und seinem Bruder Balduin, den ersten Herrschern über das fränkisch besetzte Jerusalem. Ebenso verfuhr er mit den Kapiteln 20 bis 21, wo er die Ereignisse des zweiten bis fünften Kreuzzugs (umfassend den Zeitraum 1145–1221) lokalisierte. Für Alexander waren die Voraussagen aller Kapitel der Offenbarung damit eingetroffen.176 Sein weitschweifiger Kommentar wurde von einem Franziskanerkollegen, Pierre Auriol (oder Aureol; gest. 1322) aufgegriffen, vereinfacht und popularisiert. Auriol fasste den ersten Kreuzzug und die Regierungszeit von Balduin, des zweiten christlichen Herrschers von Jerusalem (1100–1118), ausführlich zusammen. Der sechste Engel der Offenbarung war Papst Gregor VII., der siebte Engel war Alexius (der Papst Urban dazu bewegt hatte, für den Kreuzzug zu predigen). Die fünfte Vision umspannte den Zeitraum von der Wiedereroberung Jerusalems bis zum Erscheinen des Antichrist und dem Jüngsten Gericht, eine Periode, zu der die Niederlage von Hattin, der Aufstieg der Franziskaner und Dominikaner, die Herrschaft Friedrichs II. und die mongolischen Eroberungen gehörten.177 Und obwohl der noch populärere Nikolaus von Lyra (gest. ca. 1348/49) solche Einfügungen unlängst vergangener Ereignisse in die Prophezeiungen der Offenbarung nicht für zwingend hielt, nahm er die Interpretation seiner Vorgänger auf.178

Neben seiner Aufnahme in die Exegese fand der erste Kreuzzug schließlich auch in der Literatur seinen Niederschlag. Der große französische Experte Jean Flori vermerkte die Enttäuschung der mit dem ersten Kreuzzug verbundenen eschatologischen Erwartungen und formulierte in diesem Zusammenhang, dass „der erste Kreuzzug nicht das Zeitenende, sondern die Kreuzzüge hervorbringt“.179 Diese Aussage ist zum einen insofern wahr, als das Heilige Land nach seiner ersten Eroberung immer wieder gerettet werden musste. Sie ist zweitens wahr im Hinblick auf die literarische Produktion. Und sie ist drittens insofern wahr, als der erste Kreuzzug zum Modell für weitere derartige Unternehmungen wurde, einerseits ganz prosaisch, andererseits mit je unterschiedlichen Graden typologischer Aufladung. Das lässt sich an der Complainte d’outremer, der Klage über das Heilige Land, ablesen, die der Dichter Rutebeuf um 1270 sang, um die Franzosen für einen neuen Kreuzzug zu gewinnen:

„Seht nun, dass die Zeit gekommen ist, wenn Gott sich nach euch auf die Suche macht/Mit ausgestreckten Armen, mit Seinem Blut befleckt/Durch das er das Feuer von Hölle und Fegefeuer/Auslöschen wird./

Beginnt jetzt eine neue Geschichte (recommenciez novele estoire)/Dient Gott mit ganzem Herzen./Denn Gott zeigt euch den Weg/Seines Landes und Seiner Schritte/…/Aus diesem Grund solltet ihr die Einsicht gewinnen/Das Gelobte Land/Zu behaupten und zu verteidigen.“180

Nur durch die Teilnahme am Kreuzzug konnte ein Franzose sich auf das Urteil, das nach dem Tod über ihn ergehen würde, vorbereiten. War diese novele estoire aber tatsächlich eine neue „Geschichte“, eine neue Episode in einer Art Fortsetzungskrieg (wie die Estoire de Eracles, eine mit der Herrschaft von Kaiser Heraklius beginnende Kreuzzugschronik suggerierte)? War Rutebeufs Äußerung „säkular“, und wenn ja, auf welche Weise? Oder stand sie dem während des ersten Kreuzzugs und seiner Nachwehen präsenten Bedeutungsgehalt näher – historia als buchstabengetreu umgesetzte und mit spiritueller Wahrheit erfüllte Prophezeiungen? Historia in dieser Bedeutung begegnet bei zwei Chronisten: Ekkehard von Aura und Guibert von Nogent. Ekkehard erzählte von Weihnachten 1099 im Heiligen Land: Aus dem ganzen Orient waren Christen zusammengekommen, um die Geburt des Erlösers in Jerusalem zu feiern, und viele Bischöfe wurden dort geweiht. Diese Szenen riefen dem deutschen Mönch die freudigen und feierlichen Verse von Jesaja 60 ins Gedächtnis, die den Ruhm und Glanz Jerusalems verkünden, den Zustrom dorthin, die Bekehrung der Nichtjuden und die Vernichtung der Feinde. Ekkehard schwärmte: „ Die Prophezeiungen, die bis dato mystische waren, sind in sichtbare Geschichten gewandelt“ worden („versis in hystorias visibiles eatenus mysticis prophetiis“).181

Auch für Guibert waren die greifbaren Ereignisse des Kreuzzugs „historisch“. Gleich nach seiner Beschreibung des Siegs über „Babylon“ bei Askalon versuchte Guibert, in einem von Rubenstein genau untersuchten Gedankengang, im zwölften Kapitel der Prophezeiung des Sacharja das zu finden, was mit den Taten der Kreuzfahrer harmonisch übereinzustimmen (consonum) vermochte. Im Verlauf dieser Exegese, die Kreuzzugsereignisse auf alttestamentarische Prophezeiungen bezog, kam er auf die umfangreichen Truppen zu sprechen, die die Fatimiden in Askalon zusammengezogen hatten: „Ist Jerusalem erst einmal befreit, ‚werden alle irdischen Königreiche sich gegen [die Stadt] versammeln‘ [Sach 12, 3]. Dieser [Vers] wurde nicht vorgebracht, um als Allegorie entziffert (subintelligendum), sondern um mit spirituellen Augen (supernis oculi), als neu erzählte Geschichte (historia noviter relata) betrachtet zu werden.“182

Hier, um 1108, hatte historia nicht mehr die bislang übliche Bedeutung. Sie war nicht länger der (üblicherweise aus dem Alten Testament) biblische „Buchstabe“, der mystischen Sinnes zu lesen war, um eine verborgene Wahrheit zu enthüllen.183 „Geschichte“ sollte nun direkt im Lichte des Geistes, supernis oculis, begriffen werden. Folglich beschränkte der Exeget Guibert die Einfälle seiner Feder durch die historialis veritas, die Wahrheit der historia. Im Fragemodus entwickelte er seine Position noch etwas weiter: „Aber wo überschreitet die Freiheit zu allegorisieren die Grenzen und Ränder der Wörter, wenn die Wahrheit der historia uns Schranken auferlegt, damit wir nicht in [verschiedenen] Interpretationen (opiniones) herumirrend gesehen werden?“184 Ein paar Jahre später, in einer Schrift gegen die Juden, verfuhr Guibert ebenso mit Jesaja 62–64: Der Prophet, sagte Guibert, bezog sich direkt auf die Passion Christi; er „irrte nicht in prophetischen Rätseln herum, sondern beschrieb [die Ereignisse] auf historische Weise (historialiter)“.185 Guibert beschloss seine Ausführungen über Sacharja, indem er auf das nun in den Händen der Kreuzfahrer befindliche „materielle Jerusalem“ verwies, seposito omni misterio, frei von jeglicher verhüllter Bedeutung. In dem apokalyptischen Moment des ersten Kreuzzugs – und als solchen Moment sah Guibert den Kreuzzug nach wie vor an – war die Wahrheit oder Wirklichkeit der Dinge nicht allegorisch, sondern die im vollen und wörtlichen Sinne verwirklichte Prophezeiung, die historia, allerdings mit göttlichem Geist aufgeladen.

Was also meinte Rutebeuf mit novele estoire? Aus dem eschatologischen Lexikon übernahm der Dichter das Wort „neu“, aber das implizierte bei ihm nicht „letzte“. Schließlich verfasste er zwei Klagen über Outremer (das Heilige Land) und nannte die zweite Nouvelle complainte d’outremer, die „neue Klage“. Zudem umfasste in Rutebeufs literarischer Produktion das semantische Feld von estoire sowohl unsere Ereignisgeschichte als auch unsere (erzählte) Geschichte (mit conte, Erzählung, als Synonym von estoire). Seine „Geschichte“ war also nicht identisch mit derjenigen, die Ekkehard und Guibert in den Nachwehen der Eroberung von Jerusalem geltend machten, aber ganz ohne Bezug darauf war sie auch nicht. Schließlich stellte Rutebeufs Gedicht die Ankunft Christi literarisch dar: seiner Wiederkehr am Ende der Zeiten, der die blutbefleckten Leidenswerkzeuge seiner erlösenden Passion vorausgingen, die arma Christi. Diese blutige Ankunft forderte implizit Rache und rief explizit die französischen Ritter auf, an die Taten der ersten Kreuzfahrer (Rutebeuf erwähnte Gottfried, Bohemund und Tankred) anzuknüpfen und „wiederum“ eine „neue Geschichte“ zu beginnen. Die genannten Vorgänger hatten sich das Paradies durch Mühsal und Märtyrertum erworben.186 Es gab also in Rutebeufs Vokabular schwache Spuren der racheerfüllten Aura des ersten Kreuzzugs und ihrer Umwandlung in einen Typos, wie im Chanson d’Antioche geschehen. Die novele estoire sollte eine buchstäbliche, aber mit providentieller Bedeutung anfgeladene Fortsetzung der Taten des ersten Kreuzzugs sein.

Wie die Liste der mit besonderer Bedeutung aufgeladenen EREIGNISSE (Events) bei Pierre Auriol und anderen zeigt, war die Heilsgeschichte hauptsächlich eine Geschichte heiliger Kriege – spiritueller Konflikte mit Häresien oder physischer und zugleich mystischer Kriegführung gegen Heiden, Häretiker und falsche Brüder. Zum Teil war es auch eine Geschichte gleichsam degradierter apokalyptischer Momente. Möglicherweise konnten Ereignisse, die zu ihrer Zeit als apokalyptisch gegolten hatten, sich innerhalb des Verlaufs der Heilsgeschichte gerade wegen ihrer apokalyptischen Aufladung in besondere Knotenpunkte verwandeln. Die Hypothese lässt sich unmöglich beweisen – und ferner wäre die Behauptung, dass jedes EREIGNIS (event), welches in Auriols Interpretation der Offenbarung – um bei diesem Beispiel zu bleiben – prominent auftrat, durch diesen Mechanismus hervorgebracht wurde, weit übertrieben. Aber die Hypothese wird durch zwei eigenartige Details gestützt, deren eines aus dem 11. und deren anderes aus dem 16. Jahrhundert stammt.

Die Taten Karls des Großen waren ein erstrangiger Kandidat für eine Platzierung unter die Posaunen und Siegel der Apokalypse. Ein Jahrzehnt vor dem Beginn des ersten Kreuzzugs, 1084, hatte Bischof Benzo von Alba Karl den Großen zum Typos für seinen eigenen Herrscher, Heinrich IV., erhoben. Für Benzo war Heinrich der von den sibyllinischen Prophezeiungen angekündigte letzte Weltherrscher, der dazu bestimmt sei, ins Heilige Land und zu dessen Grabstätten zu reisen und in „Salomons Stadt gekrönt zu werden“.187 Der Bischof legte Karl dem Großen eine flammende Rede in den Mund, deren Adressat Heinrich war. Gleich zu Beginn nannte der Frankenkaiser seinen Nachfolger „Caesar, mein Abbild (imago)“.188 Dann verwies er auf das Mysterium (misterium), das sie miteinander verband. Dazu gehörten Geschenke, die der Kaiser von Byzanz 1082 gemacht hatte – Reliquien von Christi Passion (Stücke vom Leichentuch, vom Kreuz und von der Dornenkrone). Benzo nennt sie „Zeichen, die Sinnbild bieten“, figuralia signa. Auf sie hatten bereits die Geschenke (ebenfalls signa) vorausgedeutet, die einst Karl der Große aus Jerusalem erhalten hatte, wie etwa die Schlüssel zum Heiligen Grab und eine Standarte. Die jetzigen Reliquien würden Heinrich den Sieg und seine Rolle als „Bannerträger der christlichen Religion bei diesem Werk“ sichern – der Rückeroberung der heiligen Stätten (wie so häufig, ist die Entsprechung zwischen Einst und Jetzt zugleich ein mahnender Hinweis darauf, die göttlichen und menschlichen Gesetze nicht zu entwerten und zu verletzen).189 Im 11. Jahrhundert wurde Karl der Große mit der Aura mythischer Taten umgeben; seine Gestalt war zum Typos für spätere Könige geworden, und seine legendären, heldenhaften Leistungen waren Vorzeichen für die von den späteren Monarchen erhofften Großtaten, wozu auch, als letzte aller Unternehmungen, der Kreuzzug gen Jerusalem gehörte.190

Spekulativ gesehen gewann die Gestalt Karls des Großen ihre Aura aus der in Benzos Zeit und schon früher verbreiteten Vorstellung, Karl sei nicht nur eine frühe, sondern, als möglicher Kaiser der letzten Tage, auch eine späte Lichtgestalt. Karl konnte auf Heinrich als letzten Weltherrscher vorausdeuten, weil das 11. Jahrhundert Karl in dieser Rolle sah, wie eine Reihe von Quellen übereinstimmend andeutet. Man denke vor allem an die Öffnung von Karls Grab in Aachen durch Otto III. zu Pfingsten im Jahre 1000 – einem wahrhaft apokalyptischen Datum.191 Ein Historiker ist sogar so weit gegangen zu behaupten, dass im 11. Jahrhundert das Reich Karls des Großen die Herrschaft des letzten Kaisers „präfigurierte“.192 Diese eschatologische Aufladung könnte bereits zu Karls eigener Regierungszeit präsent gewesen sein, wurde er doch an einem symbolisch hochgradig aufgeladenen Tag, nämlich zu Weihnachten des Jahres 6000 gemäß der Zeitrechnung der Septuaginta (also am 25. Dezember 800), gekrönt; diese ältere Zeitrechnung war damals im Frankenreich neben der neueren Zählung ab Christi Geburt noch verbreitet.193

Der gleiche Mechanismus, wenn auch mit anderem Ausgang, war nach dem Sturz des Königreichs der Wiedertäufer in Münster im Juni 1535 am Wirken, besiegelt durch den Sieg der vereinigten lutherischen und katholischen Streitkräfte unter Führung des Bischofs von Münster. Anton Corvinus, ein lutherischer Pastor, durfte mit einigen eingekerkerten Führern der Wiedertäufer diskutieren. Einige Monate später, im Januar 1536, sollte er die brutale Folterung und den Tod dieser Männer miterleben. Die Freude der blutrünstigen katholischen Henker, so merkte er ironisch an, wäre wohl nur dann noch größer gewesen, wenn ihre Opfer lutherisch gewesen wären. Die Standhaftigkeit des Jan van Leyden (eigentlich Jan Beuckelszoon), des besiegten Königs der Münsteraner Chiliasten, beeindruckte ihn. Doch war sie letztlich nicht verwunderlich, denn der Teufel hatte ihm ja Kraft verliehen.194 Davor, im Kerker, hatten „der Prediger“ und „der König“ (so nannte Corvinus in seinem Bericht sich und Jan) einen notwendigerweise nicht auf Augenhöhe geführten theologischen Dialog über Jan van Leydens „Irrtümer“ geführt, der in seiner Unausgewogenheit mit dem Prozess gegen Bucharin 1938 vergleichbar war. Der „König“ saß im Kerker und war wohl schon durch die Folter geschwächt, während der „Prediger“ die geistliche Obrigkeit repräsentierte. Doch gegenüber der lutherischen Position, dass Christus nur ein spirituelles Königreich vorgesehen habe, behauptete zunächst Jan van Leyden die eigene Auffassung mit Festigkeit. Es sei einzig für das vorangegangene „Zeitalter des Leidens“ gewesen, dass die biblischen Autoritäten ein rein spirituelles Wesen des Königreichs vorgesehen hätten. Aber die Propheten und die Offenbarung verkündeten ein „leiblich Reich inn die zeit der glori und herligkeit“. Hierin folgte Jan der Zeiteinteilung, die der Münsteraner Theologe Bernhard Rothmann, ein Parteigänger der Wiedertäufer, entworfen hatte. Rothmann hatte gemahnt, nicht „de tydt des lydens“ (Zeit des Leidens), in der das Schwert verboten war, und „de tydt der restitution“ (Zeit der Vergeltung), die die Rache durch das Schwert forderte, zu „vermengen“. Weiter hatte der Theologe hervorgehoben, dass „de hogeste kunst in der schrifft“ sei, „de tyde wetten tho vnderscheiden (zu wissen, wie man die Zeiten unterscheidet).195 Jan räumte ein, dass seine Niederlage ihn etwas gelehrt habe: Münster konnte nicht das letzte weltliche Königreich gewesen sein. Zudem hatte er im Kerker erkannt, dass sein ursprünglicher Glaube, „es solte sich vnser Reich bis auff die zukunfft Christi erstreckt haben“, ein Irrtum gewesen sei. Dennoch gehörte dies Königreich immer noch zur Heilgeschichte. Jan schloss: „Und eben des selbigen Reichs, ist vnser Reich zu Můnster ein bilde gewesen, wie ir denn wisset, das Gott durch bilder viel dings anzeiget, vnd zu uerstehen gibt.“196

Diese seine immer noch positive Auslegung konnte der König nicht mehr lange aufrechterhalten. Einige Monate später gab er endgültig nach. In seinem abschließenden, unterzeichneten Geständnis verwendete er ein negatives, für die Befolgung zeremonieller Vorschriften im Alten Testament reserviertes semantisches Feld; es bezog sich auf Bräuche, die mit der ersten Ankunft Christi obsolet geworden waren. Jan gab zu, dass „das angefange Reich zu Můnster, nur ein eitel, tod bilde [gewesen sei], so vmb des misbrauchs willen, habe verfallen můssen“.197 Dieses Königreich war kein Typos.

In seinem ersten Zugeständnis, dem von Juni 1535, gegenüber Corvinus war er nicht so weit gegangen. Darin hatte König Jan sein Münsteraner Reich gewissermaßen umgesiedelt und historisiert, so wie die Chanson d’Antioche den ursprünglich apokalyptisch gedeuteten ersten Kreuzzug neu interpretiert hatte. Das Reich zu Münster war nicht mehr Teil der geschichtlichen Endzeit oder eines Kontinuums, das bruchlos zu ihr hinführte und andauern würde bis zur (um den König noch einmal zu zitieren) „zukunfft Christi“. Vielmehr hatte er das Reich zu einem Typos für das eschatologische Jerusalem auf Erden herabgestuft. Doch während der erste Kreuzzug in das Andenken der westlichen Eliten einging und, in Übereinstimmung mit der Interpretation der Chanson, als Wegmarke der Heilsgeschichte in Kommentare zur Offenbarung aufgenommen wurde, konnte der Emporkömmling Jan, der mit glühenden Zangen gefoltert und schließlich hingerichtet wurde, seine Typologie nicht durchsetzen. Das Königreich von Münster, zunächst eine partielle Erfüllung und ein realer Typos des eschatologischen Reichs, war schließlich in Jans letztem Geständnis nur noch ein „eitel, tod bilde“.

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Hegels Modell – und das ist kein Einzelfall – beeindruckte die Moderne, gerade weil es mit autoritativem Nachdruck einen im Entstehen begriffenen Gemeinplatz artikulierte, von dem viele andere ebenfalls überzeugt waren. Jenseits des Atlantiks glaubte das protestantische Amerika ebenfalls an eine von Konflikten vorangetriebene Geschichte. So verkündete etwa ein 1853 unter der bezeichnenden Überschrift Gesetze des Fortschritts erschienener Artikel, dass allerlei militärische Erschütterungen „notwendig [sein könnten], um die geistige und moralische Atmosphäre zu reinigen und die Menschen für universelle Gleichheit und Christlichkeit bereit zu machen“. Ein paar Jahre später hieß es in derselben Zeitschrift, dem Presbyterian Quarterly Review, der Verlauf der Geschichte werde von einem „Gesetz des Konflikts“ beherrscht, bei dem es eine gegnerische Macht gebe, die „moralisch böse“ sei. Zur Zeit des Bürgerkriegs las und hörte man häufig Kommentare, denen zufolge Kriege gottgewollt waren und neue Zeitalter eröffneten.198 Es war nicht nur einfach so, wie Orosius und die auf ihm basierende Tradition es wollten, dass Gott jedes Ereignis bestimmte und verfügte. Mehr noch: Gewalttätige Episoden waren Beispiele und Typoi, die die Geschichte vorantrieben. Selbst in einer so zukunftsorientierten Kultur wie der US-amerikanischen konnten die Kämpfe der Vergangenheit durch die Typologie und ihre Sprache zur Erlösung finden. In seiner 1853 in Yale gehaltenen Rede erklärte Henry Boynton Smith, dass die „in der materiellen [Sphäre] ausgetragenen Schlachten in der spirituellen Sphäre erneuert werden. Sie enden nicht mit der Stunde des Siegs oder der Niederlage. Sie tauchen in größerem Rahmen und unter einem weiter gespannten Himmel erneut auf.“ Die Rolle der Geschichte bestehe darin, „die Geister aus dem Reich der schattenhaften Vergangenheit herbeizurufen, ihre Konflikte im Geist der Gegenwart neu zu beleben, damit wir in einer transparenteren Luft die Elemente und die Bedeutung jener Kämpfe erkennen können, die sie unwissentlich für uns ausgefochten haben. So habe Israel seine Kriege gegen die heidnischen Völker in symbolischer Weise (in effigy) für die modernen Christen geführt, die im letzten Weltzeitalter lebten. Smith weitete dieses exegetische Schema auf alle geschichtlichen Schlachten aus, die vor der amerikanischen Gegenwart, in der er lebte, stattgefunden hatten. Begrifflichkeit und Gesamtkonzeption blieben dabei tief der christlichen Hermeneutik verhaftet. Die Termini „materiell“, „spirituell“, „erneuern“, „schattenhaft“ gehörten sämtlich zum exegetischen Sprachgebrauch. Die neutestamentliche Auslegung sah Erneuerungen der alten Wunder, die ihrerseits Schatten der neuen Wunder waren, und erhob sie auf eine höhere Ebene. Etwas Materielles spirituell „erneuern“ drückt genau die typologische Beziehung zwischen dem materiellen Alten und dem spirituellen Neuen Testament aus. Dass die früheren Kämpfe „unwissend für uns ausgefochten“ wurden, ist ein Axiom dieser Beziehung. Smiths Formulierung wiederholte Hieronymus’ Auffassung, dass die alttestamentarischen Kriege stattgefunden hatten, um eine spirituelle Botschaft zu vermitteln. Die Fähigkeit und Kunst des Exegeten bestand darin, im Gegensatz zu dieser früheren, quasi jüdischen Unwissenheit, die den Konflikten der „schattenhaften Vergangenheit“ innewohnende Bedeutung zu sehen.199