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OPERATION NACHFOLGER:
»ES WAR BEREITS NACH MITTERNACHT«
»Später haben das alle vergessen. Alle glaubten, dass die Demokratie einfach da war. Jeder hatte nur seine eigenen Interessen im Kopf.«
– ANDREJ WAWILOW, EHEMALIGER STELLVERTRETENDER FINANZMINISTER DER JELZIN-REGIERUNG 1
PLAN A
MOSKAU – Im Sommer 1999 hatte sich eine tödliche Stille über den Kreml gesenkt. In den verschachtelten Korridoren des Hauptverwaltungsgebäudes war nur das stetige Surren elektrischer Motoren zu hören, als die Putzkräfte die Parkettböden polierten. Aus der Ferne hallten die harten Schritte eines einsamen Wachmanns auf Patrouille durch die Flure. Büros, in denen einst Bittsteller, die auf Gefälligkeiten aus waren, Schlange gestanden hatten, waren nun größtenteils leer, während sich die dort tätigen Mitarbeiter in ihre Datschen fernab der Stadt zurückgezogen hatten und nervös an ihrem Tee nippten. »Die Stimmung war wie auf einem Friedhof«, sagte Sergej Pugatschow, der Kreml-Bankier, der eine ganze Reihe von Leitern der Präsidialverwaltung beraten hatte. »Wie in einem Unternehmen, das bankrottgegangen war. Plötzlich war alles weg.« 2
Für Pugatschow und die anderen Mitglieder von Jelzins engstem Kreis, weithin als »die Familie« bekannt, die sich nach wie vor im Kreml aufhielten, waren angespannte Zeiten angebrochen. Jelzin hatte sich seit Oktober immer wieder im Krankenhaus behandeln lassen müssen, und vor den Toren des Kreml schienen die Vorbereitungen für einen Coup zu laufen. Die Grundmauern von Jelzins Regentschaft wurden Stück für Stück geschliffen, eine Folge der katastrophalen Entwertung des Rubels im vergangenen Sommer, als 40 Milliarden Dollar Staatsschulden nicht zurückgezahlt werden konnten. Das leichte Geld, das Selbstbedienungsbüfett für gut vernetzte Auserwählte, das die Boomjahre der Marktumstellung geprägt hatte, war mit einem lauten Knall verpufft. Die Regierung hatte den Haushalt vier Jahre lang über die Ausgabe kurzfristiger Staatsanleihen finanziert, was ein Schneeballsystem erschuf, dessen einzige Profiteure eine Handvoll Oligarchen gewesen waren, die jungen Wölfe der Jelzin-Ära. Eine Zeit lang hatten die Tycoons die steigenden Zinsen auf Staatsanleihen und den fixen Wechselkurs dazu genutzt, die Gewinne einer todsicheren Wette zu kassieren, während die Zentralbank einen immer größeren Teil ihrer Hartwährungsreserven aufbrauchen musste, um den Rubel stabil zu halten.
All das war im August 1998 in sich zusammengefallen, und wieder einmal hatte es die russische Bevölkerung am härtesten getroffen. Viele Banken der Oligarchen waren unter der Krise eingebrochen, doch sie selbst hatten den Großteil ihres Vermögens rechtzeitig ins Ausland geschafft, sodass nur die Ersparnisse der Bürger und Bürgerinnen verloren gingen. Das Parlament, damals noch in der Hand der Kommunisten, geriet in Aufruhr. Der in die Defensive gedrängte Jelzin erklärte sich bereit, mit Jewgeni Primakow, dem ehemaligen Chef des Auslandsgeheimdienstes und langjährigen Vorposten des KGB-Netzwerks, einen Vertreter aus der Führungsriege der ehemaligen Sicherheitskräfte zum Ministerpräsidenten zu ernennen. Dann hatte sich der Präsident, dessen Werk in Scherben lag, von Krankheit geplagt in den Urlaubsort Sotschi am Schwarzen Meer zurückgezogen, während Primakow eine Reihe kommunistischer Stellvertreter, angeführt vom ehemaligen Leiter des sowjetischen Komitees für Wirtschaftsplanung (Gosplan), in die Regierung holte. Jelzin kam wiederholt ins Krankenhaus, und ein Kreml-Mitarbeiter deutete an, dass er sich von nun an eher im Hintergrund halten werde. 3
Die Mitglieder der alten kommunistischen Garde hatten sich Stück für Stück die politischen Führungsposten erobert. Nun, da sie die Kontrolle über das Kabinett hatten, deckten sie einen Finanzskandal nach dem anderen auf, und alle drehten sich um die Exzesse ihrer Gegner in der Jelzin-Regierung. Die federführende Kraft bei diesen Korruptionsvorwürfen war Juri Skuratow, der rundliche und scheinbar sanftmütige Generalstaatsanwalt. Bis zum Frühjahr war er eher dafür bekannt gewesen, Strafverfahren still und leise einzustellen, statt sie zu eröffnen, aber jetzt hatte er inmitten der öffentlichen Entrüstung rund um die Finanzkrise angefangen, gegen Korruption auf höchster Ebene vorzugehen. Als Erstes hatte er eine Breitseite gegen die Zentralbank gefahren. In einem Brief an den kommunistischen Sprecher der Duma legte er dar, wie die Bank insgeheim Hartwährungsreserven im Wert von 50 Milliarden Dollar außer Landes geschafft hatte, über Fimaco, die obskure Offshore-Firma, die in Jersey registriert war 4 – eine Enthüllung, die gewissermaßen eine Büchse der Pandora öffnete, was den Insiderhandel und das Abschöpfen von Geldern über staatliche Schuldverschreibungen anging.
Hinter den Kulissen liefen noch weitere bedrohliche Ermittlungen. Bei einer von ihnen bestand das Risiko, dass sie direkt zu den Konten der Jelzin-Familie führen könnte. Im Mittelpunkt stand Mabetex, ein kaum bekanntes Unternehmen im Schweizer Alpenstädtchen Lugano nahe der italienischen Grenze, das im Verlauf der Neunzigerjahre milliardenschwere Aufträge zur Renovierung des Kreml, des russischen Weißen Hauses und anderer prestigeträchtiger Objekte erhalten hatte. Anfangs schienen sich die Ermittlungen, die Skuratow in Zusammenarbeit mit der Schweizer Bundesanwaltschaft durchführte, auf mutmaßliche Schmiergeldzahlungen an Mittelsmänner rund um Pawel Borodin zu konzentrieren, den herzlichen und etwas derben sibirischen Parteikader, der seit 1993 die riesige Liegenschaftsverwaltung des Kreml geleitet hatte. Doch dahinter verbarg sich ein potenziell größerer Skandal. Und das wussten diejenigen im Kreml, die an Jelzins Stelle die Regierungsarbeit machten, nur zu gut. »Jeder hatte Angst davor, was passieren könnte«, meinte Pugatschow. »Niemand traute sich, zur Arbeit zu gehen. Alle zitterten wie Espenlaub.« 5
Die Eckpfeiler des Falls waren leise zusammengetragen worden. Ein Teil der alten Garde, vor allem die im Schatten lauernden Vertreter der Sicherheitsbehörden, hatten seit dem Beginn von Jelzins Amtszeit nach einer Möglichkeit gesucht, ihn abzusetzen. Sie hatten seine Bemühungen um mehr Demokratie lange voller Abscheu beobachtet, und als er die russischen Regionen dazu aufrief, so viel Freiheiten für sich in Anspruch zu nehmen, wie sie vertragen konnten, hielten sie das für einen Teil einer westlichen Verschwörung mit dem Ziel, die Russische Föderation zu schwächen und letztendlich zu zerstören. Sie steckten immer noch in der Nullsummendenkweise des Kalten Krieges fest und meinten, dass Jelzin der US-Regierung hörig sei, die ihn überhaupt nur ins Amt gehievt hätte, um die Sowjetunion zunichtezumachen. Sie verachteten seine augenscheinliche Freundschaft mit US-Präsident Bill Clinton und waren fest davon überzeugt, dass die Marktreformen, die sie selbst ersonnen hatten und die ihren Teil dazu beigetragen hatten, dass Jelzin an die Macht kam, nun pervertiert worden seien, um die Oligarchenherrschaft der semibankirschtschina zu ermöglichen – die Herrschaft jener sieben Bankiers, die ihre ehemaligen Meister vom KGB ausgestochen hatten und mittlerweile über weite Teile der Wirtschaft herrschten. Jelzins demokratische Errungenschaften waren dieser alten Garde völlig egal, in ihren Augen war er ein verwirrter Alkoholiker, der nicht in der Lage war, das Land zu führen. Gleichzeitig bilde seine »Familie«, zu der Jelzins Tochter Tatjana, sein Leiter der Präsidialverwaltung (und zukünftiger Schwiegersohn) Walentin Jumaschew und verschiedene Gefolgsleute des Oligarchen Boris Beresowski zählten, eine unheilige Allianz, die hinter den Kulissen illegal die Macht an sich gerissen hätte und das Land nun in den sicheren Untergang führe.
»Eine gewisse Gruppe von Menschen verstand, dass es so nicht weitergehen konnte«, sagte einer der Beteiligten an der Verschwörung, Felipe Turover, der ehemalige KGB-Agent, der im Rahmen des Petersburger Öl-gegen-Lebensmittel-Programms mit Putin zusammengearbeitet hatte. »Das ganze Unterfangen entstand aus einer Notwendigkeit heraus. Uns blieb keine andere Wahl. Es musste getan werden. Jelzin war ein Säufer und schwer drogenabhängig. Tatsache war, dass das Land von seiner Tochter regiert wurde und von einem Haufen Idioten, die nur auf ihre eigenen Interessen schauten. (…) Die Gouverneure widersetzten sich dem Kreml. Die Regionen machten Anstalten, zu unabhängigen Staaten zu werden. Wir mussten diesen Abschaum loswerden.«
Turover weigerte sich, die Namen der Sicherheitskräfte zu nennen, die an der Verschwörung gegen Jelzin beteiligt waren. Aber es war klar, dass die Gruppe darauf abzielte, ihn durch Primakow zu ersetzen, der als ehemaliger Chefspion einer von ihnen war. Die Verschwörer suchten von Anfang an nach Material, das Jelzin direkt mit Korruption in Verbindung brachte – nach irgendetwas, was den Präsidenten unwiederbringlich beschädigen und so die weitverbreitete und althergebrachte russische Überzeugung widerlegen würde, dass alle Probleme des Landes auf die falschen Entscheidungen und die Bestechlichkeit der Höflinge, der Bojaren rund um den Zaren, zurückzuführen seien, nicht aber auf den Präsidenten selbst. »Da er als der große Demokrat gepriesen worden war, wusste niemand, wie man ihn loswerden könnte«, meinte Turover. »Der einzige Weg führte über die Gerichte. Den Menschen musste vor Augen geführt werden, dass es einfach nicht stimmte, dass der Zar ein guter Mann ohne Fehl und Tadel war, während die Bojaren die Schurken waren. Ist der Präsident selbst ein Dieb, ist alles klar. Wir brauchten etwas Konkretes.« 6
Es war Turover, der schließlich das passende Material fand und veröffentlichte. Da er Einblick in die geheime Rückzahlung strategischer Schulden aus Sowjetzeiten hatte, sammelte und durchkämmte er jahrelang kompromat – kompromittierendes Material – über die Finanzvorgänge innerhalb der Jelzin-Regierung, in der Hoffnung, dass irgendwann einmal der richtige Augenblick käme. Als enger Freund des ehemaligen Leiters der KGB-Geheimabteilung für die Finanzierung illegaler Operationen im Ausland gehörte er seit den Achtzigerjahren zum Establishment der Sicherheitsbehörden. Er war derselbe ständig Witze reißende harte Hund vom Auslandsgeheimdienst, der Wladimir Putin schon Anfang der Neunzigerjahre geholfen hatte, das Öl-gegen-Lebensmittel-Programm in Sankt Petersburg ins Leben zu rufen – das Programm, über das eine schwarze Kasse für Putin und seine KGB-Partner eingerichtet wurde. Darüber hinaus war er auch an anderen Geheimprojekten beteiligt gewesen, die seiner Aussage nach dafür sorgen sollten, dass die strategischen Schulden der Sowjetunion bei »befreundeten Firmen« beglichen wurden, deren Zweck aber fast mit Sicherheit ebenfalls schwarze Kassen für den KGB waren.
Unterlagen zeigen, dass viele dieser Vorgänge über die Banco del Gottardo liefen, eine kleine Bank am Rand von Lugano, für die Turover als Berater tätig war. 7 Die Wahl sei auf diese Bank gefallen, sagte Turover, weil »wir eine sehr kleine Bank mit einem sehr schlechten Ruf brauchten«. 8 Die Banco del Gottardo war die Auslandstochter der Banco Ambrosiano, der Bank, die eng mit dem Vatikan kooperiert hatte und in den Achtzigern unter einem Skandal zusammengebrochen war, an dessen Ende ihr Chef Roberto Calvi tot von der Blackfriars Bridge in London baumelte. Jetzt lief eine Vielzahl russischer Schwarzgeldtransaktionen über die Konten dieser Bank, darunter ein Geflecht aus Tausch- und Warenexportgeschäften, über das Milliarden Dollar außer Landes geschafft wurden.
Das war ein weiteres Zeichen dafür, dass die alten Verhaltensweisen der komitetschiki, der KGB-Leute, trotz aller Bemühungen Jelzins, den Markt zu reformieren und auf den Trümmern der Sowjetunion ein neues Russland aufzubauen, hinter den Kulissen immer noch Bestand hatten. Obwohl Jelzin versucht hatte, viele Posten in seiner Regierung mit sogenannten »jungen Reformern« zu besetzen, die die russische Wirtschaft aus der Kontrolle des Staates lösen und das Land gemäß der Transparenzvorgaben der westlichen Institutionen leiten sollten, begünstigten die Umstände doch immer noch die Insider mit großer Nähe zum Staat – und zum Geheimdienst. Durch solche Geschäfte hatte sich die Jelzin-Familie angreifbar gemacht, und es sagte sehr viel aus, dass der Schlag gegen die Freiheiten, die Jelzin Russland hatte verschaffen wollen, von jemandem aus der Riege des KGB-Auslandsgeheimdienstes ausging. Jelzin war es nicht gelungen, sein Land oder auch nur seine eigene Familie von den Praktiken der Vergangenheit zu lösen.
Die Banco del Gottardo beherbergte die Konten von Mabetex, der undurchsichtigen Schweizer Firma, die sich die Verträge rund um die Kreml-Renovierung gesichert hatte, und in diesem Zusammenhang ergab sich auch die Verbindung zu Jelzin und seiner Familie. Als Turover diese entdeckte, habe er anfangs dagegen protestiert, Gelder zu verwalten, die mit Jelzin oder seiner Familie zu tun hatten. »Aber dann hielt ich lieber den Mund, weil ich mir überlegte, dass das alles mir eines Tages durchaus gelegen kommen könnte.« 9
Unter den Konten bei der Banco del Gottardo, die Turover einsehen konnte, hatte er Kreditkartenkonten für Jelzin und dessen Familie entdeckt. Ausgestellt hatte die Karten der Gründer von Mabetex, ein streitlustiger Kosovoalbaner namens Behgjet Pacolli, der schon seit den Siebzigerjahren im Auftrag des sowjetischen Regimes in den Niederungen der Finanz- und Baubranche tätig gewesen war. 10 Pacolli, der einst für den Chef der Kommunistischen Partei in Jugoslawien gearbeitet hatte, sei bereits lange zuvor in Schwarzgeldtransaktionen rund um den Kauf von Embargoware, die sich auch für militärische Zwecke nutzen ließ, involviert gewesen, sagte Turover. 11 Auf den ersten Blick wirkten die Kreditkarten wie eine offenkundige Bestechung Jelzins und seiner Familie durch Pacolli, und die Tatsache, dass das Geld von einem ausländischen Bankkonto kam, war ein klarer Bruch des Gesetzes, laut dem es russischen Staatsbeamten untersagt war, über solche Konten zu verfügen. Am meisten Geld hatte Jelzins Tochter Tatjana ausgegeben; ihre Abrechnungen summierten sich auf 200 000 bis 300 000 Dollar pro Jahr. 12 Eine weitere Million war offensichtlich von Jelzin im Rahmen eines Staatsbesuchs in Budapest verprasst worden. 13
Gemessen an den Summen heutiger Korruptionsskandale mit ihren vielen Milliarden Dollar erscheinen diese Beträge beinahe lachhaft. Aber damals sah die Gleichung anders aus. Der Schwerpunkt der Macht hatte sich bereits vorher rasch vom Kreml hin zu Primakows Weißem Haus verschoben. Die alte Garde und die Kommunisten waren wieder im Aufstieg begriffen. In den Nachwehen der Wirtschaftskrise waren Jelzins Umfragewerte auf ein Allzeittief von 4 Prozent gesunken. Die Kommunistische Partei, die in der Duma immer noch dominierte, setzte Termine für ein Amtsenthebungsverfahren an, in dem Jelzin sich für alles verantworten sollte, was die Kommunisten für die Sünden seiner achterbahnfahrtartigen Regierungsweise hielten: das Kriegsdesaster in Tschetschenien, das so viele russische Soldaten das Leben gekostet hatte, der Zerfall der Sowjetunion und das, was sie als den »Völkermord« an der russischen Bevölkerung bezeichneten – die Marktreformen, durch die der Lebensstandard drastisch gesunken war und die nach Meinung der Kommunistischen Partei Millionen Russen frühzeitig den Tod gebracht hatten. Die Enthüllungen über die Kreditkarten würden der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen brachte. »Primakow sollte im Föderationsrat aufstehen und den Senatoren erklären, dass der Präsident ein Dieb sei«, sagte Turover. 14
Außerdem drang die Untersuchung ungemütlich weit in Richtung der deutlich größeren Summen vor, die über einen Ölexporteur namens »Internationale Wirtschaftskooperation« (oder MES) geflossen waren, der Konten bei der Banco del Gottardo hatte und tief in die Verträge zur Kreml-Renovierung verstrickt war. MES hatte vom russischen Staat die Genehmigung erhalten, mehr als 8 Prozent der gesamten für den Export bestimmten Öl- und Ölerzeugnismengen des Landes zu verkaufen, was dem Unternehmen 1995 einen Umsatz von fast 2 Milliarden Dollar bescherte. 15 Aktiv war MES seit 1993, als Mitglieder der alten Garde aus der Jelzin-Regierung versuchten, die Kontrolle über den Ölhandel zurückzuerlangen, und das System der spezeksportery wieder einführten, der Sonderexporteure, über die alle Ölhändler ihr Öl verkaufen mussten. 16 Es war ein Insidergeschäft, das die Taschen einer kleinen und undurchsichtigen Gruppe von Unternehmern füllte, von denen die meisten den Sicherheitskräften der Jelzin-Regierung nahestanden. MES war ursprünglich gegründet worden, um die Renovierung der Russisch-Orthodoxen Kirche nach der jahrzehntelangen Zerstörung und Unterdrückung zu Sowjetzeiten zu finanzieren. Aber das Rohöl, das MES von der russischen Regierung zugesprochen bekam, um es zollfrei ins Ausland zu verkaufen, übertraf mit seinem Wert von mehreren Milliarden Dollar jeden Betrag, den der Aufbau der Kirche kosten konnte, bei Weitem.
Bei MES handelte es sich im Grunde um eine aufgemöbelte Version der schwarzen Kassen, die durch Putins Öl-gegen-Lebensmittel-Programm entstanden waren. Alle Geschäfte des Unternehmens waren undurchsichtig, und die Grenze zwischen dem, was als »strategisch« galt, und privaten Ausgaben und Bestechungsgeldern war praktischerweise nicht allzu klar gezogen. MES erzeugte in erster Linie Schwarzgeld, das dazu verwendet wurde, politische Entscheidungen gemäß den Wünschen einer Gruppe Jelzin zugeneigter Sicherheitsdienstler im Kreml zu beeinflussen. »Die hohen Tiere brauchten immer Geld. Man könnte meinen, dafür gäbe es den Haushalt. Aber wenn du Mittel benötigst, um sicherzustellen, dass eine Abstimmung im Parlament zum erwünschten Ergebnis gelangt, kannst du das Geld dafür nicht aus dem Haushalt nehmen«, erzählte mir Skuratow später. 17 Die Aktivitäten von MES standen in engem Zusammenhang mit Mabetex und der Kreml-Renovierung. Als Pawel Borodin, der Chef der Liegenschaftsverwaltung des Kreml, die Regierung ursprünglich nach Geld für die Renovierungsarbeiten gefragt hatte, hieß es, im Haushalt seien keine Mittel verfügbar. 18 Also bat er um die Genehmigung, Öl über MES verkaufen zu dürfen und das Geld auf diesem Weg aufzutreiben. Aber die Anordnungen, die MES die entsprechenden Lizenzen zugestanden – erst für 2 Millionen Tonnen Öl, dann für weitere 4,5 Millionen Tonnen –, unterlagen allesamt der Geheimhaltung. 19 Es wurde nie öffentlich dargelegt, wofür die Erträge verwendet wurden. Und dann verkündete die Regierung plötzlich, dass sie die Renovierung des Kreml mit 312 Millionen Dollar aus internationalen Krediten finanzieren werde, ganz so, als hätte der Ölverkauf über MES nie stattgefunden. 20 Offenbar hatte MES den Gewinn von bis zu 1,3 Milliarden Dollar aus dem Ölverkauf einfach eingestrichen, und niemand wusste, wo das Geld war. 21
Im Zentrum des Ganzen stand Sergej Pugatschow, der Kreml-Bankier, der später erst nach London und dann nach Paris fliehen sollte. Der hochgewachsene, gesellige Mann war ein Meister der Hinterzimmerdeals und hatte sich mit Borodin zusammengetan – die Meschprombank, die er mit gegründet hatte, war die Hauptkreditgeberin der Kreml-Liegenschaftsverwaltung. 22 Diese Abteilung war zu jener Zeit ein riesiges Geflecht, dem die Aufsicht über Immobilien im Wert von Milliarden Dollar zukam, die der Staat nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion übernommen hatte. 23 Mit Pugatschows Hilfe vergab die Abteilung Wohnungen und Datschen an Mitglieder der Jelzin-Regierung, kümmerte sich um die medizinische Versorgung der Leute und finanzierte ihnen sogar Urlaube. Es war eine Vetternwirtschaft im Sowjetstil, die sich allem Anschein nach auch auf die Jelzin-Familie erstreckte: Pugatschow sagte, er habe Jelzins Tochter Tatjana über die Meschprombank eine Wohnung gekauft. 24
Im Vergleich zu dem, was man im Zuge der Systemumstellung auf den boomenden Märkten verdienen konnte, war der Beamtensold immer noch ziemlich dürftig, und Pugatschow beharrte darauf, dass die Vorgehensweise der Liegenschaftsverwaltung der einzige Weg gewesen sei, sich ehrliche, unbestechliche Beamten zu erhalten. Doch im Grunde war die Abteilung eine einzige schwarze Kasse, und das verlieh Borodin enorme Macht – er konnte Karrieren fördern oder beenden. »Die Leute standen Schlange, um ihn zu treffen«, sagte Pugatschow. »Als Minister bekamst du nichts, wenn Borodin es dir nicht gab. Wenn du eine Wohnung, ein Auto oder sonst irgendetwas brauchtest, musstest du dafür zu Borodin gehen. Seine Position war sehr einflussreich.« 25
Pugatschow wollte sich nicht dazu äußern, inwieweit er in die MES-Affäre verwickelt war. Seine Meschprombank hatte jedoch bei der Finanzierung des Ganzen geholfen, 26 und ihn selbst verband mittlerweile eine innige Freundschaft mit dem Anführer der Russisch-Orthodoxen Kirche, Patriarch Alexi II., mit dem er seit dessen Ernennung eng zusammenarbeitete. 27 Die Renovierung des Kreml war Pugatschows Projekt, und er begleitete es auf jedem Schritt des Weges. Er kannte sich mit den komplexen Finanzierungsstrukturen von Jelzins Kreml aus und schaffte es, dabei selbst ein Vermögen zu machen. Irgendwie war es ihm gelungen, schon zu Beginn der Neunzigerjahre eine Zweigstelle der Meschprombank in San Francisco zu eröffnen, 28 und er verbrachte große Teile des Jahres in den USA. Sein direkter Zugang zum westlichen Finanzsystem steigerte seine Bedeutung für die Führungsriege innerhalb der Jelzin-Regierung. »Ich konnte ihnen erklären, wie das Finanzsystem im Westen funktionierte«, sagte er. Er mietete das teuerste Haus von San Francisco und kaufte sich später eine mit Fresken dekorierte Villa in Südfrankreich, hoch in den Hügeln mit Blick auf die Bucht von Nizza. Seine Beziehung zur Jelzin-Familie, vor allem zu Tatjana, intensivierte sich, als er sich 1996 an der Kampagne für Jelzins Wiederwahl beteiligte und ein Team aus amerikanischen Spindoktoren einbrachte. Sie organisierten einen Wahlkampf im US-Stil, der Jelzins Umfragewerten in die Höhe trieb und die Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die Gefahren einer Rückkehr der Kommunisten lenkte. 29
Die ganze Zeit über arbeitete Pugatschow eng mit Behgjet Pacolli zusammen, dem Eigentümer von Mabetex. Die Renovierung des Kreml habe er persönlich beaufsichtigt, von der Unterschrift der Verträge bis zu den Bauarbeiten selbst, erklärte er. Dabei ging es von Anfang an ziemlich nobel zu. Obwohl Pugatschow behauptete, sein Möglichstes dafür getan zu haben, dass der Kreml stets den günstigsten Preis zahlte, macht es den Eindruck, als habe man keinerlei Kosten und Mühen gescheut. Um die kunstvollen Muster auf dem Boden des Kreml-Palasts nachzubilden, kamen dreiundzwanzig verschiedene Holzarten zum Einsatz. Für die Dekoration der Säle erstand man mehr als 50 Kilogramm pures Gold, und um die Wände zu bedecken, brauchte man schließlich 662 Quadratmeter feinste Seide. 30 Der Kreml sollte nach der jahrzehntelangen Herrschaft der Kommunisten, während derer alle Schätze aus vorrevolutionären Zeiten – die Mosaikböden, die kostbaren Ornamente, die goldenen Spiegel und Kronleuchter – herausgerissen und durch schlichte Elemente ersetzt worden waren, wieder im Glanz der Zarenzeit erstrahlen. 2500 Arbeiter und Arbeiterinnen schufteten Tag und Nacht, um einen Palast zu erschaffen, wie er für Russlands neuen Zaren angemessen war. 31 Jedes Detail wurde von Pugatschow begutachtet. Als Jelzin fragte, warum vor seinem Büro eine Urne stand, und schnauzte: »Hier wird nicht geraucht«, ließ Pugatschow sie schnellstens entfernen. Und als Jelzin wissen wollte, warum die neuen Böden quietschten und knarzten, erklärte er ihm geduldig, dass sich darunter jetzt Hohlräume für Kabel befänden, für das streng geheime Kommunikationssystem des Kreml. 32
Als alles fertig war, staunten die ausländischen Staatsgäste über die Pracht dessen, was sie auf ihren Besuchen zu sehen bekamen. US-Präsident Bill Clinton und dem deutschen Kanzler Helmut Kohl stockte beim Anblick der gewölbten, mit goldenen Blättern überrankten Decke des Katharinensaals samt seinen goldenen Kronleuchtern kurz der Atem. Kohls Kommentar lautete: »Und diese Leute wollen Geld von uns?« 33
Die Renovierung hatte etwa 700 Millionen Dollar gekostet, 34 in einer Zeit, in der Russland milliardenschwere Hilfen aus dem Ausland erhielt, angeblich, weil man das Geld zum Überleben brauchte. Aber insgesamt betrugen die Ausgaben für den Staat ein Vielfaches dieser Summe. Allein die Öllizenzen, die MES erhalten hatte, waren 1,5 Milliarden Dollar wert, während Jelzin per Erlass ausländische Kredite im Wert von 300 Millionen Dollar aufgenommen hatte. Außerdem hatte Pugatschow den ersten Stellvertreter des Finanzministers, Andrej Wawilow, dazu gebracht, Garantien für Schatzanweisungen der Liegenschaftsverwaltung in Höhe von weiteren 492 Millionen Dollar zu übernehmen – offenbar ein weiteres Programm, um Geld für die Renovierungsarbeiten aufzubringen. 35 Nirgendwo wurde festgehalten, wohin die Gelder flossen.
Von den Kreditkarten der Jelzin-Familie hatte Pugatschow bereits erfahren, kurz nachdem Pacolli sie ausgestellt hatte. »Ich fragte ihn: ›Warum hast du das gemacht?‹ Er meinte, dass er sie mit den Kreditkarten in der Hand habe. Er verstand, dass es gesetzeswidrig war und im Grunde bedeutete, dass sich der Präsident bestechen ließ.« 36 Außerdem, so sagte er, habe er noch von größeren Summen gewusst, die offenbar an die Jelzin-Familie gingen. Bald danach kam heraus, dass 2,7 Millionen Dollar auf zwei Konten der Bank of New York auf den Cayman Islands eingezahlt worden waren, die auf den damaligen Mann von Jelzins Tochter Tatjana, Leonid Djatschenko, liefen. 37 Ein Anwalt der Ölfirma, die Djatschenko später leitete, sagte, es habe sich um Honorare für dessen Arbeit gehandelt.
Als die Schweizer Bundesanwaltschaft nun also an einem kalten grauen Morgen Ende Januar 1999 mit Helikoptern und mehreren Dutzend gepanzerten Wagen bei Mabetex, der Firma von Pacolli in Lugano, auftauchte, um eine Razzia durchzuführen, und mit einer Lkw-Ladung Unterlagen wieder abzog, war das, milde formuliert, ein Schock. 38 Pacolli setzte Pugatschow und Borodin sofort über die Situation in Kenntnis, und die Nachricht drang wie ein vergifteter Pfeil zu Jelzins Tochter Tatjana durch, die in Abwesenheit ihres Vaters als inoffizielles Staatsoberhaupt fungierte, und zu dem Mann, den sie später heiraten sollte, dem kurz zuvor abgelösten Leiter der Präsidialverwaltung Walentin Jumaschew, oder »Walja«, wie er liebevoll genannt wurde. 39 Für Pugatschow war die Situation vor allem deshalb bedrohlich, weil so viel Geld über MES geflossen war. Was Tatjana und Jumaschew anging, konnte die Spur zu den Kreditkarten und anderen – größeren – Summen führen, die anscheinend auf private Offshore-Konten überwiesen worden waren.
Still und leise, ohne jemanden zu informieren, hatte Generalstaatsanwalt Skuratow strafrechtliche Ermittlungen hinsichtlich der mutmaßlichen Veruntreuung von für die Renovierung des Kreml vorgesehenen Geldern über Mabetex aufgenommen. 40 Er hatte in den vergangenen Monaten unbemerkt mit der Schweizer Bundesanwaltschaft zusammengearbeitet, und bis zur Razzia war niemandem bewusst gewesen, dass er eine Untersuchung in die Wege geleitet hatte. Den ersten Stapel an Unterlagen zu dem Fall hatte er schon in den Wochen nach der Rubelkrise im August 1998 erhalten. Um ein Abfangen zu verhindern, hatte die Schweizer Bundesanwältin Carla del Ponte sie ihm per Diplomatenpost an die Schweizer Botschaft in Moskau geschickt. 41 Wenige Wochen später, Ende September, hatte Skuratow sich heimlich mit del Ponte getroffen, indem er sich bei einem offiziellen Besuch in Paris absetzte, um in Genf mit ihr zusammenzukommen. Dort stieß er auch zum ersten Mal auf Felipe Turover, den KGB-Informanten, der die Sache ins Rollen gebracht hatte und der schon bald unerkannt nach Moskau reiste, um dort eine offizielle Zeugenaussage zu machen. 42 Skuratows engster Stellvertreter wusste Bescheid, 43 aber darüber hinaus hatte sich Skuratow ausschließlich mit dem Jewgeni Primakow, dem Ministerpräsidenten aus der alten Garde des KGB, abgestimmt. 44
Doch sobald Skuratow im Januar den Befehl zur Razzia in Lugano erteilt hatte, war es mit der Geheimniskrämerei vorbei. »Sämtliche unserer Bemühungen, den Fall vertraulich zu halten, brachen in sich zusammen«, sagte er. »Nach dem Schweizer Gesetz musste del Ponte Pacolli den internationalen Durchsuchungsbefehl vorlegen. Natürlich nahm er sofort Kontakt zu Borodin auf.« 45 Auch Turover war nicht glücklich darüber, dass das Geheimnis nun aufgeflogen war: »Sie [del Ponte] hätte nicht so viel Lärm schlagen müssen. Die ganzen Helikopter wären nicht nötig gewesen. Das war ein klares Signal an Moskau, dass sie sich die Unterlagen geholt hatten.« 46
Die Razzia markierte den Beginn eines nervösen Katz-und-Maus-Spiels, in dem Pugatschow alles daransetzte, Juri Skuratow als Generalstaatsanwalt abzusetzen und den Fall einzustellen. Gleichzeitig fing für Pugatschow – und die Jelzin-Familie – in diesem Moment das Schachspiel um ihr eigenes Überleben an, das schließlich Wladimir Putin an die Macht brachte. Mit der Razzia war ein Kipppunkt erreicht – die »Familie« erkannte, dass sie vollständig unter Belagerung stand.
»Sie brauchten nur vier Tage, um sich zu organisieren«, sagte Skuratow. 47
*
Wenn Pugatschow heute zurückschaut, wirke vieles ganz verschwommen, sagt er – die unablässigen Telefonate, die Treffen bis weit in die Nacht hinein. Manche der Daten geraten durcheinander, er erinnert sich nur noch an die Jahreszeit und daran, wie das Wetter draußen vor dem Fenster war. Aber die Treffen selbst, zumindest die wichtigen, haben sich tief und dauerhaft in sein Gedächtnis eingebrannt. Andere sind in Kalendereinträgen aus der Zeit festgehalten. 48 In jenen Tagen entschied sich die Zukunft Russlands, und Pugatschow, der glaubte, sich gegen eine drohende Machtübernahme durch die Allianz aus Primakow und den Kommunisten wehren zu müssen und der natürlich auch seine eigene und die Haut der Jelzin-Familie retten wollte, versuchte so schnell zu handeln, dass er gar nicht bemerkte, wie er letztendlich die Rückkehr des KGB ermöglichte. Pugatschows Geschichte ist ein bisher unbekannter Insiderbericht dessen, wie Putin an die Macht kam – sie enthielt das, von dem die Jelzin-Familie nie wollte, dass es an die Öffentlichkeit gelangte. Zum Zeitpunkt der Mabetex-Razzia strebte Primakow politisch ehrgeizige Ziele an, und das Bündnis, das er mit dem mächtigen Bürgermeister Moskaus, Juri Luschkow, und den Gouverneuren einiger weiterer Regionen eingegangen war, drohte ohnehin schon Jelzins Regierungszeit vorzeitig zu beenden. Skuratows Ermittlungen lieferten ihnen nun eine noch schlagkräftigere Waffe.
Jahrelang hatte Pugatschow sich sein eigenes Netzwerk innerhalb der russischen Staatsanwaltschaft aufgebaut. Wie jede mächtige Institution in Russland war auch diese ein Schlangennest, wo Angestellte aus der zweiten Reihe um die Posten rangelten und kompromat übereinander zusammentrugen. Pugatschows engster Verbündeter war Nasir Chapsirokow, der listige Kopf der Immobilienabteilung innerhalb der Staatsanwaltschaft, einer Art Miniaturversion von Borodins Kreml-Behörde. Da Chapsirokow, ein Meister der Intrige, in der Lage war, Staatsanwälten Wohnungen und andere nützliche Dinge zu vermitteln, verfügte er – ganz ähnlich wie Borodin und Pugatschow im Kreml – über die Macht, Karrieren voranzutreiben oder zu beenden. »Er war mein Mann in der Staatsanwaltschaft«, sagte Pugatschow. »Er lieferte mir alle Informationen. Und nun erzählte er mir, dass ein Aufstand gegen Jelzin im Gange war. Dann brachte er mir ein Video mit den Worten: ›Da ist Skuratow mit ein paar Mädels drauf.‹« 49 Pugatschow sagte, dass er Chapsirokow anfangs nicht geglaubt habe – so eine Aufnahme wäre das ultimative kompromat, wirksam genug, um Skuratow den Job zu kosten und den Mabetex-Fall zu begraben.
Pugatschow nahm das Tape mit in sein Büro, schaffte es aber – ungeübt im Umgang mit Technik, wie er war – nicht, den Videorekorder zum Laufen zu bringen. Er nestelte ewig an den Einstellungen herum, um den richtigen Kanal zu finden, bevor er schließlich die Hilfe seiner Sekretärinnen in Anspruch nehmen musste. Sobald sie auf Abspielen gedrückt hatten, bereute Pugatschow, sie in die Sache hineingezogen zu haben. Die grobkörnige Aufnahme des stämmigen Generalstaatsanwalts, der sich nackt auf einem Bett mit zwei Frauen, offenbar Prostituierten, vergnügte, war kein schöner Anblick. Während Pugatschow sich mit rotem Kopf räusperte, fertigten seine Sekretärinnen eine Kopie der Aufnahme an. Das war laut Pugatschow ein entscheidender Augenblick. »Hätten wir keine Kopie erstellt, wäre das alles nicht passiert«, meinte er. »Dann wäre die Geschichte anders verlaufen und Putin wäre nicht an der Macht.«
Er sagte, er habe das Originalvideo an Walentin Jumaschew weitergegeben, Jelzins Schwiegersohn, der die Präsidialverwaltung geleitet hatte und diese Position hinter den Kulissen im Grunde immer noch bekleidete. 50 Jumaschew sollte es an Nikolai Bordjuscha weiterleiten, einen ehemaligen General der russischen Grenztruppe, der kurz zuvor zu Jumaschews Nachfolger in der Präsidialverwaltung ernannt worden war. Dann würde Bordjuscha Skuratow zu sich rufen, ihm von dem Video erzählen und ihm erklären, dass so ein Verhalten dem Amt des Generalstaatsanwalts nicht angemessen sei.
Pugatschow, der stets dazu neigte, seine eigene Rolle überzubewerten, sagte, dass niemand sonst gewusst habe, wie zu reagieren sei: »Sie zitterten immer noch alle.« Bordjuscha führte ein unangenehmes Gespräch mit Skuratow, der sofort einwilligte, zurückzutreten. Daraufhin überreichte ihm Bordjuscha die Aufnahme, als wollte er ihm zu verstehen geben, dass nun alles vergeben und vergessen wäre, wie unter Freunden üblich.
Doch statt den Rücktritt Skuratows zu besiegeln, ergab das Kreml-Treffen am Abend des 1. Februar eine ausweglose Pattsituation. Die Position des Generalstaatsanwalts wurde durch spezielle Gesetze geschützt, um ihre Unabhängigkeit zu gewährleisten. Skuratows Rücktritt würde erst dann wirksam werden, wenn er vom Föderationsrat, dem russischen Oberhaus, bestätigt war. Doch viele der Abgeordneten im Rat stellten sich hinter Primakow und den Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow und damit gegen den Kreml. Sie waren fest entschlossen, Skuratow zu schützen. Während er selbst wochenlang aus der Öffentlichkeit verschwand, vorgeblich, um sich in der Zentralklinik des Kreml behandeln zu lassen, schob der Föderationsrat die Abstimmung über den Rücktritt immer wieder auf.
Die Jelzin-Familie schlug sich mit den Anfängen eines potenziellen Staatsstreiches herum. Nur wenige Tage nach der Razzia bei Mabetex im Januar hatte Primakow Jelzin den Fehdehandschuh hingeworfen, indem er dessen Macht öffentlich infrage stellte. Mit Rückendeckung des Parlaments kündigte er einen politischen Nichtangriffspakt an, vorgeblich um den zunehmenden Reibereien zwischen der kommunistisch geführten Duma und dem Kreml ein Ende zu bereiten. 51 Die Duma erklärte sich bereit, die Anhörungen zum Amtsenthebungsverfahren einzustellen und nicht von ihrem verfassungsgemäßen Recht des Misstrauensvotums Gebrauch zu machen, zumindest bis zur Parlamentswahl Ende des Jahres. Im Gegenzug sollte Jelzin auf sein Recht verzichten, die Duma und die Primakow-Regierung auflösen zu können. Jelzin war entrüstet über den Vorschlag, der abgestimmt und verkündet worden war, ohne ihn darüber auch nur in Kenntnis zu setzen. »Da das alles hinter seinem Rücken gelaufen war, fiel er aus allen Wolken«, sagte Jumaschew, damals noch Jelzins engster Vertrauter. 52 »Am schlimmsten war, dass Primakow jetzt nicht mehr vor Jelzins Leuten verbarg, dass er anstrebte, der nächste Präsident zu werden.« Hinzu kam, dass Primakow vorgeschlagen hatte, Jelzin Immunität vor jeglicher zukünftigen Strafverfolgung zu gewähren, für alles, was er während seiner achtjährigen Amtszeit getan haben mochte. Es war, als glaubte er, Jelzin habe bereits in einen Amtsverzicht eingewilligt.
Die Spannungen zwischen Primakow und der Jelzin-Familie waren offenkundig. Primakow hatte der Familie eine Gänsehaut eingejagt, als er nur wenige Stunden bevor Skuratow in den Kreml zitiert und ihm der Rücktritt wegen des kompromat-Videos nahegelegt wurde, dazu aufgerufen hatte, in den russischen Gefängnissen Platz für Geschäftsleute und korrupte Beamte zu schaffen. 53 »Wir verstanden, dass er, falls er wirklich an die Macht käme, eine ganz andere Ausrichtung des Landes im Kopf hatte«, sagte Jumaschew. 54 Und als Skuratow seine Staatsanwälte am nächsten Tag, in einer letzten Aktion des Widerstands nur wenige Stunden vor der Verkündung seines Rücktritts, eine Razzia beim Ölriesen Sibneft hatte durchführen lassen, war eindeutig, gegen wen sich diese Aktion richtete. 55
Es hatte schon lange Gerüchte gegeben, dass die Beziehungen zwischen Sibneft und der Jelzin-Familie zu eng seien, dass das Unternehmen Boris Beresowski als Grundlage gedient habe, zu einer Art Hofoligarchen aufzusteigen. Sibneft hatte Öl über zwei Handelsgesellschaften verkauft: Eine von ihnen, Runicom, gehörte Beresowskis Kollegen Roman Abramowitsch, während der Eigentümer und Geschäftsführer der anderen, einer eher undurchsichtigen Firma namens Belka Trading, Tatjanas damaliger Mann Leonid Djatschenko war. 56 »Die Razzia bei Sibneft war lebensbedrohlich für die Jelzin-Familie«, sagte ein enger Geschäftspartner von Beresowski. 57 In einem offensichtlichen Versuch, Schadensbegrenzung zu betreiben, distanzierte sich die Familie von Beresowski, der sich politisch zu einem toxischen Partner für sie entwickelt hatte.
Jumaschew hatte seinen Posten als Leiter der Präsidialverwaltung bereits im Dezember abgegeben. 58 Diese Entscheidung, sagte er, habe auf der Erkenntnis beruht, dass es Primakow wirklich auf die Präsidentschaft abgesehen hatte, was weit über die Absprache hinausging, die sie getroffen hatten, als Jelzin ihn zum Ministerpräsidenten machte. »Ich war persönlich dafür verantwortlich, dass Primakow ins Amt kam«, sagte Jumaschew. »Jetzt widersetzte er sich all unseren Vereinbarungen.« 59 Gleichzeitig kursierte aber das Gerücht, dass die Ernennung von Jumaschews Nachfolger, Nikolai Bordjuscha, der aus der Grenztruppe kam und somit ein Mann der Sicherheitsbehörden war, einen Versuch darstellte, Jelzins Regierung öffentlichkeitswirkam von der »Familie« zu trennen.
Sergej Pugatschow behauptete, er habe sich selbst darum bemüht, hinter den Kulissen eine Einigung mit dem Föderationsrat zu erzielen, um sicherzustellen, dass Skuratow von der Bildfläche verschwand. 60 Aber die politisch einflussreichen Regionalgouverneure des Rates scharten sich um Primakow und Luschkow und stellten sich gegen den Kreml. Gleichzeitig wirkte sich die stetig steigende Anspannung in Bezug auf Skuratows Ermittlungen langsam auch auf die Führungsebene von Jelzins Kreml aus. Da alle große Furcht davor hatten, was die Untersuchung zutage fördern konnte, brach einer nach dem anderen unter dem Druck zusammen. Als Erstes fiel Jelzin aus, er kam wegen eines blutenden Magengeschwürs erneut ins Krankenhaus. Dann wurde Nikolai Bordjuscha in die Kreml-Klinik eingeliefert, anscheinend mit einem Herzinfarkt, wo sich kurz darauf Pawel Borodin zu ihm gesellte, der ungeschliffene Leiter der Kreml-Liegenschaftsverwaltung, der im Mittelpunkt der Mabetex-Untersuchung stand. 61 Der Kreml leerte sich rasch, und in diesem Vakuum nahm Skuratow seine Arbeit wieder auf. 62
Am 9. März, mehr als einen Monat nachdem Skuratow seinen Posten eigentlich hatte räumen sollen, setzte der Föderationsrat schließlich die Abstimmung über seinen Rücktritt an. 63 Pugatschows Versuch, sich die nötigen Stimmen der Gouverneure zu sichern, scheiterte. Am Tag der Abstimmung, dem 17. März, trat Skuratow unerwartet vor den Rat, um eine Rede zu halten. Es wurde eine glühende Ansprache, in der er behauptete, der Angriff auf ihn ginge von mächtigen Feinden aus dem engen Umfeld des Präsidenten aus; er rief die Abgeordneten dazu auf, seinen Rücktritt abzulehnen. 64 Das taten sie dann auch fast einstimmig.
In den Medien kursierten mittlerweile Gerüchte über ein kompromittierendes Video mit Skuratow. Doch nach der gescheiterten Abstimmung hätten Jumaschew und der damals nach wie vor eher unbekannte Wladimir Putin, der im Sommer zuvor zum Chef des FSB ernannt worden war, die Sache selbst in die Hand genommen, behauptete Pugatschow. Sie übermittelten die Kopie des Videos an einen staatlichen Fernsehsender, der es daraufhin einem Millionenpublikum im ganzen Land zeigte, ohne Rücksicht auf Skuratows Schamgefühl oder die Auswirkungen auf dessen Familie. Sie wollten ihn einfach nur aus dem Amt jagen. »Skuratow ist ein Idiot«, sagte Pugatschow. »Wir wollten die Sache diskret handhaben, aber er stellte sich quer.« 65
Das sei der Zeitpunkt gewesen, erklärte Pugatschow, an dem ihm Putin zum ersten Mal wirklich aufgefallen sei. Am Tag nach der Ausstrahlung des Videos gab Putin gemeinsam mit dem Innenminister Sergej Stepaschin eine Pressekonferenz, auf der er die Echtheit des Videos garantierte. Im Gegensatz zu Putins klarem, entschlossenem Auftreten hielt Stepaschin den Blick durchgehend gesenkt, als sei es ihm peinlich, mit der Sache zu tun zu haben. Pugatschow sagte, damals habe er erkannt, dass man sich auf Putin verlassen könne: 66 »Er äußerte sich ganz sachlich. Im Fernsehen wirkte er wie ein Held. Das fiel mir da zum ersten Mal auf. Zu dem Zeitpunkt hatte ihn sonst noch niemand auf dem Zettel. Aber ich dachte: Er macht sich gut im Fernsehen. Wir sollten ihn zum Präsidenten machen.« 67
Trotz alledem war Skuratow immer noch im Amt und erhöhte den Druck in Bezug auf die Mabetex-Affäre. Am 23. März, während eines erneuten Besuchs der Schweizer Bundesanwältin Carla del Ponte in Moskau, spitzte sich die Situation zu. Skuratow schickte einen Trupp Staatsanwälte los, der Unterlagen aus Borodins Liegenschaftsverwaltung beschlagnahmen und die Moskauer Büros von Mabetex durchsuchen sollte. 68 Dass ein Staatsanwalt eine Razzia in einer Kreml-Behörde anordnete, hatte es noch nie gegeben. Die Mitglieder der »Familie«, auch Borodin und Pugatschow, waren schockiert. Dieser Auftritt verhieß nichts Gutes, und die alte Garde hatte noch einen weiteren Pfeil im Köcher. Am selben Tag erhöhte ein führender Abgeordneter der Kommunisten, Wiktor Iljuchin, den Druck noch einmal und hielt eine Pressekonferenz ab, in der er behauptete, Beweise dafür zu haben, dass ein Teil des 4,8 Milliarden Dollar schweren Notkredits, den Russland auf dem Höhepunkt der Rubelkrise 1998 vom Internationalen Währungsfonds erhalten hatte, an Unternehmen weitergeflossen sei, die über Verbindungen zur Jelzin-Familie verfügten. Unter anderem ging es um 235 Millionen Dollar, die offenbar über die Bank of Sydney an eine Firma gegangen waren, die sich zu 25 Prozent im Besitz von Leonid Djatschenko befand. 69 Die Medien waren außer sich, und die politischen Analysten meldeten Zweifel daran an, ob Jelzin noch den Rückhalt des Militärs hätte.
Pugatschow sagte, er sei in den Föderationsrat zurückgekehrt, um eine weitere Abstimmung über Skuratows Rücktritt zu erzwingen. 70 Doch der ehemalige Kommunist, dem die Leitung des Votums oblag, deutete erneut an, dass es mehr Unterstützer für die Gegenposition gebe. Daraufhin marschierte Pugatschow zu Luschkow, dem Moskauer Bürgermeister, dessen Einfluss auf die Senatoren im Oberhaus immer größer wurde. Aber Luschkow arbeitete schon seit Beginn der Finanzkrise im August daran, das Parlament gegen den Kreml aufzubringen. Er hatte mittlerweile eigene Machtansprüche entwickelt, meinte Jumaschew: »Luschkow war im Föderationsrat durchaus aktiv. Er verkündete den Gouverneuren der Regionen: ›Ich werde Präsident, und dann tue ich dieses und jenes für euch. Wir kämpfen gegen den Präsidenten, und der Generalstaatsanwalt ist eine wichtige Ressource für uns.‹ Im Grunde war es ein Kampf um die Zukunft der Präsidentschaft.« 71 »Luschkow brüstete sich damit, dass er 40 000 Leute aus dem Moskauer Innenministerium hinter sich habe, und außerdem den örtlichen FSB«, sagte Pugatschow. 72 »Primakow und Luschkow hatten daran gearbeitet, sich die Unterstützung Zehntausender Soldaten aus den mittleren Rängen des Militärs zu sichern. So langsam sah es aus, als könnte es ein richtiger Putsch werden.« Ein russischer Tycoon aus dem Umfeld von Luschkow sagte, dass der politische Einfluss des Moskauer Bürgermeisters tatsächlich rapide zugenommen habe: »Angesichts des strauchelnden Jelzin war es eindeutig, dass er das neue Machtzentrum war. Die Marschälle und Generäle gingen nun zu ihm. Sie wollten sich vor dem neuen Zaren verbeugen und erbaten seine Anweisungen.« 73
Was dann passierte, sei in der besten Absicht geschehen, versicherte Pugatschow. Er sagte, er hätte nicht zulassen können, dass Primakow und seine Leute an die Macht kamen und die Freiheiten der Jelzin-Jahre gefährdeten, und außerdem sei ihm gleich nach Primakows Einzug ins Weiße Haus der Gestank der Stagnation und Korruption der Sowjetzeit in die Nase gestiegen: »Als Erstes fragten sie nach Schmiergeldern. Ich hatte viel Mühe darauf verwendet, dass die Demokraten an der Macht und die Kommunisten außen vor blieben«, sagte er und meinte damit seine Mitarbeit an Jelzins Wiederwahlkampagne 1996. »Man muss verstehen, dass die Jelzin-Familie aus ganz normalen Leuten bestand. Kein Vergleich mit der Art von Korruption, die man heute sieht. Mein Gedanke war, das alles vor dem Kollaps zu bewahren.« 74 Aber die Angst vor der Spur des Geldes, die Skuratow verfolgte, und den möglichen Auswirkungen war trotzdem größer.
Skuratow hatte den Vormittag des 1. April damit verbracht, Jelzin einen Bericht zu übergeben, in dem laut seiner Aussage die illegalen Schweizer Konten von vierundzwanzig Russen aufgeführt waren. 75 Bis zum Abend hatte der Kreml einen weiteren Versuch unternommen, Skuratow von seinem Posten zu entfernen. Dafür bestellte man dessen Stellvertreter Juri Tschaika und den leitenden Militärstaatsanwalt Juri Demin ins Büro der Präsidialverwaltung, wo mit Alexander Woloschin mittlerweile ein Geschäftspartner von Beresowski saß, ein schlanker, bärtiger Wirtschaftswissenschaftler. 76 Dieser habe nun gemeinsam mit Putin, Nikolai Patruschew – der zusammen mit Putin aus dem Petersburger KGB gekommen war und in den vergangenen vier Jahren hohe Positionen beim FSB bekleidet hatte – und Pugatschow auf die beiden eingewirkt, Anklage gegen Skuratow zu erheben, wie Pugatschow später behauptete. Sie wollten, dass er wegen des Umgangs mit Prostituierten suspendiert wurde.
Tschaika und Denim waren völlig verschreckt. »Sie verstanden nicht, warum sie da waren. Es war wie ein Treffen von Blinden und Tauben«, sagte Pugatschow. »Sie hatten beide Angst. ›Wie können wir Anklage gegen den Generalstaatsanwalt erheben?‹, fragten sie. Sie schauten sich an, wem sie da gegenübersaßen. Putin war damals ein Niemand, Patruschew ebenso. Sie sahen uns an und dachten: ›Wir schießen uns ins Aus, und am Ende wirft man uns vor, einen Putsch organisiert zu haben.‹ Ich sah, wie ihnen das durch den Kopf ging. Ich erkannte es innerhalb von fünf Minuten. Also nahm ich sie mir einzeln vor.«
Pugatschow erzählte, dass er dafür einen Konferenzraum gegenüber von Woloschins Büro benutzte. Erst rief er Tschaika herein. »Ich fragte ihn: ›Was hättest du gern, um die Anklage zu erheben?‹ Aber ich sah, dass ich keine Chance hatte. Dann holte ich mir Demin und fragte: ›Bist du bereit, Generalstaatsanwalt zu werden?‹« Als Pugatschow bemerkte, dass er mit seinem Angebot, eine Kooperation mit Reichtum und Beförderungen zu belohnen, nicht weiterkam, wollte er zumindest im Detail erklärt haben, was nötig war, um eine Anklage auf den Weg zu bringen. »Wir unterhielten uns sechs Stunden lang und gingen alles durch. Sie erklärten mir, dass nur ein Generalstaatsanwalt Anklage gegen einen Generalstaatsanwalt erheben könne. Ich sagte zu Tschaika: ›Schau her, du bist der erste Stellvertreter und wirst zum kommissarischen Generalstaatsanwalt aufsteigen. Da kannst du doch wohl Anklage gegen den ehemaligen erheben.‹ Aber er sagte: ›Nein, erst muss der Föderationsrat zustimmen.‹ Ich sagte, dass der Rat nicht zustimmen würde, solange es keine Anklage gäbe. Und so bewegten wir uns stundenlang im Kreis. Ich erkannte, dass bei ihnen nichts zu machen war, dass nichts funktionieren würde.«
Es war bereits nach Mitternacht, und Pugatschow gingen langsam wirklich die Optionen aus. Ihm blieb nur noch eine Möglichkeit. In den frühen Morgenstunden rief er den Chef der Moskauer Staatsanwaltschaft auf seinem privaten Anschluss an. »Ich sagte: ›Ich brauche Sie.‹ Er antwortete: ›In Ordnung, Sergej Wiktorowitsch, was soll ich tun?‹ Ich sagte, dass könne ich ihm nicht am Telefon erklären. Aber er fragte noch einmal, wo das Problem lag. ›Sie müssen es mir sagen.‹ Daraufhin schickte ich einen meiner Leute mit einer Nachricht zu ihm nach Hause.« 77 Doch der Moskauer Staatsanwalt schien wenig Interesse daran zu haben, selbst in das Geschehen einzugreifen. Pugatschow glaubt, dass Tschaika ihn angerufen und gewarnt hatte. Als sich Pugatschow kurze Zeit später erneut bei ihm meldete, riet ihm der Mann, sich stattdessen bei dem Staatsanwalt zu melden, der in jener Nacht Dienst hatte.
Das war Wjatscheslaw Rosinski, ein grauhaariger Mann mit Brille, der in jener Nacht in einem fürchterlichen Zustand war. Er hatte getrunken – seine Tochter hatte vor nicht allzu langer Zeit Selbstmord begangen, sie hatte sich in ihrer Wohnung aufgehängt, und er war noch in tiefer Trauer um sie. Aber Pugatschow schickte ihm trotzdem einen Wagen, der ihn in den Kreml bringen sollte. Als Rosinski durch die Tore zum Kreml rollte, war er laut Pugatschow »völlig verblüfft. Er hatte keine Ahnung gehabt, wohin er unterwegs war. In meinem Büro setzte er sich und starrte betrunken vor sich hin. Er war ziemlich am Ende. Aber ich sagte zu ihm: ›Schau, es ist ganz einfach. Du kannst Anklage gegen den Generalstaatsanwalt erheben.‹ Ich zeigte ihm das Anklageprotokoll« – das natürlich vorab vorbereitet worden war –, »und er erklärte mir, was geändert werden müsste. Dann unterschrieb er.« 78
Pugatschow überlegte, was er Rosinski im Gegenzug anbieten könnte. »Ich erklärte ihm, dass ich ihn nicht gleich zum stellvertretenden Generalstaatsanwalt machen könne. Aber er meinte: ›Schon in Ordnung. Das will ich gar nicht. Wenn möglich, wäre ich gern der oberste Staatsanwalt von Moskau.‹« Pugatschow sagte, er werde sich darum kümmern. Und obwohl er es am Ende nicht schaffte, schien es keine Rolle zu spielen. In der Anklage wurde Skuratow vorgeworfen, sein Amt missbraucht zu haben, sodass Jelzin ihn umgehend suspendierte. Skuratows Position wurde weiter geschwächt, als die Prostituierten, die auf dem Video zu sehen waren, aussagten, sie seien von einem Verwandten eines Geschäftsmanns und Bankiers bezahlt worden, gegen den Skuratow ermittelte.
Eine Zeit lang kämpfte Skuratow noch mit aller Macht gegen seine Suspendierung an. Er bezeichnete das Video als gefälscht und erklärte, die Anklage sei ein politisches Manöver, um ihn davon abzuhalten, Korruptionsvorfälle auf der obersten Ebene des Kreml zu untersuchen. Außerdem sei die Anklage illegal gewesen – was die Moskauer Militärstaatsanwaltschaft, die zur Untersuchung hinzugezogen wurde, bestätigte. Der Föderationsrat lehnte seinen Rücktritt auch in einer zweiten Abstimmung ab, selbst nach der Anklage. Woloschin, der frischgebackene Leiter der Präsidialverwaltung, hielt eine katastrophal schlechte Rede – er stolperte und stammelte sich durch die Zeilen, während ihn die Senatoren durch Zwischenrufe aus dem Konzept brachten. Diese zweite Niederlage des Kreml interpretierten die Zeitungen am nächsten Tag als Anfang vom Ende der Macht Jelzins. »Heute, am 21. April 1999, ist die Machtposition des russischen Präsidenten in sich zusammengebrochen«, sagte ein führender Abgeordneter. 79
Primakow und seine Koalition aus der kommunistisch geführten Duma und den Gouverneuren im Föderationsrat – sowie die KGBler, die den Mabetex-Fall vorantrieben – schienen die Familie am Kragen zu haben. Doch irgendwann gingen sie wohl zu weit. Pugatschow sagte, er habe versucht, Luschkow und Primakow zum Rückzug zu bewegen, indem er ihnen drohte, dass sie wegen Beihilfe zum Putsch angeklagt würden, während er gleichzeitig mit Jumaschew absprach, dass er Luschkow im Zweifelsfall auch das Amt des Ministerpräsidenten anbieten könne. 80 Aber all diese Manöver hätten zu nichts geführt, wäre Jelzin nicht mit lautem Gebrüll wieder auf die politische Bühne zurückgekehrt.
Er war monatelang immer wieder im Krankenhaus gewesen, was seine Position Primakow gegenüber weiter geschwächt hatte, da dieser in der Wahrnehmung vieler währenddessen die Zügel der Macht in die Hand genommen hatte. Doch im April sammelte Jelzin all seine Kräfte für einen letzten Showdown. Nur drei Tage bevor in der Duma die ersten Anhörungen zum Amtsenthebungsverfahren stattfinden sollten, beschloss Jelzin, der mit einem animalischen Überlebensinstinkt und einem Hang zum dramatischen politischen Schachzug ausgestattet war, dass es nun an der Zeit sei zu handeln. Er beorderte Primakow in den Kreml und erklärte ihm, er sei gefeuert. Sein Amt ginge an Sergej Stepaschin über, den Innenminister, der seit den frühen Tagen der Demokratiebewegung ein enger Verbündeter Jelzins und einer der ersten Leiter des FSB gewesen war. Obwohl die Medien schon lange spekuliert hatten, dass Jelzin eine solche Umbesetzung vornehmen könnte, kam die Entscheidung trotzdem wie aus dem Nichts.
Jelzin hatte bis zum letzten Augenblick abgewartet. »Er verstand: Drei Tage später wäre es vielleicht zu spät«, sagte Pugatschow. 81 »Das traf die Duma völlig unvorbereitet«, meinte Jumaschew. »Viele von unseren Kollegen im Kreml hielten es für Selbstmord und glaubten, dass wir die Duma so erst recht gegen uns aufbrachten. Doch in Wahrheit trat das Gegenteil ein. Wir zeigten, wozu Jelzin fähig war. Er war die Ruhe selbst, als er einen einflussreichen Mann wie Primakow rausschmiss, und diese Machtdemonstration schüchterte die Duma ein.« 82 Primakow konnte nichts tun, und seine Entlassung nahm der Duma den Wind aus den Segeln. 83 Da sie nun Angst hatte, dass Jelzin auch das Parlament auflösen könnte, fiel das Amtsenthebungsverfahren wenige Tage später einfach in sich zusammen.
Plan A des KGB war gescheitert. »Wenn es glatt gelaufen wäre, hätte Primakow Präsident werden sollen«, seufzte Turover. »Es war geplant, dass er während der zweiten Skuratow-Abstimmung im Föderationsrat aufstand und sagte: ›Der Präsident ist ein Dieb.‹ Dann sollte er die Beweise vorlegen. Das hätte genügt. Das Amtsenthebungsverfahren war bereits angesetzt. Es hätte ausgereicht, wenn er einfach aufgestanden wäre und gesagt hätte: ›Ich habe das Recht, all das hier zu beenden.‹ Das Material war da. Aber ihm fehlten die Eier. Im letzten Augenblick gingen seine Nerven mit ihm durch.« 84
Obwohl Skuratow darauf beharrte, dass er nie an politischen Spielchen beteiligt gewesen sei, sondern einzig und allein gegen die korrupten Geschäfte im Kreml hatte vorgehen wollen, verstand auch er nur allzu gut, dass Primakow Jelzins Regentschaft hätte beenden können: »Es gab damals zwei Machtzentren. Auf der einen Seite die Legislative – der Föderationsrat und die Gouverneure, angeführt von Primakow und den Leuten des Moskauer Bürgermeisters. Dem gegenüber standen Jelzin an der Spitze und die Familie. Und ja, wenn der Föderationsrat und Primakow sich einig gewesen wären und Druck gemacht hätten, hätte die Familie klein beigegeben. Alle hätten Primakow unterstützt. Die Geheimdienste hätten ihn unterstützt. Die Familie wäre auseinandergehuscht wie die Kakerlaken. Dann hätte Jelzin die präsidialen Befugnisse aus gesundheitlichen Gründen auf Primakow übertragen, und das Land wäre ein anderes geworden. Aber Primakow … Er ist ein sehr vorsichtiger Mensch. Vielleicht war er nicht entschlossen genug. Er kämpfte nicht bis zum Schluss für sein Land.« 85
PLAN B
Jewgeni Primakow war immer schon ein Mann des Konsenses gewesen, ein typischer Diplomat, der nur ungern für Unruhe sorgte. Mittlerweile war er siebzig Jahre alt und zog sich für eine Weile zurück – er schien seine zwischenzeitliche Niederlage anzuerkennen. Jelzins Kreml hatte sich offenbar etwas Luft zum Atmen verschafft.
Aber wenn Primakow nur Plan A des KGB gewesen war, um die Macht zurückzuerlangen, hieß das, dass noch eine weitere Option bereitlag. Ob nun durch Zufall oder durch Absicht – letztendlich ergab sich eine Kombination aus juristischen Drohungen, Ängsten, Rivalitäten und reinem politischen Kalkül, die dazu führte, dass Russland im Endeffekt von einer deutlich skrupelloseren Generation von KGBlern übernommen wurde. Die »Familie« war fest davon überzeugt gewesen, dass Primakow nur durch jemanden ersetzt werden durfte, der den Sicherheitsbehörden entstammte. »Nach Primakow war es nicht möglich, einen Liberalen zu ernennen«, sagte Jumaschew. »Es musste jemand sein, den die Duma – und die Gesellschaft – als starken Mann betrachtete, jemand wie Stepaschin, der General war.«
Dabei war Sergej Stepaschin vermutlich der Freidenker unter den Anführern der russischen Sicherheitskräfte, er hatte sich in der Duma sogar der progressiven Jabloko-Partei angeschlossen. Trotz seiner Vergangenheit im sowjetischen Innenministerium hatte der studierte Historiker Jelzin lange sehr nahegestanden. Die beiden hatten zusammengearbeitet, seit Jelzin ihn mit der Leitung der Kommission betraut hatte, die die Rolle des KGB beim gescheiterten Augustputsch offiziell untersuchte. Doch für Jumaschew und Pugatschow war Stepaschin nie mehr als ein Übergangskandidat gewesen. Stepaschin, meinte Pugatschow, sei wjaly – das russische Wort für »schwach«. Er glaubte nicht, dass Stepaschin entscheidungsfreudig genug war, um die nötigen Maßnahmen zu ihrem Schutz zu ergreifen: »Mir erschien er wie jemand, der Kompromisse mit den Kommunisten eingehen würde.« 86 Jumaschew sagte, dass auch ihm irgendwann Zweifel an Stepaschins Eignung kamen. Die beiden waren eifersüchtig auf Stepaschins enge Beziehung zu Anatoli Tschubais, dem ehemaligen Leiter der Präsidialverwaltung und Privatisierungszar, mit dem sie schon seit Langem um Jelzins Zuneigung konkurrierten. Bis Ende Juni erwogen Teile der Jelzin-Familie einen anderen Kandidaten, den Eisenbahnminister Nikolai Aksjonenko, von dem sie glaubten, er würde ihre Interessen besser vertreten können. Aber Jelzin entwickelte schnell eine starke Abneigung gegen ihn. 87
Im Hintergrund, sagte Pugatschow, hätte er schon lange daran gearbeitet, seinen Kandidaten zu lancieren, den Mann, den er für den sichersten, loyalsten Fürsprecher hielt. Dieser Mann war Wladimir Putin, den Pugatschow erstmals als potenziellen Nachfolger Jelzins in Erwägung gezogen hatte, als er die Angelegenheit mit Skuratows Prostituiertenvideo so gelassen gehandhabt hatte. Zum ersten Mal getroffen hatten sich die beiden Anfang der Neunzigerjahre in Sankt Petersburg, und die Beziehung hatte sich vertieft, als Putin zu Borodins Stellvertreter in der Kreml-Liegenschaftsverwaltung ernannt worden war. Dort hätten sie tagtäglich zusammengearbeitet, sagte Pugatschow. Pugatschows Meschprombank war daran beteiligt, Gelder für Putins Abteilung für Auslandsimmobilien aufzubringen (obwohl Pugatschow sich im Gespräch nicht dazu äußern wollte, was genau die Bank tat). 88
Von seinem kleinen Büro im ehemaligen Hauptsitz des Zentralkomitees am Alten Platz aus widmete sich Putin der Aufgabe, die Vielzahl von Auslandsliegenschaften zu sichten, die Russland durch den Zusammenbruch der Sowjetunion geerbt hatte. Dazu zählten die palastähnlichen Gebäude der Handelsvertretungen – die Lebensadern der exportbasierten Wirtschaft der UdSSR – ebenso wie die Botschaften und die strategisch gelegenen Militärstützpunkte, die Waffenlager und die geheimen Unterschlupfe des KGB. Viele der Immobilien hatten sich im Chaos nach dem Ende der Sowjetunion der KGB und das organisierte Verbrechen unter den Nagel gerissen. Offiziell hätten sie alle in der Bilanz des Außenministeriums aufgelistet sein müssen, aber viele waren nirgendwo vermerkt. Putins Auftrag bestand darin, diese Besitztümer wieder in die Bücher aufzunehmen, aber es ist nicht klar, ob es ihm je gelang. Die Abteilung für Auslandsimmobilien war von großem strategischem Interesse für den KGB, und obwohl Pugatschow behauptete, dass Putin nicht das Geringste über die Schwarzgeldflüsse via Mabetex oder die Ölhandelsgesellschaft MES gewusst habe, ist es ausgesprochen zweifelhaft, ob das wirklich der Fall war.
Der enge Kontakt zwischen den beiden blieb auch bestehen, als Putin seinen rasanten Aufstieg im Kreml fortführte und erst zum Leiter des Hauptkontrollamtes und im Juli 1998 zum Chef des FSB berufen wurde. Putin sei die ganze Zeit über sein Protegé gewesen, behauptete Pugatschow. Sein Vorzug sei gewesen, dass Pugatschow ihm Befehle erteilen konnte, meinte er: »Er war gehorsam wie ein Hund.« 89
Anfangs, behauptete Jumaschew, habe er »Putin nicht [als Kandidaten] im Auge« gehabt und sich stattdessen für Aksjonenko eingesetzt. 90 Er sei sich Putins Fähigkeiten aber immer bewusst gewesen. Als Leiter der Präsidialverwaltung hatte er alle Schlüsselmomente in Putins Karriere verfolgt und abgenickt, und das hatte für eine enge Beziehung zwischen den beiden gesorgt. Im März 1997 war Putin zu seinem Stellvertreter ernannt worden. Trotzdem sei er immer bescheiden aufgetreten, so Jumaschew, und habe, anders als die meisten anderen Beamten, kein Interesse daran gezeigt, seine Karriere weiter voranzutreiben: »Er war einer meiner stärksten Stellvertreter. Seine Arbeit war immer brillant. Aber irgendwann kam er zu mir und sagte, er wolle seinen Posten abgeben. Ich bat ihn, nicht zu gehen. Daraufhin sagte er: ›Ich bin mit dieser Aufgabe fertig. Jetzt würde ich gern etwas Neues finden.‹« 91 Kurze Zeit später, im Mai 1998, gab Jumaschew Putin den drittmächtigsten Posten im Kreml: Er ernannte ihn zum Ersten stellvertretenden Leiter der Präsidialverwaltung mit Verantwortung für die Regionen, eine Rolle, in der er deutlich regelmäßiger mit Jelzin in Kontakt stand. Und dann, nur zwei Monate später, bugsierte Jumaschew Putin auf den Posten des FSB-Chefs.
Das war das erste Anzeichen dafür, dass Putin das absolute Vertrauen Jumaschews – und damit der »Familie« – genoss. In jener Zeit, nur einen Monat vor der Finanzkrise im August 1998, hingen die Wolken über der Jelzin-Regierung bereits ziemlich tief. Das Land litt unter einer Reihe von Bergarbeiterstreiks, bei denen es um unbezahlte Löhne ging und die sich langsam auch auf den Atomsektor ausdehnten. Die Bergleute blockierten die Transsibirische Eisenbahn, eine Herzschlagader der russischen Wirtschaft. Putins Vorgänger an der Spitze des FSB hatte den Kommunisten nahegestanden, und in jenem Sommer, in dem die Streiks um sich griffen, eine Wirtschaftskrise drohte und im Parlament schon über ein Amtsenthebungsverfahren gemunkelt wurde, war es für Jelzins Kreml von größter Bedeutung, dass die Sicherheitsbehörde von jemandem aus den eigenen Reihen geleitet wurde. 92 Die Tatsache, dass Putin nur Oberstleutnant war und kein General, wurde weggewischt – man bezeichnete ihn einfach als den ersten zivilen Chef des FSB. In jenem Sommer voller Krisen und Wirrnis kam man damit durch.
Jumaschew beharrte darauf, dass er nie an Putins demokratischen Überzeugungen gezweifelt habe. Am meisten beeindruckt hätte ihn dessen unbeirrbare Loyalität seinem einstigen Mentor und Vorgesetzten, dem ehemaligen Petersburger Bürgermeister Anatoli Sobtschak, gegenüber. Dabei sei ihm vor allem ein Vorfall im November 1997 im Gedächtnis geblieben: »Der Grund, warum ich mich so nachdrücklich für ihn [als Chef des FSB] einsetzte, war ein Erlebnis aus seiner Zeit als Leiter des Hauptkontrollamtes, als er zu mir kam und sagte: ›Sobtschak soll verhaftet werden, und ich muss ihn retten.‹ Seine Worte lauteten: ›Ich muss ihn außer Landes bringen, weil die silowiki – die Staatsanwaltschaft, der Innenminister und der FSB – ihn sonst in den nächsten zwei oder drei Tagen festsetzen.‹ Die Chancen standen fünfzig zu fünfzig, dass die Sache auffliegen würde, das war ihm und mir völlig klar. Ich meinte: ›Wladimir Wladimirowitsch, Ihnen ist bewusst, dass Sie Ihre Posten verlieren werden, wenn man Sie erwischt, und dass Sie vielleicht nie wieder eine Stelle bekommen werden. Sie verstoßen gegen das Gesetz.‹« 93
Doch Putin ließ sich nicht beirren. Er bestand darauf, dass die Vorwürfe gegen Sobtschak konstruiert seien, Teil einer Schmutzkampagne, die 1996 vor Sobtschaks Bemühungen um eine Wiederwahl in Sankt Petersburg von der alten Garde der Sicherheitskräfte betrieben worden sei, weil sie ihn ideologisch verachteten. Damals hatte es Ermittlungen wegen Bestechlichkeit gegen Sobtschak gegeben. 94 Was Putin allerdings nicht erwähnte – genauso wenig wie Jumaschew, als er die Geschichte erzählte –, war, dass eine Verhaftung Sobtschaks auch zu Putin selbst hätte führen können. Es war unmöglich abzuschätzen, welche Folgen es gehabt hätte, wenn die gegnerische Seite ihn ins Visier genommen hätte. 95
Putin hatte dafür gesorgt, dass Sobtschak an einem Feiertag, als gerade niemand hinsah, aus dem Krankenhaus verschwinden konnte. Er hatte ihn an Bord eines Privatjets geschleust, der laut einem Insider seinem engen Verbündeten Gennadi Timtschenko gehörte, dem mutmaßlichen früheren KGB-Mitglied, das sich das Exportmonopol im Petersburger Ölterminal gesichert hatte. Als Putin nach kurzer Abwesenheit wieder in den Kreml zurückkehrte, war Jumaschew extrem erleichtert: »Zwei oder drei Tage lang schwankte ich zwischen Sorge und Entsetzen, weil es einen riesigen Skandal gegeben hätte, wenn der FSB oder das MWD [Innenministerium] Putin und Sobtschak beim Überqueren der [russischen] Grenze erwischt hätten. Für mich war es wichtig, dass ein Mensch bereit war, seine Karriere für die gerechte Sache zu opfern, und als er zurückkehrte, erzählte ich Boris Nikolajewitsch [Jelzin], was geschehen war.« 96
Außerdem habe es noch ein weiteres Ereignis gegeben, das Jumaschews Ansichten über Putin prägte. Ende 1998, als Primakow Ministerpräsident war, hatte Putin Jumaschew aus seinem Auto heraus angerufen und ihm erzählt, dass er gerade bei Primakow gewesen sei und sich dringend mit Jumaschew treffen müsse. »Als er ankam, meinte er: ›Es liegt eine seltsame Situation vor.‹ Er sagte: ›Primakow hat mich angerufen und mich als Chef des FSB gebeten, Jawlinksi abzuhören.‹« Grigori Jawlinski war einer der liberalen Oppositionsführer in der Duma, der sich offen über die Korruption in Primakows Kabinett geäußert hatte. Anscheinend hatte Primakow nun von Putin verlangt, Jawlinksi zu überwachen, mit der Begründung, er sei ein amerikanischer Spion. »Putin erklärte mir, dass er abgelehnt habe, weil die Anfrage absolut inakzeptabel sei. Er sagte, wenn wir mit dem FSB wieder in Sowjetgewohnheiten verfielen und politische Dissidenten verfolgten, würde das den Untergang der Sicherheitsbehörden besiegeln. Wenn Jelzin in dieser Sache mit Primakow übereinstimme, wäre er bereit, seinen Posten zur Verfügung zu stellen.« 97
Keine dieser Einschätzungen passte in irgendeiner Weise zu dem Verhalten, das Putin als Vizebürgermeister von Sankt Petersburg an den Tag gelegt hatte, wo ein skrupelloses Bündnis aus KGB und Mafia die Stadt regiert hatte. Genauso wenig passten sie zu Putins Aktivitäten in Dresden, wo er den Westen mithilfe von Illegalen ausspioniert hatte. Trotzdem behauptete Jumaschew, seine Aussage ernst genommen zu haben. Noch viele Jahre später, nach allem, was in Putins mehr als zwanzigjähriger Regentschaft geschah, blieb er dabei: »Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass er mir nichts vorgemacht hat. Er wäre wirklich zurückgetreten, weil er entschieden gegen diese Aktion war. Aber natürlich hätte Boris Nikolajewitsch auch niemals grünes Licht gegeben.« 98
Jumaschew war fest davon überzeugt, dass Anatoli Sobtschaks glühende Reden für die Demokratie während Putins Zeit als stellvertretender Bürgermeister von Sankt Petersburg auf diesen abgefärbt hätten. Aber er schien nicht zu wissen – oder zu verdrängen –, wie Sankt Petersburg damals eigentlich regiert wurde.
Putin war ein Altmeister in der Kunst des Rekrutierens. Beim KGB sei genau das seine Spezialität gewesen, sagte ein ehemaliger enger Geschäftspartner. 99 »In der KGB-Ausbildung lernt man, einen guten Eindruck bei den Menschen zu hinterlassen, mit denen man spricht. Putin hatte diese Fähigkeit perfektioniert«, erzählte ein hochrangiges Mitglied des russischen Auslandsgeheimdienstes. »Im kleinen Kreis konnte er extrem charmant sein. Er konnte jeden für sich einnehmen. Und als Stellvertreter war er überaus effektiv. Er erledigte sämtliche Aufgaben schnell und kreativ, ohne sich den Kopf über die Methoden zu zerbrechen.« 100
Wenn Jumaschew in jenem Jahr, in dem Primakow die Jelzin-Familie derart unter Druck setzte und attackierte, naiv gewesen war, galt das wohl auch für Boris Beresowski, den gewieften, schnell sprechenden Oligarchen, der zum Inbegriff der Insidergeschäfte in den Jelzin-Jahren geworden war, als eine kleine Clique von Geschäftsleuten die wichtigsten Wirtschaftsgüter und Regierungsposten hinter den Kulissen unter sich aufteilte. Der ehemalige Mathematiker hatte durch den Vertrieb für AwtoWAS, dem Hersteller des kantigen Sowjetsymbols Schiguli, im Westen unter der Marke Lada eingeführt, ein Vermögen gemacht, und das zu einer Zeit, in der die Autobranche tief mit der organisierten Kriminalität verstrickt war. Er hatte einen Mordanschlag überlebt, bei dem sein Fahrer geköpft worden war. Und trotzdem hatte ihn sein Weg in den Kreml geführt. Er hatte viel Zeit teetrinkend im Büro von Jelzins Hauptleibwächter, Alexander Korschakow, verbracht und sich irgendwann die Gunst des Präsidenten und seiner Familie gesichert. Gleichzeitig pflegte er Kontakte zu den Anführern der tschetschenischen Separatisten. Beresowksis LogoWAS-Klub in einer restaurierten Villa in der Moskauer Innenstadt wurde zum inoffiziellen Zentrum der politischen Entscheidungen. Auf dem Höhepunkt seiner Macht, im Jahr 1996, saßen die »jungen Reformer« der Jelzin-Regierung und die Oligarchen dort nächtelang zusammen, um Pläne gegen die Hardliner zu schmieden.
1999 galt Beresowski dann allerdings als politisches Gift. Seine Beziehungen zu Mitgliedern der Jelzin-Familie waren ins Visier der Ermittler geraten. Denn neben der Tatsache, dass die Razzia bei der Ölfirma Sibneft, die er mitgestaltet hatte, deren Geschäfte mit der Ölhandelsgesellschaft des damaligen Mannes von Jelzins Tochter Tatjana, Leonid Djatschenko, zu enthüllen drohte, gab es auch Ermittlungen wegen seiner Geschäftstätigkeiten im Rahmen von Aeroflot, der staatlichen Fluglinie Russlands, an der Beresowski einen nicht unerheblichen Anteil hielt und deren Präsident der Mann von Jelzins zweiter Tochter Elena war. Die »Familie« gab sich alle Mühe, die Verbindungen zu Beresowski zu kappen. Es kamen Gerüchte auf, dass seine Sicherheitsfirma die Büros der Familie verwanzt habe, und er hatte bereits im April seinen Posten als Exekutivsekretär der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten verloren, wie sich die lose Verbindung der ehemaligen Sowjetrepubliken damals nannte. Auch Jumaschew war den Umgang mit Beresowski leid: »Irgendwann ertrug er es nicht mehr, Beresowski ständig sagen zu hören, er verstehe es nicht«, meinte ein enger Verbündeter von Beresowski. 101 »Er ging ihm auf die Nerven.« Beresowski schien völlig isoliert zu sein. Und so rührte es ihn sehr, als Wladimir Putin Anfang 1999 auf der Geburtstagsfeier seiner Frau Lena auftauchte – er verstand es als Zeichen der Solidarität in einer Zeit, in der alle anderen schon die Messer gewetzt hatten.
Putins Geste trug dazu bei, dass Beresowksi seine Bedenken hinsichtlich dessen KGB-Vergangenheit beiseiteschob. Anfangs hatte er in erster Linie den Eisenbahnminister Aksjonenko als Nachfolger Jelzins unterstützt – sein Verhältnis zu Putin kühlte stark ab, nachdem Putin als FSB-Chef im März 1999 die Verhaftung Alexander Litwinenkos angeordnet hatte, dem FSB-Mitglied, das Beresowski am nächsten stand. Doch angesichts der ständigen Gefahr, selbst verhaftet zu werden, stellte sich schließlich auch Beresowski, der das wahre Ausmaß seines Einflusses in Jelzins Kreml mit Vorliebe übertrieb, hinter den Kandidaten Putin. Später behauptete er gern, dass Putin nur dank seiner Unterstützung an die Macht gekommen sei, da er ihn Jumaschew im Sommer 1998 als möglichen FSB-Chef vorgeschlagen habe. Er erzählte, es hätten geheime Treffen zwischen ihm und Putin im Aufzug der imposanten FSB-Zentrale an der Lubjanka stattgefunden, wo die beiden sich über Putins mögliches Interesse an der Präsidentschaft unterhalten hätten. 102
Zuvor waren sich die beiden Männer nur einmal begegnet, als Beresowski Anfang der Neunzigerjahre nach Sankt Petersburg kam und Putin ihm dabei half, vor Ort ein LogoWAS-Autohaus zu eröffnen. Die Autobranche war ein Geschäftszweig, in dem die Mafia kräftig mitmischte, und Beresowski müsse von Putins Verbindungen zum organisierten Verbrechen dort gewusst haben, meinte ein Geschäftspartner Beresowskis: »Putin half ihm bei allem, was mit dem Verkauf von LogoWAS-Autos in Sankt Petersburg zu tun hatte. Das war ein Mafiageschäft, ein Verbrechergeschäft, und in Moskau regelte Beresowski das mithilfe der Tschetschenen und der korrupten Behörden. In Sankt Petersburg ließ er sich von Putin helfen. Daher war ihm klar, wie dessen Verbindungen und Situation aussahen. Er war kein Kind.« 103
Aber obwohl Beresowski zweifellos eine große Rolle bei Primakows Niederlage im weiteren Verlauf des Jahres spielte, waren seine Beziehung zu Putin und die Zusammenarbeit mit ihm doch nie so eng wie die Pugatschows. Und einem seiner engsten Mitarbeiter, Alex Goldfarb, zufolge behauptete er auch nie, Putin Jelzins Tochter Tatjana vorgestellt oder ihn als Ersatz für Stepaschin oder sogar als Nachfolger für Jelzin selbst vorgeschlagen zu haben. 104
*
Der Augenblick, in dem sich alles änderte, kam Mitte Juli, während der Hundstage des Moskauer Sommers, als der Kreml leer stand und viele, auch Jelzin, im Urlaub waren. In dieser Zeit schockierte die Schweizer Bundesanwaltschaft die Jelzin-Familie mit einer Ankündigung. Die Familie hatte geglaubt, der Mabetex-Fall sei abgehakt – Skuratow war wegen der Anklage, für die unter anderem Pugatschow gesorgt hatte, schon seit einigen Monaten nicht mehr im Amt. Aber die Schweizer waren weiter aktiv gewesen, ebenso Skuratows Stellvertreter. Am 14. Juli verkündete die Schweizer Bundesanwaltschaft, dass sie vierundzwanzig Russen, unter anderem Pawel Borodin und weitere hochrangige Kreml-Mitarbeiter, wegen Geldwäsche über Schweizer Konten anklagte, und deutete an, dass das Geld durch »Korruption oder Amtsmissbrauch« erlangt worden sein könnte. Auf die Frage, ob auch Jelzins Tochter Tatjana auf der Liste stehe, antwortete einer der Untersuchungsrichter: »Noch nicht.« 105 Die Schlinge zog sich zu, so viel war klar, und laut Pugatschow brach nun erneut Panik aus.
Die Genfer Bundesanwaltschaft sagte, dass ihre russischen Partner parallel immer noch Ermittlungen durchführten. Da habe er beschlossen zu handeln, sagte Pugatschow: »Wir brauchten jemanden, der mit all dem umgehen konnte. Stepaschin war nicht der Richtige dafür. Aber da war Putin mit seinem FSB, mit dem Sicherheitsrat, mit Patruschew. Er verfügte über ein ganzes Team.« 106 Pugatschow erinnerte sich, wie ruhig Putin die Sache mit dem Skuratow-Video gehandhabt hatte, und beschloss, so berichtete er später, ihn Jelzins Tochter Tatjana vorzustellen, die in jener Zeit immer noch die direkte Verbindung zum Präsidenten darstellte. Wie auf ein Stichwort hin eröffnete Putins FSB am folgenden Tag die Ermittlungen gegen die Baufirma, die der Frau des Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow gehörte, eines politischen Gegners der Jelzins. 107 Pugatschows Ansatz bestand darin, Tatjanas Meinung von Stepaschin zu untergraben, indem er ihr vor Augen führte, wie wenig energisch dieser die Aufnahme von Skuratow und den Prostituierten nach der Ausstrahlung im Fernsehen verteidigt hatte – im Gegensatz zu Putin. »Ich sagte zu ihr: ›Tanja, du brauchst jemanden, der dich rettet. Stepaschin würde Kompromisse mit den Kommunisten eingehen. Er würde uns vor unseren Augen Schaden zufügen. Guck dir doch an, wie es ihm jetzt gerade ergeht.« 108 Dann sagte er, dass er Putin aus seinem Büro im Sicherheitsrat des Kreml zu ihr beordert habe. »Ich erklärte ihr, dass Putin ein viel aufgeräumterer Mensch sei. Er sei jung und höre aufmerksam zu. Stepaschin hörte nicht mehr zu.« Pugatschow behauptete, dass Jumaschew Tatjana später dazu gebracht hätte, zu ihrem Vater zu gehen und ihn von dem Personalwechsel zu überzeugen.
Jumaschew hingegen beharrte darauf, dass Pugatschow keine Rolle bei Putins Aufstieg gespielt habe und die Ermittlungen in der Schweiz und in den USA nie eine Bedrohung dargestellt hätten: »Diese angebliche Gefahr war natürlich totaler Unsinn«, sagte er. »Meine einzige Überlegung lautete – und so sahen es auch Woloschin und Jelzin –, dass die Macht an einen Menschen gehen sollte, der mental, ideologisch und politisch genau auf unserer Linie lag. Wir hatten als Team im Kreml zusammengearbeitet. Wir waren uns mit Putin absolut einig darüber, wie die Dinge in der Welt und in Russland zu laufen hatten.« 109
Aber dies waren die Tage, in denen sich alles entschied. Stepaschins Welt – und die Chancen auf eine liberalere Regierung – wurde hinweggefegt. Es hätte keinen zwingenden Grund für das Risiko gegeben, Stepaschin durch Putin, einen relativ unbekannten Beamten, zu ersetzen, wenn die Jelzin-Familie nicht jemanden gebraucht hätte, den sie für loyaler – und skrupelloser – hielt im Angesicht der Gefahr durch die sich zuspitzende Mabetex-Ermittlung. Jumaschew versuchte den Wechsel mit lahmen Ausreden zu begründen, etwa dass Stepaschin unter dem Pantoffel seiner Frau stünde. Er gab gern lange, verschachtelte Erklärungen dazu ab, wie nachdrücklich er damals dafür argumentiert habe, schnell zu handeln, bevor es zu spät war, um Stepaschin, der einfach nicht der Richtige gewesen sei, zu ersetzen. Aber bis auf die zunehmende Panik wegen der Schweizer Ermittlungen ergab keine dieser Erklärungen einen Sinn. Doch genau dieses Motiv wollte die Jelzin-Familie niemals offenbart haben, weil es darlegte, inwieweit ihre hektischen Bemühungen, die eigene Haut zu retten, unweigerlich zu Putins Aufstieg und dem Niedergang der Welt beitrugen. Sie brauchten einen harten Hund, der ihre Interessen schützte, und schossen damit über das Ziel hinaus. Das erkannte Jumaschew in seinem autorisierten Bericht der Ereignisse jedoch nicht an. Pugatschow war derjenige, der von der offiziellen Geschichte des Kreml abwich und damit wohl die Wahrheit sagte. 110
Anfangs hatte Jelzin gezögert. Doch in der letzten Juliwoche kam es zu bewaffneten Überfällen durch tschetschenische Rebellen an der Grenze zu Dagestan, der Gebirgsregion, die an die abtrünnige tschetschenische Republik angrenzte, und Stepaschin schien laut Jumaschew nicht zu wissen, was zu tun sei. 111 Vor seiner ersten Washingtonreise als Ministerpräsident, die am 27. Juli stattfand, hatte er öffentlich gelobt, dass es keinen erneuten Krieg gegen Tschetschenien geben werde. Doch in der Woche nach seiner Rückkehr kam es an der Grenze fast täglich zu Zusammenstößen. Am Sonntag, dem 8. August, folgte eine massive Eskalation, als zwei- bis dreihundert bewaffnete tschetschenische Aufständische zwei Dörfer in Dagestan einnahmen. Jelzins Bemühungen, Stepaschin als Ministerpräsidenten zu halten, ließen nach. Und selbst da hätte Anatoli Tschubais, der eng mit Stepaschin zusammenarbeitete, es fast noch geschafft, die Pläne Pugatschows und der Jelzin-Familie in letzter Minute zu durchkreuzen, als er von der bevorstehenden Ablösung erfuhr. Tschubais versuchte Jelzin am Wochenende vor der offiziellen Ankündigung in seiner Datscha zu kontaktieren und ihm die Umbesetzung auszureden. Aber er erreichte nur einen Wachmann, der seine Anfrage prompt an Pugatschow weiterleitete.
Der Versuch, seine Pläne zu untergraben, habe ihn rasend gemacht, sagte Pugatschow, und er habe dafür gesorgt, dass der Wachmann Jelzin nichts von Tschubais’ Anruf erzählte: »Ich hatte acht Monate lang ohne Unterlass daran gearbeitet, Putin ins Amt zu heben. Ich machte ihn von einem absoluten Niemand, dem Leiter des FSB, zu einem echten Anwärter auf die Macht. Ich hatte ihn pausenlos überwacht und überprüft. Und wo war Tschubais, als wir den Mabetex-Skandal am Hals hatten?«, tobte er. »Wo war er? Was tat er? Er war komplett von der Bildfläche verschwunden.« 112
Selbst als sie am Montag, den 9. August, morgens in Jelzins Büro zusammenkamen, habe der Präsident noch gezögert, sagte Pugatschow. Stepaschin weigerte sich, ohne Parlamentsabstimmung zurückzutreten, und Jelzin verließ sein Büro, um noch einmal nachzudenken. »Ich erinnere mich noch ganz genau«, sagte Pugatschow. »Stepaschin erklärte Jelzin, Putin sei ein Niemand; er werde das nicht hinnehmen. Aber es war bereits beschlossene Sache. Es war einer der seltenen Fälle, in denen Jelzin nicht selbst entschied. Es ging um Leben und Tod.« 113
Als Jelzin die Umbesetzung im weiteren Verlauf des Tages schließlich verkündete, war das Volk überrascht, wer der neue Ministerpräsident war. Putin war ein kaum bekannter Bürokrat, eine farblose Persönlichkeit, die nur selten in den Nachrichten zu sehen gewesen war. Die Medien hatten große Mühe, seine Biografie zusammenzustellen. Was das Land aber am meisten erstaunte, war die Tatsache, dass Jelzin Putin ganz offen als den Mann bezeichnete, von dem er hoffte, er werde seine Nachfolge als Präsident antreten. In der Fernsehansprache sagte er: »Ich habe beschlossen, den Mann zu ernennen, der meiner Meinung nach am besten dazu in der Lage ist, die Gesellschaft auf Basis der breitesten politischen Kräfte zusammenzuhalten und eine Fortführung der Reformen in Russland zu gewährleisten. Ihm wird es gelingen, diejenigen um ihn herum zu einen, denen die Aufgabe zukommt, Russland im 21. Jahrhundert zur Größe zu führen. Dieser Mann ist der Sekretär des Sicherheitsrates, der Direktor des Föderalen Sicherheitsdienstes, Wladimir Wladimirowitsch Putin.« 114
Damit war Putin der atemberaubendste Sprung seiner schwindelerregenden Karriere gelungen. Das russische Parlament war im Schockzustand, obwohl die meisten Abgeordneten glaubten, dass er ein Niemand sei, dessen man sich später ohne Weiteres entledigen könnte. Das trug dazu bei, dass er überhaupt bestätigt wurde. 115 Zu dem Zeitpunkt war Primakow bereits wieder ins politische Geschehen zurückgekehrt, um zu den anstehenden Parlamentswahlen eine kühne neue Allianz mit Juri Luschkow einzugehen, dem mächtigen Bürgermeister von Moskau. Im Vergleich, sagte Jumaschew, »wirkte Putin wie ein Kind«. 116 Doch im Kreml befürchteten trotzdem viele, dass Jelzin zu weit gegangen war, als er Putin als seinen erwünschten Nachfolger bezeichnete. »Viele unserer Kollegen waren entschieden der Meinung, dass Jelzin das nicht hätte tun sollen – weil Putin eine unbekannte Größe war und Jelzins Umfragewerte bei fünf Prozent lagen. Sie glaubten, dass Putin nach einer solchen Ankündigung niemals gewinnen würde«, sagte Jumaschew.
Auf die Außenwelt wirkte es, als würde die Jelzin-Familie ein enormes Risiko eingehen. Doch es gab weitere Pläne. Schon damals war eine Ausweitung der russischen Militäroffensive gegen Tschetschenien in der Diskussion, sagte Stepaschin später. 117 Für die Bürokraten und Spindoktoren innerhalb des Kreml war es jedoch entscheidend, den etwas tölpelhaft wirkenden Kandidaten, der ihnen vorgesetzt worden war, in eine Figur zu verwandeln, mit der man rechnen musste. Auf den ersten Blick mutete das Material nicht gerade vielversprechend an. Die Leute fielen Putin bei Zusammenkünften immer noch ständig ins Wort. Der Plan war, ihn nach dem Bild eines überaus beliebten TV-Helden aus Sowjetzeiten zu formen – er sollte eine moderne Version von Max Otto von Stierlitz werden, des Spions, der in verdeckter Mission bis tief hinter die Feindeslinie vorgedrungen war, um die Kommandostrukturen von Nazideutschland zu unterwandern. Putin würde der kandidat resident sein, der Kandidat in geheimer Mission, ein Patriot, der den russischen Staat wiederherstellte. 118
Die Hauptaufgabe bestand darin, ihn in den Augen der Öffentlichkeit von der Jelzin-Familie abzugrenzen, damit er als unabhängig wahrgenommen wurde. Sein jugendliches Alter stellte im Kontrast zum alternden und kränkelnden Jelzin einen unmittelbaren Vorteil dar, und die zum Kreml gehörenden Fernsehsender präsentierten ihn vehement als jemanden, der angesichts der separatistischen Überfälle auf Dagestan entschlossen durchgriff. Beresowski sei es ohne Weiteres zuzutrauen gewesen, hinter den Kulissen einen kleinen, triumphalen Krieg vom Zaun zu brechen, um Putins Aufstieg zur Macht zu beschleunigen, meinten zwei von dessen engen Geschäftspartnern. 119
In der Hektik, Putins Machtübernahme herbeizuführen, übersah Pugatschow offenbar alle Warnsignale, die auf Putins Doppelzüngigkeit hinwiesen. Im Juli, während Pugatschow noch damit beschäftigt war, die Auswirkungen der Schweizer Ermittlungen in den Griff zu bekommen und im Kreml bis spät in die Nacht Gespräche mit Putin, Patruschew und Woloschin führte, um den kommissarischen Generalstaatsanwalt Juri Tschaika gegen einen noch loyaleren Verbündeten auszutauschen, hatte Putin offenbar ein doppeltes Spiel getrieben. Tschaika weigerte sich zunächst, den Posten freizugeben, nur um ein paar Tage später dann doch einzuwilligen, nach Einzelgesprächen mit Pugatschow, in denen er ihn warnte, dass Putin dem Kreml gegenüber nicht uneingeschränkt loyal sei. »Bei Putin ist Vorsicht geboten«, sagte er. »Als Sie sich alle mit mir im Kreml getroffen und sechs Stunden lang versucht haben, mich zum Rücktritt zu bewegen, begleitete Putin mich am Anschluss nach draußen. Er sagte mir, dass meine Weigerung richtig sei. Einzuwilligen sei ein Verbrechen.« 120
Aber Pugatschow hatte Tschaikas Warnung schnell wieder vergessen. Der Mabetex-Skandal flaute trotz aller Bemühungen einfach nicht ab, und Ende August wurden schließlich alle Befürchtungen wahr, als Einzelheiten über die Verbindungen zwischen dem Fall und der Jelzin-Familie an die Öffentlichkeit drangen. Die italienische Zeitung Corriere della Sera brachte einen Artikel darüber, dass der Mabetex-Eigentümer Behgjet Pacolli der Jelzin-Familie Kreditkarten besorgt und die Abrechnungen übernommen habe. 121 Laut der Zeitung ging die Schweizer Bundesanwaltschaft davon aus, dass es sich bei den Zahlungen um Schmiergelder für die Aufträge rund um die Kreml-Renovierung handle. Als wichtigster Zeuge wurde Felipe Turover genannt.
In Jelzins Kreml schlug die Nachricht wie eine Bombe ein. 122 Bis dahin hatten nur die Beteiligten – und die Staatsanwälte – gewusst, was die Ermittlungen ans Licht bringen könnten. Wieder einmal eilte Pugatschow der Familie zu Hilfe. »Tanja fiel aus allen Wolken, als die Artikel herauskamen«, sagte er. »Aber ich versprach ihr, dass ich die Sache in Ordnung bringen würde.« 123 Er bot der Familie an, Konten bei seiner eigenen Meschprombank zu eröffnen, und erklärte den Medien dann, dass die fraglichen Kreditkarten bereits Jahre zuvor durch seine Bank ausgestellt worden seien. Das sollte die Presse ablenken und Fragen danach verhindern, ob Jelzin mit dem ausländischen Konto das Gesetz gebrochen hatte. 124
Aus Pugatschows Sicht waren die gesamten Ermittlungen unfair. Jelzin, sagte er, habe nie verstanden, was Geld eigentlich war. Einmal habe er seinen obersten Leibwächter, Alexander Korschakow, betrunken dazu aufgefordert, ihm Wodka zu kaufen, und einen Stapel Banknoten aus einem Safe in seinem Zimmer geholt. Dort bewahrte er laut Pugatschow die Tantiemen aus den Verkäufen der Bücher auf, die er mit Jumaschew zusammengeschrieben hatte. Jelzin hatte Korschakow Scheine im Wert von 100 Dollar in die Hand gedrückt. »Er fragte ihn, ob das genug sei. Er hatte keine Vorstellung von Geld oder davon, wie viel Dinge kosteten. Er hatte sich nie um so etwas kümmern müssen.« Mit der Kreditkarte, die auf Jelzins Namen lief, sei fast nichts bezahlt worden – nur ein geringer Betrag bei einem Staatsbesuch in Budapest. Doch seine Töchter hatten deutlich mehr ausgegeben. »Es kam vor, dass Tanja in einem Monat Pelze für 100 000 Dollar kaufte«, sagte Pugatschow. Aber niemand von ihnen verstand, was eine Kreditkarte war, wie sie funktionierte oder was sie bedeutete: »Sie nahmen das Stück Plastik einfach mit und nutzten es, um Dinge zu kaufen. Sie verstanden nicht, dass jemand dafür bezahlen musste.« 125
Laut Jumaschew waren sich die drei sicher, dass die Karten über Jelzins Tantiemen aus seinen Memoiren finanziert würden. Das habe ihnen Borodin, der Leiter der Kreml-Liegenschaftsverwaltung, erzählt: »Sie haben das Geld in der aufrichtigen Überzeugung ausgegeben, dass es aus den Tantiemen für die Bücher stammte. Aber ich habe keinen Zweifel daran, dass diese Dummheit Borodins von allen möglichen Kräften gegen uns verwendet werden könnte, auch von Primakow und Skuratow.« 126
Die Wolken, die am Himmel aufzogen, wurden also immer dunkler, und es bestand weiterhin die Gefahr, dass die Spur des Geldes zu noch mehr Enthüllungen führen würde. Im August 1999, ein Jahr nach der Rubelkrise, berichtete die New York Times über einen neuen russischen Finanzskandal. 127 Die US-Strafverfolgungsbehörden untersuchten Transaktionen in Höhe von mehreren Milliarden Dollar über die Bank of New York, bei denen es sich mutmaßlich um Geldwäsche durch die russische Mafia handelte. Einen Monat später tauchten Berichte über eine Verbindung zur Jelzin-Familie auf. Die Ermittler waren bei der Rückverfolgung einer Überweisung von 2,7 Millionen Dollar auf zwei Konten der Bank of New York auf den Cayman Islands gestoßen, die auf den Namen von Tatjanas damaligem Mann Leonid Djatschenko liefen. 128 Später ergaben Unterlagen der Schweizer Bundesanwaltschaft, dass man auch dort eine deutlich umfangreichere Transaktion über die Banco del Gottardo auf ein Konto zurückgeführt hatte, von dem Tatjana profitierte. 129 Es kam nie zur Anklage. Jumaschew sagte, jede Andeutung, Tatjana habe derartige Gelder erhalten, sei »schlicht gelogen«.
Die zunehmend angespannte Situation und die Bemühungen, sich gegen die Angriffe zu erwehren, bewirkten, dass Pugatschow eine Warnung von Putins einstigem Mentor Anatoli Sobtschak ignorierte, der ihm prophezeite, er begehe einen großen Fehler: »Ich vermutete, dass er eifersüchtig war. Aber natürlich wusste er alles.« 130 Pugatschow hatte Beresowskis Bedenken bereits vergessen, als Sobtschak zu ihm sagte: »Sergej, das ist der größte Fehler deines Lebens. Er kommt aus einem verdorbenen Umfeld. Ein komitetschik verändert sich nicht. Du verstehst nicht, wer Putin ist.« 131 Beresowski hatte seine eigene tiefsitzende Abneigung gegenüber dem KGB vergessen, hatte verdrängt, wie er viele Jahre zuvor, als er als Jugendlicher in den Touristenhotels von Leningrad mit Devisen gehandelt hatte, immer wieder vor dem Geheimdienst getürmt war. Er hatte auch Tschaikas Warnung vergessen, und niemand – nicht einmal Pugatschow – bemerkte, dass Putin sich weiterhin häufig mit Primakow traf, der doch der Erzfeind hätte sein sollen, nachdem er als Ministerpräsident gefeuert worden war. Wie sich herausstellte, hatte Putin die gesamte Führungsriege des FSB in Primakows Datscha eingeladen, wo man auf ihn anstieß, und im Oktober jenes Jahres auf der Feier zu Primakows siebzigstem Geburtstag eine Lobeshymne auf ihn gehalten. 132
Vor all dem hatten Pugatschow und die Jelzin-Familie die Augen verschlossen. Sie wollten unbedingt glauben, dass Putin einer von ihnen war. In jenem Sommer der sich zuspitzenden Ermittlungen suchten sie verzweifelt nach einem Nachfolger aus den Sicherheitsbehörden, der sie beschützen konnte. Irgendwie gelangten sie zu der Überzeugung, dass dafür einzig und allein Putin infrage käme. Der zunehmend von Krankheit gezeichnete Jelzin war gezwungen, mitzuziehen. Seit Primakow in den Nachwehen der Rubelkrise im August 1998 zum Ministerpräsidenten ernannt worden war, hatte die Jelzin-Familie geglaubt, dass sie sein Amt im Anschluss unbedingt mit jemanden von außerhalb der silowiki besetzen musste. Seit dem Finanzcrash haftete den liberalen Ideen und den jungen Reformern, unter denen Jelzin sich einst nach einem Nachfolger hatte umsehen wollen, ein Makel an. »Wir schluckten so viel Freiheit, dass es uns vergiftete«, meinte Jumaschew später trocken. 133
Putins Lippenbekenntnis zum Markt und den demokratischen Prinzipien hatte die Familie glauben lassen, dass er ihren Kurs fortführen würde. Aber auch sein Harakirimanöver, seinen früheren Mentor Anatoli Sobtschak außer Landes zu bringen und ihn so vor einer drohenden Verhaftung zu bewahren, hatte sie maßgeblich beeinflusst. »Diese Loyalitätsbekundung galt (…) als gewichtiger Faktor bei der Entscheidung«, sagte Gleb Pawlowski, der damals als Kreml-Berater und Spindoktor tätig war. 134 Die Familie wusste, dass Putin, eher als Stepaschin, über die nötige Skrupellosigkeit verfügte, im Zweifelsfall das Gesetz zu brechen, um seine Verbündeten zu schützen.
Außerdem, sagte Pugatschow, habe Putin loyal und folgsam gewirkt. Er glaubte immer noch, dass er ihm gehorchte wie ein Hund, und schrieb ihm weiterhin die liberalen und demokratischen Überzeugungen Sobtschaks zu: »Mein Gefühl war: Wenn er aus Sobtschaks Umfeld stammte, dürfte er ein Mensch mit liberalen Ansichten sein. Ich habe nicht eingehend geprüft, wofür er stand.« Zudem habe Putin zunächst gezögert, den Posten des Ministerpräsidenten anzunehmen. Er habe ihn drängen müssen, sagte Pugatschow, und ihm versichern müssen, dass es nicht für lange sei, nur bis sich die Situation stabilisiert habe.
Was Pugatschow nicht wusste, war, dass Putin einst eng mit einem der Hauptverantwortlichen für den Versuch, die Jelzin-Regierung zu stürzen, zusammengearbeitet hatte. Ihm war nicht klar, dass Felipe Turover, der KGB-Agent, der hinter den Leaks im Zusammenhang mit Mabetex und den Jelzin-Konten steckte und Verbindungen in die Spitze der legendären KGB-Abteilung für Geheimoperationen hatte, Putin in Sankt Petersburg dabei geholfen hatte, das Öl-gegen-Lebensmittel-Programm aufzusetzen.
Er hatte nie die Geschichte gehört, die Turover mir erzählte: Als Jelzins Chefleibwächter nach der Veröffentlichung von Turovers Namen in der italienischen Zeitung im August angeblich anordnete, ihn aus dem Weg zu räumen, habe Putin seinen alten Verbündeten, der sich damals in Moskau aufhielt, aufgesucht, ihn gewarnt und ihm geraten, das Land möglichst schnell zu verlassen: »Er sagte mir, ich solle mich aus dem Staub machen, weil er eine Anordnung vom Präsidenten erhalten habe, mich auszuschalten. Er sagte, er würde unterwegs für meine Sicherheit garantieren.«
Pugatschow wusste nicht, dass Putin die ganze Zeit über ein doppeltes Spiel getrieben hatte. »Er hielt, was er versprach«, sagte Turover. »Er arbeitete niemals für die Familie gegen Primakow. Und gegen Skuratow wurde er nur nach außen hin tätig.« 135
Genauso wenig kam Pugatschow auf die Idee, dass Putin eine Art Plan B des KGB darstellen könnte, nachdem die Machtübernahme durch Primakow gescheitert war. Er behauptete immer, Putin für jemanden gehalten zu haben, den er unter Kontrolle hatte. Ihm war nie der Gedanke gekommen, dass Putin die Familie angelogen haben könnte, als er vorgab, sie zu unterstützen. Putin »täuschte sie«, sagte Turover. »Kriegsführung beruht auf Täuschung. So schreibt es schon Sunzi vor 2600 Jahren in Die Kunst des Krieges«, einem uralten chinesischen Werk über Militärstrategien. »Putin hatte das, was er beim Judo gelernt hatte, tief verinnerlicht.«