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»KINDERSPIELZEUG IN SCHLAMMPFÜTZEN«
Statt dem befürchteten Putsch durch Kräfte der kommunistischen Vergangenheit war die Jelzin-Familie nun also in Wahrheit einem schleichenden Staatsstreich durch die Sicherheitsbehörden zum Opfer gefallen. Da sie von allen Seiten unter Beschuss stand, hatte sie kaum eine andere Wahl, als irgendwie zu einer Übereinkunft mit dem KGB zu gelangen.
»Sie mussten einen Kompromisskandidaten finden«, sagte ein ehemaliges hochrangiges KGB-Mitglied aus Putins Umfeld. 1 »Es gab eine riesige Armee aus einstigen und aktuellen Sicherheitsdienstlern, die immer noch auf ihren Posten waren. [Die Familie] brauchte jemanden, der die Beziehung zu diesen Kräften nach Jelzins Abschied glätten konnte. Sie stand von allen Seiten unter Druck und hatte keine Wahl. Die Entscheidung wurde dadurch erzwungen, dass Jelzins Leute große Angst davor hatten, sein Rückzug könnte eine echte Gegenrevolution auslösen, sodass sie alles verlieren würden, was sie sich so mühsam erarbeitet hatten. Es war eine Frage der Sicherheit und der Absprachen. Sie hielten Putin für eine Zwischenlösung, die sie kontrollieren konnten. Der Einzige, der entschieden dagegen war, war Tschubais. Er befürchtete, dass Putins Hintergrund – seine Zeit beim KGB – bedeutete, dass er eben keine fügsame Marionette in den Händen der Familie sein würde. Seine Intuition trog ihn nicht.«
Putin wurde lange Zeit über als der »zufällige Präsident« Russlands dargestellt. Aber weder sein Aufstieg durch die Ränge des Kreml noch sein Sprung an die Spitze scheinen viel mit Zufall zu tun zu haben. »Als man ihn nach Moskau schickte, war man bereits dabei, seine Eignung zu prüfen«, sagte Putins ehemaliger KGB-Kollege. 2 Auch wenn Jelzins Russland der Außenwelt wie ein Staat im epochalen Wandel erschien, der die Sicherheitsbehörden schon lange entmachtet hatte, waren diese Behörden unter der Oberfläche doch immer noch eine Kraft, mit der man im Land stets rechnen musste. In Jelzins Kreml und in den zweiten Reihen vieler Institutionen und Unternehmen gab es überall KGB-Leute, von denen manche zehn Jahre zuvor dafür gekämpft hatten, Russland zur Marktwirtschaft zu machen, weil sie nur zu gut verstanden hatten, dass die Planwirtschaft der Sowjetunion niemals mit dem Westen mithalten konnte. Sie hatten aus dem Hintergrund heraus verfolgt, wie ihnen die Reformen, die sie mit angestoßen hatten, unter Jelzins Regentschaft immer mehr entglitten. Als die Freiheiten der Jelzin-Ära zum immer rasanteren Aufstieg der Oligarchen führte, die ihre einstigen KGB-Meister Mitte der Neunziger klar abgehängt hatten, hatten diese größtenteils nur zuschauen können. Die Freiheiten hatten eine Art Raubzugkapitalismus erzeugt, über den es den Sicherheitsleuten letztendlich gelungen war, Jelzin und seine Familie zu kompromittieren. Mit der Rubelkrise war ihr Augenblick gekommen. Jelzin und seine Familie hatten sich durch die Mabetex-Konten und ihre engen Geschäftsbeziehungen zu Beresowksi angreifbar gemacht, während die Männer hinter den Kulissen des Kreml längst eine etatistische Kehrtwende geplant hatten.
»Die Institutionen, in denen die Sicherheitsbeamten tätig waren, brachen nicht zusammen«, sagte Thomas Graham, der ehemalige Russlandverantwortliche im Nationalen Sicherheitsrat der USA. »Die privaten Netzwerke verschwanden nicht. Was sie brauchten, war schlicht und einfach jemand, der diese Netzwerke wieder zusammenführen konnte. Das war die Zukunft. Wäre es nicht Putin gewesen, hätte es einen anderen wie ihn gegeben.« 3
Die breite Masse der Sicherheitsbeamten hinter den Kulissen des Kreml war nur darauf aus, das Eigentum und die wirtschaftlichen Vorteile abzusichern, die sie während des Übergangs zur Marktwirtschaft erlangt hatten. Innerhalb des Kreml war man weitgehend überzeugt, dass der neue Präsident, wer auch immer es sein mochte, nach dem Chaos der Jelzin-Jahre eine etatistische Kehrtwende in die Wege leiten müsse, eine Wiedergutmachung für die Verlierer der Jelzin-Jahre, in denen die staatlichen Angestellten – die Lehrer, Ärzte und Polizisten – am meisten gelitten hatten. »Wir suchten nach dem passenden Leim für die Pro-Kreml-Koalition«, sagte Gleb Pawlowski, der damalige Kreml-Berater und Spindoktor. 4 »Nun musste ein Politiker anderen Schlags an die Macht kommen und die postsowjetische Transformation vollenden.«
»Der KGB hätte die Regierung so oder so übernommen«, meinte Andrej Illarionow, der ehemalige Wirtschaftsberater des Präsidenten. 5
Stand Primakow, also Plan A, für das Risiko einer kommunistisch orientierten Kehrtwende und die sehr reale Gefahr, dass ein Bündnis aus Primakow und Luschkow Jelzin und seine Familie für den Rest ihres Lebens hinter Gitter geschickt hätte, war Putin der silowik, der sie retten sollte, der Charmeur, der der »Familie« die ganze Zeit über den Eindruck vermittelte, dass er progressiv sei, einer von ihnen. »Putin ist ein herausragender Politiker, und er bemühte sich sehr erfolgreich darum, das Vertrauen der Familie zu gewinnen«, sagte Illarionow. »Primakow galt als größter Feind Jelzins. Die Sicherheitsleute kalkulierten ganz richtig, dass Jelzin die Macht nicht ohne Weiteres aus der Hand geben würde.« 6
Aber in der Hektik, die eigene Stellung zu sichern, gab die Jelzin-Familie die Zügel einer Gruppe jüngerer KGB-Leute in die Hand, die sich in ihrem Machtstreben als deutlich skrupelloser erweisen sollten, als es die ältere, staatsmännischere Generation rund um Primakow wohl gewesen wäre. In den Wirren der Kreml-Intrigen und –Fehden – die sich selbst innerhalb der Sicherheitsbehörden abspielten – überließen sie die Macht einer Truppe von Männern, die ihre Bündnisse auf den brutalen Schlachtfeldern von Sankt Petersburg geschmiedet hatten und deutlich machthungriger waren und vor nichts zurückschreckten, um ihre Loyalität zu beweisen.
Die Spindoktoren des Kreml arbeiteten unablässig daran, Putin als jemanden darzustellen, der entschieden gegen die tschetschenischen Vorstöße in Dagestan vorging. Aber in den ersten Monaten als Ministerpräsident zogen seine Umfragewerte kaum an. Immer wieder wurde er als farblos beschrieben. Er blieb ein grauer und undurchschaubarer Bürokrat, während Primakows neu gegründetes Bündnis mit Luschkow immer mehr an Fahrt gewann und einen mächtigen Regionalgouverneur nach dem anderen für sich gewann. Gleichzeitig ließen die Nachrichten aus dem Ausland alle Alarmglocken schrillen. Die Enthüllungen über die Ermittlungen rund um die Bank of New York und die möglichen Spuren, die zur Jelzin-Familie führen könnten, glichen einer tickenden Zeitbombe, und die Schlagzeilen rund um die Verbindung zwischen dem Mabetex-Fall und den Kreditkarten der Jelzins ließen den Druck noch weiter steigen. Irgendwo in einem Safe im herrschaftlichen Bürogebäude des stellvertretenden Generalstaatsanwalts in der Petrowka-Straße lagen die unterschriebenen Haftbefehle schon bereit.
Doch ein wichtiger Schritt stand noch bevor.
Ungefähr zu dieser Zeit, erzählte Pugatschow mir, habe er den bisher kühnsten Schritt vorgeschlagen. Er versuchte Tatjana und Jumaschew davon zu überzeugen, dass Jelzin sein Amt frühzeitig niederlegen solle, damit Putin dessen Nachfolge schon vor der nächsten Wahl antreten könne. Nur so ließe sich garantieren, dass er die Präsidentschaft übernahm. »Wir werden es nicht schaffen, die Macht bis zu den Wahlen im nächsten Sommer zu halten«, erklärte er ihnen. »Die Tatsache, dass Jelzin sich ihn als Nachfolger wünscht, ist nicht hilfreich. Wir müssen ihn erst einmal dorthin bekommen.« Die Diskussion zog sich über mehrere Stunden. Jumaschew war fest überzeugt, dass Jelzin nicht einwilligen würde. »Ich sagte zu ihm: Es ist eine Frage deiner eigenen Freiheit, der Freiheit seiner Familie, für dich und für uns alle. Es ist eine Frage der Zukunft dieses Landes. Aber er meinte: ›Dir muss doch klar sein, dass er die Macht niemals aufgeben wird.‹«
Letzten Endes erklärte sich Jumaschew laut Pugatschow bereit, mit Jelzin zu sprechen. Die drei gingen spät am Abend auseinander, und am nächsten Tag, als Pugatschow wieder im Kreml war, erhielt er einen Anruf von Jumaschew: »Er sagte mir, die Sache sei entschieden.« 7 Jumaschew hingegen beharrte darauf, dass damals kein derartiger Entschluss gefallen sei. Die offizielle Version des Kreml lautete stets, dass Jelzin erst viel später, gegen Ende des Jahres, beschloss, frühzeitig abzutreten.
Doch auch zwei weitere ehemalige Kreml-Mitarbeiter deuteten an, dass die Entscheidung früher getroffen wurde, 8 und ein Putin nahestehender KGB-Kamerad bemerkte damals, dass etwas Wichtiges im Gange war. Ende August hatte sich Putin für ein paar Tage mit diesem Kameraden in seine alte Datscha in der Osero-Siedlung zurückgezogen. Er habe für sich sein wollen, sagte dieser. 9 Putin sei tief in Gedanken versunken gewesen und habe eindeutig eine Last mit sich herumgeschleppt.
Die öffentliche Meinung über Putin wandelte sich erst nach drei tragischen Wochen des Terrors im September. In dieser Zeit lösten sich die Schlagzeilen rund um Mabetex in Luft auf, während Putin das Kommando übernahm und Jelzin von der Bildfläche verschwand.
*
Am späten Abend des 4. September 1999 jagte eine Autobombe ein Mietshaus in der dagestanischen Stadt Buinaksk in die Luft und riss 64 Menschen in den Tod, die meisten von ihnen Angehörige der russischen Sicherheitskräfte. Die Explosion wurde als Reaktion auf die Ausweitung des bewaffneten Konflikts mit den tschetschenischen Rebellen verstanden, die am selben Wochenende einen neuen Überfall auf Dagestan unternommen hatten. Nur einen Tag nachdem die Rebellen dort mehrere Dörfer erobert hatten, hatte der neu ernannte Ministerpräsident Putin den Sieg der russischen Truppen in Dagestan verkündet. Der Anschlag wirkte wie ein weiteres entsetzliches Kapitel in der Geschichte der wiederkehrenden Zusammenstöße, die Russland erlebte, seit Jelzin 1994 gegen die tschetschenischen Rebellen in den Krieg gezogen war.
Als eine weitere Explosion nur vier Tage später den mittleren Teil eines Wohnblocks in einem verschlafenen Arbeitervorort im Südosten Moskaus zerstörte und 94 Menschen in ihren Betten starben, schien die militärische Auseinandersetzung Russlands im Kaukasus eine neue, fatale Dimension erreicht zu haben. Anfangs gingen die Ermittler davon aus, dass die Explosion auf ein Gasleck zurückzuführen sei. 10 Nur wenige der im Gebäude lebenden Familien standen in irgendeiner Verbindung zur abtrünnigen tschetschenischen Republik. Wie konnte die Explosion etwas mit einem militärischen Konflikt zu tun haben, der sich in weiter Ferne abspielte? Doch Stück für Stück fingen die Behördenvertreter an, den Vorfall als Angriff tschetschenischer Terroristen zu bezeichnen, ohne Beweise vorzubringen. Kaum hatten die Rettungskräfte die letzten verkohlten Leichen aus den Trümmern dessen gezogen, was einst die Gurjanow-Straße 19 gewesen war, als vier Nächte später eine weitere Explosion ein tristes neunstöckiges Mietshaus an der Kaschirsker Chaussee im Süden Moskaus dem Erdboden gleichmachte. 119 Menschen starben. Das Einzige, was noch auf menschliches Leben verwies, waren die Kinderspielzeuge, die auf den Schlammpfützen trieben. 11
In Moskau machte sich Panik breit. Obwohl die Auseinandersetzungen mit den separatistischen Rebellen im Süden jetzt schon fast ein Jahrzehnt andauerten, hatten sie doch noch nie auf das Herz der Hauptstadt übergegriffen. Die zunehmende Angst und Anspannung im Land verdrängten die Finanzskandale rund um die Jelzin-Familie von den Titelseiten der Zeitungen, und plötzlich ging es dort vor allem um Wladimir Putin. Das war der Wendepunkt, an dem Putin Jelzin die Zügel aus der Hand nahm. Plötzlich war er der Oberbefehlshaber der Nation, der eine bombastische Serie von Luftangriffen gegen Tschetschenien fliegen ließ, um die Anschläge zu rächen.
Was genau in jenem Herbst geschah, in dem die Anzahl der Toten durch die Explosionen auf über dreihundert stieg, während der Kreml eine perfekt orchestrierte PR-Kampagne startete, hat sich zur gefährlichsten und zentralen Frage rund um Putins Aufstieg entwickelt. Ist es möglich, dass Putins Sicherheitsleute ihre eigene Bevölkerung in die Luft jagten, im zynischen Bestreben, eine Krise herbeizuführen, die ihm die Präsidentschaft sicherte? Diese Frage ist häufig gestellt worden, aber die Beweislage ist dünn. Es machte den Eindruck, als ob jeder, der sich ernsthaft mit dem Thema befasste, starb oder unerwartet verhaftet wurde. 12
Doch ohne die Explosionen und den konzertierten militärischen Vorstoß im Anschluss ist es eigentlich nicht vorstellbar, dass Putin die nötige Unterstützung hinter sich versammelt hätte, um es im Wahlkampf mit Primakow und Luschkow aufnehmen zu können. Die Jelzin-Familie hätte weiterhin mit den Ermittlungen gegen Mabetex und die Bank of New York zu kämpfen gehabt, und das hätte auch Putin als Jelzins auserwählten Nachfolger mit in den Abgrund gezogen. Jetzt wirkte er wie auf ein Kommando hin plötzlich selbstbewusst und gut vorbereitet. Er war der zupackende Held, der am 23. September Luftangriffe auf die tschetschenische Hauptstadt Grosny fliegen ließ, während sich Jelzin völlig aus der Öffentlichkeit zurückzog. Putin wendete sich in der Sprache der Straße an das Volk, er schwor, die Terroristen »auf dem Scheißhaus auszulöschen« 13 , und stellte die abtrünnige Republik als einen Verbrecherstaat dar, in dem »Banditen« und »internationale Terroristen« frei herumliefen und unschuldige Russen versklavten, vergewaltigten und töteten. 14 Das empfanden die Russen als frischen Wind. Plötzlich hatten sie statt des kranken und dahinsiechenden Jelzin einen Anführer, der das Kommando übernahm.
In einer Serie gut gemachter TV-Spots mit den militärischen Befehlshabern in Dagestan konnten die Zuschauer Putin dabei zuschauen, wie er gefechtsbereit in Tarnfleckhose und einer leichten Einsatzjacke aus einem herabsinkenden Militärhubschrauber sprang oder feierlich in einem Zelt mit Kommandanten anstieß. »Wir haben kein Recht dazu, auch nur eine Sekunde Schwäche zu zeigen, denn das würde bedeuten, dass alle, die ihr Leben gelassen haben, umsonst gestorben sind«, erklärter er voller Überzeugung. 15 Er wurde als Retter der Nation präsentiert, als russischer James Bond, der wieder für Ordnung und Hoffnung sorgen würde.
Die Kampagne versetzte dem gedemütigten Nationalstolz der Russen einen enormen Schub und erzeugte einen klaren Schnitt zwischen Putin einerseits und dem Chaos und Niedergang der Jelzin-Jahre andererseits. Der massive Luftangriff bot ein Ventil für den über zehn Jahre angestauten Frust der Russen, der im Verlauf des Jahres noch enorm angewachsen war, weil die NATO durch die Bombardierung des Kosovo im ehemaligen Jugoslawien in den traditionell russischen Interessensbereich in Osteuropa vorgedrungen war. Als die Luftangriffe bis weit in den Herbst hinein immer weitere Teile Tschetscheniens zerstörten und auch Tausende zivile Opfer forderten, schossen Putins Zustimmungswerte in die Höhe, von nur 31 Prozent im August auf 75 Prozent Ende November. 16 Wenn sie so geplant gewesen war, ging die »Operation Nachfolger«, wie sie später genannt wurde, voll auf: Es bildete sich eine enorme Pro-Putin-Mehrheit.
Doch sofort tauchten auch die ersten nagenden Zweifel in Bezug auf die Explosionen in Moskau auf. Einer der ersten, die Alarm schlugen und behaupteten, dass der Kreml hinter den Anschlägen stecken könnte, um eine Hysterie herbeizuführen und Luschkow zu schaden, war der kommunistische Abgeordnete Wiktor Iljuchin. 17 Schon seit Monaten kursierten in Moskau Gerüchte, dass der Kreml eine Krise provozieren könnte, um einen Vorwand zur Absage der Wahlen zu haben. Der Duma-Sprecher Gennadi Selesnjow hatte den Abgeordneten mitgeteilt, dass es einen weiteren Anschlag in der südrussischen Stadt Wolgodonsk gegeben habe – drei Tage bevor dieser erfolgte. 18
Die meisten Fragen warf jedoch ein Ereignis am späten Abend des 22. September auf, als ein Bewohner der Stadt Rjasan, nicht weit von Moskau, der örtlichen Polizei meldete, dass er drei verdächtig aussehende Personen dabei beobachtet habe, wie sie Säcke in den Keller seines Wohngebäudes schleppten. Als die Polizei eintraf, waren die Verdächtigen bereits in einem Auto, dessen Nummernschilder teilweise abgeklebt waren, weggefahren. 19 Die Beamten durchsuchten den Keller des Hauses und kamen blass und schockiert wieder heraus: Sie hatten drei Säcke gefunden, die mit einem Zeitzünder verbunden waren. 20 Sofort wurde das gesamte Gebäude evakuiert, und die verängstigtsten Bewohner durften bis zum Abend des folgenden Tages nicht in ihre Wohnungen zurück. Anfangs sagte die Polizei, dass die Säcke ihren Tests zufolge Spuren von Hexogen enthalten hätten, 21 einem starken Sprengstoff, der auch bei den anderen Anschlägen verwendet worden war. Der örtliche FSB-Chef erklärte, dass der Timer auf 5.30 Uhr morgens eingestellt gewesen sei, und gratulierte den Bewohnern dazu, dass sie dem Tod nur um wenige Stunden entronnen seien. 22
FSB und Polizei aus Rjasan setzten ein großes Aufgebot ein, um die mutmaßlichen Terroristen zu finden, und sperrten die gesamte Stadt ab. Einen Tag später, am 24. September, berichtete der russische Innenminister Wladimir Ruschailo den versammelten Polizeichefs in Moskau, dass ein erneuter Anschlag abgewendet worden sei. Doch nur eine halbe Stunde später erklärte Nikolai Patruschew, der eiskalte, scharfzüngige FSB-Chef, der beim Leningrader KGB eng mit Putin zusammengearbeitet hatte, einem Fernsehreporter gegenüber, dass in den Säcken nur Zucker gewesen sei und es sich bei dem gesamten Vorfall um eine Übung gehandelt habe, um die Wachsamkeit der Bevölkerung zu testen. 23 Patruschews Skrupellosigkeit war genauso groß wie seine Unerbittlichkeit bei Schachzügen hinter den Kulissen, 24 und seine neue Erklärung stand nicht nur in direktem Widerspruch zu den Worten Ruschailos, sondern schien auch den Rjasaner FSB zu überraschen, der anscheinend kurz davor stand, die Männer zu fassen, die die Säcke in den Keller gebracht hatten. 25 Der Hausbewohner, der die Polizei gerufen hatte, sagte später, dass die Substanz, die er in den Säcken gesehen hatte, gelb gewesen sei und vom Aussehen her eher wie Reis als wie Zucker gewirkt habe – eine Beschreibung, die laut Experten auf das Aussehen von Hexogen passt. 26
Die widersprüchlichen Aussagen hatten zur Folge, dass die Bewohner des Mietshauses in der Noweselow-Straße 14 noch Monate nach dem Ereignis wütend, verwirrt und traumatisiert waren. Mehrere von ihnen beharrten darauf, dass es sich nicht um eine Übung gehandelt haben könne. 27 Später tauchte ein Bericht auf, laut dem die örtliche Polizei einen Anruf eines der mutmaßlichen Terroristen auf einen Anschluss in Moskau abgehört hatte, der mit dem FSB in Verbindung stand. 28 Wenn das stimmte, konnte man langsam den Eindruck bekommen, dass Patruschew den Vorfall zur Übung erklärt hatte, um weitere Ermittlungen abzuwenden. Die lokalen Behörden, die mit der Untersuchung zu tun hatten, schwiegen plötzlich und verweigerten jeden Kommentar gegenüber der Presse, außer um die offizielle Erklärung zu wiederholen, dass alles nur eine Übung gewesen sei. Der Sprengstoffexperte der Polizei, der die ersten Tests durchgeführt hatte, wurde in eine Spezialeinheit versetzt, deren Mitgliedern es untersagt war, mit der Presse zu sprechen. 29 Die Akten zum Fall wurden umgehend als geheim eingestuft. 30
Einige Jahre später, 2003, wurde ein mutiger ehemaliger Oberst des FSB, Michail Trepaschkin, zu vier Jahren Haft in einem Militärgefängnis verurteilt, als er es wagte, die Moskauer Bombenanschläge zu untersuchen. Seine Festnahme erfolgte nur wenige Tage nachdem er einem Journalisten erzählte hatte, dass eine Skizze eines der Verdächtigen vom ersten Anschlag in der Moskauer Gurjanow-Straße 19 einem Mann ähnlich sehe, den er als FSB-Agenten identifizierte. 31 (Die Zeichnung, die auf der Beschreibung eines Augenzeugen basierte, eines Hausmeisters, war später gegen das Bild eines genehmeren Mannes ausgetauscht worden, eines Tschetschenen, der beklagte, man wolle ihm die Sache nur anhängen. Das ursprüngliche Bild ist aus den polizeilichen Unterlagen verschwunden. 32 )
Wenn das wirklich das tödliche Geheimnis hinter Putins Aufstieg war, lieferte es einen ersten erschreckenden Hinweis darauf, wie weit die KGBler zu gehen bereit waren. Seit Jahren stehen die Fragen zu den Bombenanschlägen im Raum; immer wieder haben Investigativjournalisten umfassende Berichte über alles geschrieben, was damals passierte, während der Kreml sich hinter Dementis verschanzte. Doch vor Kurzem tat sich in der offiziellen Version schließlich ein erster Riss auf. Ein ehemaliger Kreml-Mitarbeiter behauptete, er habe Patruschew einmal offen über die Geschehnisse in Rjasan reden hören. Dieser habe getobt, weil der Innenminister Wladimir Ruschailo, ein Überbleibsel aus den Jelzin-Jahren mit engen Verbindungen zu Beresowski, die Beteiligung des FSB an den Anschlägen fast verraten habe: Seine Leute waren nah dran gewesen, die FSB-Agenten festzunehmen, die den Sprengstoff platziert hatten. Fast hätte Ruschailo die gesamte Operation auffliegen lassen, weil er belastendes Material gegen den FSB und Patruschew sammelte. Der FSB sei gezwungen gewesen, zurückzurudern und zu behaupten, dass die Säcke nur Zucker enthielten, um weitere Ermittlungen zu unterbinden. 33
Patruschew hatte offensichtlich keine Reue gezeigt, sondern war nur wütend über die Beinaheentlarvung des FSB gewesen. Der ehemalige Kreml-Mitarbeiter sagte, er könne immer noch kaum fassen, was er damals zu hören meinte: »Die Bombenanschläge wären nicht nötig gewesen. Wir hätten die Wahl ohnehin gewonnen.« Die Propagandamaschine des Kreml war mächtig genug, um Putin so oder so zum Sieg zu führen. Aber Patruschew, sagte der Mitarbeiter, »wollte Putin an sich binden und seine Hände in Blut tauchen.« 34
Der Kreml-Sprecher Dmitri Peskow tat diese Behauptung als »völligen Unsinn« ab. Und Walentin Jumaschew beharrt bis heute darauf, dass hinter den Bombenanschlägen unmöglich eine FSB-Verschwörung gestanden haben könne: »Ich bin mir absolut sicher, dass das nicht stimmt. Das Land war entschieden gegen einen zweiten Tschetschenienkrieg.« 35 Der erste war so demütigend ausgefallen – Russlands ehemals überragende Armee hatte in der winzigen Republik, die kaum auf der Landkarte auszumachen war, extrem viele Opfer beklagen müssen –, dass es »Selbstmord gewesen wäre, einen zweiten Krieg vom Zaun zu brechen«. »Wohnhäuser in die Luft zu sprengen, um einen zweiten Krieg zu beginnen, hätte die politische Zukunft der Person, die man so unterstützen wollte, komplett zunichtegemacht«, so Jumaschew.
Aber die Strategie, die Putin nun verfolgte, sah völlig anders aus als der verlustreiche Krieg, den Jelzin geführt hatte. Sie bestand größtenteils aus Luftangriffen statt aus Bodentruppen, und diesen Unterschied hatte Putin von Anfang an klar herausgestellt: »Dieses Mal werden wir unsere Jungs nicht ins Gefecht schicken«, sagte er. 36 Auch Pawlowski, der Spindoktor des Kreml, bestritt, dass es je eine Verschwörung gegeben hatte: »Die Anschläge auf die Mietshäuser (…) stellten in unseren Augen einen Wahlvorteil für Luschkow dar. Doch der verschwand plötzlich von der Bildfläche. (…) Im Hexogen-September verspielte der Moskauer Bürgermeister die Chance darauf, an die Spitze Russlands aufzusteigen.« 37
Als Bürgermeister Moskaus fehlte Luschkow jedoch die Autorität, Vergeltungsangriffe auf Tschetschenien zu fliegen. Obwohl er die Unterstützung des Fernsehsenders NTW hatte, der dem Medienmogul Wladimir Gussinski gehörte, wäre er niemals dazu in der Lage gewesen, ein derartiges Propagandafeuerwerk zu zünden, wie es der staatliche Sender RTR oder Beresowskis ORT taten, die ausnahmslos jede Tat Putins im Fernsehen bewarben. Alle Gegenargumente des Kreml wirkten schwach. Wenn die Bombenanschläge auf eine FSB-Verschwörung zurückgingen, war es möglich, dass sie ohne das Wissen oder das Zutun der Jelzin-Familie durchgeführt wurden. Vielleicht hatten Putins KGBler skrupellos selbst die Initiative ergriffen. »Wir hielten es alle für einen terroristischen Akt. Wir wären nie auf die Idee gekommen, dass es etwas anderes sein könnte«, sagte eine Person aus dem Umfeld der Jelzin-Familie. 38 Aber wenn es eine FSB-Verschwörung war, übertraf sie selbst die KGB-Methoden, zu denen seit den Sechzigerjahren ja immerhin die Unterstützung terroristischer Vereinigungen im Nahen Osten und in der Bundesrepublik Deutschland gehört hatte, um den Westen zu erschüttern und zu destabilisieren. Die Rote Armee Fraktion hatte in Absprache mit der Stasi und dem KGB amerikanische Soldaten in Berliner Nachtklubs und deutsche Bankiers auf dem Weg zur Arbeit in die Luft gejagt 39 – wenn man den Erzählungen eines ehemaligen RAF-Mitglieds Glauben schenken will, auch unter Anleitung von Wladimir Putin, als dieser in Dresden stationiert war. 40
Doch es war natürlich etwas ganz anderes, solche Maßnahmen gegen das eigene Volk zu richten. »Ich konnte damals nicht glauben, dass ein Bürger Russlands bereit wäre, derart viele Zivilisten umzubringen, um die eigenen politischen Ziele zu erreichen«, sagte ein russischer Tycoon, der einst zum Umfeld von Beresowski gehört hatte. »Und obwohl ich immer noch nicht weiß, ob sie wirklich in die Sache verwickelt waren, bin ich mir einer Sache heute ganz sicher: Sie wären sogar zu weitaus mehr fähig.« 41 »Egal wie man es betrachtet, seine Wahlkampagne begann mit den Bombenanschlägen«, meinte ein hochrangiger russischer Bankier mit Verbindungen in die Sicherheitsbehörden. 42
Putin hatte sich als hart durchgreifender Anführer aus einer neuen Generation erwiesen. »Vom Stil her war die Wahlkampagne wie eine nationale Befreiungsbewegung aufgezogen«, sagte Pawlowski. »Putin als der einfache Mann aus einer Sozialwohnung in Leningrad, der im Namen des Volkes in den Kreml einzog. (…) Putins Entscheidung, Krieg zu führen, um Vergeltung für die Anschläge zu üben, war spontan, fügte sich aber gut in unsere Strategie. Es passte zum Konzept einer starken, neuen Regierung.« 43
*
Die Bombenanschläge setzten Boris Beresowski, dem schnellsprechenden Mathematiker und Inbegriff eines Oligarchen der Jelzin-Ära, noch jahrelang zu. Später, als er sich mit Putins Kreml entzweit hatte und gezwungenermaßen nach London ins Exil gegangen war, behauptete er wiederholt, dass der FSB in die Explosionen involviert gewesen sei. 44
Doch so weit war es in jenen Tagen noch nicht, und als die Parlamentswahlen im Dezember 1999 bevorstanden, schob Beresowski seine Bedenken hinsichtlich Putins KGB-Vergangenheit beiseite 45 und stellte sich entschieden hinter ihn. Obwohl er mit Hepatitis im Krankenhaus lag, ließ er seinen staatlichen Fernsehsender ORT im Herbst eine furiose Rufmordkampagne gegen Primakow und Luschkow fahren. Die beiden Männer hatten unter dem Namen Vaterland – Ganz Russland eine einflussreiche Allianz im Parlament gegründet, und die Duma-Wahlen galten als erster echter Stimmungstest für sie. Vom Krankenhausbett aus rief Beresowski spätabends bei ORT an und übermittelte seine Anweisungen an Sergej Dorenko, 46 einen beliebten Nachrichtensprecher mit tiefer Stimme, der Primakow und Luschkow in seiner Sendung Woche für Woche so niedermachte, dass es selbst nach den Maßstäben der russischen Schlammschlachtmedien grenzwertig war.
In einer Sendung beschuldigte Dorenko Luschkow, 1,5 Millionen Dollar vom korrupten Bürgermeister einer spanischen Küstenstadt angenommen zu haben, während seine Frau, Jelena Baturina, die größte Baulöwin Moskaus, über eine Kette ausländischer Banken angeblich Hunderte Millionen außer Landes geschleust habe. 47 Der neunundsechzig Jahre alte Primakow, behauptete Dorenko in einem anderen Beitrag, sei körperlich nicht in der Lage, das Präsidentenamt zu erfüllen, weil er sich in der Schweiz gerade einer Hüftoperation unterzogen habe. Dieses Argument wurde durch fürchterliche Aufnahmen einer ähnlichen Operation an einem Patienten in Moskau untermalt, auf denen viel Knochen und viel Blut zu sehen waren. Außerdem behauptete Dorenko, Primakow sei als Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes möglicherweise in zwei Attentate auf den georgischen Präsidenten Eduard Schewardnadse verwickelt gewesen. Dazu spielte der Sender mehr oder weniger rund um die Uhr das Video von Skuratow und den Prostituierten ab, um die Gouverneure der Regionen bloßzustellen, die sich Vaterland – Ganz Russland angeschlossen hatten und Skuratow damals den Rücken gestärkt hatten. 48
Beresowski verkündete in seiner markigen Art, er sei fest entschlossen, Primakow und Luschkow zu vernichten. Im frühen Herbst verließ er das Krankenhaus für einen Abend, um mit einem Geschäftspartner die Organisation der Kampagne durchzusprechen. »Er war total besessen und wirkte völlig wahnsinnig«, sagte dieser Partner. 49 »Er hatte wie üblich drei Mobiltelefone dabei und redete ununterbrochen. Immer wieder sagte er: ›Ich werde sie in Stücke schlagen. Von ihnen bleibt nichts übrig.‹« Obwohl Putins Zustimmungswerte stetig stiegen, stand viel auf dem Spiel. Die Ermittlungen gegen Beresowski und seine Geschäfte, die unter Primakow aufgenommen worden waren, liefen weiter. Beresowski drohte immer noch die Haft. 50
Dorenko erwies sich als eine äußerst effektive Bulldogge, und so langsam sank die Zustimmung für Vaterland – Ganz Russland. Doch im Vergleich zu den Finanzskandalen der Jelzin-Familie, die auf dem konkurrierenden Sender NTW, der Primakow und Luschkow unterstützte, in voller Länge ausgebreitet wurden, wirkten die Anschuldigungen gegen Primakow und Luschkow eher zahm. Und obwohl Beresowski sich nach Kräften darum bemühte, gemeinsam mit anderen eine neue Pro-Kreml-Partei für das Parlament zusammenzuschustern, die unter dem Namen Einheit ein Gegengewicht zu Vaterland – Ganz Russland darstellen sollte, erweckte diese doch den Eindruck einer eher formlosen Masse aus obskuren und gesichtslosen Bürokraten. Mitte November erreichte Einheit nur Umfragewerte von sieben Prozent, verglichen mit zwanzig Prozent für Vaterland – Ganz Russland. 51
Erst als sich Putin Ende November öffentlich für Einheit aussprach, legte die Partei zu. Putin hatte sich durch die ständige Berichterstattung über sein entschlossenes Durchgreifen gegen Tschetschenien mittlerweile in einen politischen Midas verwandelt, und es dauerte nur eine Woche, bis die Umfragewerte von Einheit von 8 auf 15 Prozent gestiegen waren. 52 Vaterland – Ganz Russland war auf etwa 10 Prozent abgestürzt, obwohl Primakow persönlich weiterhin sehr beliebt war. Am meisten Zustimmung verzeichneten mit 21 Prozent die Kommunisten. Putins persönliches Ergebnis lag bei überwältigenden 75 Prozent. 53 Trotz der Herkulesarbeit von Beresowski und Dorenko hätte der Kreml das Parlament ohne Putins Unterstützung von Einheit womöglich verloren.
Am Wahltag, dem 18. Dezember 1999, fuhr Einheit mit 23 Prozent ein überraschend gutes Ergebnis ein und lag nur einen Prozentpunkt hinter den Kommunisten. Noch wichtiger war, dass Vaterland – Ganz Russland, die Partei von Primakow und Luschkow, mit nur 12,6 Prozent der Stimmen eine herbe Niederlage erlitt. 54 Jumaschew behauptete, dass Jelzin erst zu diesem Zeitpunkt ausreichend von Putins Strahlkraft als neuer politischer Größe überzeugt gewesen sei, um den Entschluss zu fassen, zurückzutreten und den Weg freizumachen. Er beharrte darauf, dass Jelzin diese Entscheidung allein getroffen habe, Pugatschows Einfluss sei minimal gewesen. 55
In den Memoiren, die Jumaschew als Ghostwriter für Jelzin verfasste, erzählt der russische Präsident, wie er Putin am 14. Dezember, vier Tage vor der Wahl, zu sich bestellte und ihn über seine Rücktrittsentscheidung informierte. Laut Jelzin zögerte Putin, die Macht zu übernehmen. Jelzin schreibt, dass er an jenem Tag zu Putin sagte: »Ich will noch in diesem Jahr gehen. Das ist wichtig. Das neue Jahrhundert Russlands muss mit der Ära Putin beginnen. Verstehen Sie das?« Daraufhin habe Putin lange geschwiegen, bevor er antwortete: »Ich bin nicht bereit, diese Entscheidung jetzt zu treffen. Verstehen Sie, Boris Nikolajewitsch, es ist ein sehr schweres Los.« 56
Aber weder die Geschichte von Putins angeblicher Zurückhaltung noch Jelzins Rücktrittsentschluss in letzter Minute passten zu dem, was bis dahin passiert war. Es entsprach auch nicht dem, was Pugatschow und die beiden anderen Kreml-Mitarbeiter erzählten, nämlich dass die Entscheidung schon viel früher gefallen sei. Im Grunde hatte Putin schon in den Monaten vor der Parlamentswahl die Führung der Armee und der Strafverfolgungsbehörden einschließlich der Sicherheitskräfte übernommen, während Jelzin sich komplett zurückgezogen hatte. Hätte Putin nicht bereits mit einer gewissen Bestimmtheit davon ausgehen können, dass er Präsident würde, hätte er beim Militäreinsatz gegen Tschetschenien weder so entschieden noch so präsidentiell handeln können.
Selbst wenn Putin persönlich zögerte, die Präsidentschaft zu übernehmen, war er in jenen Tagen doch nur ein Vertreter einer Gruppe von Sicherheitskräften, die an die Macht kamen. Als er Ende 1999 anlässlich der Jahresfeier der Tschekisten, wie die sowjetische Geheimpolizei genannt wurde, eine Rede hielt, nahm er klar und deutlich auf deren Vormachtstellung Bezug: »Die Gruppe von FSB-Mitgliedern, deren Auftrag die verdeckte Arbeit innerhalb der Regierung ist, hat die erste Phase dieses Auftrags erfolgreich abgeschlossen«, sagte er. 57 Dabei blieb sein Gesichtsausdruck zwar neutral, aber gegen Ende der Rede konnte er sich das Grinsen dann doch nicht verkneifen. Wenn die Aussage als Witz gemeint war, erzählten die tiefen Schatten unter seinen Augen und seine blasse, ausgemergelte Gestalt eine andere Geschichte. Im Grunde erklärte Putin den Sicherheitskräften, dass das Land nun endlich ihres sei.
Doch kaum jemand schenkte diesen Bemerkungen Putins Beachtung. Nur die Sicherheitsleute im Kreml, die hinter ihm standen, hatten still und leise ihre Vorbereitungen getroffen. Drei Tage vor dem Jahreswechsel hatte Putin einen Artikel auf einem neuen staatlichen Portal veröffentlicht, der wie ein Manifest für die Sicherheitskräfte klang. Unter dem Titel »Russland an der Jahrtausendwende« 58 legte er zum ersten Mal seine Vision für das Land dar.
Der Artikel deutete an, dass Putin anstrebte, der moderne Erbe Andropows zu werden. Er präsentierte ein Programm für eine neue Ära des Staatskapitalismus, in der Russland die starke Hand des Staates mit Elementen der Marktwirtschaft verbinden sollte. Das Ziel war es, das Land durch die Förderung des Wirtschaftswachstums zu modernisieren und effizienter zu machen und die Integration in die Weltwirtschaft voranzutreiben, gleichzeitig aber auch auf Stabilität und einen starken Staat zu setzen. Das war einerseits eine unmissverständliche Zurückweisung des dogmatischen Kommunismus, den Putin »einen Weg in die Sackgasse« nannte, der dem Land einen »ungeheuerlichen Preis« abverlangt und es dazu verdammt habe, hinter wirtschaftlich weiter entwickelte Staaten zurückzufallen. Zugleich war es aber auch eine Abkehr von Jelzins Weg, der Russland zu einer liberalen, dem Westen nachempfundenen Demokratie hatte formen wollen. Das Land solle einen dritten Weg einschlagen, der auf den Traditionen eines starken Staates aufbaute. »Es ist nicht in Kürze damit zu rechnen – falls es überhaupt je möglich ist –, dass Russland eine Neuauflage von Ländern wie den USA oder Großbritannien wird, in denen die liberalen Werte historisch tief verwurzelt sind«, schrieb er. »Für die Russen ist ein starker Staat keine Anomalie, die es loszuwerden gilt. Ganz im Gegenteil – sie betrachten ihn als Quelle und Garanten der Ordnung und als Initiator und Triebkraft jedes Wandels.« 59
Inmitten der Eile und der Vorbereitungen rund um die Neujahrsfeierlichkeiten und den Anbruch des neuen Millenniums fiel der Beitrag kaum jemandem auf. Eine einzige überregionale Zeitung brachte einen Kommentar dazu. 60 Ansonsten ging er völlig unter. Überall in Russland hetzten sich Familien ab, um die letzten Geschenke zu besorgen. Auf den schneebedeckten Marktplätzen wurden Tannen verkauft. In den Straßen staute sich wie üblich der Verkehr. Am Silvesterabend versammelten sich die meisten Familien um den Fernseher, um die traditionelle Neujahrsansprache des russischen Präsidenten zu verfolgen.
Doch das neue Jahrtausend begann um Punkt zwölf Uhr Mitternacht mit einer Riesenüberraschung. Jelzin wirkte etwas unstet und aufgequollen, sprach aber mit großer Würde, als er dem Land verkündete, dass er vorzeitig abtreten und Putin zum kommissarischen Präsidenten ernennen werde. Diese Mitteilung erfolgte mit derselben Selbstsicherheit und Dramatik, die Jelzins turbulente Amtszeit geprägt hatten. Seine Entscheidung war bis zum letzten Augenblick geheim gehalten worden. »Ich habe schon mehr als einmal gehört, wie jemand sagte, dass Jelzin so lange wie möglich an der Macht klebt, dass er niemals loslässt«, erklärte er nun. »Das ist eine Lüge. Russland sollte mit neuen Politikern ins nächste Jahrtausend gehen, mit frischen Gesichtern, anderen Menschen, die intelligent, stark und dynamisch sind, während wir, die wir seit vielen Jahren an der Macht sind, abtreten müssen.«
Aber Jelzin verabschiedete sich auch mit einer außergewöhnlich demütigen Geste, einer Entschuldigung für das fast ein Jahrzehnt währende Chaos, das seine Bemühungen, das Sowjetregime zu überwinden, mit sich gebracht hatten, und für sein letztendliches Versagen, dem Land die endgültige Freiheit zu bringen: »Ich möchte Sie um Vergebung bitten – für die Träume, die nicht wahr geworden sind, und für die Dinge, die leicht erschienen, sich aber als so unheimlich schwer erwiesen. Ich bitte Sie um Vergebung dafür, dass ich die Hoffnungen derjenigen enttäuscht habe, die mir glaubten, als ich sagte, wir würden den Sprung von der grauen, totalitären Vergangenheit des Stillstands in eine leuchtende, wohlhabende und zivilisierte Zukunft schaffen. Ich glaubte an diesen Traum. Ich glaubte, dass es uns mit einem Sprung gelingen könnte. Aber so kam es nicht.« 61
Das war eine treffende Formulierung für das, was hätte sein können – und möglicherweise prophetisch angesichts dessen, was kommen sollte. Jelzin hinterließ ein Land, das von einer Wirtschaftskrise nach der anderen heimgesucht worden war. Aber er übergab es an einen Mann, den eine Gruppe von Sicherheitsbeamten an die Macht gehievt hatte, die der Meinung waren, dass die alles überragende Leistung der Jelzin-Ära – die Einführung grundlegender demokratischer Werte – das Land an den Rand des Zusammenbruchs geführt habe. Als Jelzin Putin zum Präsidenten ernannte, schienen die demokratischen Werte fest verankert zu sein. Es wurden Gouverneure gewählt. Die Medien verrichteten ihre Arbeit größtenteils ohne staatliche Einmischung. Die beiden Kammern des Parlaments boten ein Forum für Kritik an der Regierungspolitik. Aber diejenigen, die Putins Aufstieg unterstützten, glaubten, dass Jelzin es mit den hart erkämpften Freiheiten des Landes zu weit getrieben und unter dem Einfluss des Westens ein gesetzloses Treiben zugelassen habe, das eine korrupte Oligarchie an die Macht gespült und den Staat selbst zum Verkauf angeboten habe. Statt die demokratischen Institutionen zu stärken, um die wahnwitzigen Exzesse der Jelzin-Jahre einzudämmen, wollten sie die Demokratie aushöhlen – um ihre eigene Macht zu festigen.
Wenn Jelzin auch nur die geringste Vorstellung davon hatte, dass Putin unter dem Einfluss dieser Denkweise stand, dass er eine Kehrtwende hin zu einer düsteren Kopie der grauen, totalitären Vergangenheit anstrebte, gab er sich alle Mühe, es nicht zu zeigen. Aber im Grunde reichte er die Macht an den komitetschik weiter, den die Elite des Auslandsgeheimdienstes zum Vorkämpfer erkoren hatten – eben jene Elite, die ursprünglich die Öffnung der Sowjetunion für die Märkte eingeleitet hatte, weil sie erkannt hatte, dass das Land nur durch einen Wandel überlebensfähig war. Für diese Männer bedeutete Putins Aufstieg zu Jelzins Nachfolger, dass die Revolution, die sie initiiert hatten, um den Markt nach Russland zu holen, nun abgeschlossen werden könnte. Jetzt ließen sich die Überbleibsel der KGB-Netzwerke reaktivieren, die sie nach dem Ende der Sowjetunion am Leben gehalten hatten, als sie der Aufforderung Folge leisteten, eine unsichtbare Wirtschaft zu erschaffen. Der finanzielle Kollaps unter Jelzin hatte ihnen in die Karten gespielt, um sich die Führungsrolle zurückzuerobern. Putins Konzept eines stärkeren Staates traf bei einer Bevölkerung, die durch die Exzesse der Jelzin-Jahre tief enttäuscht war, auf viel Zustimmung. Nach einem Jahrzehnt, in dem eine Finanzkrise auf die andere folgte, während eine Handvoll Geschäftsmänner aus dem Umfeld der Macht unvorstellbare Reichtümer anhäufte, waren die Menschen erschöpft. Mit der richtigen Vorgehensweise standen den Vertretern der Sicherheitsbehörden alle Türen offen. »Putins Aufstieg war die logische Folge der Neunzigerjahre«, meinte ein ehemaliger hochrangiger Regierungsbeamter mit engen Verbindungen in die Sicherheitsbehörden. 62
Sobald Jelzin verkündet hatte, er werde zurücktreten und Putin die Regierungsgeschäfte übergeben, verschwanden Primakow und Luschkow im Hintergrund, um Putin freie Bahn zu lassen. Nach der Niederlage von Vaterland – Ganz Russland bei den Parlamentswahlen kandidierte keiner von beiden für das Präsidentenamt. Stattdessen schoben sie ihre angebliche frühere Rivalität beiseite und stellten sich voll und ganz hinter Putin. Primakow, der ehemalige Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes, der eine tragende Rolle bei den sowjetischen Bemühungen um die Perestroika und ein Ende der ideologischen Konfrontation mit dem Westen gespielt hatte, steckte nun zugunsten eines Vertreters der jüngeren KGB-Generation zurück. So machte er den Weg frei für eine Gruppe von Leuten, die sich besser darauf verstanden, den Übergang Russlands zu einem Staatskapitalismus mit weitreichendem Zugriff auf die internationalen Märkte zu vollenden. Putins Männer waren frei vom Makel einer kommunistischen Vergangenheit, anders als Primakow, dessen Taten und Ansichten trotz seiner Rolle bei Russlands Transformation noch stark von den alten Zeiten geprägt waren. Die neuen Männer gehörten einer deutlich kommerzieller orientierten Generation an, die sich anfänglich gern als progressiv ausgab. Sie waren jünger, und die in die Jahre gekommenen Generäle an der Spitze des russischen Auslandsgeheimdienstes glaubten immer noch, sie kontrollieren zu können. Doch Primakow reichte den Staffelstab an eine Truppe weiter, die deutlich skrupelloser war als sein eigenes Umfeld und auf dem Weg zur Macht vor nichts zurückschrecken sollte.
Obwohl Primakow mit Sicherheit ebenfalls versucht hätte, die Macht des Staates und des KGB wiederherzustellen, hatte er sich in den Neunzigerjahren nicht durch die von Kriminalität verheerten Trümmer der Stadt Sankt Petersburg kämpfen müssen. Er war nicht an der Allianz aus KGB und organisiertem Verbrechen beteiligt gewesen, die rücksichtslos den Hafen und das Ölgeschäft der Stadt in Beschlag nahm, hatte nicht die Gewinne aus der Privatisierung des städtischen Eigentums mit der Tambow-Mafia geteilt und das Geld anschließend gewaschen. Er gehörte nicht der jüngeren KGB-Generation an, deren Erfolge in den Achtzigerjahren darauf beruhten, dass sie Geld und Technologien über die Systeme des Westens schleusten und dabei auf eine Kombination aus KGB-Netzwerken und einer aggressiv-kapitalistischen Vorgehensweise setzten. Primakow war ein eher prinzipientreuer elder statesman aus den Zeiten des Kalten Krieges, mit wenig Interesse an der Habgier der Neunzigerjahre. Das unterschied ihn von Putins Männern, die am Schlemmerbüfett der Neunzigerjahre leer ausgegangen waren und nun begierig darauf lauerten, sich eine Scheibe vom Reichtum abzuschneiden.
Die Entscheidung der Jelzin-Familie, Putin zu fördern, um sich vor den Angriffen Primakows und der Staatsanwälte zu retten, sollte Auswirkungen auf ganz Russland und die gesamte Welt haben, über Jahrzehnte hinweg. Wir werden nie wissen, was passiert wäre, wenn Primakow Präsident geworden wäre. Aber es lässt sich mit einiger Sicherheit sagen, dass die Rückkehr des KGB unter ihm niemals so nachhaltig ausgefallen wäre wie unter Putin und er auch auf der internationalen Bühne deutlich weniger skrupellos agiert hätte. Sein kommunistisches Erbe hätte immer eine Angriffsfläche geboten und er hätte wie ein Dinosaurier aus der Vergangenheit gewirkt, 63 während ein Präsident Stepaschin wohl weitaus milder gehandelt und deutlich weniger Freiheiten zurückgenommen hätte als die Regierung Putin.
*
Durch seine Einwilligung, frühzeitig abzutreten, machte Jelzin den Weg für die sofortige Rücknahme einiger demokratischer Errungenschaften seiner Amtszeit frei. Er hatte Putins Wahl zum Präsidenten quasi besiegelt. Als kommissarischer Präsident hatte Putin den ganzen Staatsapparat hinter sich und konnte die Haushaltsmittel mehr oder weniger nach Belieben einsetzen. Am Vorabend der Präsidentschaftswahl, die am 26. März 2000 stattfand, unterschrieb er einen Erlass, der Lehrern, Ärzten und anderen Staatsangestellten eine Gehaltserhöhung um 20 Prozent gewährte. 64 Niemand zweifelte daran, dass er gewinnen würde.
Auf einen echten Wahlkampf konnte er im Grunde verzichten, für das ganze Prozedere hatte er nur Verachtung übrig. »Ich hätte mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können, je an einer Wahl teilzunehmen«, erklärte er einigen Journalisten am Wahlabend. »Es scheint mir ein höchst schändliches Geschäft zu sein. (…) Man muss immer mehr versprechen als der Gegner, um Erfolgsaussichten zu haben. Ich will mir gar nicht vorstellen, Versprechungen machen zu müssen, von denen ich im Voraus weiß, dass sie nicht zu halten sind. Zum Glück lief die Präsidentschaftskampagne so ab, dass ich solche Dinge vermeiden konnte. Es blieb mir erspart, weite Teile der Bevölkerung zu täuschen.« 65
Putin weigerte sich, an TV-Debatten mit den anderen Kandidaten teilzunehmen – dem unerschütterlichen Chef der Kommunisten, Gennadi Sjuganow, und dem glühenden Nationalisten Wladimir Schirinowski von der Liberaldemokratischen Partei, die beide bereits 1996 gegen Jelzin verloren hatten und gegen Putin erst recht keine Chance hatten. Er mied die TV-Spots und Wahlkampfveranstaltungen nach westlichem Vorbild, wie sie Jelzins Kampagne geprägt hatten. »Diese Clips sind Werbung«, sagte er zu Reportern und höhnte: »Ich werde im Rahmen meiner Wahlkampagne nicht versuchen herauszufinden, was wichtiger ist – Snickers oder Tampons.« 66
Die Wahrheit war: In einer Fernsehdebatte hätte Putin damals wohl keine Chance gehabt. Er hatte keine Erfahrung in der Rolle des Politikers. Doch ihm bot sich ein einfacher Ausweg: Als kommissarischer Präsident war er ständig auf allen Bildschirmen präsent. Die Fernsehsender stellten ihn kriecherisch als resoluten Anführer dar. Sie zeigten, wie er quer durch das Land reiste, um Fabriken zu besuchen, und in einem Suchoi-Kampfjet über Tschetschenien flog. Laut seinem Team waren all diese Aktivitäten Teil der Regierungsarbeit, kein Wahlkampf. Diese Strategie kam bei der Wählerschaft, die von Jelzins Selbstdarstellungsdrang und dem ewigen politischen Drama desillusioniert war, gut an. Das Volk wünschte sich einfach eine starke Führung. Putins Konkurrenten fielen weit zurück und wurden schnell zu Randfiguren einer Wahl, deren Ergebnis eigentlich im Voraus feststand. Zwei Tage vor dem Urnengang traten Putin und Luschkow zusammen auf einer Moskauer Baustelle auf und stellten ihren Burgfrieden zur Schau. 67
Der Kreml war Putin auf dem Silbertablett überreicht worden. »Es war wie ein Weihnachtsgeschenk. Man wacht eines Morgens auf, und plötzlich ist es da«, meinte Pugatschow. »Es gab keine richtige Wahl, das gesamte System stand bereits.« 68
Doch inmitten der Hektik, Putin an die Macht zu hieven, ging ein unheilvolles Omen fast völlig unter. Putin begann seine Kampagne mit dem Abschied von dem Mann, der sein Mentor gewesen war und der Jelzin-Familie Anlass zu der Überzeugung gegeben hatte, dass er ein Demokrat mit progressiven Ansichten war. Anatoli Sobtschak, der ehemalige Bürgermeister von Sankt Petersburg, war plötzlich verstorben, gerade als der Wahlkampf offiziell beginnen sollte. Er war kurz vor Putins Ernennung zum Ministerpräsidenten im vorausgegangenen Sommer aus seinem erzwungenen Exil in Paris nach Russland zurückgekehrt. Die Ermittlungen gegen ihn, die dem Verdacht nachgingen, er könnte während seiner Zeit als Bürgermeister bestechlich gewesen sein, waren eingestellt worden, möglicherweise auf Veranlassung Putins. Und nun, da sich sein ehemaliger Protegé auf direktem Wege an die Spitze des Staates befand, musste er sich auch keine Sorgen machen, dass ihm die Sache noch einmal gefährlich werden könnte. Nach außen hin unterstützte er Putins Kandidatur uneingeschränkt. Doch laut Pugatschow hatte Sobtschak ihn gewarnt, dass er mit der Unterstützung von Putin einen Fehler begehe, und im November 1999 wetterte er – was bei ihm selten vorkam – lautstark gegen den Petersburger FSB und alle anderen Staatskräfte, die an der aggressiven Übernahme der Ostsee-Schifffahrtsgesellschaft beteiligt gewesen waren. Seiner Meinung nach gehörten diejenigen, die hinter deren Insolvenz steckten, ins Gefängnis. 69 Das war das erste Mal, dass er die Behörden der Stadt in der Zeit nach dem Ende der Sowjetunion kritisierte, und es sollte das einzige Mal bleiben.
Am Tag seines Todes, dem 20. Februar 2000, befand er sich in Begleitung einer Figur aus der russischen Schattenwelt, die der undurchsichtigen Schnittmenge zwischen den Sicherheitskräften und dem organisierten Verbrechen entstammte. Es handelte sich um Schabtai Kalmanowitsch, einen KGB-Agenten, der 1988 in Israel wegen Spionage für die Sowjetunion zu fünf Jahren Haft verurteilt worden war und nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis enge Kontakte zu den Anführern des mächtigsten Mafiaclans Russlands, der Solnzewskaja, pflegte. Kalmanowitsch hatte mit einem Geschäftsmann zusammengearbeitet, der über den Petersburger Hafen Obst aus Südamerika importierte, und einem ehemaligen städtischen Mitarbeiter zufolge auf diesem Weg auch andere Ware ins Land geschmuggelt. Für Sobtschaks Witwe war Kalmanowitsch ein Freund der Familie. 70 Doch das FBI betrachtete ihn als »einen mächtigen Verbündeten der Solnzewskaja-Organisation (…) einen russischen Emigranten mit Millionenvermögen (…) und Verbindungen zu ehemaligen KGB-Agenten und hochrangigen Regierungsmitgliedern in Russland, Israel und anderen Staaten auf der ganzen Welt.« 71
Wohin er auch ging, der Petersburger Hafen schien Sobtschak immer noch auf Schritt und Tritt zu verfolgen. In Paris hatte Ilja Traber zu seinen Nachbarn gezählt, 72 einer der Anführer der Tambow-Mafia, der die Kontrolle über den Hafen innegehabt und sich Anfang der Neunzigerjahre, als er mit Antiquitäten handelte, mit den Sobtschaks angefreundet hatte. Zum Zeitpunkt seines Todes schien jetzt Kalmanowitsch den Hafen wieder zu ihm gebracht zu haben. Sobtschak hatte sich an jenem Tag aufgrund von Brustschmerzen früh auf das Hotelzimmer in Kaliningrad zurückgezogen, das er während einer Vorlesungsreihe an der dortigen Universität bewohnte. Eine halbe Stunde später fand ihn »die Person, die im Zimmer neben ihm untergebracht war«, 73 bewusstlos vor. Die Tür war unverschlossen gewesen. Aus irgendeinem Grund dauerte es dreißig Minuten, bis ein Krankenwagen gerufen wurde, und als der dann weitere zehn Minuten später eintraf, war Sobtschak tot. 74 Es sei Kalmanowitsch gewesen, erzählte Sobtschaks Witwe später, der ihn gefunden habe. 75
Die örtlichen Behörden leiteten zunächst eine Ermittlung wegen Verdachts auf Vergiftung ein, verkündeten aber kurz darauf, dass Sobtschak eines natürlichen Todes gestorben sei. Er hatte bereits zuvor einen Herzinfarkt erlitten. Doch es gibt Menschen, die sich bis heute fragen, ob er in den Augen von Putins Männern nicht einfach zu viel wusste. Sobtschak hatte einige der schmutzigsten Deals zu Putins Zeiten in Sankt Petersburg miterlebt: das Öl-gegen-Lebensmittel-Programm, die Geldwäsche über die Immobilienfirma SPAG zugunsten der Tambow-Mafia, die Privatisierungen und die Zerschlagung der Ostsee-Schifffahrtsgesellschaft, die zur Übernahme des Hafens und des Ölterminals durch Traber führte. Niemand konnte erklären, warum der Krankenwagen nicht sofort gerufen wurde, als man Sobtschak bewusstlos aufgefunden hatte. »Ich glaube nicht, dass er einfach so gestorben ist«, meinte ein ehemaliger Geschäftspartner Trabers. »Er wusste zu viel über das alles. Natürlich haben sie ihn ausgeschaltet, aber sie sind zu clever, um Spuren zu hinterlassen.« 76
Putin tröstete Sobtschaks Witwe Ljudmila Narussowa, als ihr im Taurischen Palast in Sankt Petersburg, wo der Leichnam aufgebahrt war, die Tränen über die Wangen liefen. Er äußerte öffentlich Kritik an denen, die Sobtschak wegen der Korruptionsvorwürfe verfolgt hatten, und behauptete, er sei einer Hetzkampagne zum Opfer gefallen. 77 Narussowa, eine elegante Blondine, die später selbst als Senatorin in den Föderationsrat einzog, schien unbedingt glauben zu wollen, Putin sei ihrem Mann gegenüber immer loyal geblieben. Nur einmal, Jahre später, gestattete sie sich, Zweifel an den Umständen seines Todes zu äußern. Das war im November 2012, kurz nachdem ihre Karriere als Abgeordnete abrupt zu Ende gegangen war, weil sie plötzlich von der Liste der Kandidaten gestrichen wurde, die zur Wiederwahl standen. Als Putins Regierung alles daransetzte, sämtliche parlamentarische Freiheiten abzuschaffen, war sie irgendwann zu kritisch geworden und hatte ihre Ansichten zu offen bekundet. Ihre Absetzung und die rigorose Einschränkung der politischen Gestaltungsmacht im Land habe »gewisse Illusionen zerstört«, erklärte sie einer Journalistin. 78 Sie beharrte darauf, Putin als »einen absolut aufrichtigen, anständigen und beflissenen Menschen« zu kennen, sei aber »angewidert« von denen, die ihn umgaben.
Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie eigenständig eine Autopsie durchführen lassen. Laut deren Befund sei ihr Mann gestorben, weil sein Herz aufhörte zu schlagen, sagte sie. Aber sie wollte nicht sagen, wie genau es dazu gekommen war – nur dass die Untersuchungen ergeben hätten, dass es kein Herzinfarkt war. »Die Narben auf seinem Herzen waren alt, sie stammten von dem Herzinfarkt 1997. Warum sein Herz stehenblieb, ist eine andere Frage«, sagte sie zu der Journalistin. Sie kenne die Antwort, könne sie aber nicht verraten, weil sie um das Leben ihrer Tochter fürchte: »Ich sehe, wozu diese Leute fähig sind, diese Leute, die kein Wort der Wahrheit hören wollen. Alle Unterlagen dazu befinden sich in einem Safe im Ausland. Selbst wenn mir etwas zustößt, bleiben sie dort.« Als sie gefragt wurde, wen sie mit »diese Leute« meine, sagte sie: »Manche von ihnen sind an der Macht.« Diese Anschuldigung wiederholte sie nie. 79
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Nach der Ernennung zum kommissarischen Präsidenten ließ Putin seine Petersburger Vergangenheit langsam hinter sich und fing an, sich an sein neues Leben zu gewöhnen. In der ersten Zeit blieben Jelzin und seine Familie im weitläufigen Präsidentenwohnsitz »Gorki-9« in den Wäldern außerhalb von Moskau wohnen, und Putin, der bisher in der staatseigenen Datscha des Ministerpräsidenten lebte, brauchte eine Präsidentenresidenz. Pugatschow fuhr ihn zu drei Villen, die noch aus Sowjetzeiten im Staatsbesitz waren und gerade frei waren. 80 Eine stand zu nah an der Straße, die zweite passte überhaupt nicht. Aber die dritte, ein geräumiges Anwesen, errichtet im 19. Jahrhundert, vor der Revolution, war genau das Richtige.
Für Pugatschow hatte der Bau namens Nowo-Ogarjowo eine historische und spirituelle Bedeutung. Um die Jahrhundertwende hatten dort Großfürst Sergej Alexandrowitsch, ein Sohn von Zar Alexander II., und seine Frau Jelisaweta Fjodorowna gelebt. In den Wirren der vorrevolutionären Jahre hatte die Bombe eines Terroristen den erzkonservativen Großfürsten, der Generalgouverneur von Moskau war, das Leben gekostet. Seine Frau hatte die Überreste seines Körpers schweigend von der Straße aufgesammelt und den Rest ihres Lebens den Bedürftigen gewidmet, später auch als Nonne. Nach der Machtübernahme durch die Bolschewiki wurde sie ermordet, indem man sie in einen Minenschacht stieß, und 1981 sprach die russische-orthodoxe Kirche sie heilig.
In den Augen des gläubigen Orthodoxen Pugatschow war Nowo-Ogarjowo eine Art Reliquie der Zarenzeit. Auf Putin hingegen übte das im Stil einer neugotischen schottischen Burg erbaute Anwesen mit seiner riesigen Rasenfläche, die sich bis zur Moskwa erstreckte, eine andere Anziehungskraft aus: Es gab dort ein Fünfzig-Meter-Schwimmbecken. Als er das sah, sagte Pugatschow, »wurden seine Augen groß und rund. Ich verstand, dass er im Leben nichts anderes mehr brauchen würde. Damit schienen alle seine Träume erfüllt zu sein.«
Pugatschow, der anscheinend immer noch glaubte, Putin kontrollieren zu können, meinte, ihn durch die Vorzüge des Präsidentenlebens beeindrucken zu können: »Vor dem Ende der Sowjetunion hatte er die meiste Zeit in staatlichen Mietwohnungen verbracht. Er war vierzig, als er die Stelle im Rathaus antrat.« Putin war in einer engen Wohnung in Sankt Petersburg aufgewachsen, und bevor ihn der KGB nach Dresden geschickt hatte, hatten er und seine Frau Ljudmila weiterhin in einer solchen Wohnung gelebt. »Dort erklärte man Ljuda, dass sie die Küche nur zwischen drei und fünf Uhr nachmittags benutzen dürfe«, sagte Pugatschow. »Können Sie sich vorstellen, wie es ist, von einem solchen Leben in dieses zu wechseln?« 81
Nowo-Ogarjowo war zu Sowjetzeiten zu einem Gästehaus für ausländische Regierungsdelegationen umgebaut worden. Dabei entstand ein zweites Haus, eine Kopie des ersten, in unmittelbarer Nähe gegenüber der Orangerie. Dort fanden die Empfänge des Zentralkomitees statt. An diesem Ort hatten sich die Regierungschefs der Sowjetrepubliken getroffen, um Gorbatschows historischen neuen Unionsvertrag auszuarbeiten, die schicksalsträchtige Reform der Beziehungen zwischen den sowjetischen Republiken, die 1991 einer der Auslöser für den Augustputsch gewesen war. Pugatschow erkannte, dass bis auf kleinere Renovierungsarbeiten nur ein hoher Zaun gebaut werden musste, bevor die Putins einziehen konnten.
Pugatschow glaubte damals wohl immer noch, dass Putin das Amt nur widerwillig übernommen habe. Putin bezeichnete sich selbst häufig als »angestellten Geschäftsführer« und schien davon überzeugt zu sein, dass er nur wenige Jahre an der Macht bleiben werde. Er hatte sich seit dem Beginn seiner Karriere in Sankt Petersburg, seit dem ersten Interview mit Igor Schadchan, immer als »Diener des Staates« präsentiert.
Als sich das Ergebnis der Präsidentschaftswahl am Abend des 26. März 2000 schließlich abzeichnete, wirkte Putin nach außen hin immer noch ganz benommen von seinem plötzlichen Aufstieg. Selbst als die Anzahl der Stimmen für ihn die 50 Prozent überstieg, die für einen Sieg im ersten Wahlgang nötig waren, schien ihn die bevorstehende Aufgabe eher einzuschüchtern. »Jeder hat das Recht zu träumen«, verkündete er in einem Konferenzraum in seiner Wahlkampfzentrale, in dem sich die Journalisten dicht an dicht drängten. »Aber niemand sollte auf Wunder hoffen. Die Erwartungshaltung ist wirklich sehr hoch. (…) Die Menschen sind müde, das Leben ist hart und sie warten darauf, dass es sich zum Besseren wendet. (…) Aber ich habe nicht das Recht zu sagen: Von nun an werden Wunder geschehen.« 82
Doch hinter den Kulissen, in Jelzins Datscha außerhalb von Moskau, feierte Tatjana bereits den Sieg. Aufnahmen für einen Dokumentarfilm von Witali Manski zeigen, dass die Familie Jelzin rund um einen prächtigen Esstisch aus Eichenholz versammelt war. 83 Als Putin die 50-Prozent-Marke erreicht, ist der Jubel groß. Der Champagner fließt, und Tatjana hüpft vor Freude fast auf und ab. »Zeit für den Champagner – kleine Schlucke«, strahlt sie. »Wir haben gewonnen!« Doch Jelzin selbst scheint der Machtverlust – und der mögliche Verlust seines Erbes – zuzusetzen. Mit aufgequollenem Gesicht und von Krankheit gezeichnet, scheint es ihm schwerzufallen, dem Geschehen zu folgen. »Warum so traurig, Papa?«, fragt Tatjana ihn zwischenzeitlich. »Papa, bist du glücklich? Du hast alles getan. Du hast ihn dir angeschaut und erkannt, dass er der Richtige ist.«
Aber als Jelzin seinen Nachfolger an jenem Abend anrief, um ihm zu gratulieren, erlebte er die ultimative Zurückweisung. Der Mann, dem er ins Präsidentenamt verholfen hatte, war zu beschäftigt, um seinen Anruf entgegenzunehmen. Jelzin war zum Niemand geworden, ein alter Mann, dem das Sprechen schwerfiel und der mit dem Telefon herumhantierte. Tatjana hingegen war spürbar erleichtert. Später am Abend strahlte sie und schmiegte sich in Putins Wahlkampfzentrale, wo die Relikte der Jelzin-Ära – Woloschin, Pawlowski und Tschubais – mit einigen von Putins Petersburger Sicherheitsleuten feierten, an Jumaschew. Gemeinsam hatten sie alle den Sieg errungen.
Die »Familie« war immer noch überzeugt, dass Putin für ihre Sicherheit sorgen und ihr Vermögen vor Angriffen schützen würde. Als Jelzin eingewilligt hatte, vorzeitig das Feld zu räumen, hatte man laut einem engen Verbündeten Putins und einem ehemaligen hochrangigen Regierungsbeamten diskret einen Pakt mit seinem Nachfolger geschlossen. 84 Eine von Putins ersten Amtshandlungen als kommissarischer Präsident hatte darin bestanden, Jelzin per Dekret Straffreiheit zu gewähren. Doch darüber hinaus war im Hintergrund ein weitergehendes Abkommen geschlossen worden. »Die Verhandlungen rund um Putins Aufstieg und Jelzins Abschied drehten sich um Besitztümer«, sagte Andrej Wawilow, damals erster stellvertretender Finanzminister. »Es ging um Besitztümer, nicht um die Strukturen der Gesellschaft. (…) Später haben das alle vergessen. Alle glaubten, dass die Demokratie einfach da war. Jeder hatte nur seine eigenen Interessen im Kopf.«
Das Abkommen bestand darin, der Jelzin-Familie Immunität zu gewähren und die Finanzimperien ihrer Anhänger zu erhalten, vor allem die riesigen Unternehmen von Beresowskis Kollegen Roman Abramowitsch, den die Medien damals schon lange als der Jelzin-Familie nahestehend bezeichneten. Zu den betroffenen Firmen gehörten der Ölriese Sibneft und der Aluminiumgigant Rusal, der kurz vor Putins Amtsübernahme entstanden war und die Genehmigung erhalten hatte, sich mehr als sechzig Prozent der russischen Aluminiumindustrie einzuverleiben – ein starkes Symbol der fortwährenden Macht der Familie. 85 Die Übereinkunft habe den entsprechenden Personen auch das Recht eingeräumt, während Putins erster Amtszeit weiterhin die Wirtschaft zu kontrollieren, berichtete der enge Verbündete Putins. 86
Jumaschew bestreitet allerdings, dass es eine solche Absprache je gegeben habe. Das Dekret, mit dem Putin Jelzin Straffreiheit gewährte, habe die Familie nicht erwähnt, sagte er, sie habe keine Firmen besessen, die erhalten werden mussten. Was die Zusammensetzung der Regierung anging, »stand es Putin völlig frei, auszuwählen, wen er wollte. Er hätte alle entlassen können.« Der einzige Grund für Putins Aufstieg an die Spitze war seiner Aussage nach, dass Jelzin an Putins demokratische Grundüberzeugung geglaubt habe. 87
In diesem Zusammenhang berichtet Pugatschow von einem seltsamen Moment. Er behauptet, mit Jumaschew und Tatjana abgesprochen zu haben, dass sie das Land verlassen und Putin nach Belieben schalten und walten lassen würden. Das Einzige, was ihnen noch fehlte, war eine Immunitätsgarantie, glaubte er. Aber dann habe sich Putin, als sie sich kurz nach der Wahl in seiner Datscha trafen, um die offizielle Machtübergabe zu feiern, in letzter Minute umentschieden und darauf bestanden, dass die Jelzin-Familie und ihre Vertreter in der Regierung blieben. »Ich verstand es nicht. Er hatte die ganze Zeit über betont, wie wichtig ein klarer Schnitt sei. Aber dann hieß es plötzlich: ›Wir sollten das alle zusammen angehen. Wir sind ein Team.‹« 88
Trotz der augenscheinlichen Kehrtwende erkannte Pugatschow, dass ein Umschwung im Gange war. Putins Leute, die KGB-Männer, erlangten immer mehr Macht, und er gab sich Mühe, sich bei ihnen einzuschmeicheln. »Es war eindeutig, dass die Männer aus der Truppe – die Sicherheitsdienstler und Spione, die als silowiki bekannt waren – auf dem Weg nach oben waren«, sagte er. 89
Viele, unter ihnen Chodorkowskis Geschäftspartner Leonid Newslin, sind angesichts dessen, was dann folgte, bis heute irritiert darüber, dass die Jelzin-Familie einen solchen Pakt mit jemandem wie Putin einging: »Sie hatten doch Zugriff auf alle Informationsquellen – wie konnten sie ihn dann in den Kreml holen? Er gehörte schon in Sankt Petersburg zur Mafia. Wie konnten sie ihn zum Nachfolger machen?« 90