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»DER INNERE ZIRKEL SETZTE SICH DURCH«
Als Wladimir Putin allein durch die hohen Säle des Großen Kremlpalastes schritt, ließ ihn die Erhabenheit der Amtseinführungszeremonie klein wirken. Seine Miene war feierlich, sein Blick gesenkt, und auf seinem Gesicht lag der Anflug eines Lächelns – ein Mann mit einem etwas schiefen Gang in einem dunklen Anzug, der sich kaum von der Alltagskleidung eines Büroangestellten unterschied. Putin war dazu ausgebildet, möglichst farblos und unauffällig zu sein und mit der Umgebung zu verschmelzen. Doch an diesem Tag kündigten Trompeter in weiß-goldenen Paradeuniformen sein Erscheinen an, während die Staatsbeamten, die sich in den golden schimmernden Palasträumen drängten, jeden seiner Schritte über den scheinbar endlosen roten Teppich zum glitzernden Andreassaal mit Applaus begleiteten.
Am 7. Mai 2000 war der kandidat resident im Kreml angekommen. Der ehemalige KGB-Agent, der nur acht Monate zuvor einer von vielen gesichtslosen Bürokraten gewesen war, übernahm nun das Amt des russischen Präsidenten. Das viele Gold, das die Wände und die Kronleuchter schmückte, kündete sowohl vom Plan der KGB-Männer, für eine Wiederauferstehung des Russischen Reiches zu sorgen, als auch von den korrupten Mabetex-Verträgen, die den Kreml in einem Glanz erstrahlen ließen, der den zu vorrevolutionären Zeiten weit übertraf – und die Putin an die Macht verholfen hatten.
Noch nie zuvor hatte eine Amtseinführung im Kreml inmitten von so viel Prunk stattgefunden – es handelte sich um die erste Staatszeremonie in den frisch renovierten Palastsälen –, und auch eine friedliche Machtübergabe von einem Präsidenten an den nächsten hatte es in der Geschichte des Landes noch nie gegeben. Für Boris Jelzin muss es bitter gewesen sein, inmitten der Pracht und des Goldes zu stehen, die ihn zu Fall gebracht hatten. Doch er hielt steif und tapfer durch, als er, mit seinen Emotionen ringend, die hart erkämpfte Freiheit des Landes pries: »Wir können stolz darauf sein, dass die Machtübergabe friedlich abläuft, ohne Revolution oder Putsch, respektvoll und aus freien Stücken«, sagte er. »Das ist nur in einem freien Land möglich, einem Land, das nicht nur aufgehört hat, andere zu fürchten, sondern auch sich selbst. (…) Das ist nur in einem neuen Russland möglich, in dem die Menschen gelernt haben, frei zu denken und zu leben. Die Geschichte des neuen Russlands ist die eines Neuanfangs. (…) Es gab viele Herausforderungen, viele Schwierigkeiten. Aber jetzt haben wir etwas, worauf wir alle stolz sein können. Russland hat sich verändert. Es hat sich verändert, weil wir uns dafür eingesetzt haben (…) und unsere größte Errungenschaft, die Freiheit, mit aller Kraft verteidigt haben. (…) Wir haben nicht zugelassen, dass das Land der Diktatur anheimfiel.« 1
Jelzins Abschiedsworte klangen fast wie eine Warnung. Aber der Mann, der an jenem Tag seine Nachfolge antrat, war entschlossen und fokussiert, und als er zu seiner Rede ansetzte, sprach er von einer Rückkehr zu einem Russland, in dem die gesamte Geschichte des Landes – so brutal sie in Teilen auch verlaufen sein mochte – gewürdigt und in Ehren gehalten würde. Trotz eines Lippenbekenntnisses zu den demokratischen Erfolgen unterschieden sich seine Ansprache und die von Jelzin im Kern wie Tag und Nacht. »Die Mauern des Kreml sind seit Jahrhunderten von der Geschichte unseres Landes durchdrungen. Es steht uns nicht zu, ›Iwans ohne Erinnerung an ihre Geburt‹ zu sein. Wir sollten nichts vergessen. Wir sollten unsere Geschichte kennen, daraus lernen und immer im Gedächtnis behalten, wer den russischen Staat gegründet und seine Werte verteidigt hat, wer ihn groß und mächtig gemacht hat. Dieses Andenken und dieses Wissen werden wir über alle Zeit hinweg bewahren … und die besten Errungenschaften an unsere Nachkommen weitergeben. Wir glauben an unsere Stärke, daran, dass wir unser Land wirklich erneuern können. (…) Ich kann Ihnen versichern, dass mein Handeln ausschließlich von den Interessen des Staates geleitet sein wird. (…) Ich betrachte es als meine heilige Pflicht, die Russen und Russinnen zu vereinen, sie um klare Ziele und Aufgaben zu versammeln und jeden Tag und jede Minute daran zu denken, dass wir ein Vaterland haben, ein Volk sind und einer gemeinsamen Zukunft entgegenstreben.« 2
Ganz vorn unter den Menschen, die ihm an diesem Tag Beifall klatschten, saßen die Vertreter der Jelzin-Familie, die ihn an die Macht gebracht hatten. Einer von ihnen war Alexander Woloschin, der geschickte ehemalige Wirtschaftswissenschaftler, der Jelzin als Leiter der Präsidialverwaltung gedient hatte. Neben ihm saß Michail Kasjanow, ein Mann mit rauer Stimme und breiter Brust, der ebenfalls unter Jelzin Karriere gemacht hatte und als Finanzminister für die Rückzahlung der strategischen Auslandsschulden des Landes zuständig gewesen war. Als Jelzin zum Jahreswechsel die Zügel an Putin übergeben hatte, hatte Kasjanow als kommissarischer Ministerpräsident übernommen. Gemäß des Kontinuitätspakts, den Putin mit der Jelzin-Familie geschlossen hatte, bestand seine erste Amtshandlung als Präsident darin, Kasjanow erneut zum Ministerpräsidenten zu ernennen, und auch Woloschin führte sein Amt in der Präsidialverwaltung ab Mai fort.
Doch gleichzeitig verbargen sich in der Menge aus Staatsangestellten, die sich im goldglänzenden Andreassaal drängten, auch die KGB-Männer, die Putin aus Sankt Petersburg mitgebracht hatte. In jenen Tagen war nur wenig von ihnen zu sehen und zu hören, aber es handelte sich um die silowiki, die zunächst in Zusammenarbeit mit Jelzins Leuten und dann allein ihre Muskeln spielen lassen und ihre Anwesenheit unmissverständlich klar machen sollten. Nur wenige Tage nach der Amtseinführung sendeten sie ein erstes deutliches Signal aus, dass das Jahrzehnt der Freiheit, auf das Jelzin so stolz war, zu Ende ging.
Unter ihnen waren dem KGB nahestehende Geschäftsmänner wie Juri Kowaltschuk, der ehemalige Physiker und mittlerweile größte Anteilseigner der Bank Rossija, der Petersburger Bank, die die Kommunistische Partei kurz vor dem Untergang der Sowjetunion gegründet hatte. Dann war da Gennadi Timtschenko, der mutmaßliche einstige KGB-Agent, der eng mit Putin zusammengearbeitet hatte, als es darum ging, die Kontrolle über die Ölexporte der Stadt zu erlangen. Diese Männer waren durch den brutalen Kampf ums Geld, der in der Petersburger Wirtschaft herrschte, abgehärtet worden und gierten jetzt nach den Reichtümern, die Moskau zu bieten hatte. Außerdem in der gesichtslosen Masse verstreut war ein Netzwerk aus kaum bekannten Verbündeten, mit denen zusammen Putin im Leningrader KGB tätig gewesen war und die er nach seiner Ernennung zum FSB-Chef im Juli 1998 als Stellvertreter um sich geschart hatte. Kaum jemand hatte ihnen viel Beachtung geschenkt.
Zu diesen Männern zählte Nikolai Patruschew, der raubeinige und erfahrene Agent, der laut einem ehemaligen Kreml-Mitarbeiter vor Wut geschäumt hatte, als seine Beteiligung am versuchten Sprengstoffattentat auf das Wohnhaus in Rjasan aufzufliegen drohte. Patruschew war Putin ins Amt des FSB-Chefs nachgefolgt, als Letzterer Ministerpräsident wurde, und sollte diesen Posten die zwei ersten Amtszeiten Putins über behalten. Er hatte bereits seit 1994, lange vor Putins Aufstieg, hohe Posten beim Moskauer FSB bekleidet. Ende der Siebzigerjahre war der ein Jahr Ältere mit Putin zusammen in der Spionageabwehr des Leningrader KGB tätig gewesen. Als Putin zu Sobtschaks Stellvertreter ernannt wurde, übernahm Patruschew die Schmuggelabteilung des neu geschaffenen Petersburger FSB, gerade zu der Zeit, in der das Bündnis rund um Putins ehemalige KGB-Kollegen die Hauptschmuggelroute der Stadt übernahm – die Ostsee-Schifffahrtsgesellschaft und den strategisch wichtigen Hafen.
Kurz darauf wurde Patruschew nach Moskau versetzt, wo er schnell in die Führungsebene des FSB aufstieg. Der trinkfeste Ex-KGBler verband starke kapitalistische Neigungen, wenn es um das Ansammeln von Reichtum ging, mit einer umfassenden, expansiven Vision für den Wiederaufbau des Russischen Reiches. »Er ist ziemlich einfach gestrickt, ein Sowjet der alten Schule. Er will die Sowjetunion, aber mit Kapitalismus. Er betrachtet den Kapitalismus als Waffe«, um Russlands Macht in der Welt wiederherzustellen, sagte eine Person aus seinem Umfeld. 3 Ein enger Verbündeter Putins sah das genauso: »Er hatte stets klare, unabhängige Ansichten.« 4 Patruschew war immer schon ein Visionär gewesen, ein Ideologe, der das Russische Reich zurückwollte. »Er ist eine echte Persönlichkeit und derjenige, der wirklich an den Wiederaufbau des Reiches glaubt. Von ihm hat Wladimir Wladimirowitsch die ganzen Ideen«, meinte die Person aus seinem Umfeld. 5 Er galt als Experte für die Grundlagentexte der geopolitischen Ambitionen Russlands, 6 und zugleich war er rücksichtslos und unerbittlich und schreckte vor nichts zurück, um sich durchzusetzen. Er brachte keinen Satz heraus, ohne zu fluchen, und wer nicht zurückfluchte, den respektierte er nicht. »Er kennt es nicht anders«, meinte die ihm nahestehende Person. »Er kann sich nicht anders ausdrücken oder verhalten. Wenn er zu einer Besprechung dazustößt, sagt er: ›Also, ihr Hurensöhne, was habt ihr jetzt schon wieder verkackt?‹« Der Verbündete Putins gab nur zu verstehen, dass Patruschew immer schon ein harter Hund gewesen sei, während Putin anfangs noch liberaler auftrat. Die Person aus dem Umfeld von Patruschew erklärte, dass dieser sich stets für klüger und gerissener gehalten habe als Putin: »Er betrachtete Putin nie als seinen Chef.« Patruschew trug eine Fehde gegen die Rebellen in der abtrünnigen Republik Tschetschenien aus – er verabscheute die »Tschetschis« und alle, die mit ihnen kooperierten, aus tiefstem Herzen.
Ein weiterer der unauffälligen silowiki, die Putins Amtseinführung im Andreassaal beklatschten, war Sergej Iwanow, ein ehemaliger hochrangiger Auslandsagent des KGB. Sein elegantes Auftreten und sein fließendes Englisch täuschten über seine scharfe Zunge und sein bisweilen hinterlistiges Verhalten hinweg. Auch er hatte beim Leningrader KGB eng mit Putin zusammengearbeitet. Die beiden hatten zwei Jahre lang im gleichen schäbigen Raum im bolschoi dom gesessen, dem Hauptquartier des Geheimdienstes, das wie ein gewaltiger Granitblock am Liteini-Prospekt aufragte, bis Iwanow befördert und ins Ausland versetzt wurde – lange bevor Putin den Sprung ins Rotbanner-Institut schaffte. Iwanow war in Finnland und möglicherweise auch in Großbritannien tätig gewesen, bevor man ihn eilig in die Botschaft in Kenia versetzte, weil ihn ein Spion, der zu den Briten überlief, enttarnt hatte. 7 In den Neunzigerjahren war er als Primakows Stellvertreter an der Spitze des Auslandsgeheimdienstes SWR für Europa zuständig gewesen und zum jüngsten General seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ernannt worden. Als Putin FSB-Chef wurde, berief er Iwanow neben Patruschew zu einem seiner Stellvertreter, und nach seinem Aufstieg zum Ministerpräsidenten wurde Iwanow Sekretär des Russischen Sicherheitsrates – ein Posten, der sich zur zweitmächtigsten Position im Kreml entwickelte. Unter der Regierung Putin sollte sein Einfluss weiter wachsen.
Darüber hinaus verbarg sich in der grauen Masse aus Anzugträgern auch Wiktor Iwanow, ein schnauzbärtiger KGB-Agent der alten Schule, der die Welt weiterhin durch die Brille des Kalten Krieges betrachtete. Er war zwei Jahre älter als Putin und für die Partei tätig gewesen, bevor ihn der Leningrader Geheimdienst rekrutierte, kurz nachdem auch Putin dort angefangen hatte. Iwanow arbeitete sich zwei Jahrzehnte lang hoch, über die Personalverwaltung des KGB bis an die Spitze der Schmuggelabteilung des Petersburger FSB. Dort löste er Patruschew ab, als Ilja Trabers Leute den Hafen unter ihre Kontrolle brachten. Laut einem früheren Kollegen aus dieser Abteilung war Iwanow dafür bekannt, keinen Finger zu rühren, um Schmugglern das Handwerk zu legen: »Seine Lieblingsausdrücke waren ›später‹ und ›nicht jetzt‹.« 8 Ein Geheimdienstbericht eines ehemaligen ranghohen KGB-Mitarbeiters deutete an, dass Iwanow sehr gute Gründe für seine Untätigkeit gehabt haben könnte: Er habe die Tambow-Mafia – zu der auch Traber gehörte – darin unterstützt, die Herrschaft über den Hafen zu übernehmen, über den Drogen aus Kolumbien nach Westeuropa geschmuggelt wurden. 9 In diesem Bericht, der später im Rahmen eines Gerichtsprozesses in London an die Öffentlichkeit gelangte und dessen Aussagen Iwanow entschieden widersprach, wurde auch behauptet, dass Putin während Iwanows Zeit in Sankt Petersburg immer eine schützende Hand über ihn gehalten habe.
Als Putin FSB-Chef wurde, machte er Iwanow sofort zu seinem Stellvertreter, bevor er ihn später als Präsident zum stellvertretenden Leiter seiner Präsidialverwaltung ernannte. Seine Aufgabe bestand darin, alles und jeden im Blick zu behalten, und laut einer Person aus seinem Umfeld hatte Iwanow »ein phänomenales Gedächtnis« und registrierte die Eigenheiten eines jeden Menschen. 10 Juri Schwez formulierte es in seinem Bericht deutlich weniger wohlwollend. Der Auftrag der Personalverwaltung habe darin bestanden, belastendes Material über Kollegen zu sammeln und es dazu einzusetzen, ihre Karrieren zu zerstören: »Wo immer Iwanow tätig war, setzte er die Leute bewusst aufeinander an, was für eine unangenehme Atmosphäre sorgte, in der er dominieren konnte, indem er die von ihm erschaffenen Konflikte löste. Er ist ein Meister darin, das Zusammenspiel der Kräfte um ihn herum zu durchschauen.« 11
Doch der Mann, der dem neuen Präsidenten wohl am nächsten stand, war Igor Setschin. Er war acht Jahre jünger als Putin und seit dessen Ernennung zum stellvertretenden Bürgermeister im Grunde sein Schatten. Er hatte ihm als Sekretär gedient und wie ein Wachposten hinter einem Pult im Vorzimmer zu Putins Büro im Smolny-Institut gestanden – ein strenger Kontrolleur, der alle Besucher prüfte. Er bestimmte darüber, wer Zugang zu Putin bekam und welche Unterlagen ihm vorgelegt wurden. Jeder, der Putins Unterschrift brauchte, um eine Firma zu gründen, musste an Setschin vorbei. Als ein Petersburger Geschäftsmann Putins Einwilligung in ein Gemeinschaftsunternehmen mit einem niederländischen Öl- und Kohlehändler benötigte, verschafften ihm seine Freunde einen Termin bei ihm. Nach dem Gespräch verwies Putin den Mann an seinen Sekretär Igor Setschin: »Der wird Ihnen sagen, welche Dokumente Sie vorlegen müssen, damit ich unterschreibe.« »Daraufhin verließ ich das Büro und ging zu Setschin, ohne darüber nachzudenken, wer er war«, erinnerte sich dieser Geschäftsmann, Andrej Kortschagin. »Ich wunderte mich nur, dass es ein Sekretär war, keine Sekretärin, wie sonst üblich. Wir hatten für diese kleinen Angestellten damals nicht viel übrig. Nun ging es also darum, welche Unterlagen ich brauchte, und plötzlich schrieb Setschin etwas auf ein Stück Papier. Er sagte: ›Und das hier müssten Sie auch mitbringen‹ und zeigte mir den Zettel, auf dem ›10 000 Dollar‹ stand. Ich wurde wütend und rief: ›Was? Haben Sie den Verstand verloren?‹ Aber er antwortete nur: ›So läuft das hier.‹ Ich sagte ihm, wo er sich den Zettel hinstecken könne, aber damit hatte sich die Sache erledigt: Das Unternehmen wurde nie gegründet. Die Zeiten waren damals ganz anders. Ich hatte keine Ahnung, wer Setschin war. So kamen sie an ihre Schmiergelder.« 12
Setschin habe immer als letzte Hürde vor seinem Chef gestanden und Zusammenkünfte für diejenigen organisiert, die etwas von ihm wollten, sagte ein ehemaliger enger Verbündeter Putins. Selbst wenn ein Treffen bereits im Kalender stand, habe Setschin verlangt, dass es über ihn vereinbart werden müsse: »So behielt er die Kontrolle über die Beziehung. Und wenn sich herausstellte, dass jemand Setschins Anordnungen nicht befolgte, hatte diese Person einen neuen Feind und war zum Abschuss freigegeben.« 13
Setschin sei lange für den KGB tätig gewesen, sagten zwei Leute aus seinem engeren Umfeld, nicht für den Militärgeheimdienst, wie es häufig heißt. 14 Er sei Ende der Siebzigerjahre angeworben worden, als er an der staatlichen Universität in Leningrad Sprachen studierte und man ihn bat, Dossiers über seine Kommilitonen anzufertigen, wie eine ihm nahestehende Person erzählte. Setschins Eltern hatten sich getrennt, als er noch klein war, und er war ein strebsamer Student, angetrieben vom unerbittlichen Ehrgeiz, etwas erreichen und der Armut seiner Kindheit in einem heruntergekommenen Vorort von Leningrad entkommen zu wollen. »Er litt an Minderwertigkeitskomplexen«, sagte ein ehemaliger Kreml-Beamter, der Setschin gut kannte. »Er stammte aus einem sehr armen Teil Leningrads, doch an seinem Teil der Uni, an der Fakultät für Sprachen, tummelten sich lauter Diplomatenkinder.« 15
Setschin hatte immer verdeckt für den KGB gearbeitet, und seine Tätigkeit dort tauchte nie in seinem offiziellen Lebenslauf auf. Stattdessen gab er stets an, Dolmetscher und Übersetzer gewesen zu sein, zunächst in Mosambik, wo seine Portugiesischkenntnisse gefragt waren, weil dort ein Bürgerkrieg tobte und sowjetische Soldaten die örtliche Armee ausbildeten und ausrüsteten. Danach hatte man ihn – offiziell wieder aufgrund seiner Sprachkenntnisse – nach Angola geschickt, wo das sowjetische Militär, das in Afrika weiter Stellvertreterkriege gegen den Westen ausfechten ließ, Rebellen in einem weiteren Bürgerkrieg beriet und mit Waffen versorgte. Als Setschin nach Russland heimkehrte, trat er eine Stelle an der Universität in Leningrad an, wo er Putin kennenlernte und mit ihm zusammen sämtliche Auslandskontakte kontrollierte, bevor die beiden später im Stadtrat die Beziehungen zu den ausländischen Partnerstädten überwachten. Insgeheim war Setschin dabei die ganze Zeit über weiter für den KGB tätig. Von da an war er Putin nicht mehr von der Seite gewichen und stets als dessen allgegenwärtiger Untergebener aufgetreten, der auf Reisen seine Taschen trug und ihm auf Schritt und Tritt folgte. Er war Putins Stellvertreter in der Liegenschaftsverwaltung des Kreml gewesen und hatte mit ihm zusammen im kleinen Büro im ehemaligen Hauptsitz des Zentralkomitees gesessen. Mit Putins Aufstieg hatte auch er immer höhere Positionen im Staatsapparat erlangt. Als Putin dann Präsident wurde, machte er Setschin zum stellvertretenden Leiter seiner Präsidialverwaltung. Doch hinter dessen unterwürfigem Verhalten verbargen sich ein schonungsloser Kontrollzwang und eine unerschöpfliche Neigung zu Intrigen. Außerdem – sagten zwei Personen aus seinem Umfeld – hasse und verabscheue er seinen Meister.
Während Setschin sich darum bemühte, Putin still und unbemerkt Ideen einzupflanzen, betrachtete dieser ihn als eine Art Schatten, als bloßen Diener seiner Regierung. »Für ihn war Setschin immer nur der Kerl, der seine Taschen trug«, sagte der ehemalige Kreml-Beamte, der beide Männer gut kannte. 16 Putin war immer peinlich genau darauf bedacht, dass er gemäß seinem Rang und seiner Position behandelt wurde. Zu Beginn der Kreml-Laufbahn beider Männer Mitte der Neunzigerjahre hatte Pawel Borodin, der Chef der Liegenschaftsverwaltung, ihnen Wohnungen im Zentrum von Moskau gestellt, doch als Putin feststellte, dass die von Setschin größer war als seine, reagierte er ziemlich heftig. Setschin hatte Putin kurz nach dem Einzug zu sich eingeladen und ihn herumgeführt, um ihm den Ausblick über Moskau zu zeigen. Putin fragte, wie groß die Wohnung sei, und Setschin hatte nach einem Blick in die Unterlagen geantwortet: 317 Quadratmeter. Putin zuckte zusammen. »Ich habe nur 286«, sagte er. Er beglückwünschte Setschin, verschwand dann aber sofort, als habe dieser ihm etwas gestohlen oder ihn hintergangen.
»Putin hat ein Problem mit Neid«, meinte der Beamte, der von dem Zwischenfall berichtete. 17 »Man muss ihn gut kennen, um zu wissen, was das bedeutet. Igor erzählte mir, ihm sei in jenem Augenblick sofort klar gewesen, dass alles auf der Kippe stand, dass Putin ihn, als er ihn beglückwünschte, eigentlich lieber erschossen hätte, und zwar mit einem gezielten Kopfschuss. Er sagte, danach hätte er wochenlang nicht mit ihm reden können. Es war so eine kleine, banale Sache. (…) Aber Putin hat eben Komplexe. Wenn man ihn trifft, ist es immer besser, ihm zu erzählen, wie schlecht alles gerade läuft. Igor lernte das sehr schnell.« 18
Das war ein aufschlussreicher Hinweis auf Putins Denkweise und lieferte einen Vorgeschmack darauf, wie schnell er in den folgenden Jahren beleidigt reagieren sollte, wenn er sich herabgesetzt fühlte. Ganz ähnlich wie Setschin hatte auch er sich aus armen Verhältnissen hochgearbeitet, aus den Gassen von Leningrad, wo er sich den Respekt hart erkämpfen musste. Diese Wunde schloss sich nie, der Minderwertigkeitskomplex blieb bestehen.
Der letzte aus dem Netzwerk ehemaliger Leningrader KGB-Männer, die Putin mit in den Kreml brachte, war Wiktor Tscherkessow, der den dortigen FSB geleitet hatte, seit Putin zum stellvertretenden Bürgermeister ernannt worden war. Er war zwei Jahre älter als Putin und hatte fast acht Jahre lang Spitzenpositionen im Leningrader KGB bekleidet, wo er Putins Vorgesetzter gewesen war, bevor dieser zur Ausbildung nach Moskau geschickt wurde. In den letzten Jahren der Sowjetunion hatte Tscherkessow einer der gefürchtetsten Abteilungen des KGB vorgestanden, die die Aktivitäten der Dissidenten überwachte. Doch nach dem Zusammenbruch hatte er sich direkt dem neuen Schattenkapitalismus zugewandt, der nun in Sankt Petersburg herrschte, und als Vermittler zwischen dem Bürgermeisterbüro, dem Geheimdienst und dem organisierten Verbrechen gedient. Er hatte entscheidend dazu beigetragen, dass sich die Tambow-Mafia den Hafen und die Ostsee-Schifffahrtsgesellschaft aneignen konnte, 19 und Putin hatte ihm immer enormen Respekt entgegengebracht. »Er hatte schon etwas zu sagen, als Putin noch ein Niemand war«, sagte eine Person, die beiden nahestand. »Er stammt aus dem engsten Kreis. Er repräsentiert die Elite.« 20
Als Putin zum Ministerpräsidenten ernannt wurde, hatte er Tscherkessow eigentlich zu seinem Nachfolger an der Spitze des FSB machen wollen, aber diesen Posten hatte sich bereits Patruschew gesichert. Man hatte Jumaschew angewiesen, Putin nicht jeden seiner Wünsche zu erfüllen, weil es auch Gegengewichte geben müsse. So wurde Tscherkessow stattdessen stellvertretender Leiter des Geheimdienstes.
*
In Putins ersten Jahren im Amt teilten sich diese Leningrader KGBler, die silowiki, die noch etwas unbeständige Macht mit den Relikten aus der Jelzin-Zeit. Sie hielten sich zurück und schauten zu, während Woloschin, der gewiefte Leiter der Präsidialverwaltung, den Putin in dieser Position beließ, dafür sorgte, dass der neue Präsident eine »gut geölte Maschine« erbte. Woloschin war der wichtigste Vertreter der »Familie« im Kreml, ein Wirtschaftsliberaler mit etatistischen Überzeugungen, wenn es um Politik ging. Er trug dazu bei, dass die Macht schließlich an den KGB überging. Der studierte Ökonom hatte seinen Abschluss an der Außenhandelsakademie erlangt – die immer schon über Verbindungen zur Ersten Hauptverwaltung, dem Auslandsgeheimdienst des KGB, verfügt hatte 21 – und war in den Perestroika-Jahren stellvertretender Leiter des dortigen »Zentrums für kompetitive Forschung« gewesen. Später schickte Putin Woloschin, der fließend Englisch sprach, als Sondergesandten in die USA, um dort militärische Angelegenheiten mit den Topgenerälen zu klären. Doch anfangs war Woloschin ein wichtiger Verbündeter der silowiki, weil er Putin dabei half, politische Feinde auszubooten.
Außerdem hatte er bereits Erfahrung in der Zusammenarbeit mit der zweiten zentralen Figur, die aus Jelzins Zeiten stammte: Michail Kasjanow, den Putin erneut zum Ministerpräsidenten ernannt hatte. Kasjanow, zu dessen Aufgabenbereich als erster stellvertretender Finanzminister auch die Auslandsschulden gezählt hatten, war tief in die zwielichtigen Schuldgeschäfte verstrickt gewesen, die das Herz der dubiosen staatlichen Finanzierungsmethoden gebildet hatten. Trotz seiner prowestlichen, wirtschaftsliberalen Ansichten galt er für die neue Regierung als sichere Bank. Doch in Wahrheit war er der Inbegriff der Jelzin-Jahre, ein onkelhafter Kerl mit tiefer Stimme und dem – von ihm entschieden dementierten – Ruf, gegen Bezahlung vieles ermöglichen zu können, was ihm den Spitznamen »Mischa zwei Prozent« eingebracht hatte.
Passend zum marktfreundlichen Ansatz, mit dem er das Vertrauen der Jelzin-Familie errungen und den er auch in seinem Manifest für die Präsidentschaft vertreten hatte, kündigte Putin zunächst einmal eine Reihe liberaler Reformen an, die ihm den Beifall von Ökonomen auf der ganzen Welt einbrachten und von Investoren als Bekenntnis zur Marktwirtschaft verstanden wurden. Er führte eine der niedrigsten Einkommenssteuern der Welt ein, pauschal 13 Prozent, was auf einen Schlag einen Großteil der Probleme ausräumte, die der Jelzin-Regierung durch die Zahlungsunwilligkeit vieler Bürger entstanden war. Er erließ Bodenreformen, die es ermöglichten, Privatbesitz zu erstehen und zu verkaufen, was ein weiteres Investitionshindernis ausräumte. Als Wirtschaftsberater hatte er Andrej Illarionow engagiert, der weithin als einer der prinzipientreusten liberalen Ökonomen galt. Inmitten dieser marktorientierten Reformen stieg endlich auch der Ölpreis, von dem so viele Bereiche des russischen Haushalts abhingen. Aufgrund der Mehreinnahmen konnte Putins Regierung nun damit beginnen, die gewaltigen Kredite abzubezahlen, die Jelzin beim Internationalen Währungsfonds aufgenommen hatte. Die Instabilität und das Chaos der Jelzin-Jahre schienen endlich ein Ende zu haben.
Auch Putins Versuche einer Annäherung an den Westen wurden in der Welt sehr positiv aufgenommen. Eine seiner ersten Amtshandlungen als Präsident bestand darin, die Abhörstation Lourdes auf Kuba zu schließen, für deren Erhalt Jegor Gaidar so vehement gekämpft hatte. Putin bemühte sich um eine enge Beziehung zum US-Präsidenten George W. Bush und war der erste Staatschef, der nach den Anschlägen vom 11. September 2001 bei Bush anrief und ihm sein Beileid aussprach. Er widersetzte sich sogar dem Rat seines Verteidigungsministers – damals Sergej Iwanow – und gewährte dem US-Militär Zutritt zu den russischen Stützpunkten in Zentralasien, damit es von dort aus Angriffe auf das benachbarte Afghanistan durchführen konnte. Putins KGB-Vergangenheit rückte in den Hintergrund, als George W. Bush erklärte, er habe nach einem tiefen Blick in dessen Augen »seine Seele gespürt«.
Doch all das war nicht von Dauer. Die frühen Tage der Regierung Putin wirken heute wie eine Zeit, die von Wunschdenken und enormer Naivität geprägt war. Laut Pugatschow waren die Annäherungsversuche an den Westen nicht auf Großmut zurückzuführen, sondern darauf, dass Putin eine Gegenleistung erwartete. 22 Als daher George W. Bush im Juni 2002 trotz monatelangen Werbens durch Putin verkündete, dass die Vereinigten Staaten einseitig vom ABM-Vertrag, einem zentralen Rüstungskontrollvertrag aus dem Kalten Krieg, zurücktreten würden, fühlten sich Putin und seine Berater verraten. Der Rückzug aus dem Vertrag ermöglichte den Amerikanern, ein Raketenabwehrsystem zu testen, das sie in den ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes errichten wollten. Laut den USA sollte es zur Verteidigung gegen iranische Raketen dienen, aber Putins Regierung glaubte, dass es eigentlich um Russland ging. »Es ist eindeutig, dass der Raketenschild gegen kein anderes Land gerichtet sein kann als gegen Russland«, erklärte Woloschin vor Journalisten. Die amerikanischen Zuständigen hätten »noch Kakerlaken aus dem Kalten Krieg im Kopf«. 23 Gleichzeitig dehnte sich die NATO unerbittlich immer weiter nach Osten aus. Dabei ignorierte sie die Zusicherungen einer Reihe westlicher Staatschefs gegenüber Gorbatschow, dass es keine Erweiterung Richtung Osten geben würde. Bereits in den letzten Jahren von Jelzins Amtszeit hatte sich die NATO Polen, Ungarn und die Tschechische Republik einverleibt, und im November 2000 lud sie sieben weitere Staaten in Zentral- und Osteuropa ein, sich dem Bündnis anzuschließen. 24 Auf den Kreml wirkte das, als würde die USA Russland die Vorherrschaft des Westens immer wieder unter die Nase reiben.
Hinter der wirtschaftsliberalen Fassade der neuen Regierung gab es von Anfang an ausgeprägte Tendenzen, den Zugriff des Staates zu stärken. Putins frühe Reformen waren dazu gedacht, ein System nach dem Vorbild Augusto Pinochets zu etablieren, in dem Wirtschaftsreformen mit der »totalitären Macht« eines starken Staates durchgedrückt wurden. Schon kurz nach Putins Wahl hatte Pjotr Awen, der brillentragende Ökonom, der erst mit Gaidar zusammen und dann an einem KGB-nahen Wirtschaftsinstitut in Österreich studiert hatte, den neuen Präsidenten dazu aufgerufen, das Land so zu regieren, wie Pinochet es in Chile getan hatte. 25 Offenbar war Putin Awens Meinung nach jetzt in der Position, Russlands Übergang zur Marktwirtschaft so zu vollenden, wie Andropow es geplant hatte, bevor das Vorhaben außer Kontrolle geriet. Bei Awen handelte es sich um den ehemaligen Außenhandelsminister, der im Auftrag von Ministerpräsident Gaidar die Petersburger Öl-gegen-Lebensmittel-Programme genehmigt hatte und auch in die internationalen Ermittlungen durch die Firma Kroll involviert gewesen war, als diese dem verschwundenen Parteivermögen nachspürte, bis die russische Regierung dem Unternehmen den Zugang zu den Informationen der russischen Staatsanwaltschaft verwehrte. Mittlerweile hatte er sich mit Michail Fridman zusammengetan, einem der jungen Männer aus dem Komsomol, die zu den ersten Unternehmern des Landes aufstiegen. Awen war Vorsitzender von Fridmans Alfa-Bank, dem Herzstück eines der größten Finanzkonglomerate Russlands, das auch Öl- und Telekommunikationsfirmen umfasste. Dem Finanznetzwerk der Alfa-Gruppe gehörte unter anderem Franz Wolf an, Direktor eines der wichtigsten Unternehmen der Gruppe in Gibraltar und Sohn von Markus Wolf, dem skrupellosen ehemaligen Stasi-Spionagechef. 26
Die Anzeichen dafür, dass Putin eine andere Art der Macht anstrebte, waren von Beginn an da. Die Optimisten hofften anfänglich noch, dass er eine Art Balanceakt zwischen den relativ liberalen, relativ prowestlichen Vertretern der Jelzin-Familie in seiner Regierung und den Petersburger Sicherheitsmännern versuchen würde. Doch es dauerte nicht lange, bis der Einfluss der KGBler alles andere überlagerte. Ihre Weltsicht war von der Logik des Kalten Krieges geprägt, und mit der Zeit ging das auf Putin über. Bei ihrem Bestreben, Russland wieder zur alten Macht zu führen, gingen sie davon aus, dass das Ziel der USA stets darin bestand, das Land zu spalten und dessen Macht zu schwächen. Für sie musste die Wirtschaft als Waffe dienen, zunächst, um die Macht des russischen Staates – und ihre eigene als Anführer des KGB – wiederherzustellen, und dann, um sie gegen den Westen zu richten. Putin hatte sich die liberalen Ansichten Sobtschaks in Teilen bewahrt, aber irgendwann »setzte sich der innere Zirkel durch«, meinte Pugatschow. »Sie machten ihn zu einem anderen Menschen. Die USA hatten ihn enttäuscht, und er wollte einfach nur reich werden. Es war der innere Zirkel, der ihn drängte, den Staat wieder zu alter Stärke zurückzuführen.« 27
Vor allem der FSB-Chef Patruschew war bemüht, Putin an die ehemaligen Geheimdienstler und deren Kalter-Krieg-Weltsicht zu binden. Er hatte in der Hierarchie des FSB über Putin gestanden und über lange Strecken der Neunzigerjahre hinweg Spitzenpositionen in Moskau bekleidet. Als Putin erst zum FSB-Chef und dann zum Präsidenten aufstieg, war er skeptisch gewesen und hatte geglaubt, ihn manipulieren zu können. »Er war immer der Entschlossenste von allen – kein Vergleich zu Putin«, meinte ein Kreml-Insider. 28 Patruschew wollte Putin an die Präsidentschaft ketten, sodass er niemals ohne Weiteres abtreten könnte. Dieses Vorhaben hatte er seit Beginn von dessen Kandidatur verfolgt, mithilfe der Bombenanschläge, die zum Tschetschenienkrieg führten. Doch im ersten Jahr von Putins Amtszeit schien die Jelzin-Familie diesen Aspekt zu übersehen – oder sie wollte nichts davon wissen, weil sie davon ausging, ihre eigene Position gesichert zu haben.
Pugatschow blieb währenddessen im Verborgenen und wachte mit Argusaugen über seinen Schützling, während er versuchte, den Einfluss der gegenläufigen Kräfte – der Jelzin-Familie und der Geheimdienstler – auf den Präsidenten im Gleichgewicht zu halten. Er habe Putin vor Bestechungsversuchen geschützt, sagte er, und stattdessen alles, was dieser brauchte, selbst bezahlt. Im ersten Jahr von Putins Amtszeit habe er 50 Millionen Dollar dafür ausgegeben, dessen Familie jeden Wunsch zu erfüllen, und sogar das Besteck für ihren Haushalt besorgt. Er kaufte Wohnungen für Staatsanwälte, um sicherzustellen, dass sie im Sinne des Präsidenten – und von ihm selbst – handelten. Das sei unerlässlich gewesen, um den Präsidenten und seine Staatsanwaltschaft vor Korruption zu bewahren, beharrte er: »Es gab immer Menschen, die ihm Geld für dieses und jenes boten. Meistens lief es über Juri Kowaltschuk«, sagte er 29 und bezog sich damit auf den alten Verbündeten aus Sankt Petersburg, der die Bank Rossija übernommen hatte, die wichtigste Kasse, an der sich Putins Petersburger Gefährten bedienten. Pugatschow behauptete, er habe die Praktiken der Jelzin-Zeit beenden wollen, in der die Oligarchen glaubten, den Kreml über »Spenden« an Beamte lenken zu können – vielleicht ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass er im Grunde genau das Gleiche tat.
»Ich wollte nur sicherstellen, dass das nicht passierte. Die Regeln mussten nun andere sein«, sagte er.
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Als Putin Präsident wurde, war die Macht der Oligarchen aus der Jelzin-Ära noch groß. Die Moskauer Geschäftsmänner, die durch die Marktexperimente im Rahmen der Perestroika mit Unterstützung des KGB erste Erfolge gefeiert hatten, hatten sich mittlerweile längst von ihren früheren Meistern emanzipiert und waren an die Spitze der Macht aufgestiegen. Sie hatten weite Teile der russischen Wirtschaft übernommen, indem sie Jelzins Hilflosigkeit kurz vor den Wahlen 1996 ausnutzten und ihn dazu überredeten, ihnen die Kronjuwelen des Landes zu überlassen. Die Darlehen-gegen-Anteile-Versteigerungen hatten dazu geführt, dass fast 50 Prozent des russischen Vermögens in den Händen von nur sieben Geschäftsmännern landeten, während Jelzin noch abhängiger und schwächer war als zuvor. Er war teilweise auf die Mittel dieser Oligarchen angewiesen gewesen, um sich die Wiederwahl 1996 zu sichern, und sie hatten sich schnell daran gewöhnt, ihn nicht nur zu unterstützen, sondern ihm einige Gesetze einfach zu diktieren.
Seit 1994 waren jährlich geschätzt rund 20 Milliarden Dollar auf Konten im Westen geflossen, während sich die Kassen der Jelzin-Regierung weiter leerten. 30 Die von Oligarchen wie Chodorkowski und Beresowski ins Ausland geschleusten Summen hatten den russischen Staat so geschwächt, dass Putins KGB-Männer behaupteten, er befinde sich am Rand des Zusammenbruchs. In den Neunzigerjahren war der Staat bei den Gehaltszahlungen immer weiter in Rückstand geraten, während fast niemand Steuern entrichtete. Russland schuldete westlichen Institutionen wie dem IWF und der Weltbank gewaltige Summen, und die 40 Milliarden Dollar, die der Staat während der Rubelkrise nicht hatte zurückzahlen können und von denen mehr als ein Drittel im Ausland aufgenommen worden waren, hatten die Finanzsituation des Landes weiter geschwächt. In den Augen der KGB-Männer hatten die Freiheiten, die Jelzin den Regionen gewährt hatte, das Land noch näher an den Abgrund geführt. Im politischen Tumult von Jelzins letztem Regierungsjahr hatten einige Regionalgouverneure sich geweigert, einen Teil ihrer Steuereinnahmen an die Staatskasse zu überweisen. »Wir sahen, wie das Land sich auflöste«, sagte Sergej Bogdantschikow, ein enger Verbündeter Putins, der der einzigen verbliebenen staatlichen Ölgesellschaft Rosneft vorsaß und auch Primakow nahegestanden hatte. 31 »Was Putin übernahm, war ein Land, das in Bruchstücke zerfiel. Einige Gouverneure erwogen schon, eigene Währungen einzuführen. (…) Wenn noch zwei oder drei weitere Jahre ohne Putin an der Macht vergangen wären, hätte die Russische Föderation nicht mehr existiert. Dann hätte es nur noch einzelne Staaten gegeben wie auf dem Balkan. Für mich war der Kollaps abzusehen.« 32
Die KGB-Männer hatten sich die Situation lange intensiv angeschaut. Wladimir Jakunin, der stets gut gelaunte hochrangige Ex-KGBler, der in verdeckter Mission bei den Vereinten Nationen in New York tätig gewesen war und nach seiner Rückkehr nach Leningrad an der Übernahme der Bank Rossija beteiligt war, hatte eine Untersuchung zu den Eigentumsverhältnissen in der russischen Wirtschaft erstellt, die ergab, dass in den Jahren 1998 bis 1999 fast die Hälfte des nationalen Bruttoinlandsproduktes auf Unternehmen entfiel, die nur acht Familien gehörten. »Wenn sich nichts geändert hätte, wären es bald mehr als fünfzig Prozent gewesen«, sagte Jakunin über zwanzig Jahre später. »Die Gewinne flossen ausschließlich in private Taschen. Es wurden keine Steuern bezahlt. Es war schlicht und ergreifend eine Plünderung. Ohne ein stärkeres Eingreifen des Staates würde dieser Weg in eine Sackgasse führen, so viel war mir klar.« 33 Jakunin, der Putin seit den gemeinsamen Zeiten in der Osero-Datschengemeinschaft nahegestanden hatte, sagte, er habe den Bericht mitsamt seinen Kommentaren an diesen überreicht, kurz nachdem er Präsident geworden war.
Putins Geheimdienstlern dienten die Summen, die die Oligarchen aus der Jelzin-Zeit auf Konten im Westen verschoben, als willkommener Ansatzpunkt, um ihren eigenen Einfluss zu mehren. So konnten sie behaupten, dass die Macht der Geschäftsmänner eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstelle, obwohl sie vor allem ihre eigene Position gefährdete. Sie betrachteten sich als auserwählt, die Rückkehr Russlands zur Weltmacht zu bewerkstelligen, und glaubten, dass das Wiedererstarken des Staates und ihr eigenes Schicksal – praktischerweise – untrennbar miteinander verbunden seien.
Kurz nach Putins Amtseinführung hatte Zbigniew Brzeziński, der den USA zu Zeiten des Kalten Krieges als Sicherheitsberater diente, laut Jakunin ziemlich spöttisch reagiert, als es um das Geld ging, dass die russische Elite auf Konten im Ausland geparkt hatte. Wenn doch das ganze Geld im Westen angelegt sei, habe er gefragt, um wessen Elite handle es sich dann? Die Russlands oder die des Westens? 34 Brzezińskis Bemerkung hatte die KGB-Männer in Rage versetzt. Noch schlimmer war es, so etwas von einem Recken des Kalten Krieges zu hören, der ihrer Ansicht nach mit hinter den Bemühungen des Westens gesteckt hatte, das sowjetische Regime zu entmachten.
Wohl kein Finanztransfer war den KGBlern verhasster gewesen als die Milliarden, die über Valmet flossen, den Offshore-Fonds von Chodorkowskis Berater Christian Michel. Valmet hatte Ableger in London, Genf und auf der Isle of Man und verwaltete die Auslandskonten von Chodorkowskis Menatep-Gruppe sowie die der Schweizer Ölhandelsgesellschaft Runicom, dem Exporteur des russischen Ölkonzerns Sibneft, der von Boris Beresowski und Roman Abramowitsch geschaffen worden war. Chodorkowski und Beresowski zählten zu den eigenständigsten unter den Oligarchen, und Valmet stand in vielerlei Hinsicht für die neue Ordnung nach dem Kalten Krieg, in der die USA die unangefochtene Herrschaft übernommen hatten und das Geld der mittlerweile unabhängigen russischen Oligarchen auf westliche Bankkonten floss. Das verstärkte sich noch, als eine der ältesten und renommiertesten Banken der USA, die Riggs National Bank aus Washington, 51 Prozent der Anteile an Valmet aufkaufte. Die Bank, die über Jahrzehnte hinweg die Konten der US-Botschaften auf der ganzen Welt geführt hatte, wollte nach Osteuropa und Russland expandieren, und Valmet bot sich dafür an. Das war ein starkes Symbol für den Sieg des Westens im Kalten Krieg. Der Leiter des internationalen Bankgeschäfts bei Riggs, Alton G. Keel, war früher US-Botschafter bei der NATO gewesen und betrachtete es als seinen Auftrag, »Privatunternehmen in einstmals feindseligen Umgebungen« zu fördern. 35 Christian Michel, ein überzeugter Wirtschaftsliberaler, war davon überzeugt, dass Riggs-Valmet dazu beitrug, die russischen Geschäftsleute aus dem Klammergriff des Staates zu befreien. Als sich schließlich auch Chodorkowskis Menatep-Bank Anteile an Riggs-Valmet sicherte, meinte Michel, dieser Einstieg sei »ein tolles Symbol der neuen Weltordnung, auf die Präsident Bush senior so stolz war. (…) Die älteste US-Bank und eine aufstrebende russische Bank mit Beteiligungen an Valmet. Ich hielt es für einen gelungenen Coup.« 36
Doch die Petersburger KGBler und die Generäle, die hinter ihnen standen, betrachteten den Riggs-Menatep-Zusammenschluss als ein Symbol der Jelzin-Ära – eines vom Westen geförderten Clankapitalismus, in dem Oligarchen wie Chodorkowski der Staatsmacht ihren Willen hatten aufzwingen können. Vor allem Anatoli Tschubais, der Architekt des russischen Privatisierungsprogramms, galt für sie als Handlanger des Westens.
In den Augen der vom Kalten Krieg geprägten Ex-Geheimdienstler, für die alles, was geschah, Teil eines Nullsummenspiels war, konnten die amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler, die nach Russland strömten, um Tschubais zu beraten, nur CIA-Agenten sein, deren oberstes Ziel es war, die Überreste der russischen Wirtschaft zu zerstören, da diese unter Mithilfe der Amerikaner in die Hände privater Unternehmer überging, während die Rüstungsindustrie Stück für Stück zerlegt wurde. Der KGB hatte sich bemüht, die Kontrolle über die Geldflüsse zu behalten, aber unter Tschubais’ Aufsicht waren die staatlichen Betriebe aufgeteilt und in unabhängige Hände übergeben worden. »Die USA schickten hochrangige CIA-Mitarbeiter nach Russland, um den Privatisierungsprozess voranzutreiben«, sagte ein enger Verbündeter Putins, der auch mehr als zwanzig Jahre später noch vor Wut schäumte. »Sie nutzten die Situation aus und schlugen Profit daraus. Sie hatten kein Recht, mit der Privatisierung Geld zu verdienen.« 37
Trotz aller Beteuerungen, Russlands Übergang zur Marktwirtschaft weiter voranzutreiben, hatte Putin seine Ansichten über die Oligarchen schon zu Beginn des Wahlkampfes klar zum Ausdruck gebracht. Der erste Hinweis fand sich Ende Februar in seiner Antwort auf die Frage eines Kampagnenmitarbeiters, wann er den »Egeln«, die sich Macht verschafft hätten – damit waren die Oligarchen gemeint – »den Garaus« zu machen gedenke. Putin erwiderte, dass seine Regierung mehr tun müsse als sie nur »vernichten«. »Es ist äußerst wichtig, gleiche Bedingungen für alle zu schaffen, damit niemand die Macht an sich reißen und die Vorteile zu seinen Gunsten ausnutzen kann (…) kein einziger Clan, kein einziger Oligarch. (…) Alle sollten den gleichen Abstand zur Macht halten.« 38 Die nächste Warnung folgte eine Woche vor der Wahl, als er einem Moskauer Radiosender erklärte, dass er dem Oligarchentum ein Ende setzen wolle: »Eine solche Klasse von Oligarchen wird nicht mehr existieren. (…) Wenn wir nicht die gleichen Bedingungen für alle schaffen, werden wir das Land nicht aus seinem augenblicklichen Zustand herausholen können.« 39
Bei der Bevölkerung, die die Exzesse der Jelzin-Jahre satthatte und von den relativ freien Medien, die von ihren unabhängigen Konzernchefs als Waffe gegen Rivalen eingesetzt wurden, täglich neue Korruptionsgeschichten vorgesetzt bekam, stießen solche Aussagen natürlich auf Begeisterung. Putin schlug damit in die gleiche Kerbe wie Primakow, als dieser gefordert hatte, in den Gefängnissen Platz für die Geschäftsleute und die korrupten Beamten zu schaffen.
Aber während Primakows Aufruf der Jelzin-Familie eine Gänsehaut eingejagt hatte, schienen sie Putins Bemerkungen völlig kaltzulassen. Er war ihr Agent im Kreml, und sie waren sich sicher, dass er sie nie anrühren würde. »Der innere Zirkel und die Oligarchen hielten ihn für eine vorübergehende Erscheinung; sie glaubten wirklich, ihn steuern zu können«, sagte eine Person aus Putins Umfeld. Vor der Präsidentschaftswahl war offenbar ein Oligarch zu Putin ins Weiße Haus gekommen, den russischen Regierungssitz, in dem er damals noch sein Büro hatte, und hatte ihm unverhüllt klargemacht, dass er ohne die Unterstützung der Geschäftsleute niemals gewählt würde und sich deshalb entsprechend verhalten solle. Putin verzog kaum die Miene und antwortete nur: »Wir werden sehen.« »Er warf niemanden aus seinem Büro. Aber natürlich spielte er mit ihnen. Sie unterschätzten ihn maßlos.« 40
Der Oligarch, der Putin damals aufsuchte, war wahrscheinlich Boris Beresowski. Zu der Zeit schien er der Einzige zu sein, der sich langsam fragte, ob sie einen fatalen Fehler begangen hatten. Nach seinen erfolgreichen Attacken gegen das Duo Primakow und Luschkow hatte er den Großteil der Wahlkampfperiode mit einer neuen Freundin zusammen auf Anguilla verbracht. Als er zurückkehrte, war er von den Veränderungen, die er wahrnahm, sichtlich irritiert: »Er kam aus dem Urlaub zurück, und dann passierte etwas, was ihm nicht gefiel«, sagte eine Person aus seinem Umfeld. »Er hatte sich mit Putin getroffen, um einen Präsidentschaftskandidaten für 2004 abzusprechen. Sein Vorschlag lautete, dass Putin selbst nur vier Jahre lang im Amt bleiben solle, während er, Beresowski, in der Zeit eine Oppositionspartei aufbaute. Er wollte eine echte Demokratie.« 41 Doch falls dieses Gespräch wirklich stattfand, verlief es offensichtlich nicht gut. Wenige Tage vor Putins Amtseinführung schlug Beresowskis Zeitung Kommersant Alarm und veröffentlichte einen Artikel über mutmaßliche Pläne, den Kreml mit dem FSB zusammenzulegen. Auf diese Weise sollte allen Oppositionsparteien, Kritikern und der freien Presse ein Maulkorb verpasst werden.
Obwohl eine solche Zusammenlegung offiziell nie erfolgte, wirken die im Artikel beschriebenen Pläne aus heutiger Sicht erschreckend hellsichtig. Denn natürlich ging Putins Aufstieg zur Macht mit einer Eroberung des Kreml durch den KGB einher. Im Grunde verschmolzen die beiden Institutionen miteinander. Es war, als hätte Beresowski plötzlich das Ausmaß seines Fehlers erkannt. »Der neue Präsident braucht, wenn er wirklich für Ordnung und Stabilität sorgen will, kein sich selbst regulierendes politisches System«, so stand es im mutmaßlichen Entwurf des Kreml. »Stattdessen benötigt er eine politische Struktur in seinem Regierungsapparat, über die eine klare Kontrolle der politischen und gesellschaftlichen Prozesse in der Russischen Föderation erfolgen kann. Daher sollte das intellektuelle, personelle und professionelle Potenzial des FSB genutzt werden, um den politischen Prozess zu überwachen.« Der FSB sollte für Schadensbegrenzung sorgen, wenn Informationen an die Öffentlichkeit gelangten, die nicht im Interesse des Präsidenten oder seines inneren Kreises waren. 42
Der Kreml bestritt, dass ein solcher Vorschlag diskutiert wurde. Aber nur vier Tage nach Putins Amtsantritt schien Phase eins des Plans in Kraft zu treten. Sie zielte eindeutig darauf ab, die Medien gefügig zu machen. Maskierte Polizeieinheiten mit automatischen Waffen schwärmten aus und besuchten die Büros von Wladimir Gussinski, den Eigentümer des Media-Most-Imperiums, zu dem auch der Fernsehsender NTW gehörte, der Putin am schärfsten kritisierte. 43 NTW war der zweitbeliebteste Sender Russlands, und Gussinski hatte sich nie davor gescheut, ihn zu politischen Zwecken einzusetzen, bei den Parlamentswahlen hatte er Luschkows Vaterland-Block unterstützt. Außerdem war der Kanal ein energischer Fürsprecher der Unabhängigkeit und hatte Putins Tschetschenienkrieg stets kritisch beäugt. Am Vorabend der Präsidentschaftswahl strahlte er zur besten Sendezeit eine Debatte über die verdächtigen Ereignisse in Rjasan aus und stellte offen die Frage, ob der FSB hinter den Bombenanschlägen steckte. Die wöchentliche Satiresendung Kukly, »Puppen«, war Putin immer schon ein Dorn im Auge gewesen. Dort war er mehr als einmal als der plumpe Zwerg Zaches aus einem Märchen von E.T.A. Hoffmann dargestellt worden, der ein bestehendes Königreich voller Schätze erbt, ohne sich dafür anstrengen zu müssen.
Die Razzia bei Gussinski war nicht die einzige Duftmarke, die die neuen Herren im Kreml in den ersten Tagen von Putins Präsidentschaft setzten. Am zehnten Tag im Amt legte Putin einen umfassenden Plan vor, wie er die Macht der russischen Regionalgouverneure eindämmen wollte – Maßnahmen, die eindeutig darauf abzielten, dass sich die gewählten Gouverneure nie wieder so gegen den Kreml verbünden würden, wie sie es zugunsten von Luschkow und Primakow getan hatten. Die Gesetzesvorschläge sahen vor, den Gouverneuren ihre Sitze im Föderationsrat zu entziehen, dem Oberhaus des Parlaments, wo sie sich so lange gegen die Absetzung Skuratows als Generalstaatsanwalt gesträubt und sich somit im Grunde zu einer eigenständigen politischen Macht entwickelt hatten. 44 Die Abschaffung ihrer Sitze im Rat bedeutete, dass sie ihre Immunität verlören, und zugleich gestattete der Gesetzesvorschlag dem Präsidenten, Gouverneure, gegen die ein Ermittlungsverfahren lief, aus dem Amt zu entlassen, was ganz offensichtlich bewirken sollte, dass sie nie wieder von der Kreml-Linie abwichen. Um dem Kreml noch mehr Einfluss zu verschaffen, schlug Putin die Einführung sieben vom Kreml ernannter Bevollmächtigter vor – eine Art Supergouverneure, die jeweils für einen Landesteil zuständig sein sollten. Diese sieben Posten gingen direkt an fünf Generäle aus dem Militär und vom FSB und an zwei weitere Kreml-Getreue.
Für Beresowski stellten diese neuen Gesetze einen gefährlichen Rückbau der demokratischen Errungenschaften der Jelzin-Ära dar. Am 31. Mai schrieb er einen offenen Brief an Putin, in dem er die Vorschläge als »Bedrohung für die territoriale Integrität und die Demokratie Russlands« bezeichnete. 45 Der Brief schaffte es auf die Titelseiten fast aller Moskauer Zeitungen, und der von Beresowski kontrollierte Fernsehsender ORT eröffnete damit die Abendnachrichten. Einer von Beresowskis Freunden, ein Geschäftsmann, der den Sicherheitsbehörden und insbesondere Primakow immer nahegestanden hatte, riet ihm entschieden zu mehr Zurückhaltung: »Ich sagte: ›Das reicht, Borja. Was machst du da? Dein Mann ist Präsident geworden. Was willst du denn noch?‹« Aber Beresowski habe geantwortet: »Er ist ein Diktator.« »Er hatte es vor allen anderen erkannt.« 46
Beresowski stand mit seinen Warnungen vor dem Zerfall der Demokratie damals ziemlich allein da. An dem Plan, die Regionalgouverneure zu entmachten, hatten die Kreml-Männer aus dem Umfeld der Jelzin-Familie, namentlich der Leiter der Präsidialverwaltung Alexander Woloschin und sein kindergesichtiger Stellvertreter Wladislaw Surkow, maßgeblich mitgewirkt. Hinter den Kulissen unterstützten sie auch das Vorhaben, die Freiheiten der Medien zu beschneiden. Es war, als wollten sie sich an den Kräften rächen, die sie nur zwölf Monate zuvor beinahe hinter Schloss und Riegel gebracht und die ihnen so viel Angst eingejagt hatten. Jumaschew beharrte darauf, dass er Putin, als dieser das Thema aufbrachte, darauf hingewiesen habe, dass jede Attacke gegen NTW ein Angriff auf die Meinungsfreiheit sei. Aber weder er noch Woloschin unternahmen etwas gegen die Kampagne, die darauf abzielte, die Fernsehsender unter staatliche Kontrolle zu bringen; Woloschin setzte sich sogar aktiv dafür ein. »Putin erklärte mir, dass die Geschichtsbücher ein negatives Bild von Jelzin zeichnen würden«, erinnerte sich Jumaschew. 47 »Er meinte, die Familie würde in allen Büchern vorkommen, und dort stünde dann eine Lüge nach der anderen, und das wegen NTW. Putin fragte: ›Warum sollte ich das hinnehmen? Warum sollten wir ihnen erlauben, die Regierung durch den Dreck zu ziehen? Warum sollte ich stillhalten, wenn sie jeden Tag Lügen erzählen?‹ Ich erklärte ihm, dass die Meinungsfreiheit das höchste Gut sei. Daran müssten wir denken. Aber er sagte, so etwas solle bei einer schwachen Regierung nie toleriert werden. Man könne es aushalten, wenn sie stark sei, aber wenn sie schwach sei, würde sie es nicht vertragen. Und dann handelte er so, wie er es für nötig befand.«
Putins Art der Gesprächsführung war ganz typisch für die manipulative Vorgehensweise des KGB: Er setzte auf die tiefreichende Antipathie, welche die Jelzin-Familie NTW gegenüber empfand, nachdem der Sender sie im Zusammenhang mit den quälenden und demütigenden Korruptionsskandalen im vorausgegangenen Jahr immer wieder gnadenlos ins Scheinwerferlicht gerückt hatte, bis sie schließlich übereilt die Macht abgegeben hatten. Er nutzte ihre Angst, auf Dauer gebrandmarkt zu sein, um sie dazu zu bewegen, eine Attacke auf den Sender zu unterstützen. »Ihm zufolge war das Ziel des Senders nicht, Menschen zu informieren, sondern die Interessen seines Eigentümers durchzusetzen«, sagte Jumaschew. »Er sagte: ›Sie sind aufgeflogen. Sie haben einen Kredit vom Staat angenommen.‹ Dann sagte er: ›Wenn es diesen Kredit nicht gäbe, hätte ich sie nicht angerührt. Aber sie haben sich kompromittiert, und das müssen wir nutzen.‹« 48
Die Razzia bei Gussinskis Media-Most war der Auftakt zu einer umfangreichen Kampagne von Putins Kreml, auch von Woloschin und anderen Beamten aus der »Familie«, gegen viele der Oligarchen aus der Jelzin-Zeit. So begegnete Putin von nun an allen, die seine Macht herausforderten. Der Gegner musste sich nur auf irgendeine Weise kompromittiert haben – und jetzt, da Putins Männer die Strafverfolgungsbehörden übernommen hatten, war es nach dem turbulenten Übergang zur Marktwirtschaft unter Jelzin nicht schwer, etwas zu finden, was man jemandem anlasten konnte.
Was in jenem Sommer folgte, war eine sorgfältig geplante Serie koordinierter Razzien, die darauf abzielten, die Tycoons aus der Politik zu vertreiben. Sie wurden mit der KGB-typischen Präzision durchgeführt. Zunächst einmal wurde Gussinski verhaftet, kaum einen Monat nach der Razzia bei Media-Most. Obwohl er nur drei Tage im berüchtigten Moskauer Butyrka-Gefängnis festgehalten wurde – der Vorwurf lautete, er habe staatliche Mittel in Höhe von 10 Millionen Dollar veruntreut –, war für die Oligarchen, die sich während Jelzins Regierungszeit an eine Art Quasi-Immunität gewöhnt hatten, damit das Unvorstellbare eingetreten. Bisher hatte der redselige, weithin bekannte Gussinski die Autoritäten immer über seine Medienkanäle kritisieren können, ohne Folgen befürchten zu müssen. Die Tycoons schlossen sich zusammen und verfassten einen gemeinsamen Brief, in dem sie gegen Gussinskis Verhaftung protestierten und sie als »Racheakt … gegen einen politischen Gegner« bezeichneten. 49
Aber falls einer von ihnen mit dem Gedanken gespielt haben sollte, sich gegen die neue Regierung aufzulehnen, folgte bald der nächste Warnschuss. Eine Woche später erhob die Moskauer Staatsanwaltschaft Klage gegen die 1997 erfolgte Privatisierung von Norilsk Nickel, dem riesigen Nickelwerk, das im Rahmen der umstrittenen Darlehen-gegen-Anteile-Versteigerungen trotz eines Wertes von 1,5 Milliarden Dollar für nur 170 Millionen an Wladimir Potanin gegangen war, den Architekten des Privatisierungsprogramms. Igor Malaschenko, der Vizedirektor von Gussinskis Media-Most, warnte, dass diese Anklage zeige, jeder Geschäftsmann, der in die Privatisierung involviert war, »könne morgen ins Gefängnis geworfen werden. (…) Es entsteht eine neue Ordnung im Land, und das bedeutet in den Augen der neuen Führung, dass alles unter der Kontrolle des Kreml zu stehen hat.« 50
Als wollten sie mit Nachdruck den Beginn eines neuen Regimes hervorheben, in dem sich kein Tycoon seines Besitzes sicher sein konnte, führten Putins Männer Anfang Juli innerhalb von zwei Tagen drei weitere Razzien durch. Die erste galt Lukoil, dem gewaltigen Energiekonglomerat, dessen Eigentümer und Geschäftsführer ein durchtriebener Ex-Sowjetbeamter aus Aserbaidschan war, Wagit Alekperow. Der Vorwurf lautete, dass Lukoil sich Steuerrückzahlungen erschlichen habe. Dann folgte eine erneute Durchsuchung bei Gussinskis Media-Most und zum ersten Mal auch beim dazugehörigen Fernsehsender NTW. 51 Am folgenden Tag war ein weiteres mächtiges Symbol des Jelzin-Ära-Kapitalismus an der Reihe: das weitläufige Gelände von AwtoWAS, dem größten Autobauer des Landes, an dessen Spitze Geschäftspartner von Beresowski standen. Der Chef der Steuerpolizei behauptete, das Unternehmen habe Steuern in Höhe von Hunderten Millionen Dollar hinterzogen. 52
Nun brach die Geschäftswelt vollends in Panik aus. Am selben Tag, an dem die Steuerpolizei AwtoWAS durchsuchte, gab Putin ein Fernsehinterview, in dem er die Razzien rechtfertigte und schwor, diejenigen, die ihr Vermögen in den »trüben Gewässern« nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gemacht hätten, zur Rechenschaft zu ziehen. »Wir dürfen Demokratie nicht mit Anarchie verwechseln«, warnte er. 53 »In Russland haben wir ein Sprichwort über das Fischen in trüben Gewässern. Es gibt Fischer, die bereits viele Fische gefangen haben und das System gern so beibehalten würden, wie es ist. Aber ich glaube nicht, dass unser Volk diesen Zustand schätzt.« Am nächsten Tag gab er einer Zeitung ein Interview, in dem er behauptete, dass die aktuellen Entwicklungen keine Rückkehr zum Polizeistaat bedeuteten. Doch die Geschäftswelt müsse sich »an die Spielregeln« halten, warnte er – vor allem jetzt, da es die neue, pauschale Einkommenssteuer von 13 Prozent gab, die die Liberalisierung weiter vorantreiben sollte. 54
Das war die typische Lockvogeltaktik des KGB, und Putin konnte auf die gut geölte Maschinerie des Kreml zurückgreifen. Die Propagandakanäle des Kreml und die Strafverfolgungsbehörden zogen an einem Strang, und die Tycoons, die verzweifelt in Erfahrung bringen wollten, wie die neuen Spielregeln denn aussahen, flehten Putin um ein Treffen an. Chodorkowski warnte insgeheim davor, dass jedem von ihnen Verstöße gegen die Postsowjetgesetze vorgeworfen werden könnten, da diese widersprüchlich formuliert seien und die Justiz Schwächen zeige. 55 Erneut war Beresowski der Einzige, der offen protestierte. Er hatte seinen Posten als Parlamentsmitglied unter lautem Getöse aufgegeben und den dicht gedrängten Journalisten auf der Pressekonferenz erklärt, er werde sich nicht »an der Demontage Russlands und der Einführung einer autoritären Herrschaft« beteiligen. 56 Seine Worte waren ein verzweifelter Aufruf an die anderen Moskauer Tycoons, aber sie kamen viel zu spät.
Als einundzwanzig der mächtigsten Geschäftsmänner Russlands Ende Juli mit Putin zusammenkamen, hatte die Audienz am ovalen Tisch im kunstvoll verzierten Katharinensaal des Kreml nichts mit den gemütlichen Geheimtreffen zu tun, die sie mit Boris Jelzin abgehalten hatten. Dies war ein formeller Termin – und eine öffentliche Abreibung. Ganz Russland konnte im Fernsehen verfolgen, wie Putin den Tycoons erklärte, dass sie die Schuld an den Razzien und den Ermittlungen nur bei sich selbst zu suchen hätten: »Sie müssen sich in Erinnerung rufen, dass Sie diesen Staat durch die von Ihnen kontrollierten politischen und quasipolitischen Strukturen selbst geformt haben.« Dann zitierte er ein bekanntes russisches Sprichwort: »Es bringt nichts, dem Spiegel die Schuld [für das hässliche Gesicht] zu geben.« 57 Obwohl er ihnen zusicherte, die Privatisierungen der Neunzigerjahre nicht rückgängig zu machen, ermahnte er sie am Ende doch, seine Wirtschaftsvorhaben zu unterstützen und ihre Medienkonzerne nicht länger dazu zu nutzen, die juristischen Ermittlungen gegen Unternehmen zu »politisieren«. Als die TV-Kameras abgebaut waren, machte er den Unternehmern klar, wie die neuen Spielregeln aussahen. Sie hatten sich aus der Politik herauszuhalten, sonst drohten ihnen Konsequenzen. Zwei Tycoons glänzten durch Abwesenheit: Beresowski und Gussinski, die beide öffentlich gegen Putins Politik gewettert und dazu auch ihre Medienimperien eingesetzt hatten.
Ein anderer fiel jedoch durch seine Nähe zu Putin auf. Zur rechten Hand des Präsidenten saß Sergej Pugatschow und flüsterte diesem ab und zu etwas ins Ohr. Während die anderen zitterten, wirkte er ganz gelassen. In jener Zeit, in der sich Putin noch an seine neue Rolle gewöhnte, sprachen die beiden täglich mehrmals miteinander. Später an jenem Tag brachte Putin die Oligarchen auf Pugatschows Vorschlag hin erneut zusammen, dieses Mal ohne Kameras, in einer symbolträchtigen Umgebung. Pugatschow hatte Putin überzeugt, die Geschäftsleute in einem weniger förmlichen Zusammenhang zu treffen, um ihnen zu zeigen, dass er es nicht auf einen Kampf gegen sie abgesehen hatte. Doch der Ort, den Putin für das »freundschaftliche« Grillen auswählte, hatte ebenfalls Signalwirkung.
Tief im Wald am Rand von Moskau stand Stalins Datscha, die fast unberührt geblieben war, seit er 1953 dort gestorben war. Die Telefone, in die der Diktator seine Befehle gebrüllt hatte, befanden sich noch dort. Das Sofa, auf dem er lieber schlief als im Bett, stand weiterhin im Arbeitszimmer. Es schien keine Zeit verstrichen zu sein, seit Stalin dort ganze Tage und Nächte verbracht und in Listen festgehalten hatte, welche Vertreter der Elite des Landes er als Feinde betrachtete. Putin hatte die Oligarchen an den Ort eingeladen, von dem aus Stalin im Rahmen der sogenannten »Großen Säuberung« Tausende Menschen in den Tod geschickt hatte. Er trug Jeans und T-Shirt und bemühte sich, entspannt und nahbar zu wirken. Viele der Geschäftsmänner hatte er bis zu jenem Tag nur im Fernsehen gesehen, meinte Pugatschow, und er wusste nicht genau, wie er sich in ihrer Gegenwart verhalten sollte. Doch wenn Putin nervös war, galt das erst recht für die Tycoons. An jenem Ort würde es niemand wagen, den neuen Präsidenten zu reizen. »Wir sind ja schon froh, wenn er uns wieder gehen lässt«, hörte Pugatschow damals einen der Anwesenden sagen.
Pugatschow war die ganze Zeit über hinter den Kulissen aktiv gewesen. Während die anderen Oligarchen mit Razzien und der Steuerpolizei zu kämpfen hatten, glaubte er damals, alles unter Kontrolle zu haben. Er hatte seinen Mann zum Präsidenten gemacht und einen Verbündeten zum FSB-Chef. Den neuen Chef des Föderalen Steuerdienstes, Gennadi Bukajew, einen Geschäftspartner aus Baschkortostan, wo Pugatschow über Verbindungen in die Ölbranche verfügte, hatte er selbst ins Amt geholt. Und auch an der Ernennung Wladimir Ustinows zum Generalstaatsanwalt hatte er im Rahmen der Bemühungen, die Mabetex-Ermittlungen einzustellen, mitgewirkt. Pugatschow gab sich gern dem Glauben hin, dass alle nach seiner Pfeife tanzten. Über seine Meschprombank verteilte er Geld an alle und jeden. Eine Wohnung für Ustinow hier, eine Wohnung für seinen Stellvertreter dort. Andere Tycoons standen Schlange, um mit ihm zusammenzuarbeiten. »Ständig kam einer zu mir und sagte: ›Machen wir doch eine Razzia bei diesem oder jenem und übernehmen dann sein Geschäft‹«, lachte er, voller Sehnsucht nach den alten Zeiten. 58
Einer Quelle zufolge erkannte selbst Roman Abramowitsch, der scheinbar schüchterne, stoppelbärtige Ölhändler, der anfangs ein Schützling Boris Beresowskis gewesen war, Pugatschows Macht an: Lange Zeit später beklagte er angeblich gegenüber derselben Quelle, dass er damals alles mit Pugatschow habe abstimmen müssen. Ein Sprecher von Abramowitsch streitet ab, dass dieses Gespräch jemals stattfand. Eine Moskauer Zeitung kürte Pugatschow zum aktuellen Kreml-»Liebling«, während ihn andere als die neue graue Eminenz bezeichneten, die gemeinsam mit Putins KGB-Männern aus Sankt Petersburg die Geldströme übernahm. 59 Er galt als Ideologe hinter dem neuen politischen Ansatz, dass die Oligarchen »den gleichen Abstand zur Macht« bewahren müssten – ein Konzept, dem er in der Gegenwart nie zustimmen würde, mit dem er damals aber einverstanden schien, solange er über allen anderen stand.
Während einige Oligarchen wie Pugatschow und Abramowitsch offensichtlich gleicher waren als andere, wurden diejenigen, die Putins Macht am stärksten bedrohten, einer nach dem anderen aus dem Weg geräumt. Wenige Tage vor Putins Treffen mit den Tycoons hatte Gussinski ein Angebot erhalten, das er nicht ablehnen konnte. Putins neuer Presseminister, Michail Lesin, hatte ihn aufgefordert, seinen Media-Most-Konzern gegen 300 Millionen Dollar Bargeld und 473 Millionen Dollar Schuldenerlass an das staatliche Gasmonopol Gazprom zu verkaufen – anderenfalls käme er ins Gefängnis. 60 Die Schulden, die Putin in seinem Gespräch mit Jumaschew erwähnt hatte, hatte Media-Most vor allem beim staatlichen Gasgiganten, und der Medienkonzern war mit den Zahlungen in Rückstand geraten. Gussinski hatte umgehend eingewilligt – er wollte es nicht riskieren, weitere Nächte im heruntergekommenen Butyrka-Gefängnis zu verbringen. Als die Tycoons im Kreml eintrafen, hatte die Staatsanwaltschaft bereits verkündet, alle Anklagen gegen Gussinski fallenzulassen.
Doch kurz darauf floh Gussinski, und als er im Ausland wiederauftauchte, sagte er, er sei gezwungen worden, den Vertrag zu unterschreiben, praktisch »mit vorgehaltener Pistole«. 61 Deshalb sei dieser nichtig. Die Nachricht von der Übereinkunft war ein Schock für die russische Elite gewesen. Es war das erste Anzeichen dafür, wie weit Putins Regierung zu gehen bereit war, um sich die Kontrolle über die unabhängigen Medienkonzerne zu sichern. Putins Männer nutzten die Strafverfolgungsbehörden als Waffe, um »krude Erpressungen« durchzuführen und so eine Übernahme zu erzwingen. Für sie waren solche Methoden ganz normal.
Doch der große Showdown mit den Medienmoguln stand Putin noch bevor. Der Kreml richtete seine Bemühungen von Anfang an auf sie. Putin war mittlerweile besessen von der Macht der Medien, die ihm überaus bewusst war, weil er ja schließlich mithilfe von Beresowskis Fernsehsender von einem Niemand zum beliebtesten Anführer des Landes aufgestiegen war. Ihm war klar: Wenn er nicht die Kontrolle über die großen Fernsehsender erlangte, konnte diese Entwicklung jederzeit wieder rückgängig gemacht werden.
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Boris Beresowski war für Putins Männer der Inbegriff eines Oligarchen aus der Jelzin-Ära – mehr als jeder andere Tycoon. Sie beschimpften, verachteten und fürchteten ihn gleichermaßen. Er verkörperte die Insidergeschäfte der Jelzin-Jahre, als eine kleine Gruppe von Geschäftsleuten hinter den Kulissen die besten Güter und Posten unter sich aufgeteilt hatte. Durch seine Kontakte zu den tschetschenischen Rebellenführern war er den KGBlern verhasst, vor allem Patruschew, der jeden verabscheute, der mit den Tschetschenen zu tun hatte. Beresowski hatte den Separatistenführer Aslan Maschadow unterstützt und nach Jelzins desaströsem ersten Tschetschenienkrieg, in dem Tausende russische Soldaten und noch viel mehr tschetschenische Zivilisten ihr Leben verloren hatten, dazu beigetragen, einen Friedensvertrag auszuhandeln. Dieser Vertrag gewährte Maschadow weitgehende Autonomie für seine Republik – in den Augen von Putins KGB-Männern ein schwarzes Loch, das Menschen und Geld verschluckte. Dank Beresowski sei es den tückischen Clans der tschetschenischen Warlords gelungen, ihr Geld nicht nur durch Entführungen und Lösegeldzahlungen zu verdienen, sondern auch durch Kriegsgeschäfte. »Er ist ein Kriegsverbrecher. Er hat Menschen verschleppt«, behauptete ein Geschäftspartner Putins. »Das alles – der Krieg, die tschetschenischen Warlords – war Beresowskis Werk.«
Aber vor allem fürchteten Putins Männer die Macht von Beresowskis Medien. Obwohl sein Fernsehsender ORT auf dem Papier dem Staat gehörte, der eine Mehrheit von 51 Prozent an ihm hielt, war Beresowksi, der den Rest besaß und den Vorstand mit seinen Verbündeten besetzt hatte, de facto der Chef des Senders.
Bis Anfang August 2000 hatte er sich zu einem erklärten Gegenspieler des neuen Regimes entwickelt. Am Tag nachdem in einer Unterführung im Moskauer Zentrum die Bombe eines Terroristen hochging und sieben Menschen tötete und neunzig verletzte, hielt er eine Pressekonferenz ab, in der er verkündete, ein Oppositionsbündnis zu gründen, um Putins zunehmenden Autoritarismus, wie er es bezeichnete, zu bekämpfen. Er warnte, dass es zu weiteren derartigen Anschlägen kommen könnte, sollte der Kreml seinen »gefährlichen« Vorstoß fortsetzen, die Rebellen in Tschetschenien vernichten zu wollen. 62 Das machte aufgrund von Beresowskis Beziehungen zu den Tschetschenen den Eindruck, als hätte er der Putin-Regierung den Fehdehandschuh hingeworfen.
Als es später in jenem Monat zu einer Katastrophe kam und Putin die erste große Krise seiner noch jungen Präsidentschaft überstehen musste, wurde es für die Kreml-Männer umso wichtiger, Beresowski aus der Medienbranche zu verdrängen. Irgendwie war an Bord eines russischen Atom-U-Boots, der Kursk, ein Torpedo explodiert, was das U-Boot heftig beschädigt hatte und es mitsamt der Besatzung auf den Meeresgrund hatte sinken lassen. Beresowksi bot die ganze Macht von ORT auf, um heftige Kritik an Putins Umgang mit dem Unglück zu üben. Sechs Tage lang herrschte Ungewissheit, weil der Präsident sich nicht an die Öffentlichkeit wandte, sondern in seiner Sommerresidenz am Schwarzen Meer in der Nähe von Sotschi blieb und sich nur zeigte, als er auf einem Jetski über die Wellen raste – was ORT direkt ausstrahlte. Putin hüllte sich in Schweigen, während die Marine tagelang verschleierte, was genau passiert war, auch noch nachdem man zugegeben hatte, dass das U-Boot gesunken war. Die Angehörigen der Besatzung verzweifelten, eine Rettungsaktion war nur zögerlich angelaufen. Russland hatte die internationalen Hilfsangebote anfangs noch ausgeschlagen, aus Angst, es könnten Details über den Zustand der Atom-U-Boot-Flotte bekannt werden.
Putin, der trotz seiner jahrelangen Arbeit mit Illegalen im Westen und seinem entschiedenen Eingreifen in Tschetschenien immer noch ein unerfahrener Anführer war, sei anfangs vor Angst wie erstarrt gewesen, sagte eine Person aus seinem Umfeld. »Er war wie betäubt und leichenblass. Er wusste nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte, und versuchte daher, sich einfach gar nicht mit ihr auseinanderzusetzen. Wir wussten, dass es eine Explosion gegeben hatte. (…) Wir glaubten, dass alle sofort tot waren. Putin wusste einfach nur nicht, wie er sich verhalten sollte, und als die Leute dann kamen und fragten: ›Wie lauten Ihre Anweisungen? Sollen wir eine Rettungsaktion in die Wege leiten, sollen wir den USA den Krieg erklären?‹ [eine der Theorien hatte gelautet, dass die Kursk mit einem amerikanischen U-Boot kollidiert war], spielte er auf Zeit. Obwohl wir glaubten, dass niemand mehr am Leben war, setzten wir die Rettungsaktion in Gang, und ab da schienen alle Berichte von flehentlichen Rufen von U-Boot-Soldaten zu handeln, die an Wände klopften. Die Norweger und andere meldeten sich und boten ihre Unterstützung an. Aber er wollte nicht, dass sie herausfanden, dass alle tot waren, und lehnte die Hilfe ab – was natürlich alles nur noch schlimmer machte. Die ganzen Lügen machten alles nur noch schlimmer.« 63
Am siebten Tag nach dem Unfall flog Putin still und leise zurück nach Moskau. Vor die Öffentlichkeit trat er jedoch erst drei Tage später. Nach langem Drängen und Beschwören durch seine Berater flog er zum Heimathafen der Kursk nach Widjajewo, einer geschlossenen Militärstadt nördlich des Polarkreises, wo sich die angsterfüllten Angehörigen der Crew bereits Tage zuvor versammelt und vergeblich auf gute Nachrichten gewartet hatten. Mittlerweile herrschten dort Trauer, Wut und Verzweiflung. Am Tag zuvor hatten die russischen Behörden schließlich zugegeben, dass alle hundertachtzehn Besatzungsmitglieder tot waren, und die Medien hatten Putin wegen seiner Untätigkeit im Umgang mit dem Ereignis bereits schwer gescholten. Besonders hart ging Beresowskis Sender ORT mit ihm ins Gericht, der Interviews mit trauernden Verwandten ausstrahlte, die Putin dessen mangelnde Führungsstärke vorwarfen. Putin tobte und behauptete, dass es sich bei den Frauen, die in den Ausschnitten zu sehen waren, laut einem Bericht seiner Sicherheitsberater nicht um Ehefrauen oder Verwandte der Matrosen handelte, sondern um Prostituierte, die Beresowski bezahlt hätte, um ihn in Verruf zu bringen.
Doch als Putin in Widjajewo eintraf, erfuhr er den Zorn der Menschen am eigenen Leib, denn die Frauen und Verwandten stürzten sich sogleich auf ihn. Die Wut, die man in Beresowskis Beiträgen gespürt hatte, war echt; jeder Verdacht, sie könnte gespielt gewesen sein, löste sich in Luft auf. Putins erste Reaktion zeigte erneut seine tiefsitzende Paranoia und seinen Mangel an Empathie. Drei Stunden lang sprach er mit den Angehörigen und versuchte sie zu beruhigen. Obwohl er ihnen erklärte, er sei bereit, die Verantwortung für alles zu übernehmen, was im Land in den hundert Tagen seit seiner Amtseinführung geschehen sei, könne er das doch nicht für die vergangenen fünfzehn Jahre tun: »Was das angeht, bin ich bereit, mich neben Sie zu setzen und anderen diese Fragen mit Ihnen zusammen zu stellen.« 64 Die vermasselte Rettungsaktion lastete er dem prekären, erbärmlichen Zustand des Militärs an, das während Jelzins Regierungszeit aufgrund fehlender Mittel dem Verfall überlassen worden sei.
Doch vor allem gab er den Medienmoguln die Schuld. In Wahrheit seien sie verantwortlich für die Probleme des Militärs, weil sie das Land um sein Geld gebracht hätten, während sie gleichzeitig noch versuchten, politisches Kapital aus der Tragödie zu schlagen. Das richtete sich eindeutig gegen Beresowski und Gussinski: »Es gibt heute Personen beim Fernsehen, die (…) in den letzten zehn Jahren die Armee und die Flotte zerstört haben, wodurch jetzt Menschen sterben. (…) Sie haben Geld gestohlen, die Medien gekauft und manipulieren jetzt die öffentliche Meinung.« 65
Irgendwann schaffte es Putin, die Angehörigen zu besänftigen. Aber seine Aussagen, die Medienmoguln seien Diebe, die den Staat zersetzt hätten, bedeuteten, dass sich Beresowski und Gussinski keine Hoffnungen mehr darauf machen durften, ihre unabhängigen Kanäle zu behalten. Auch in diesem Fall hatte der Geschäftspartner von Beresowski, der sich Kontakte in die Sicherheitsbehörden bewahrt hatte, seinen Freund gescholten und ihm geraten, sich endlich zurückzuhalten. 66 »Ich sagte: ›Borja, warum untergräbst du ihn, statt ihm eine Chance zu geben? Wie kannst du ihm die Schuld an diesem U-Boot zuweisen?‹« Aber Beresowski kannte keine Reue; er befürchtete einen KGB-Staat und wollte sich dem mit aller Macht widersetzen. Nach dem Ereignis mit der Kursk erklärte Woloschin Beresowski, dass seine Zeit an der Spitze von ORT beendet sei, weil man zu dem Schluss gekommen sei, dass er den Sender dazu nutze, »gegen den Präsidenten zu arbeiten«. 67 Dann teilte er ihm laut Beresowskis eigener Aussage mit, dass er zwei Wochen habe, um seine Anteile abzugeben, wenn er Gussinski nicht ins Butyrka-Gefängnis folgen wolle. Das betrachtete Beresowski als ein Ultimatum, das »das Ende der TV-Information in Russland einläutete«: »Stattdessen wird es von den [Kreml-]Beratern gesteuerte Fernsehpropaganda geben.« 68 Eine Zeit lang lieferte er sich noch ein riskantes Katz-und-Maus-Spiel mit dem Kreml und erklärte, er habe seine Anteile an ORT in die treuen Hände der Journalisten des Senders gegeben, während er gleichzeitig verkündete, er werde nicht zulassen, dass das Land in einen autoritären Abgrund stürze.
Trotz Beresowskis Hellsichtigkeit arbeiteten die Relikte aus der Jelzin-Zeit, die weiterhin im Kreml saßen, Hand in Hand mit Putin und den Strafverfolgungsbehörden. Die Kreml-Maschinerie stand vereint gegen Beresowski und Gussinski, die beiden hatten nie eine Chance. Gleb Pawlowski, der Spindoktor des Kreml, der an Putins PR-Kampagne vor der Präsidentschaftswahl mitgewirkt hatte, war jetzt daran beteiligt, eine neue »Doktrin zur Informationssicherheit« zu verfassen, die es der Regierung seiner Aussage zufolge gestatten würde, »zwielichtige Informationsvermittler« wie Gussinski und Beresowski, von denen »eine ernsthafte Bedrohung für die nationalen Interessen« ausgehe, einfach abzusetzen. 69
Mitte Oktober nahm die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen Beresowski wieder auf. Man hatte ihm bereits früher vorgeworfen, Hunderte Millionen Dollar der staatlichen russischen Fluggesellschaft Aeroflot, deren Teilhaber er war, über Schweizer Unternehmen ins Ausland geschleust zu haben. Der Druck wurde langsam unerträglich. Als die Staatsanwaltschaft am 13. November verkündete, dass man ihn zur Vernehmung einbestelle und die Anklage schon bereitliege, floh Beresowski aus Russland und erklärte, nie wieder zurückkehren zu wollen. »Sie haben mich zu der Entscheidung gezwungen, ob ich lieber politischer Gefangener oder politischer Flüchtling sein will«, sagte er in einer Stellungnahme, die er an einem unbekannten Ort abgab. 70
Ganz ähnlich ging man auch gegen Gussinski vor. Er war am selben Tag zur Vernehmung einbestellt worden, doch er hatte sich schon lange aus dem Staub gemacht: Kurz nachdem er im Juli den Vertrag unterschrieben hatte, mit dem er seine Anteile an Media-Most abtrat, hatte er sich dem Zugriff der Staatsanwaltschaft entzogen und war in seine Villa in Spanien geflohen. Dann hatte er diesen Vertrag für nichtig erklärt, weil er ihn unter Zwang unterzeichnet habe, gegen das Versprechen der Freiheit. Doch dem langen Arm der russischen Staatsanwaltschaft konnte er nicht entkommen. Sie erhob Anklage in Abwesenheit, weil er seine Besitzverhältnisse in Bezug auf Media-Most falsch dargestellt habe, als er die Kredite von Gazprom in Anspruch genommen hatte, und erwirkte bei Interpol einen internationalen Haftbefehl gegen ihn.
Selbst im Exil wurde der Druck auf die beiden Männer irgendwann zu groß. Im Februar 2001 veräußerte Beresowski seine ORT-Anteile an Roman Abramowitsch, er folgte damit dem Drängen Woloschins, seine Beteiligung zu beenden. Die russische Regierung blieb der größte Anteilseigner und übernahm die Kontrolle über den Sender. (Möglicherweise verkaufte Abramowitsch den Großteil seiner Anteile an einen von Putins engsten Verbündeten, Juri Kowaltschuk, und den verbleibenden Rest an den Staat.) Im April des Jahres übernahm Gazprom dann Gussinskis Sender NTW mithilfe eines geschickten Schachzugs – das Unternehmen forderte 281 Millionen Dollar zurück, die es Media-Most geliehen hatte.
Putin und seine Männer wendeten also die erprobten Methoden aus Petersburger Tagen an, als sie den Hafen und die Ostsee-Schifffahrtsgesellschaft hatten übernehmen können, indem sie einfach deren Chef ins Gefängnis steckten. Doch in dieser frühen Phase ihrer Regierungszeit hätten sie ohne die Unterstützung der verbliebenen Jelzin-Getreuen im Kreml nicht viel ausrichten können. »Die Pläne, wie wir die Medien in die Hand des Staates bringen konnten, die letztlich zur Zerstörung der unabhängigen Medienlandschaft führten, stammten von ihnen [den Mitgliedern der Jelzin-Familie]«, sagte Leonid Newslin, der ehemalige Menatep-Tycoon, der das Geschehen von der Seitenlinie aus genau beobachtete. »Das hat Putin ihnen zu verdanken. (…) Wir hätten schon im ersten Jahr von Putins Amtszeit erkennen müssen, wohin das führt. Stattdessen schauten wir lieber weiter durch die rosarote Brille, weil es der Wirtschaft ansonsten gut zu gehen schien.« 71
Hinter dem Bühnenvorhang des Kreml, abseits der bombastischen Demonstration seiner Macht, habe Putin weiterhin Nerven gezeigt, meinte Pugatschow. Im Januar 2001, vor der Übernahme von NTW durch Gazprom, hatte er die Topjournalisten des Senders eingeladen, um sie von den wohlmeinenden Absichten des Staates zu überzeugen. Bevor er die Kreml-Bibliothek betrat und die Gäste begrüßte, sei er sichtbar fahrig gewesen, erinnerte sich Pugatschow: »Er fürchtete sich vor dem Treffen. Er wollte nicht hineingehen und mit ihnen reden. Ich musste ihm vorkauen, was er sagen sollte. Dort saß die Crème de la Crème der Moskauer Intellektuellen, Namen, die jeder kannte.« 72
Putin sei so unsicher gewesen, dass er eine der Journalistinnen zu sich gerufen und mit ihr in einen Nebenraum gegangen sei, wo er sie fragte, was sie hören wolle, erzählte Pugatschow. Swetlana Sorokina moderierte seit vier Jahren die beliebteste Polittalkshow auf NTW, Glas Naroda, »Die Stimme des Volkes«. »Er sagte zu ihr: ›Sie und ich, wir kommen beide aus Sankt Petersburg, das haben wir gemeinsam. Sagen Sie mir, was Sie gern hören würden‹«, berichtete Pugatschow. Die restlichen Journalisten, die in der Bibliothek warteten, glaubten, Putin hätte Sorokina beiseitegenommen, um die anderen auf dem falschen Fuß zu erwischen, ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Aber Pugatschow beharrte darauf, dass Putin nicht gewusst habe, was er sagen sollte. Außerdem war es eine klassische Taktik, um sich Verbündete zu schaffen.
Als Putin schließlich in die holzvertäfelte Kreml-Bibliothek trat, um die Journalisten zu begrüßen, hatte er sich Sorokinas Erwartungen wie ein Chamäleon angepasst und konnte den Anwesenden genau das erzählen, was sie hören wollten. Er behandelte den Termin wie eine KGB-Operation. In den folgenden dreieinhalb Stunden versicherte er den Journalisten, dass der Kreml nur Gutes im Sinn habe. Der Konflikt, erklärte er, betreffe nur Gussinski. Die Redaktionsteams sollten unverändert bestehen bleiben. Auch ein ausländischer Investor sei durchaus willkommen. Er wolle die inhaltliche Unabhängigkeit des Senders bewahren. Gazprom, versicherte er, sei nicht der Staat. Und was die Staatsanwaltschaft anginge, die ihre Aufmerksamkeit mittlerweile auf einzelne Journalisten und ihre finanziellen Verbindungen zu Gussinski richtete – über die hätte er keine Macht, sie unterstünde nicht seinem Kommando.
»Wir lernten an jenem Tag, dass die Staatsanwaltschaft eine völlig unabhängige Behörde ist – Putin wiederholte es mehrere Male«, erinnerte sich einer der Journalisten, Wiktor Schenderowitsch, später. Er hatte kaum glauben können, was er da hörte. »Er sagte, er sei bereit, uns zu helfen, und halte die Staatsanwaltschaft hin und wieder für übereifrig.« 73 Putin hatte den Journalisten erklärt: »Sie werden es mir nicht glauben, aber ich kann nichts gegen sie ausrichten. Wollen Sie, dass ich wieder zur Telefonjustiz zurückkehre?« 74 Ein deutlicher Verweis auf die Zeiten, in denen das sowjetische Politbüro den Gerichten und Staatsanwälten die Urteile von oben diktiert hatte.
Es war ein Schauspiel, wie es Putin später noch viele Male abliefern würde, wenn er darauf beharrte, dass er den offiziellen, korrekten Weg der Institutionen einhalte, und dabei verbarg, was hinter den Kulissen wirklich ablief. Wenn er die Erwartungen und Befürchtungen anderer in sich aufsog, lief er zu Hochform auf. Das war eine Taktik, die er in Dresden perfektioniert hatte. »Er war wie ein Spiegel«, sagte Pugatschow. »Er erzählt einfach jedem, was er hören will.« 75
Trotzdem verließen die Journalisten den Kreml mit einem unguten Gefühl. Wie sollten sie glauben, was sie gerade gehört hatten? Als Gazprom ihnen Anfang April eine neue Geschäftsführung vorsetzte, mit der Begründung, dass Gussinski seine Schulden nicht habe zurückzahlen können, organisierten die Journalisten ein Sit-in, um sich die Kontrolle über die Redaktion zu sichern, und brachten weiterhin kritische Berichte über den Kreml, ganz so, als hegten sie noch Hoffnungen, dass Putin seine Worte wirklich ernst gemeint hatte.
Doch am Morgen des elften Tages der Protestaktion traten Putins wahre Intentionen klar und deutlich zutage. Er hatte nichts von dem gemeint, was er über die fortwährende inhaltliche Unabhängigkeit des Senders gesagt hatte. Um vier Uhr morgens drang still und leise eine Schar von Sicherheitsbeamten in das Gebäude ein und nahm die Plätze des bisherigen Wachdienstes ein. Als die Journalisten am Vormittag zur Arbeit erschienen, wurden sie nur eingelassen, wenn sie der neuen Geschäftsführung die Treue schworen. Viele der dienstälteren Mitarbeiter kündigten sofort, als Protest dagegen, dass ihnen auf diese halbstarke Art und Weise ihre hart erkämpfte Unabhängigkeit genommen wurde. »In unserem Land findet ein schleichender Putsch statt«, erklärte Igor Malaschenko, ein Mitgründer des Senders. »Die Ziele gleichen denen des Augustputsches im Jahr 1991, und es stecken auch die gleichen Leute dahinter – Mitglieder des Geheimdienstes.« 76 »Wir tragen alle eine Mitschuld, weil wir den KGB wieder an die Macht gelassen haben«, erklärte Sergej Kowaljow, ein bekannter Menschenrechtsaktivist, vor Journalisten. 77
Putins Kreml hatte die Kontrolle über die Medien zurückerobert. Die freie Presse der Jelzin-Jahre gehörte der Vergangenheit an.