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»OPERATION ENERGIE«

Weit im Osten von Moskau, jenseits des Ural, wo die Birkenwälder einer Taiga aus Fichten und Sümpfen weichen, erstreckt sich die weitläufige Ebene der westsibirischen Ölregion. Seit sowjetische Geologen dort in den Sechzigerjahren enorme Öl- und Gasvorkommen entdeckten, hatte diese Region den Treibstoff für die globalen Ambitionen des Sowjetreiches geliefert. Sie war der Schlüssel zur Weltmacht des Landes.

Die Ingenieure, Ölbohrexperten und Geologen, die das fast menschenleere Gebiet erschlossen, wurden als sowjetische Helden gefeiert. Sie hatten gegen das Eis und die extremen Temperaturen im Winter angekämpft, um Bohrtürme und Pipelines in einer Region zu errichten, die sich in den Sommermonaten in unüberwindbare Seen und mückenverseuchte Sümpfe verwandelte. Ihre Anstrengungen trugen dazu bei, dass sich die Sowjetunion zeitweilig in eine Wirtschaftsmacht verwandelte, die Ende der Achtzigerjahre zum größten Öl- und Gasproduzenten der Welt aufstieg. Die Fördermenge wurde gnadenlos immer weiter hochgeschraubt, um den stetig erhöhten Erwartungen des Politbüros zu genügen. Man pumpte Wasser in Bohrlöcher, um das Öl herauszutreiben, das dem gefräßigen militärisch-industriellen Komplex als Treibstoff diente. Hier wurden zwei Drittel des sowjetischen Öls gefördert. Die Region war der Goldschatz des sowjetischen Reiches, auf dessen Territorium sich insgesamt 40 Prozent der weltweiten Gasvorkommen und 12 Prozent der Ölvorkommen außerhalb des Nahen Ostens befanden.

Ein Großteil des geförderten Öls und Gases wurde zu einem niedrigen Fixpreis auf dem Inlandsmarkt verkauft und subventionierte so die Massenproduktion von Panzern und anderen Rüstungsgütern, die das Sowjetreich für den Kampf gegen den Westen herstellte. 1 Die Exporte hingegen liefen strategischer ab: Sie waren das schwarze Gold, auf dem der weltweite Einfluss des Sowjetreiches beruhte. Die Wirtschaft der DDR funktionierte hauptsächlich, weil man sowjetisches Öl und Gas zu einem Bruchteil der Weltmarktpreise kaufen konnte, und im Rest des Ostblocks lief es ganz ähnlich. 2

Vor allem diese Exporte wurden vom KGB genauestens überwacht. Die Gewinne, die der staatliche Ölexportmonopolist Sojusneftexport durch die Differenz zwischen dem sowjetischen Preis und dem – sechsmal höheren – Weltmarktpreis machte, füllten die Kassen der Sowjetunion mit harten Devisen, womit sich Vorstöße in den Nahen Osten und nach Afrika, bewaffnete Konflikte und Aufstände sowie aktive Maßnahmen zur Destabilisierung des Westens finanzieren ließen.

Als mit der Sowjetunion auch die Kommandostruktur des Ölministeriums zusammenbrach, spaltete sich die Ölindustrie anfangs in vier separate, vertikal integrierte Produktionsgesellschaften auf: Lukoil, Jukos, Surgutneftegas und – für einen gewissen Zeitraum – Rosneft. Obwohl diese Betriebe offiziell immer noch dem Staat gehörten, wurden sie nun größtenteils von den Direktoren übernommen, den Ölgenerälen, die sie zu Sowjetzeiten geführt hatten, während die Mafiaclans, die in vielen Städten Russlands Angst und Schrecken verbreiteten, versuchten, ebenfalls irgendwie einen Fuß in die Tür zu bekommen. 3 Da die Ölfelder in Westsibirien durch das jahrzehntelange Missmanagement der Sowjets in weiten Teilen leergepumpt waren, brach die Fördermenge ein. Dennoch steuerte der Auslandsarm des KGB in der ersten Hälfte der Neunzigerjahre unbemerkt und aus dem Hintergrund heraus den Löwenanteil der Ölexporte. Die Produzenten waren angewiesen, bis zu 80 Prozent ihrer Erzeugnisse zum niedrigen Festpreis an den Staat zu verkaufen, sodass ein System aus spezexportery, ausgebildeten Exportspezialisten, die eng mit dem KGB oder deren Mafiaverbündeten zusammenarbeiteten, die Differenz zum Weltmarktpreis einstreichen konnte. 4 Oft flossen die Summen, die auf diese Weise hereinkamen, in die schwarzen Kassen des KGB oder des Kreml, um Wahlkämpfe zu finanzieren oder sicherzustellen, dass Abstimmungen mit den gewünschten Ergebnissen endeten – oder sie verschwanden einfach.

Als die strategisch wichtigsten und lukrativsten Branchen der Sowjetindustrie Mitte der Neunzigerjahre im Rahmen der Darlehen-gegen-Anteile-Versteigerungen veräußert wurden, gelangten viele dieser Goldgruben der KGB-Netzwerke in private Hände. Die Kontrolle über Betriebe wie Jukos oder Sibneft, einen benachbarten Ölproduzenten in Westsibirien, gingen auf junge Banker mit Kontakten zur Jelzin-Regierung über, so auch auf Chodorkowski und, mit Unterstützung durch Beresowski, auf Abramowitsch, die sie für 300 bzw. 100 Millionen Dollar erstanden. Das Kapital, auf das die jungen Tycoons Zugriff hatten, weil ihre Banken Staatsgelder verwalteten, verschaffte ihnen im Kampf um die natürlichen Ressourcen des Landes die Oberhand. Derartige Summen konnten die KGB-Leute nicht aufbringen.

Die Folgen waren enorm. Öl machte – trotz des zu der Zeit niedrigen Weltmarktpreises – immer noch einen großen Anteil der Exporteinnahmen des Landes aus. 5 Chodorkowskis Männer etwa schufen gleich nach der Firmenübernahme 1996 eigene Vertriebskanäle für Jukos. Die Gewinne wurden auf den privaten Offshore-Konten von Chodorkowskis Menatep-Gruppe geparkt, auf die der russische Staat keinen Zugriff hatte, während der Konzern Schlupflöcher in den Gesetzen ausfindig machte, um die Steuerlast minimal zu halten. Der Schwerpunkt des Kräfteverhältnisses verschob sich eindeutig in Richtung der Tycoons. Die Privatisierung der Gewinne aus dem Ölexport änderte alles. Sie machte Menschen wie Chodorkowski und Beresowski zu echten Oligarchen, die in der Lage waren, Jelzins Leute zu bestechen und dafür zu sorgen, dass Parlamentsabstimmungen in ihrem Sinne ausgingen. Laut Andrej Pannikow, dem einstigen KGB-Mitglied, das ins Ölgeschäft eingestiegen war, bedrohte die Aufspaltung der Ölbranche in mehrere Privatbetriebe den Zusammenhalt des russischen Staates und hätte niemals passieren dürfen: »Ich hätte das Staatsmonopol niemals zerstört. Ich hätte alle Exporte in Staatshand behalten.« 6

Für Putin und seine KGB-Männer war das natürlich ein Thema, das sofort ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Der globale Ölpreis setzte zum Höhenflug an, kurz nachdem Putin im Sommer 1999 von Jelzin zum bevorzugten Nachfolger erklärt worden war. Mitte 2002 verkündete Chodorkowski, der als ehrgeiziger Chemiestudent mit leiser Stimme in jungen Jahren damit angefangen hatte, Discoabende für den Komsomol zu organisieren, dass sich das Privatvermögen, das er durch eine 36 Prozent umfassende Beteiligung an der Menatep-Bank erlangt hatte, auf 7 Milliarden Dollar belief. 7 Das war ein gewaltiger Sprung im Vergleich zu 1995, als Menatep Jukos im Rahmen der Darlehen-gegen-Anteile-Versteigerungen für 300 Millionen Dollar aufgekauft hatte und das Unternehmen selbst noch in Schulden versunken war. 8 Diese Enthüllung machte Chodorkowski offiziell zum reichsten Mann Russlands, zu einer Zeit, in der der russische Staatshaushalt 67 Milliarden Dollar betrug und Russlands größter Staatskonzern Gazprom an der Börse für 25 Milliarden Dollar gehandelt wurde.

Chodorkowski und seine Geschäftspartner bei Menatep waren die ersten russischen Tycoons gewesen, die ihre Beteiligungen offenlegten. Die meisten Oligarchen versteckten sich hinter einem Geflecht aus Briefkastenfirmen, aus Angst, dass der Staat nach der kontroversen Privatisierung in den Neunzigerjahren auf Rache sinnen könnte. Chodorkowski wagte sich unter anderem deshalb an die Öffentlichkeit, weil Putins Einzug ins Präsidentenamt als Signal für die Legalisierung des Zustands verstanden wurde, der sich durch den chaotischen Übergang zur Marktwirtschaft ergeben hatte – nun galt die Beute der Neunzigerjahre als gesichert. Das war einer der Gründe dafür, dass Putin so viel Unterstützung erhalten hatte, vor allem von der Jelzin-Familie. Trotz seiner gnadenlosen Jagd auf die Medienmogule hatte Putin nie angedeutet, auch andere Unternehmen zurück in den Staatsbesitz holen zu wollen. Und obwohl er oftmals damit gedroht hatte, die Oligarchen an die Leine zu legen, hatte er doch stets beharrt, die Privatisierungen der Neunzigerjahre anzuerkennen. Es schien, als hätte Russland durch Chodorkowskis Offenlegung einen weiteren Schritt hin zu einer reifen und fortschrittlichen Marktwirtschaft getan. Die Angelegenheit wurde als Durchbruch in Sachen Transparenz gefeiert, war aber gleichzeitig wohl eine Wette Chodorkowskis auf die Macht des Marktes, ihn zu beschützen. Er setzte darauf, nach den Regeln der westlichen Märkte spielen zu können.

Doch für die silowiki, die mit Putin an die Macht gekommen waren, stellte Chodorkowskis neuer Status als reichster Mann Russlands – der sich dazu noch ihrer Kontrolle entzog – ein rotes Tuch dar. Sie hatten seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion darauf gelauert, Russlands Macht wiederherzustellen. Putins Einzug ins Präsidentenamt, erreicht durch subtile Täuschungen und Versprechen gegenüber der Jelzin-Familie, sollte der erste Schritt in Richtung dieses Ziels sein. Die KGB-Männer hatten die Ölindustrie des Landes immer als wichtiges Kapital im geopolitischen Machtspiel betrachtet. Ihrer Ansicht nach war es enorm wichtig, die russischen Ölvorkommen unter staatliche Kontrolle zu bringen, sowohl um ihre eigene Macht zu sichern als auch um Russlands Position gegenüber dem Westen aufzuwerten. Und was natürlich ebenfalls nicht schadete, war, dass sie sich dabei die eigenen Taschen füllen könnten.

Die Frage lautete nun, wie sie vorgehen sollten. Im Gegensatz zu den Kommunisten zog die neue Generation von silowiki – die dem Teil des KGB entstammten, der die Marktreformen überhaupt erst auf den Weg gebracht hatte – eine offene Wiederverstaatlichungskampagne gar nicht in Erwägung: Sie waren stets für den Markt eingetreten. Stattdessen zielten sie darauf ab, den Markt als Waffe einzusetzen und ihn dadurch umzugestalten. Sie wollten eine Art Quasistaatskapitalismus erschaffen, der ihre – oder wie sie es sahen: Russlands – Macht vergrößern würde.

In der Gasbranche ließ sich das deutlich leichter bewerkstelligen als im Ölsektor. Anders als beim Öl bestand hier noch ein fast vollständiges Monopol in Staatshand. Gazprom, der staatliche Gasgigant, war das strategisch wichtigste Wirtschaftsgut des Landes. Da das Unternehmen über die größten Gasvorkommen der Erde verfügte, war es der Weltmarktführer in der Gasproduktion und brachte dem Land die meisten Steuereinnahmen ein. Gazprom versorgte nicht nur die Häuser der Russen mit Wärme und Licht, sondern deckte auch 25 Prozent des europäischen Gasbedarfs ab. Dieser Status als vorherrschender Lieferant in weiten Teilen Mittel- und Osteuropas sowie in der Ukraine und in Belarus ließ sich als Mittel zur politischen Einflussnahme benutzen, während die enormen Gewinne und Vermögenswerte des Unternehmens Putins Leuten eine Bandbreite an Möglichkeiten boten.

Unter Jelzin hatte die Geschäftsleitung von Gazprom weite Teile des Unternehmens übernommen und zu ihrem eigenen Reich ausgebaut. Aber Putin machte sich gleich zu Beginn seiner Amtszeit daran, sie durch Verbündete auszutauschen; es kam zu einem kompletten Wechsel, nachdem eine Überprüfung durch die Anteilseigner ergeben hatte, dass die Manager aus Jelzin-Tagen eine Reihe von Gasfeldern und andere Güter aus dem Unternehmen herausgelöst und an Firmen überschrieben hatten, in die sie selbst involviert waren. Die Männer, die Putin jetzt bei Gazprom installierte, hatten alle bereits Führungspositionen im Petersburger Hafen bekleidet, dem strategischen Standort, den Putins silowiki erobert hatten, als sie erste Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit der Tambow-Mafia sammelten. Das war der erste Hinweis darauf, dass die damals geschmiedete Allianz nun auch auf staatlicher Ebene agierte. Der neue Chef von Gazprom war der neununddreißig Jahre alte Alexej Miller, ein kleiner, schnauzbärtiger Mann, der erst Putins Stellvertreter im Komitee für Außenbeziehungen im Petersburger Rathaus und später Direktor des Hafens gewesen war. 9

Die im Privatbesitz befindliche Ölindustrie stellte eine deutlich größere Herausforderung dar. In Sankt Petersburg hatten die silowiki die Strafverfolgungsbehörden nach ihrem Willen einspannen können, um Konkurrenten auszuschalten. Doch im Kampf gegen die Moskauer Oligarchen lagen die Dinge anders. Obwohl Putins Gefolgsleute über den FSB sehr viel Macht ausübten, hatten sie doch noch nicht das gesamte System unter ihre Kontrolle gebracht, und die Tycoons waren etablierte Größen, die auch im Westen bekannt waren und Unternehmen aufgebaut hatten, die an westlichen Börsen gehandelt wurden. Somit stand die Fähigkeit des Landes, ausländische Investitionen anzuziehen, auf dem Spiel, und der pragmatisch veranlagte Putin verstand, dass diese weiterhin entscheidend sein würden, wenn er die wirtschaftliche Erholung nach der Krise der Neunzigerjahre vorantreiben wollte.

Die silowiki gingen die sogenannte »Operation Energie« zunächst unauffällig an. Die Jelzin-Familie war immer noch davon überzeugt, dass Putin ein Mann des Marktes war. Sie betrachteten ihn als Präsidenten in Ausbildung, der das Regieren gerade erst lernte. Im ersten Jahr seiner Amtszeit habe er Englischintensivunterricht genommen, er habe sich beibringen lassen, wie man große Mengen an Dokumenten möglichst schnell durchlas, und sich eingehend über die Verwaltung und Geschichte des russischen Staates informiert, erzählte ein hochrangiger Bankier mit Verbindungen zum KGB, der es wissen musste. Er sagte: »Das System zur Ausbildung von Führungskräften war zusammengebrochen.« 10

Die Jelzin-Familie glaubte weiterhin fest an Putins Loyalität und an seine Folgsamkeit. Anscheinend meinte sie auch, in seiner ersten Amtszeit über einen Großteil der Wirtschaft bestimmen zu können, während Putin anfangs anzudeuten schien, dass er im Anschluss nicht wieder antreten wolle. Die Familie fühlte sich so sicher und war sich der Ambitionen der Petersburger KGBler in Bezug auf die Ölindustrie so wenig bewusst, dass sie anfing, Pläne für eine Privatisierung des letzten staatlichen Ölriesen Rosneft zu schmieden. Roman Abramowitsch hatte schon lange ein Auge auf das Unternehmen geworfen – er und Beresowski hatten gehofft, es mit Sibneft zusammenlegen zu können, als die Privatisierung 1997 zum ersten Mal aufkam. Nun, da sie ihre Zukunft für gesichert hielten, erzählte Pugatschow, habe Woloschin sogar schon ein Dekret zum Verkauf von Rosneft vorbereitet gehabt, das Putin nur hätte unterschreiben müssen. Hinter den Kulissen hatte Abramowitsch unauffällig immer wieder versucht, einer Privatisierung den Weg zu ebnen. In einem Korridor von Putins Residenz Nowo-Ogarjowo stand plötzlich ein Ständer mit eleganten Anzügen und Schuhen aus Italien – eine Aufmerksamkeit von Abramowitsch, meinte Pugatschow. »Ich sagte: ›Wolodja, wofür um alles in der Welt brauchen Sie das alles? Sie sind der Präsident eines der größten Länder der Erde. Da können Sie sich Ihre Anzüge doch wohl selbst kaufen! Sie wollen diese Bestechung nicht. Die werden Gegenleistungen verlangen.‹« 11

Für Pugatschow stellten Abramowitschs Bemühungen den Tropfen dar, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ein Sprecher von Abramowitsch streitet dies ab. Er hielt es für unerlässlich, das letzte staatliche Ölunternehmen vor der »Familie« zu schützen. Seit sein Mitwirken an Putins Aufstieg auch seine Position immer weiter verbessert hatte, schwankte seine Loyalität zwischen Putins Petersburger KGB-Männern und der Jelzin-Familie, je nachdem, was gerade politisch geboten war, und er behielt seine wahren Ansichten meistens für sich. Doch in dieser Sache schlug er sich entschieden auf die Seite der silowiki. »Sie [die Jelzin-Familie] hatten den Präsidenten in Woloschins Datscha eingeladen. Sie bestellten ihn zu sich. Es war absolut ungehörig«, erinnerte er sich. »Ich fragte: ›Warum fahren Sie dorthin? Warum sollte es [Rosneft] privatisiert werden, warum denken Sie darüber nach? Wir haben kein Geld im Haushalt. Wie wollen Sie ohne Rosneft auskommen, wovon wollen Sie die Gehälter bezahlen?‹« 12

Im Hintergrund arbeiteten die silowiki bereits selbst daran, dass Rosneft nicht in private Hände fiel. Laut einem hochrangigen Bankier mit Verbindungen in die Sicherheitsbehörden hatten sie hinter dem Rücken der Jelzin-Familie still und leise ein parallel agierendes Regierungssystem aufgebaut. 13 Hauptinitiatoren waren laut diesem Bankier Igor Setschin, Putins treuer KGB-Kollege aus Sankt Petersburg, der zum stellvertretenden Leiter der Präsidialverwaltung ernannt worden war, und noch weiter im Hintergrund Gennadi Timtschenko, der mutmaßliche ehemalige KGB-Agent und enge Verbündete Putins aus den Zeiten des Petersburger Ölterminals. In jenen Tagen, sagte der Bankier, sei Timtschenko einer der einflussreichsten Akteure in Putins Umfeld gewesen: »Er erlangte enorm viel Macht, sobald Putin Präsident geworden war.« Doch Putin hielt ihn vor der Öffentlichkeit verborgen. »Er war im Grunde unsichtbar. Niemand bekam ihn je zu Gesicht«, sagte eine weitere Putin nahestehende Person. 14 (Timtschenko ließ über seine Anwälte ausrichten, dass jede Andeutung, er habe in irgendeiner Form zum Aufbau eines parallelen Regierungssystems beigetragen, »absolut falsch, ja geradezu absurd« sei. Timtschenko habe sich »schlicht nie auf politische Angelegenheiten eingelassen und auch keine politischen Angelegenheiten mit Herrn Putin oder dessen Mitarbeitern oder Ministern besprochen«.)

Eine der ersten Aufgaben der Männer bestand darin, Putins Wiederwahl sicherzustellen, völlig unabhängig davon, was er selbst zu dem Zeitpunkt von einer zweiten Amtszeit hielt. Um das zu erreichen, mussten sie ihre eigene Machtposition stärken. »Ihr Auftrag lautete, Zugriff auf weitere Geldströme zu erlangen«, sagte der Bankier. »Sie fürchteten, dass die Familie, dass Abramowitsch bestimmte Wirtschaftsbereiche dominieren könnte.« 15

Im Hintergrund hatte eine größere Gruppe von KGB-Leuten in der Zwischenzeit eine Liste mit Zielen in der Ölbranche zusammengestellt. 16 Anfangs nahm man Surgutneftegas ins Visier, das westsibirische Ölförderungsunternehmen von Wladimir Bogdanow, der die Geschäfte schon seit Sowjetzeiten leitete. Aber Bogdanow und Surgutneftegas verfügten bereits über enge Beziehungen zu Putins KGB-Leuten, über Timtschenko, dessen Ölhandelsgesellschaft quasi ein Monopol auf Exporte aus Surguts Raffinerie in Kirischi hatte. »Timtschenko brachte Bogdanow in den Kreml, damit Putin ihn bei einer Tasse Tee kennenlernen konnte«, berichtete der hochrangige Bankier mit Verbindungen in die Sicherheitsbehörden. »Bei diesem Treffen sagte Bogdanow zu Putin: ›Es ist Ihr Unternehmen. Ich stehe fest auf Ihrer Seite. Sagen Sie mir einfach, wie ich das Geld ausgeben soll.‹«

Dann hatten die silowiki ihre Aufmerksamkeit auf Lukoil gerichtet, den zu der Zeit größten Ölkonzern Russlands, der entstanden war, als der ehemalige stellvertretende Öl- und Gasminister der Sowjetunion, Wagit Alekperow, nach dem Zusammenbruch der Union drei westsibirische Ölfirmen fusioniert hatte. Alekperow war ein gerissener Aserbaidschaner, der federführend an der Aufsplittung der russischen Ölindustrie beteiligt gewesen war. Er hatte den russischen Geheimdienstnetzwerken immer nahegestanden – Lukoil hatte sein Öl anfangs über Urals Trading verkauft, die Ölhandelsgesellschaft, die der ehemalige KGB-Agent und Timtschenko-Partner Andrej Pannikow gegründet hatte, und es dauerte nicht lange, bevor Putins Männer Lukoil auf Linie gebracht hatten.

Der erste Schlag gegen Lukoil erfolgte im Sommer 2000, während der ersten Offensive des Kreml gegen die Oligarchen. Die Steuerpolizei erklärte, dass sie wegen des Verdachts auf Steuerbetrug Ermittlungen gegen Alekperow eingeleitet habe. Diese seien Teil einer branchenweiten Aktion, von der später behauptet wurde, sie habe Steuerhinterziehung in Höhe von insgesamt 9 Milliarden Dollar aufgedeckt, die über spezielle Offshore-Zonen mitten in Russland stattgefunden habe. 17 Doch so richtig nahm der Druck auf Lukoil erst im September 2002 zu. Damals wurde der erste Vizepräsident von Lukoil, Sergej Kukura, eines frühen Morgens von maskierten Männern in Polizeiuniformen entführt, die ihn und seinen Fahrer offensichtlich außer Gefecht setzten, indem sie ihnen Heroin spritzten und ihnen Säcke über den Kopf zogen. 18 Kukura tauchte erst dreizehn Tage später wieder auf, konnte aber anscheinend nicht viel dazu sagen, wer hinter dem Angriff steckte. Vier Monate später stellte die russische Polizei die Untersuchung der Entführung mysteriöserweise ein. 19 Eine Woche zuvor hatte die Regierung verkündet, Lukoil sei willens, Steuernachzahlungen in Höhe von 103 Millionen Dollar zu leisten – genau die Summe, die der Staat angeblich durch Lukoils Aktivitäten im Zusammenhang mit den inländischen Offshore-Zonen verloren hatte. 20

Wenn Alekperow und Lukoil eine Art Abkommen mit der neuen Regierung geschlossen hatten, gab es, wie bei Surgut, keinen Grund mehr, das Unternehmen offiziell zu übernehmen. Später erzählte mir eine Führungskraft aus der Ölbranche, dass Alekperow sich bereit erklärt habe, einen Teil seiner Anteile im Auftrag von Putin zu behalten – es war eine Art Tarnsystem für den Kreml, wie es in den strategisch wichtigsten Branchen Russlands bald weit verbreitet war. 21 (Lukoil bestreitet allerdings, dass ein solches System existiert.)

Doch während Lukoil sich dem Willen der neuen Meister offenbar schnell gefügt hatte, befand sich ein großer Teil der Ölfördermenge für den Kreml weiterhin außer Reichweite. Das wollten die silowiki unbedingt ändern, und so steuerten sie auf eine Auseinandersetzung zu, die Putins Amtszeit prägen sollte, weil sie das Gesicht der russischen Ölindustrie veränderte und das Land endgültig in eine Art staatskapitalistische Vetternwirtschaft verwandelte, in der die strategischen Gewinne so gelenkt wurden, dass sie in die Hände enger Verbündeter flossen. Auf diese Weise wurde die Macht von Putins KGB-Männern zementiert, was schließlich auch Russlands Rückkehr auf die Weltbühne besiegelte. Außerdem sollte der Konflikt den reichsten Geschäftsmann Russlands entthronen und das gesamte russische Justizsystem auf den Kopf stellen.

Michail Chodorkowski war von allen Moskauer Oligarchen am meisten darum bemüht, sein Unternehmen für den Westen zu öffnen; er warb aktiv um westliche Investoren und Unterstützer. Nachdem er jahrelang ein Bad Boy der darwinistisch geprägten russischen Wirtschaftsszene gewesen war, verkörperte er mit seinen Unternehmen nun den Vorreiter in Sachen westlicher Corporate-Governance-Grundsätze und Transparenz. Der Konflikt, der sich auftat, als Putins silowiki Chodorkowski die Kontrolle über die zu Jukos gehörigen westsibirischen Ölfelder entreißen wollten, war zugleich ein Kampf der Visionen in Bezug auf Russlands Zukunft und eine Schlacht um ein Imperium. Er war die Definition der Rückkehr des russischen Reiches und von Putins Bemühungen, sein Land wieder zu einer unabhängigen Kraft gegenüber dem Westen zu machen. Aber zugleich war die Auseinandersetzung zutiefst persönlich. Ihre Wurzeln reichten bis in das Ende der Neunzigerjahre, als Chodorkowski Putins engsten Verbündeten, die einst im Auftrag des KGB Mittel der Kommunistischen Partei in den Westen geschleust hatten, einen ihrer letzten Schwarzgeldkanäle entriss.

Chodorkowskis Übernahme der Östlichen Ölgesellschaft, der VNK, war eine der letzten großen Privatisierungen innerhalb der Ölbranche in den Neunzigerjahren gewesen – und dass ihnen dieses Unternehmen vor der Nase weggeschnappt wurde, hatte das Fass für Putins Männer zum Überlaufen gebracht. »Das war der erste Konflikt zwischen Putins Gruppe und Jukos und gleichzeitig der schwerwiegendste«, sagte Wladimir Milow, ein ehemaliger stellvertretender Energieminister Russlands. »Damit fing alles an.« 22

*

Wir sitzen weit entfernt von alldem in einem eichenvertäfelten Konferenzzimmer in seinem Londoner Büro mit Blick auf die Laubkronen des Hanover Square, als Michail Chodorkowski – nach dem Absitzen einer zehnjährigen Haftstrafe und mittlerweile im erzwungenen Exil fernab der Heimat – behauptet, damals nichts von den Verbindungen zwischen VNK und Putins KGB-Leuten gewusst zu haben. »Hätte ich geahnt, welch ein enormes Interesse der FSB an den Strukturen von VNK hatte, wäre ich das Risiko wahrscheinlich nicht eingegangen«, sagte er. 23 Bei unserem Gespräch hatte er ein schlichtes Stepphemd an, gar nicht unähnlich der wattierten Jacke, die er im sibirischen Gefangenenlager hatte tragen müssen, als sei das eine Gewohnheit, die er nicht mehr loswurde.

Ende der Neunzigerjahre hatte es Chodorkowski inmitten des chaotischen Übergangs zur Marktwirtschaft ganz nach oben geschafft, und VNK war eine der letzten Trophäen, die in der russischen Ölindustrie noch zu erringen war. Als das Unternehmen 1997 privatisiert werden sollte, wurde der Verkauf als Gegenstück zu den umstrittenen Darlehen-gegen-Anteile-Schnäppchen präsentiert. Für die Ölfördergesellschaft, zu der die Atschinsk-Raffinerie und die Tomskneft-Ölfelder rund um die zentralsibirische Universitätsstadt Tomsk gehörten, war ein Preis von sage und schreibe 1 Milliarde Dollar angesetzt, fast das Zehnfache dessen, was bei den Darlehen-gegen-Anteile-Versteigerungen von Jukos und Sibneft nur ein Jahr zuvor gezahlt worden war. 24 Anatoli Tschubais, der unbeugsame Privatisierungszar, war fest entschlossen, der Welt zu zeigen, dass Russland sich zu einer echten, auf festen Regeln beruhenden Marktwirtschaft entwickelte. Er wollte, dass VNK zum wahren Marktwert über den Tisch ging. 25

Das einzige Problem war, dass die Männer, die das Unternehmen leiteten, offenbar der Ansicht waren, Tschubais hätte es ihnen versprochen. VNK sollte der Trostpreis für die KGB-Männer sein, die hinter der Firma standen, nachdem sie hatten zusehen müssen, wie fast der gesamte Rest der russischen Ölindustrie von den unabhängigen Tycoons verschlungen worden war. Das Unternehmen diente den Ex-KGBlern als obschak, als Geldquelle, seit es 1994 gegründet worden war. Ein Großteil der Ölexporte war über Handelsgesellschaften der kaum bekannten österreichischen Firma IMAG gelaufen, deren Geschäftsführer Andrej Akimow, ein hochrangiger Auslandsagent, bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion deren Auslandsbank in Österreich, die Donau Bank, geleitet hatte. 26 Akimow war der jüngste sowjetische Bankchef aller Zeiten gewesen, als man ihm mit vierunddreißig Jahren die Donau Bank übertrug. Zur selben Zeit fing der KGB an, Gelder der Kommunistischen Partei über ausländische Bankkonten aus Russland hinauszuschaffen, und Wien war schon lange ein strategischer Knotenpunkt für den Transfer sowjetischer Mittel in den Westen gewesen. 27

Akimows Kontakte in die russischen Geheimdienstnetzwerke waren zahlreich und intensiv. 28 Sein Stellvertreter bei IMAG war ein Wirtschaftswissenschaftler, der Primakow am Institut für Weltwirtschaft, dem Tummelplatz der Auslandsagenten, dabei assistiert hatte, die Vorläufer der Perestroika-Reformen auszuarbeiten. Er hieß Alexander Medwedew und sollte sich zu Akimows engstem Vertrauten entwickeln, 29 während IMAG eine der ersten Finanzquellen für Gennadi Timtschenkos Handelsaktivitäten wurde.

Akimow war so fest davon überzeugt gewesen, den Zuschlag für VNK zu erhalten, dass er Medwedew schon vor dem Kauf zum Vizepräsidenten für Finanzen ernannt hatte. 30 Für IMAG ging es um Ölgeschäfte im Wert von Hunderten Millionen Dollar. VNK hatte sein Öl seit der Gründung des Unternehmens größtenteils über eine Handelsgesellschaft namens East Petroleum Ltd. vertrieben, die ganz in der Nähe des Bürogebäudes von IMAG registriert war und von einem weiteren Vertrauten Akimows geleitet wurde, Jewgeni Rybin.

Als die 84 Prozent Unternehmensanteile, die der Staat an VNK gehalten hatte, versteigert wurden und Chodorkowski sich entschloss, darauf zu bieten, stach er in ein Hornissennest. Akimow, der sich die Unterstützung eines amerikanischen Bankers namens Charlie Ryan gesichert hatte, dem Beziehungen zu Putin nachgesagt wurden, seit er in den frühen Neunzigerjahren kurz bei der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in Sankt Petersburg tätig gewesen war, war fest entschlossen, die Auktion zu gewinnen, egal zu welchem Preis. Die beiden Männer waren sich von Anfang an darüber im Klaren, dass auch Chodorkowski Interesse hatte. »Wir entschieden, dass wir VNK kaufen würden«, sagte Ryan. »Sascha [Medwedew], Andrej und ich wollten ein geeignetes Angebot abgeben.« 31

Doch der Verkauf entwickelte sich zu einem zermürbenden Gefecht zwischen Chodorkowski und Akimows Leuten und endete fast genauso zwielichtig wie die Darlehen-gegen-Anteile-Versteigerungen. Die 84 Prozent des Staates sollten in zwei Teilen verkauft werden – ein Paket von 50 Prozent minus einem Anteil konnte bei einer Versteigerung gegen Geld erworben werden, der Rest im Rahmen einer Investitionsausschreibung. Aber während der erste Teil des Verkaufs hinter verschlossenen Türen stattfand und sich daher jeder Kontrolle entzog, fiel der zweite letztlich aus, weil es nur einen Bieter gab, eine Briefkastenfirma, hinter der Chodorkowskis Jukos steckte. 32

Statt einen neuen Transparenzstandard zu setzen, wirkte diese Privatisierung hinterher also genauso korrupt wie die vorherigen. Die Regierung verkündete, dass Chodorkowskis Konzern Jukos bei der Versteigerung gegen Geld durch ein Gebot in Höhe von 775 Millionen Dollar 45 Prozent der Anteile erlangt habe. Weitere 9 Prozent hatte er sich bereits auf dem freien Markt gesichert, sodass Chodorkowski nun die Mehrheit besaß. 33 Jukos zahlte deutlich mehr, als je zuvor bei einer Privatisierung geboten worden war, aber laut Ryan hatte er die Versteigerung trotzdem zu seinen Gunsten manipuliert und Akimows Leuten keine Chance gelassen. Chodorkowskis Männer hätten Akimow und sein Team bedroht und die russischen Sicherheitsbehörden dafür bezahlt, zwischen der ersten und der zweiten Auktion eine Razzia beim staatlichen Immobilienfonds durchzuführen, der die Privatisierung organisierte. 34 Bei der Razzia seien Unterlagen zu Akimows Angebot beschlagnahmt worden, was sich auf den Ausgang der Versteigerung ausgewirkt habe, beklagte Ryan. »Sie hatten unser Angebot gesehen und wussten, was wir bieten würden. Daraufhin versuchten sie mehr Geld zu beschaffen und boten als Garantie ihre eigenen Ölexporte an, auch die von VNK, bevor sie das Unternehmen überhaupt in Besitz genommen hatten.« Chodorkowski und sein Team schafften es, mehr Geld aufzubringen als Akimows Leute, und gewannen die erste Auktion. An der zweiten hatten sie im Grunde niemals teilnehmen wollen.

Chodorkowski bestritt, in derartige Machenschaften involviert gewesen zu sein. Doch was nun folgte, war ein langwieriger Kampf um die Exporte von VNK, denn Akimows Team hatte versprochen, sie auch in den kommenden zwanzig Jahre über Jewgeni Rybins East Petroleum zu verkaufen – eine weitere Absicherung, damit die Gewinne des Unternehmens nicht durch die Hände von Außenstehenden flossen. 35 Chodorkowski weigerte sich, den Vertrag zu verlängern, und so verlagerte sich der Konflikt aus dem Vorstandssaal erst vor Gericht und schließlich auf die Straße. Zwei Mordanschläge auf Rybin folgten. Der erste geschah an einem verschneiten Abend im November 1998 auf einer Moskauer Straße, wo jemand auf ihn schoss. Der zweite ereignete sich im März des folgenden Jahres, als eine Bombe explodierte und Rybins Fahrer tötete. Der bis ins Mark erschütterte Rybin verließ Hals über Kopf das Land und tauchte für die nächsten fünf Jahre unter.

Akimow und seine Männer empfanden die Übernahme von VNK durch Chodorkowski als Anmaßung und Demütigung. Im Chaos nach der Finanzkrise im August 1998 hatte der Kampf um das Unternehmen nur wenig Aufmerksamkeit auf sich gezogen, aber er war wegweisend für die bevorstehende Auseinandersetzung um Russlands Ölsektor. Von da an sann Akimow auf Rache. Und auch Rybin, der sich in Wien versteckte, fing an, kompromittierendes Material über Chodorkowskis Menatep-Gruppe zu sammeln und dieses an die russischen Strafverfolgungsbehörden weiterzuleiten, vor allem an befreundete Beamte beim FSB. 36

Anfangs zeigten Rybins Bemühungen keine Erfolge. Aber nachdem Putin an die Macht gekommen war, veränderte sich die Atmosphäre im Land. Laut einem hochrangigen Bankier mit Einblick in die Vorgänge starteten Setschin und einer von Akimows Partnern eine Kampagne, um den Präsidenten davon zu überzeugen, dass Chodorkowski eine Gefahr für seine Macht darstellte. Rybin hatte zudem Jegor Ligatschow ins Boot geholt, einen prominenten Vertreter der alten Garde aus dem Politbüro, der mittlerweile Abgeordneter des sibirischen Wahlkreises von Tomsk war, wo sich die Ölfelder von VNK befanden. 37 Ligatschow übermittelte Putin eine eindringliche Botschaft: Chodorkowski bedrohe seine Regierungsmacht; seine Männer hätten alle Kapitalströme des Landes unter Kontrolle und würden schon bald über mehr Geld verfügen als der Staat selbst – er habe bereits jetzt mehr als die Hälfte aller einflussreichen Staatsbeamten in der Tasche. 38

Bei Putin, der gerade damit beschäftigt war, seine Position gegenüber konkurrierenden Gruppen zu stärken, zeitigte diese Nachricht Wirkung. Dennoch zögerte er zunächst, den Aufforderungen Folge zu leisten und gegen Jukos vorzugehen. Das Unternehmen war zu groß und zu etabliert auf den westlichen Märkten – das Vorhaben schien zu kompliziert, sagte ein hochrangiger Bankier aus dem Umfeld der Sicherheitsbehörden. 39 Jukos war das bekannteste, am meisten gehandelte Unternehmen des Landes. Es war zum Symbol für Russlands neue Marktwirtschaft geworden.

Vielleicht wäre es niemals zur Eskalation gekommen, wenn Chodorkowski sich anders verhalten hätte. Doch statt sich dem Willen des Kreml zu beugen, wie Lukoil und Surgutneftegas zuvor, trieb Chodorkowski die Sache immer weiter auf die Spitze, bis tatsächlich ein Kampf um die Vorherrschaft in Russland und die Ausrichtung des Landes daraus geworden war. Er war bereit, sein Leben darauf zu verwetten, dass Putins Männer es nicht wagen würden, ihn zu verhaften; er glaubte, ihre Macht reiche nicht aus und sie würden Russlands fragile Marktwirtschaft nicht dafür aufs Spiel setzen. Das war in vielerlei Hinsicht typisch für ihn. »Beim Aufbau seines Unternehmens legte er eine geradezu manische Energie an den Tag«, erinnerte sich sein Berater Christian Michel. »Nur eine Kugel konnte ihn aufhalten.« 40

*

Mittlerweile gibt Chodorkowski selbst zu, dass er ein adrenalinschik sei, ein Adrenalinjunkie, dem das Bewusstsein für Gefahren abgeht. Das habe er bereits viele Jahre vor der Schlacht um Jukos erkannt, als Chemiestudent am Mendelejew-Institut in Moskau, wo er sich auf Sprengstoffe spezialisiert hatte. »Ich bin ein Mensch, der aus irgendwelchen unbekannten Gründen keine Angst kennt«, erzählte er mir mit einem schiefen Grinsen in einer Kellerbar in Zürich, kurz nachdem er aus der zehnjährigen Haft entlassen worden war. »Ich habe mich nie gefürchtet, wenn ich eine Bombe baute oder in der Hand hielt. Mein Lieblingshobby war immer Felsklettern ohne Sicherung. Und das lag nicht daran, dass ich meine Furcht irgendwie überwunden hätte – ich hatte einfach keine. In den ganzen Jahren im Gefängnis habe ich immer absolut ruhig geschlafen. Obwohl ich mehrmals mit einem Messer angegriffen wurde, konnte ich mich danach auf meine Pritsche legen und friedlich einschlummern. Manchmal war das sogar für mich selbst schwer zu verstehen, wenn mich die Leute fragten, ob ich wüsste, dass hinter meinem Rücken ein Messer auftauchen könnte. Ich hatte einfach keine Angst.« 41

Mitte 2002 erfuhr Chodorkowski zum ersten Mal, dass er in Gefahr schweben könnte. Lukoil stand bereits unter Beschuss, und die ehemaligen KGB-Mitglieder, die er selbst in seinem Sicherheitsteam beschäftigte, warnten ihn, dass der FSB die »Operation Energie« in die Wege geleitet habe, um kompromittierende Informationen über die Energieriesen des Landes zu sammeln. Im Fall von Jukos ziele man auf die Aktivitäten des Unternehmens im Zusammenhang mit der Beteiligung an VNK ab. Aber Chodorkowski glaubte, es handle sich nur um eine gewöhnliche Kampagne, um Informationen zusammenzutragen, mit deren Hilfe man sich die Ölbarone gefügig machen konnte. »Es war nicht die erste Aktion dieser Art, und wir hielten sie für nicht weiter gravierend«, sagte er, als wir uns im sicheren Umfeld seines Büros am Hanover Square trafen. 42

Im Jahr 2002 hatte Chodorkowski offengelegt, welch ein Vermögen er über seine Beteiligung an Menatep angehäuft hatte. In Anbetracht der verworrenen Regeln, die das russische Wirtschaftsklima damals immer noch prägten, war er damit zu einem wahren Vorreiter in Sachen Transparenz geworden, zumindest im Vergleich zu anderen. Chodorkowski setzte im Hinblick auf sein Unternehmen und seine Zukunft voll und ganz auf eine Westbindung Russlands. Noch drei Jahre zuvor hatte er als Inbegriff des Raubzugkapitalismus des russischen »Wilden Ostens« gegolten; man hatte ihm vorgeworfen, er verletze die Rechte westlicher Minderheitsaktionäre. Doch jetzt wollte er die Legitimität und den Schutz, den die westlichen Märkte boten, und zugleich wollte er bessere, westlich geprägte Unternehmensstandards bei Jukos implementieren.

Er war immer noch genauso ehrgeizig und getrieben wie bei seinem Eintritt ins Geschäftsleben über den Komsomol. Doch inzwischen hatte er die sperrige, dicke Brille, die er Mitte der Neunzigerjahre getragen hatte, gegen ein leichtes Designermodell ausgetauscht, das so offen wirkte, als sollte es sein neues Ziel, die Transparenz, verdeutlichen. Er trug immer noch einfache Jeans und dunkle Poloshirts, doch die üppige schwarze Mähne aus den Neunzigern war jetzt einem Kurzhaarschnitt gewichen und stahlgrau geworden, auch der Schnauzbart war schon lange verschwunden. Chodorkowski hatte eine Reihe westlicher Führungskräfte engagiert, die die Finanzen und Produktionsprozesse bei Jukos beaufsichtigten, und leitete so eine branchenweite Kehrtwende ein, dank derer die Fördermengen in den westsibirischen Ölfeldern endlich wieder das Niveau aus den Zeiten vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion erreichten. Alle Ölmagnaten setzten jetzt auf westliche Expertise in der Bohrtechnik, verbesserte Prozesse, Investitionen in die Ausrüstung und Buchhalter aus dem Westen. Jukos förderte mittlerweile mehr Öl als Kuwait.

Da Chodorkowskis Umstrukturierungen international begrüßt wurden und der Aktienpreis von Jukos stieg und stieg, vertiefte er die Zusammenarbeit mit dem Westen. Er speiste mit der Washingtoner Elite und gründete eine Wohltätigkeitsorganisation, Open Russia, in deren Vorstand unter anderem Henry Kissinger und ein ehemaliger amerikanischer Botschafter in Russland saßen. Er schickte einen Tanker voller Öl nach Texas, die erste Ladung russischen Öls, die je auf direktem Weg nach Amerika gelangte, und warb für eine private Pipeline zwischen Murmansk im hohen Norden Russlands und den USA.

All diese Aktivitäten brachten die KGB-Leute nur weiter gegen ihn auf. Sie empfanden Chodorkowskis Flirt mit dem Westen als Angriff auf ihre Autorität, wobei sein Aufruf an andere Ölbarone, sich zu verbünden und private Ölpipelines zu bauen, eine noch größere Bedrohung für sie darstellte. 43 Das Pipelinenetz war immer die Domäne des russischen Staates gewesen, und die Frage, wem er darauf Zugriff gewährte, war einer der wenigen Hebel, über den der Staat noch verfügte, um die Ölbarone in Schach zu halten.

Anfang 2003, als die Rachepläne von Putins Geheimdienstlern langsam Formen annahmen, gestand Chodorkowski im Privaten ein, dass er ein Problem haben könnte. Eines düsteren Februarmorgens saßen wir im matten Lichtschein seines riesigen Büros, im festungsähnlichen Klotz an einer der Hauptdurchfahrtsstraßen von Moskau, der Menatep als Firmenzentrale diente. Seine Stimme war noch leiser als sonst, als er sagte, ihm würde langsam bewusst, dass »eine Gruppe von Menschen im Kreml mir meine Firma nehmen will«. Diese Männer wollten noch einmal ausprobieren, ob staatlich geführte Unternehmen nicht doch effektiver arbeiteten als private, meinte er. Doch er bestand darauf – er war fest davon überzeugt –, dass Putin das niemals zulassen würde und dass er es ernst gemeint habe, als er versprach, die Privatisierungen der Neunzigerjahre nicht rückgängig zu machen. »Putin hält sein Wort«, sagte er. »Da mache ich mir keine Sorgen.« 44

Sein Optimismus an jenem dunkelgrauen Februarmorgen täuschte darüber hinweg, dass die Anspannung groß war und im Hintergrund bereits die Vorbereitungen auf die bevorstehende Schlacht liefen. Chodorkowski hoffte offensichtlich immer noch, dass Putin trotz seiner KGB-Vergangenheit auch über eine andere Seite verfügte, eine, die durch seine Arbeit mit dem liberalen und demokratischen Sobtschak in Sankt Petersburg geprägt wurde. Nur wenige Wochen später schien es, als wollte Chodorkowski genau diese gute Seite hervorlocken, als er beschloss, sich direkt an Putin zu wenden. Er hatte bereits einen Monat zuvor gewarnt, dass Russland am Scheideweg stehe, dass sich das Land entweder für den Weg des Bürokratiestaates entscheiden könne, wie Saudi-Arabien, wo die Hälfte des Staatshaushalts für die Gehälter der Beamten verwendet wurde, oder sich den westlichen Wirtschaftsstaaten angleichen und auf Produktivität und eine postindustrielle Gesellschaft mit wachsendem Dienstleistungssektor setzen könne. 45 Als sich die russischen Oligarchen später im Februar zu einem der mittlerweile regelmäßigen Treffen mit Putin an den riesigen ovalen Tisch im Katharinensaal des Kreml setzten, beschloss Chodorkowski, die zunehmende staatliche Einmischung in die Wirtschaft noch deutlicher anzusprechen.

Sein Plan war, die staatliche Korruption zu thematisieren, und er begann mit einer PowerPoint-Präsentation mit dem gewagten Titel: »Korruption in Russland: Ein Hemmschuh für das Wirtschaftswachstum«. Er erklärte, dass die Korruption im Land mittlerweile auf 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, also 30 Milliarden Dollar pro Jahr, gestiegen sei, während die jährlichen Steuereinnahmen auf rund 30 Prozent des BIP geschätzt würden. 46 Wie könne es sein, fragte er, dass sich die Studierenden darum rissen, eine Stelle bei der russischen Steuerbehörde zu ergattern, wo das offizielle Gehalt nur 150 bis 170 Dollar im Monat betrug, während eine deutlich geringere Anzahl eine Tätigkeit als Ölingenieur anstrebte, wo man viermal so viel verdiente? 47 »Da kommt einem schon ein gewisser Verdacht«, sagte er mit einem kurzen Blick auf den Präsidenten, der auf der anderen Seite des riesigen Tisches saß. Dann wurde er noch konkreter und kam auf ein Geschäft des staatseigenen Ölgiganten Rosneft zu sprechen, der bei seiner ersten großen Firmenübernahme der letzten Jahre 600 Millionen Dollar für eine Ölfirma namens Sewernaja Neft mit gewaltigen Vorkommen im hohen Norden des Landes ausgegeben hatte. Die privaten Ölkonzerne hatten schon seit Monaten ein Auge auf das Unternehmen geworfen, aber Rosneft hatte sie ausgestochen und mehr als das Doppelte des ermittelten Firmenwertes gezahlt. Die Frage laute nun, so Chodorkowski, wo diese überzähligen 300 Millionen Dollar hingegangen seien. Das müsse untersucht werden, sagte er an den Präsidenten gerichtet, um den Grund für die überhöhte Summe zu ermitteln. 48 Es gingen schon seit Monaten Gerüchte um, dass es sich dabei um eine Schmiergeldzahlung an Beamte gehandelt hatte.

Chodorkowskis riskantes Spiel ging voll und ganz nach hinten los. Er hatte Putin an einer extrem empfindlichen Stelle getroffen. Die Gesprächsrunde wurde live im Fernsehen übertragen, und obwohl Putin lächelte, war deutlich zu erkennen, dass er innerlich kochte. »Rosneft ist ein staatliches Unternehmen, das seinen Zugriff auf Ölvorkommen erweitern sollte«, setzte er an. »Andere Firmen, etwa Jukos, verfügen über einen Überschuss an Ölfeldern, und wie sie an diese gekommen sind, ist eine der Fragen, die wir heute erörtern werden, wobei es auch um das Thema Steuervermeidung gehen wird. (…) Ich spiele den Puck zu Ihnen zurück!« 49

»Als ich das im Fernsehen sah, wusste ich, dass es für uns vorbei war«, meinte Chodorkowskis Chefanalyst, der ehemalige KGB-General Alexej Kondaurow. »Das hatten wir vorher nicht besprochen. Als er aus dem Treffen kam, sagte ich: ›Michail Borissowitsch, warum konnten Sie die Korruptionspräsentation nicht vor irgendwem anders halten?‹, und er sagte: ›Wie hätte ich sie woanders halten können? Es gibt so wenige Kämpfer in unseren Reihen.‹ Und so fingen die Probleme an. Ich wusste, dass er [Putin] ihm das nie verzeihen würde. Putins Leute hatten sich dreihundert Millionen Dollar in die Tasche gesteckt.« 50

Wenn Putins KGB-Männer wirklich eine Schmiergeldzahlung in Höhe von 300 Millionen Dollar erhalten hatten, war es das erste große Geschäft seit Putins Amtsantritt gewesen, bei dem sie sich hatten bereichern können. Die Übernahme hatte einer der ursprünglichen Eigentümer von Sewernaja Neft eingefädelt, Andrej Wawilow, ein ehemaliger stellvertretender Finanzminister, der einräumte, dass das Unternehmen nicht vollständig ihm gehörte. (Offiziell waren sechs undurchsichtige Firmen als Besitzer eingetragen.) Laut einer Person, die über das Geschäft Bescheid wusste, hatte Wawilow die überschüssige Summe über den Vorsitzenden von Rosneft, Sergej Bogdantschikow, an Putin übermittelt. 51 Als wir uns darüber unterhielten, bestritt Wawilow jedoch, dass ein Schmiergeld gezahlt worden sei, 52 und der Kreml wies jede Unregelmäßigkeit entschieden zurück.

Doch so wie Putin reagierte, hatte Chodorkowski ins Schwarze getroffen. Für Putin war es unvorstellbar, dass Chodorkowski diesen Vorwurf offen ansprechen könnte. Er nahm es dem Unternehmer zutiefst übel, dass dieser ihn der Korruption bezichtigte, wo Chodorkowski sein Vermögen, vor allem Jukos, in Putins Augen doch selbst auf illegitime Weise erlangt hatte.

Das verstand der Kreml als Einladung, die Angriffe auf Chodorkowskis Vermögen zu intensivieren. Dabei hatte dieser Putin den Fehdehandschuh zum Teil auch deshalb hingeworfen, weil ihm keine andere Wahl blieb. Die Übernahme von Sewernaja Neft, die Rosneft mehr Einfluss verschaffte, war ein Zeichen dafür, dass sich die Machtverhältnisse eindeutig in Richtung Staat verschoben, was Chodorkowskis gesamtes Geschäftsmodell infrage stellte. »Er begriff, dass er gar nicht anders handeln konnte«, sagte Kondaurow. »Ihm stand kein anderer Weg offen. Also ging er aufs Ganze. Er setzte alles auf eine Karte. Er hatte erkannt, dass der Weg ohnehin in eine Sackgasse führte.« 53

Von diesem Augenblick an wirkte es, als sei Chodorkowski zu allem entschlossen. Er beschleunigte den Ausbau seines Imperiums und trieb die 36 Milliarden Dollar schwere Fusion von Jukos mit Abramowitschs Sibneft voran, wodurch der viertgrößte Ölkonzern der Welt entstand, mit den zweitgrößten Ölvorkommen. 54 Der Zusammenschluss wurde Ende April verkündet, völlig aus dem Nichts, vor blitzenden Kameras in der eleganten Lobby von Moskaus neuestem Luxushotel, dem Hyatt, ganz in der Nähe der FSB-Zentrale am Lubjanka-Platz. Es war, als glaubte Chodorkowski, dass diese Fusion ihm über die Verbindung zur Jelzin-Familie zusätzlichen Schutz verschaffen würde. Doch sein Geschäftspartner Leonid Newslin glaubt bis heute, dass Abramowitsch das Ganze als Falle geplant hatte und von Anfang an darauf aus war, Jukos nach dem Zusammenschluss zu übernehmen und Chodorkowski hinauszudrängen.

Chodorkowski machte trotzdem weiter. Er verstärkte seine Bemühungen um eine Zusammenarbeit mit dem Westen und initiierte im Verborgenen historische Gespräche, in denen es darum ging, einen Teil von JukosSibneft an einen US-amerikanischen Ölkonzern, entweder ExxonMobil oder Chevron, zu verkaufen. 55 Das würde Jukos’ Schutzschild vergrößern und die Firma vor dem Zugriff des russischen Staates bewahren. Nur drei Monate zuvor hatte ein Zusammenschluss von Oligarchen unter der Leitung des Alfa-Gruppen-Chefs Michail Fridman, einem weiteren ehemaligen Komsomol-Mitglied, eine bahnbrechende Partnerschaft mit BP ausgehandelt, die dem britischen Konzern gegen eine Zahlung von 6,75 Milliarden Dollar 50 Prozent der Anteile an der Tjumen-Ölgesellschaft (TNK) einbrachte. Es schien nur natürlich, dass JukosSibneft nachzog. Anfangs billigte Putin die Verhandlungen offenbar, weil er, wie eine mit den Ereignissen vertraute Person sagte, die großspurige Hoffnung hegte, JukosSibneft könnte den Spieß umdrehen und mithilfe von Krediten der russischen Staatsbanken einen der amerikanischen Energieriesen übernehmen. 56

Doch während Fridman und sein Geschäftspartner Pjotr Awen, der einst eng mit Putin zusammengearbeitet hatte, als es um das Öl-gegen-Lebensmittel-Programm in Sankt Petersburg ging, sehr zurückhaltend auftraten und alles in ihrer Macht Stehende taten, um ihre Loyalität zur Regierung Putin zu beweisen, wurde Chodorkowski jetzt auch politisch aktiv. Er gab über seine Stiftung Open Russia schon seit Längerem viel Geld für wohltätige Zwecke aus und versuchte russischen Jugendlichen die Grundsätze der Demokratie zu vermitteln, in jährlichen Sommerlagern und in einer Schule für die Kinder getöteter russischer Soldaten, die er vor den Toren Moskaus eröffnet hatte. Kurz bevor die Fusion zwischen Jukos und Sibneft publik wurde, hatte er seine politischen Ambitionen deutlich gemacht und verkündet, dass er an seinem fünfundvierzigsten Geburtstag als Chef von Jukos zurücktreten werde. 57 Das wäre 2007 gewesen, also nicht lange vor der Präsidentschaftswahl 2008, und erweckte den Eindruck, dass er eine Kandidatur anstrebte.

Außerdem debattierte Chodorkowski schon seit Längerem mit einigen einflussreichen Parlamentsmitgliedern darüber, wie sich Russland in eine parlamentarische Republik verwandeln ließe. So könnte das überwunden werden, was viele Kritiker als die entscheidende Schwäche des politischen Systems des Landes ansahen – die übermäßige Machtkonzentration beim Präsidenten. Dieses System, das es der Person an der Spitze im Grunde ermöglichte, das Land per Dekret zu regieren, war nach der gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen Jelzin und dem Parlament 1993 eingeführt worden. Eine Umwandlung in eine parlamentarische Republik würde dem Präsidenten einen Teil seiner Entscheidungsmacht nehmen und stattdessen den Ministerpräsidenten stärken, der vom Parlament gewählt wurde. Heute behauptet Chodorkowski, dass Putin über diese Gespräche informiert gewesen sei und sie genehmigt habe. 58 Er sagte, es sei damals nicht darum gegangen, Putins Macht zu schwächen, sondern nach dem Ende von dessen zweiter Amtszeit 2008 – eine längere Regierungszeit sah die Verfassung damals nicht vor – ein ausgeglicheneres System zu schaffen. Doch viele glaubten, dass Chodorkowski zunehmend größenwahnsinnig wurde und es selbst auf die Rolle des Ministerpräsidenten abgesehen habe.

Wie so viele andere russische Wirtschaftstycoons unterstützte auch Chodorkowski einige politische Parteien in der Duma mit Zuwendungen. Das wurde von Alexander Woloschin, dem Leiter der Präsidialverwaltung, und seinem Stellvertreter Wladislaw Surkow durchaus befürwortet, 59 in der Hoffnung, dass sich die Kommunisten auf diese Weise zu einer Partei des linksgerichteten Bürgertums entwickeln würden. Doch es gab immer mehr Bedenken, dass Chodorkowski die Sache zu weit trieb. Er spendete Dutzende Millionen Dollar an die Kommunisten und zwei liberale Parteien, Jabloko und die Union der rechten Kräfte. Zwei seiner Jukos-Spitzenleute fanden sich ganz oben auf der Kandidatenliste der Kommunistischen Partei, während einer seiner engsten Geschäftspartner, Wladimir Dubow, ein Gründungsmitglied der Menatep-Gruppe, schon im Dezember 1999 zur Wahl gestanden hatte und nun den mächtigen Steuerausschuss im Parlament leitete. 60

Chodorkowskis Einfluss auf das Parlament entwickelte sich langsam zum Problem für den Kreml. Das wurde besonders deutlich, als der Tycoon im Mai 2003 genügend Stimmen im Parlament zusammenbrachte, um eine umfassende Reform zur Besteuerung der Ölbranche zu blockieren, mit deren Hilfe der Kreml die russische Wirtschaft zum ersten Mal ein Stück weit aus ihrer übermächtigen Abhängigkeit vom Öl hatte lösen wollen. 61 Der Höhenflug des weltweiten Ölpreises – er war zwischen 1998 und 2003 von 12 auf 28 Dollar pro Barrel gestiegen – hatte gewaltige Mittel in die Staatskassen gespült und dafür gesorgt, dass ein Teil der Auslandsschulden beglichen werden konnte. Aber gleichzeitig verstärkte der hohe Preis auch die Abhängigkeit von den Einnahmen aus Öl und Gas, wenn es um die Haushaltsplanung oder die Wirtschaftsförderung ging. 2003 machten Öl und Gas 20 Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts aus, 55 Prozent der gesamten Exporterlöse und 40 Prozent aller Steuereinnahmen. 62 Laut einem Bericht des Internationalen Währungsfonds war Russland 2003 fünfmal stärker vom Ölpreis abhängig als vor der Rubelkrise im August 1998 – und bereits damals war schmerzhaft deutlich geworden, wie sehr das Land auf diese Größe angewiesen war. 63 Wenn der Preis wieder auf 12 Dollar pro Barrel fiel, wie es zuletzt 1998 der Fall gewesen war, könne Russland Haushaltseinnahmen in Höhe von 13 Milliarden Dollar verlieren, schrieb der IWF, was 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entsprach.

Der liberale Flügel von Putins Regierung suchte schon seit Langem einen Ausweg aus Russlands immenser Abhängigkeit von den weltweiten Energiepreisen, über die das Land keinerlei Kontrolle hatte. In den Jelzin-Jahren war der Staat zu sehr damit beschäftigt gewesen, von Krise zu Krise zu taumeln, um etwas an diesem Umstand zu ändern; damals hatte das Land, das nur mühsam seine Steuern zusammenkratzte, jede Einkommensquelle benötigt, die verfügbar war. Doch jetzt, da der Ölpreis ein Hoch erlebte, konnte die liberale Fraktion – angeführt von Alexej Kudrin, dem Finanzminister, der auch schon unter Sobtschak in Sankt Petersburg mit Putin zusammengearbeitet hatte, und German Gref, dem Wirtschaftsminister, der ebenfalls in Sankt Petersburg als Immobilienverwalter tätig gewesen war – die etwas stabilere Situation und die steigenden Einnahmen endlich dazu nutzen, die Wirtschaft neu zu strukturieren. Schon im Februar 2003 hatte Gref Maßnahmen angekündigt, mithilfe derer die Steuereinnahmen aus den Gewinnen der Ölindustrie erhöht werden sollten, um so staatliche Investitionen in die Hightech- und die Verteidigungsbranche zu finanzieren. 64

Die Regierung wollte die Steuerlast der Ölbranche sowohl durch eine höhere Exportsteuer als auch durch Lizenzgebühren vergrößern. Doch Letzteren widersetzte sich Chodorkowski mit aller Macht. Als es seinen Verbündeten im Parlament gelang, einen ersten entsprechenden Vorstoß der Regierung im Mai abzuwehren, nahm der liberale Teil von Putins Regierung – Gref und Kudrin – die Niederlage persönlich. Bis dahin hätten sie Chodorkowski stets vor der zunehmenden Gier der etatistischen Sicherheitsleute, die sich auf ihn eingeschossen hatten, zu schützen versucht, erzählte ein hochrangiger Bankier aus dem Umfeld von Kudrin. Aber jetzt hatte er nicht nur ihre Pläne durchkreuzt, sondern in seiner Verteidigungsstrategie auch ihre Argumente untergraben. »Er war zu einem Großinvestor in der Duma geworden«, sagte der Bankier. »Er schmierte die Hälfte der Abgeordneten. Mittlerweile war klar, dass es absoluter Unsinn war, ihn nicht als Bedrohung zu betrachten. Das Bündnis, das er geschmiedet hatte, um genügend Stimmen gegen die Steuererhöhung zu sammeln, umfasste nicht nur die wirtschaftsfreundlichen Abgeordneten, sondern auch unbelehrbare Kommunisten, hartgesottene antisemitische Nationalisten, Liberale und Konservative. Es war eine völlig absurde Konstellation, die da gegen die Steuererhöhung stimmte. Kudrin rief ihn an und sagte: ›Mischa, du reitest dich in die Scheiße. Du kannst nicht einfach Staatsorgane kaufen. Es gibt Leute dort draußen, die wollen die Steuern auf neunzig Prozent erhöhen. Du hättest dich auf den Kompromiss einlassen sollen.‹ Aber wissen Sie, was er Kudrin antwortete? Er sagte: ›Was glaubt du, wer du bist? Fick dich doch. Ich sorge dafür, dass du abgesetzt wirst.‹«

In den Augen von Gref und Kudrin wurde die Situation langsam untragbar. Laut dem Banker machte Chodorkowski alles noch schlimmer, als er, völlig euphorisch nach der gewonnenen Abstimmung, Kandidaten für den Posten des Ministerpräsidenten anrief und ihnen mitteilte, sie müssten ihr Wahlprogramm von ihm absegnen lassen. »Er erklärte ihnen, die Abstimmung sei eine objektive Demonstration seiner Macht in der Duma gewesen. Jetzt hätte er das Recht, den nächsten MP zu bestimmen.« 65

Chodorkowski bestreitet, je solche Anrufe getätigt zu haben. Doch ein paar Wochen später ging ein Bericht durch die Medien, demzufolge er der Anführer einer »gefährlichen« Gruppe prowestlicher Oligarchen war, die die Macht des Präsidenten untergraben wollten. Ihre Absicht sei es, sich die Mehrheit im Parlament zu erkaufen und das Land zu einer parlamentarischen Republik umzubauen, in der dem Präsidenten nur noch eine repräsentative Funktion zukäme. Der Bericht, in dem Chodorkowskis jüngste Aktivitäten ziemlich genau beschrieben wurden, zielte eindeutig darauf ab, der Paranoia von Putins Männern weiter Futter zu geben. Die Handlungen der Oligarchen wurden als »antinational« bezeichnet. Ihr Besitz sei in Offshore-Zonen registriert, um ihn vor dem Zugriff des russischen Staates zu schützen: »Man könnte sagen, dass sich die Oligarchen (…) zur Absicherung ihrer politischen und wirtschaftlichen Interessen in Russland auf die Ressourcen anderer Staaten berufen. Nun, da sie die Privatisierung der wichtigsten nationalen Wirtschaftsgüter erreicht haben, gehen sie dazu über, auch die politische Macht zu privatisieren.« 66

Der Bericht spiegelte exakt die Denkweise von Putins Leuten wider und gab laut seinem Verfasser und einem hochrangigen Bankier mit Verbindungen in die Sicherheitsbehörden genau das wieder, was sie beim Abhören der Telefone und Büroräume von Chodorkowski und seinen Geschäftspartnern vernommen hatten. »Viele von denen, die heute im Gefängnis sitzen, sind dort, weil die Geheimdienstler mitbekamen, was sie von ihnen hielten. Sie hörten die Beleidigungen«, sagte Stanislaw Belkowski, ein renommierter politischer Analyst, der an dem Bericht mitgeschrieben hatte. 67

Schon bald zeigte auch Putin, wie er zu dem Ganzen stand. Im Mai lud er Chodorkowski, Abramowitsch und mehrere ihrer wichtigsten Unterstützer zu einem privaten Abendessen im eichenvertäfelten Empfangssaal seines Wohnsitzes Nowo-Ogarjowo ein. Laut einem der Anwesenden wurde beim Essen zunächst das Exxon/Chevron-Geschäft besprochen, doch als man zum guten Kognak überging, wies Putin Chodorkowski an, seine Zahlungen an die Kommunisten einzustellen. Der lehnte ab – die Spenden seien mit Woloschin und Surkow, dem Leiter und dem stellvertretenden Leiter der Präsidialverwaltung, abgesprochen, aber Putin wiederholte: »Lassen Sie es sein. Sie haben ein großes Unternehmen, Sie haben viele Geschäfte, um die Sie sich kümmern müssen. Sie haben keine Zeit hierfür.« Chodorkowski blieb stur und sagte, er könne die anderen Anteilseigner von Jukos nicht davon abhalten, zu unterstützen, wen sie wollten, auch wenn er selbst der Kommunistischen Partei von nun an kein Geld mehr zukommen ließe. »Er sagte: ›In einem offenen und transparenten Unternehmen kann ich nichts dagegen tun, wenn die Anteilseigner und Angestellten eine bestimmte politische Linie verfolgen.‹ Er versuchte Putin zu erklären, dass ihm seine sozialen Projekte und die Förderung der Demokratie in Russland ebenso wichtig seien wie seine Geschäfte.« 68

Das Gespräch endete abrupt. Aber Putin hatte nicht vor, es dabei zu belassen. Als er sich im Juni darauf vorbereitete, Russland in Richtung Großbritannien zu verlassen, wo ein Staatsbesuch mitsamt aller dazugehörigen Feierlichkeiten und Ruhmesbezeugungen anstand – sein erster als Präsident, bei dem er von Premierminister Tony Blair und der Queen empfangen werden sollte –, deutete er zum ersten Mal an, dass Chodorkowski Ärger bevorstehen könnte. Auf einer jährlich stattfindenden Pressekonferenz teilte Putin gegen die Wirtschaftsbarone aus, die dafür gesorgt hatten, dass die Steuererhöhungen für die Ölbranche im Parlament gescheitert waren. Obwohl er Chodorkowski nicht namentlich nannte, war es klar, wen er meinte. »Wir dürfen nicht zulassen, dass bestimmte Wirtschaftsgruppen das politische Leben in diesem Land gemäß ihren Partikularinteressen beeinflussen«, sagte er. 69 Gleichzeitig sprach er sich in diesem Zusammenhang zum ersten Mal öffentlich gegen eine Reform des politischen Systems hin zu einer parlamentarischen Republik aus. Das stünde außer Frage und sei sogar »gefährlich«.

Allen war klar, gegen wen sich diese Aussagen richteten. Und während Putin selbst im Ausland weilte, wo er an einem prachtvollen Bankett im Buckingham Palace teilnahm und die Vereinbarung zwischen BP und TNK unterschrieb, die Blair als Zeichen des »langfristigen Vertrauens« Großbritanniens Russland gegenüber begrüßte, rollte die Staatsmaschinerie langsam an. Es sollte bewusst der Eindruck entstehen, als hätte Putin nichts damit zu tun, als die Staatsanwaltschaft in aller Stille den ersten, folgenreichen Schritt gegen Jukos unternahm. Sie verhaftete den Sicherheitschef des Unternehmens, Alexej Pitschugin, und klagte ihn am vierzigsten Geburtstag seines Bosses Chodorkowski wegen Mordes an einem Ehepaar an, das ihn nach Aussage der Staatsanwaltschaft damit habe erpressen wollen, dass er den Mord an einem anderen Menatep-Mitarbeiter in Auftrag gegeben habe. 70 Stärker hätte die Drohung aus dem Kreml nicht ausfallen können. Aber Pitschugins Verhaftung wäre vielleicht untergegangen, hätte es nicht eine Woche später einen weiteren, deutlich prominenteren Verbündeten Chodorkowskis getroffen – Platon Lebedew, Chodorkowskis langjährige rechte Hand, ein Sprücheklopfer, der im Vorstand der Menatep-Gruppe saß und für viele von deren Geschäften zuständig war. Als dieser ebenfalls verhaftet wurde, stand Chodorkowskis Welt plötzlich in Flammen.

Lebedew war in Handschellen aus dem Krankenhausbett gezerrt worden, weil man ihm vorwarf, sich widerrechtlich 20 Prozent der Anteile von Apatit angeeignet zu haben, einem Düngemittelriesen, den Menatep als einen der ersten Betriebe aus Staatshand übernommen hatte. 71 Die Nachricht von der Verhaftung stand sofort in allen Zeitungen, und der Unternehmenswert von Jukos sank innerhalb eines Tages um 2 Milliarden Dollar. 72 Darüber hinaus wurde eine Anklage im Zusammenhang mit der Privatisierung von VNK erhoben und in diesem Zusammenhang eine weitere Führungskraft von Jukos zur Vernehmung einbestellt. Die Schlacht gegen den Ölkonzern hatte begonnen.

In jenem Sommer folgte eine Schlagzeile auf die nächste. Je intensiver die Staatsanwälte ermittelten, desto mehr sank der Börsenwert von Jukos. Ende Juli, vier Tage nachdem Chodorkowski von einer USA-Reise zurückgekehrt war, wo er um Investoren geworben hatte, kündigte die Staatsanwaltschaft vier weitere separate Untersuchungen wegen Mordes und versuchten Mordes gegen Pitschugin an. 73 Für Chodorkowski war es, als würde sein schlimmster Albtraum wahr. Es ging nicht nur um die Anschläge auf Jewgeni Rybin im Zusammenhang mit den VNK-Versteigerungen, sondern auch um den 1998 getöteten Bürgermeister von Neftejugansk, der westsibirischen Ölstadt, in der Jukos seinen Hauptsitz hatte. Der Bürgermeister, mit dem Chodorkowski nach der Übernahme von Jukos durch Menatep im Clinch gelegen hatte, war am Morgen von Chodorkowskis Geburtstag auf dem Weg zur Arbeit erschossen worden, und schon bald war das Gerücht umgegangen, dass er von einem übereifrigen Handlanger ermordet worden sei, der seinem Chef ein Geburtstagsgeschenk machen wollte. 74 Jukos hatte geplant, die Dienstleistungsabteilungen, die am Hauptsitz in Neftejugansk rund dreißigtausend Arbeitsplätze ausmachten, aus Rationalisierungsgründen auszugliedern, und der Bürgermeister hatte persönlich einen Protestbrief an Jelzin geschrieben, in dem er beklagte, wie sehr die Steuereinnahmen der Stadt unter der Jukos-Übernahme litten. Tausende Bürger gingen auf die Straße und warfen Chodorkowski offen vor, den Mord in Auftrag gegeben zu haben. Doch eine Financial Times-Journalistin, die kurz darauf mit Chodorkowski sprach, berichtete, dass dieser aufrichtig verstört gewirkt habe. 75

Chodorkowski bestritt vehement, dass er oder seine Mitarbeiter irgendetwas mit den Mordfällen oder den Anschlägen zu tun gehabt hätten. Im Fall des Bürgermeisters von Neftejugansk verwiesen seine Anwälte auf gefährliche tschetschenische Gruppierungen, die einige der Exporte von Jukos kontrolliert hatten, bis Chodorkowskis Leute sie aus dem Geschäft verdrängten. 76 Als später mehr über die KGB-Männer bekannt wurde, denen Chodorkowski ihre VNK-Anteile streitig gemacht hatte, deutete eine Person aus seinem Umfeld an, dass die Morde möglicherweise auch auf das Konto dieser Geheimdienstler gehen könnten, die auf diese Weise Chodorkowskis Ruf schädigen wollten. 77

Chodorkowski suchte Schutz in den USA. Direkt nach der Verhaftung seiner rechten Hand Lebedew hatte er sich in die amerikanische Botschaft begeben, wo er unter zur Feier des Unabhängigkeitstages aufgehängten Wimpeln und Stars and Stripes Journalisten gegenüber darauf beharrte, dass die Auseinandersetzung zwischen ihm und dem Staat seiner Ansicht nach nicht lange andauern würde. 78 Kurz darauf besuchte er eine Konferenz im Sun Valley in Idaho, wo er durch freundschaftliche Nähe zu Leuten wie Bill Gates und Warren Buffett auffiel. 79 Nach der Heimreise legte er in Moskau noch einmal nach und erklärte vor Fernsehkameras, dass eine Fortführung der Angriffe auf sein Unternehmen eine massive Kapitalflucht aus Russland auslösen würde, die das Investitionsklima nachhaltig beschädigen und eine Rückkehr in die totalitäre Vergangenheit einläuten würde. 80

Doch Chodorkowskis Annäherungsversuche an die USA hatten den Zorn des Kreml nur weiter angefacht. Im September, als Putin sich auf eine größere Amerikareise vorbereitete, bei der unter anderem Gespräche mit dem Präsidenten George W. Bush in Camp David auf dem Programm standen, fand er deutliche Worte für alle, die glaubten, er könne die Staatsanwaltschaft in ihre Schranken weisen. In diesen Fällen ginge es um Morde, machte er den US-Journalisten unverblümt klar. »Wie kann ich mich da in die Arbeit der Staatsanwaltschaft einmischen?«, fragte er. 81

Falls je die Chance bestanden hatte, dass der Kreml Chodorkowski gegenüber Milde walten lassen könnte, verpuffte diese, als Putin in den USA war. Dort besuchte er auf Einladung die New Yorker Börse und hielt eine Rede vor Dutzenden amerikanischen Wirtschaftsbossen, denen er versicherte, dass Russland eine Marktwirtschaft sei, in der keine Privatisierung rückgängig gemacht werde. Am Rand der Veranstaltung traf er sich mit dem Vorstandsvorsitzenden von ExxonMobil, Lee Raymond, einem hochgewachsenen Mann aus dem Mittleren Westen, der Exxon durch die Fusion mit Mobil zum größten Konzern der Welt gemacht hatte mit einem Wert von 375 Milliarden Dollar. Raymond, der für sein aggressives Auftreten bekannt war, nahm kein Blatt vor den Mund und erklärte Putin, dass Exxon in einer ersten Phase nur eine Minderheitsbeteiligung an JukosSibneft erstehen, irgendwann aber das ganze Unternehmen aufkaufen wolle. 82

Putin war völlig entgeistert. In seinen Gesprächen mit Chodorkowski und mit Abramowitsch war nie ein Szenario vorgekommen, in dem ein US-Energieriese russische Ölvorkommen in seinen Besitz brachte. Er war immer davon ausgegangen, dass Exxon oder Chevron einen Minderheitenanteil erhalten würden, während JukosSibneft im Gegenzug auch bei einem der US-Konzerne einstieg. »Für Putin war dieser Austausch der Anteile wichtig«, sagte eine Person, die Einblicke in die Verhandlungen hatte. »So wäre eine Art Energiebrücke zwischen Russland und den USA entstanden.« 83 Doch als der Druck auf Jukos in jenem Sommer gestiegen war, hatten die Anteilseigner zum vorzeitigen Vertragsabschluss gedrängt. Sie wollten ihre Anteile lieber ganz veräußern als sie einzutauschen.

Für Putin kam es überhaupt nicht infrage, ExxonMobil die Mehrheit an JukosSibneft zu verkaufen. Er konnte auf gar keinen Fall zulassen, dass die USA die Kontrolle über die strategisch wichtigen Ölvorkommen Russlands erlangten. Das stand der Absicht der KGB-Männer, Russland wieder zu einer Weltmacht zu machen, konträr entgegen. Fridman und Awen mochten zwar die Erlaubnis erhalten haben, eine Fünfzig-Fünfzig-Partnerschaft mit BP einzugehen, aber sie hatten sich dem Kreml gegenüber, anders als Chodorkowski, auch immer loyal gezeigt und taten alles, was in ihrer Macht stand, um die Kontrolle über TNK-BP nicht aus der Hand zu geben.

Lee Raymond kam nur eine Woche später nach Moskau, offenbar in der Hoffnung, das Geschäft abzuschließen. An jenem Tag verkündete die Financial Times auf ihrer Titelseite, dass Exxon gerade intensiv darüber verhandle, JukosSibneft 40 Prozent seiner Unternehmensanteile für 25 Milliarden Dollar abzukaufen, und diese Beteiligung später auf 50 Prozent erhöhen wolle. 84 Doch anstelle von Handschlägen und Champagner erwartete Raymond die Nachricht, dass mehr als fünfzig Spezialkräfte mit Maschinenpistolen und schusssicheren Westen mit Jukos in Verbindung stehende Gebäude in ganz Moskau durchsuchten, auch die Wohnhäuser der Hauptanteilseigner von Menatep, Chodorkowskis engsten Geschäftspartnern, die alle in einer abgeriegelten Anlage hinter einem hohen Metallzaun im Edelvorort Schukowka lebten. Unter diesen Häusern war auch das von Lebedew, der ja bereits im Gefängnis saß. 85 Als Chodorkowskis Frau ihren Mann anrief und sagte, dass vor der Tür lauter Polizisten herumliefen, entschuldigte er sich eilig bei Raymond und machte sich auf den Weg.

Das Signal aus dem Kreml hätte nicht deutlicher ausfallen können. ExxonMobil würde die Anteile niemals bekommen. Als Chodorkowski den Anruf von seiner Frau erhielt, nahmen er und Raymond gerade an einer Konferenz des Weltwirtschaftsforums teil, bei der Putin als Hauptredner auftreten sollte. Doch während Chodorkowski nach Hause raste, um seinen Besitz gegen die Razzia zu verteidigen, konnte Raymond nichts anderes tun, als die Konferenzteilnehmer davor zu warnen, dass Russland Investoren nicht »willkürlich« behindern dürfe, wenn es Zugang zu den Weltmärkten wollte. 86 Putin, der so tat, als wüsste er nichts von den Durchsuchungen, beharrte weiter darauf, dass er alles in seiner Macht Stehende unternehme, um mögliche Hindernisse für Investoren aus dem Weg zu räumen. 87 Das war genau die Doppelzüngigkeit, die er seit dem Beginn seines Aufstiegs zur Macht praktizierte. Er pries den Markt, während seine Leute hinter den Kulissen daran arbeiteten, alles unter ihre Kontrolle zu bringen.

Chodorkowski weigerte sich dennoch, klein beizugeben; er verkündete der Welt, dass er bereit sei, wenn nötig auch ins Gefängnis zu gehen, um sein Unternehmen zu verteidigen. 88 Er würde nicht aufgeben und das Land verlassen. Im Privaten suchte er jedoch verzweifelt nach einem Ausweg. Dafür meldete er sich sogar bei Pugatschow, seinem alten Rivalen aus den Neunzigerjahren, der mittlerweile über gute Kontakte zu den Petersburger Geheimdienstlern verfügte, und fragte ihn nach den Beweggründen des Kreml. Pugatschow hörte sich um und kehrte mit einer unmissverständlichen Botschaft zurück. Wenn er weiter in Freiheit leben wollte, solle er das Land verlassen. Ansonsten lande er im Gefängnis. 89 Chodorkowski sagte später, er habe ihm nicht geglaubt. Er war überzeugt, dass der Kreml es nicht wagen würde, ihn zu verhaften – und falls doch, würden die USA sich für ihn einsetzen.

Es war ein Zeichen seiner Selbstüberschätzung, seiner überzogenen Vorstellung davon, wie weit die USA gehen würden, um einen Oligarchen zu beschützen, der versucht hatte, eine Brücke zu ihnen zu schlagen.

*

Chodorkowski befand sich gerade allen Warnungen zum Trotz auf einer Dienstreise durch Sibirien, als es geschah. Die Staatsanwälte hatten ihn am vorherigen Tag zur Vernehmung einbestellt, aber er war weit von Moskau entfernt. Als sein Privatjet am Samstag, dem 25. Oktober 2003, kurz vor der Morgendämmerung auf einem Flugplatz in Nowosibirsk landete, um dort aufzutanken, stürmte eine Einheit bewaffneter FSB-Beamter an Bord. Chodorkowski hielt sich im Erste-Klasse-Abschnitt des Flugzeugs auf, als sie ihn umringten und brüllten: »FSB! Waffen auf den Boden! Keine Bewegung oder wir schießen!« 90 Dann nahmen sie ihn wegen des Verdachts auf schweren Betrug und Steuerhinterziehung fest. Schon am selben Abend saß er im berüchtigten Matrosskaja-Tischina-Gefängnis in Moskau.

Das war der Augenblick, in dem sich Russland politisch und wirtschaftlich unwiderruflich von der vom Westen vorangetriebenen globalen Vernetzung abwandte und stattdessen auf Kollisionskurs mit ihm ging. Von hier an gab es kein Zurück mehr für die etatistisch orientierten Geheimdienstler, die immer wieder interveniert und intrigiert und Putin schließlich davon überzeugt hatten, dass die Rückkehr Russlands zu alter Macht – und ihr eigener finanzieller Einfluss – nur auf diese Weise zu gewährleisten war. Doch wie das ganze Land bewegten auch sie sich jetzt auf unbekanntem Terrain. Nur wenige von ihnen hatten erwartet, dass es so weit kommen würde, und viele Wirtschaftsvertreter hofften, dass es doch noch eine Kehrtwende gäbe, dass Chodorkowski freikäme und sich die beiden Seiten einigten. Sogar Pugatschow erzählte, dass man lange davon ausgegangen sei, Chodorkowski und seine Geschäftspartner würden sich bereit erklären, Putin und seinen Leuten eine beträchtliche Summe zu bezahlen, um sich der Anklage zu entziehen – selbst ein Teil der silowiki habe damit gerechnet. »Jeder wartete auf das Bestechungsangebot«, sagte er. »Niemand war wirklich auf die Situation vorbereitet. Niemand wusste, was sie nun mit dem Unternehmen anfangen sollten. Damals hatten sie noch keine Erfahrung mit solchen Dingen.«

Chodorkowskis Verhaftung bedeutete einen Schock für die russische Wirtschaftswelt. Er war der reichste Mann des Landes, der bekannteste Fürsprecher des Marktes, der Mann, von dem sie geglaubt hatten, er stünde kurz vor dem Geschäft des Jahrhunderts – dem Verkauf seines Unternehmens für 25 Milliarden Dollar, nur sieben Jahre nachdem er es für 300 Millionen erstanden hatte. Wenn er zu Fall gebracht werden konnte, galt das für jeden von ihnen. Am Tag der Verhaftung versammelten sich die führenden Mitglieder des Russischen Verbands der Industriellen und Unternehmer, der sich zur wichtigsten offiziellen Vertretung der Oligarchen entwickelt hatte, zu einer Krisensitzung im Moskauer Baltschug-Hotel. Viele von ihnen hatten zu große Angst, um sich vor der Presse zu äußern, doch gemeinsam verfassten sie einen zurückhaltend und vorsichtig formulierten Brief an Putin, in dem sie die Verhaftung kritisierten und um ein Treffen baten: »Nur eine klare und unmissverständliche Stellungnahme des russischen Präsidenten Wladimir Putin kann die Situation verbessern. Das Ausbleiben einer solchen würde für eine unwiderrufliche Verschlechterung des Investitionsklimas sorgen und Russland in ein Land verwandeln, das Unternehmensentwickler scheuen.« 91

Anatoli Tschubais, der Privatisierungszar und Kopf hinter den liberalen Reformen, ging sogar noch einen Schritt weiter. In einem Fernsehinterview an jenem Wochenende warnte er, dass Chodorkowskis Verhaftung und die Ungewissheit darüber, ob andere Unternehmer vielleicht als Nächstes an der Reihe wären, zu einer »unkontrollierbaren« Spaltung der Elite führen könnten, mit möglichen Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft. 92

Aber Putin ließ sich nicht beirren. Trotz seines konsequenten Leugnens, irgendetwas mit Chodorkowskis Verhaftung zu tun zu haben, geschah so etwas doch niemals ohne Segen von oben. Vor allem zeigte die Verhaftung, dass Chodorkowski eine grundsätzliche Lehre der Regierung Putin verkannt hatte, die andere Oligarchen – aufgrund dieser Erfahrung – voll und ganz verinnerlichen sollten: »Wenn du in diesem Land ein großes Ölunternehmen kaufst, für 150 Millionen Dollar und mit Hilfe von Einlagen des Finanzministeriums, musst du nach den russischen Regeln spielen«, sagte Dmitri Gololobow, ein Anwalt, der einst für Chodorkowski tätig war, sich später aber von ihm abwandte. »Du kannst nicht einfach behaupten, du seist der legitime Eigentümer. Die Privatisierung hat kein legitimes Eigentum hervorgebracht. Die anderen Oligarchen verstanden das sehr gut. Keiner von ihnen bezeichnete sich als Eigentümer seiner Unternehmen. Sie hatten erkannt, dass sie nur Verwalter waren.« 93

Das stand in Widerspruch zu allem, für das Putin eingetreten war, als er sich um die Präsidentschaft bewarb. Es war eine Täuschung, die der Überzeugung der KGBler entsprang, dass sie die Tycoons großgemacht hätten, als Russland zur Marktwirtschaft überging, und dass alles, was die neuen Milliardäre ihr Eigen nannten, eigentlich ihnen zustand. Was Chodorkowski widerfuhr, war eine Vergeltungsmaßnahme für die Neunzigerjahre, als der KGB zum Zuschauen verdammt gewesen war, weil der zunehmende Einfluss der westlich orientierten Moskauer Tycoons die Ex-Agenten an den Rand gedrängt hatte. »Was Putin jetzt veranstaltet, ist der Gegenschlag des KGB«, meinte ein ehemaliges ranghohes Mitglied des Militärgeheimdienstes damals. »Die KGBler haben die Oligarchie erschaffen, und dann mussten sie ihr dienen. Dafür rächen sie sich jetzt.« 94

Die Schlacht hatte einen Punkt erreicht, an dem der KGB meinte, den Griff nach den Unternehmen damit rechtfertigen zu können, dass man so den Ausverkauf der größten Ölvorkommen des Landes an den Westen verhinderte. »Jukos hatte vor, weite Teile seiner Assets an den Westen abzutreten«, sagte jemand aus diesen Reihen. »Die Profite, die [Chodorkowski] blitzartig eingefahren hatte, all die Vermögenswerte wären über Tarnfirmen ins Ausland geflossen. Hätten wir dem keinen Einhalt geboten, hätten wir die Kontrolle über unsere Öl- und Gasindustrie verloren. Wir wären für lange Zeit zu Sklaven der westlichen Industriellen geworden.« 95

Und so kam es, dass die übrigen Milliardäre Russlands in den Tagen nach Chodorkowskis Verhaftung fassungslos zusahen, wie die Staatsanwaltschaft dessen 15 Milliarden Dollar schwere Unternehmensanteile an JukosSibneft beschlagnahmte. Putin teilte ihnen klar und deutlich mit, dass über die Verhaftung nicht zu verhandeln sei und die Börsenkurse stürzten ab. Auf die Bitte der Oligarchen um eine Stellungnahme reagierte Putin am Montag nach der Verhaftung mit harschen und unmissverständlichen Worten: »Es wird keine Treffen oder Verhandlungen über das Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden geben, solange diese Behörden auf dem Boden der russischen Gesetze handeln. Vor dem Gesetz sollte jeder gleich sein, unabhängig davon, wie viele Milliarden er auf seinen privaten oder geschäftlichen Konten hat. Nur so können wir die Menschen dazu bewegen und zwingen, Steuern zu zahlen, und das organisierte Verbrechen und die Korruption bekämpfen.« 96

Es war der Beginn einer neuen Ära. Putin hatte die Unsicherheit, die die ersten zwei Jahre seiner Präsidentschaft geprägt hatte, überwunden. Die neuen Herrscher im Kreml waren bereit, die strategisch wichtigen Güter des Landes unter sich aufzuteilen. Es gab keinen Weg zurück, weder für Putin noch für seine Leute.