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AUS DEM TERROR ERWACHT EINE GROSSMACHT

»WIE EIN KNOTEN MIT DREI ELEMENTEN«

Zu Beginn seiner Präsidentschaft schien Wladimir Putin die Führungsrolle eher zu widerstreben. Als er an die Macht katapultiert wurde, hatte er Boris Jelzin gesagt, er sei nicht bereit für diese Aufgabe. Mitgliedern der Jelzin-Familie gegenüber beschrieb er sich als »angestellter Manager« und suggerierte damit, dass er das Amt nur ein paar Jahre ausüben werde. Kam es zu einer Katastrophe wie dem Untergang des U-Boots Kursk, zog er sich zurück. Er war dann wie gelähmt, handlungsunfähig und manchmal weiß wie eine Wand. Aber nun, da er die Festnahme von Russlands reichstem Mann angeordnet hatte, gab es kein Zurück mehr. Selbst wenn er gewollt hätte – das war keine wirkliche Option mehr für ihn. Insbesondere seine Vertrauten, die silowiki, die er aus Sankt Petersburg mitgebracht hatte, drängten ihn, an der Macht zu bleiben. »Sie machten ihm Angst«, sagte Pugatschow. »Sie sagten ihm: ›Niemand wird dir Jukos oder die Übernahme von NTW verzeihen. Wenn du in den Westen gehst, wirst du sofort verhaftet.‹« 1 Nun, da sie Gefallen an der Macht gefunden hatten, hatten die KGB-Leute nicht vor, ihre Plätze zu räumen. Sie bereiteten eine weitere Machtübernahme im Land vor. Nach einer Wiederwahl Putins 2004 würden sie einige Abmachungen ignorieren können, die er mit der Jelzin-Familie getroffen hatte, als er den Stab von ihr übernahm. 2

Putin hatte die Medienmogule Wladimir Gussinski und Boris Beresowski ausgeschaltet. Frühe Reformen seiner Regierung hatten die Macht regionaler Gouverneure durch die Schaffung sogenannter »Superregionen«, die von durch den Kreml eingesetzten Gesandten regiert wurden, drastisch eingeschränkt. Mit solchen Maßnahmen – geleitet von Dmitri Kosak, einem ehemaligen Militärgeheimdienstler und Staatsanwalt aus Sankt Petersburg – war die Politik der Jelzin-Jahre rückgängig gemacht worden, während derer der Präsident seine Gouverneure aufgefordert hatte, »sich so viel Freiheiten zu nehmen wie nur möglich«. Liberale und die früheren Medienmogule sprachen düstere Warnungen vor einer Rache des KGB aus, vor dem zunehmend autoritären Griff des Kreml. Die Verhaftung Chodorkowskis und die Beschlagnahmung seines Anteils an JukosSibneft hatten die Börse und die Geschäftswelt erschüttert. Doch Putin und der Kreml bemühten sich, dies als Sonderfall darzustellen, als Bestrafung eines einzelnen skrupellosen Oligarchen, der zu weit gegangen war. Der Rest des Landes profitierte von gestiegenen Ölpreisen, die seit Putins Amtsantritt von 12 Dollar auf 28 Dollar pro Barrel geklettert waren. Putins Umfragewerte während seiner ersten Amtszeit lagen gleichbleibend bei ungefähr 70 Prozent, sie waren Ausdruck der Zustimmung der Bevölkerung zur Beendigung der chaotischen Situation der Neunzigerjahre und zu seinen Bemühungen, die Oligarchen in die Schranken zu weisen.

Die Zeichen standen gut für einen problemlosen Übergang in eine zweite Amtszeit. Aber die Übernahme von NTW und die Verhaftung von Chodorkowski waren nicht die einzigen Ereignisse, die in seiner ersten Amtszeit für Kontroversen gesorgt hatten – und einem bislang unveröffentlichten Insiderbericht zufolge waren führende silowiki bestrebt, nichts dem Zufall zu überlassen. Am Abend des 23. Oktobers 2002, einem Mittwoch, verschafften sich mindestens vierzig bewaffnete tschetschenische Kämpfer Zutritt zum Dubrowka-Theater in einem Moskauer Vorort südlich des Kreml und feuerten mit Sturmgewehren in die Luft, gerade in dem Moment, als eine Gruppe Stepptänzer und Stepptänzerinnen auf die Bühne ausschwärmte, um den zweiten Akt des populären neuen russischen Musicals Nord-Ost zu eröffnen. 3 Im Theater befanden sich fast neunhundert Zuschauer, Angehörige der in Putins Russland aufblühenden Mittelschicht, die sich eine Hommage an den Heldenmut der Sowjets während der Belagerung Leningrads im Zweiten Weltkrieg ansehen wollte. Die Tschetschenen verminten das Theater mit Sprengvorrichtungen, während sich einige der Geiselnehmerinnen in schwarzen Hidschabs, sogenannte »Schwarze Witwen«, die sich offensichtlich Sprengstoffgürtel umgeschnallt hatten, inmitten der verängstigten Menge positionierten und andere Kämpfer den Saal abriegelten.

Die Geiselnahme, die sich über drei Tage zog, schien Putins schlimmster Albtraum zu sein. Die tschetschenischen Kämpfer, angeführt von Mowsar Barajew, dem Neffen von Tschetscheniens bekanntestem Rebellen, forderten ein Ende der russischen Kampfhandlungen in der Republik. Die Auseinandersetzungen hatten 1999 infolge der Bombenanschläge auf Wohnhäuser begonnen, die Putins Aufstieg an die Macht vorangetrieben hatten. Die Geiselnehmer gaben Russland sieben Tage Zeit, seine Truppen zurückzuziehen; andernfalls würden sie das Gebäude sprengen. 4 An dem Abend, als sich die Nachricht von der Geiselnahme verbreitete, versammelten sich Oppositionspolitiker und Sicherheitskräfte vor dem Theater, bei Dunkelheit und kaltem Regen, entsetzt, dass so etwas nur wenige Kilometer vom Kreml entfernt passieren konnte. Wie war es möglich gewesen, dass so viele bis an die Zähne mit Sprengstoff bewaffnete Rebellen das Theater offenbar unter aller Augen hatten stürmen können?

In den folgenden drei Tagen verschanzte sich Putin in seinem Büro in einem der oberen Stockwerke des Kreml, von Panik überwältigt angesichts der außer Kontrolle geratenden Ereignisse nicht weit von ihm entfernt. Während er nach einem Ausweg aus der Krise suchte, sagte er eine geplante Reise nach Mexiko ab, wo er andere Staatschefs, unter ihnen George W. Bush, treffen sollte. Die Geiselnehmer hatten ein paar prominenten Persönlichkeiten erlaubt, das Theater zu Verhandlungen zu betreten, darunter der Parlamentarier und populäre Sänger Iossif Kobson, liberale Oppositionspolitiker und –politikerinnen sowie eine Journalistin, Anna Politkowskaja, bekannt für ihre furchtlose Berichterstattung über den Tschetschenienkrieg. Es gelang ihnen zwar, die Freilassung einer Reihe von Geiseln durchzusetzen, darunter einige der Kinder und Ausländer, doch die Angreifer weigerten sich, von ihrer Forderung nach einem Ende des Krieges abzurücken.

Am dritten Abend der Geiselnahme durfte eine NTW-Crew das Theater für ein Interview mit Barajew betreten. »Unser Ziel ist, wie wir mehr als einmal erklärt haben, die Beendigung des Krieges und der Abzug der Truppen«, sagte er. 5 Eine der Geiselnehmerinnen, mit einem Sprengstoffgürtel ausgerüstet, sagte zu dem Reporter: »Wir folgen Allahs Pfad. Wenn wir hier sterben, ist das nicht das Ende.«

Wieder war Putin vor Angst gelähmt. Die Angreifer hatten klargemacht, dass sie die Geiseln töten und das Gebäude in die Luft sprengen würden, sollten die Sicherheitskräfte eingreifen, 6 und es hatte bereits Tote gegeben: Zwei Zivilisten und ein FSB-Oberst waren bei dem Versuch, das Theater zu betreten, erschossen worden. 7

Am Samstag, dem 26. Oktober, kurz vor Morgengrauen, handelten die russischen Sicherheitskräfte schließlich. Damit die Geiselnehmer keine Explosionen auslösen konnten, wurde durch die Lüftungsschächte Gas in den Saal gepumpt. Die Geiseln und einige der tschetschenischen Kämpfer und Kämpferinnen wurden tatsächlich bewusstlos, aber auch viele Geiseln starben – und der Rettungsdienst war nicht gut darauf vorbereitet, denjenigen zu helfen, die noch am Leben waren. Sie wurden an den Straßenrand gelegt, einige erbrachen sich, andere waren bewusstlos, wieder andere drohten an ihren Zungen zu ersticken. 8 Neunzig Minuten vergingen, bis sie zur Behandlung in ein Krankenhaus gebracht wurden. 9 Da sie mit einem Blutbad infolge von Explosionen und Schüssen gerechnet hatten, hatten achtzig Prozent der Krankenwagen, die am Ort des Geschehens ankamen, nur Ausrüstung zur Behandlung schwerer äußerer Verletzungen dabei, nicht für die Auswirkungen von Gas. 10 Am Ende des folgenden Tages lag die Zahl der Todesopfer unter den Geiseln bei mindestens 115 Personen. Nur zwei waren durch Schüsse umgekommen. Alle anderen hatte das Gas getötet. 11

Eine Zeit lang hatte Putin mit öffentlicher Empörung wegen des Umgangs mit der Geiselnahme zu kämpfen. Wie war es überhaupt dazu gekommen? Warum war der Rettungsdienst nicht darüber informiert, um welches Gas es sich handelte? Mehreren Überlebenden zufolge war es von unter der Bühne in den Saal geströmt und hatte die Geiselnehmer im näheren Umkreis bewusstlos gemacht, doch es hatte sich so langsam verbreitet, dass andere den beißenden Geruch und das grünlich aussehende Gas hatten bemerken können. 12 Unter dem steigenden Druck, preiszugeben, welches Gas verwendet worden war, erklärte der russische Gesundheitsminister schließlich, es sei ein Aerosolderivat von Fentanyl gewesen, ein starkes Opioid, das als Schmerzmittel bekannt ist und das seiner Meinung nach »für sich genommen nicht tödlich sein kann«. 13 Der Tod der Geiseln sei auf ihren geschwächten Zustand nach drei Tagen durch erheblichen Stress, Dehydrierung und Hunger zurückzuführen. Im abschließenden Bericht der Moskauer Staatsanwaltschaft, der ein Jahr später auftauchte, wurde das Gas schlicht als »nicht identifizierte chemische Substanz« bezeichnet. 14

Was sich in der Nacht, als das Theater gestürmt wurde, im Kreml abspielte, ist seither hinter einer Mauer des Schweigens verborgen. Doch dann begann ein Insider, der laut eigener Aussage damals an den Diskussionen im Kreml beteiligt war, Licht in die Ereignisse zu bringen. Er behauptete, das Geschehen sei das tragische Scheitern einer Verschwörung gewesen, die nicht nach Plan gelaufen war. Laut seinem Bericht wurde der Angriff auf das Theater von Nikolai Patruschew, dem mürrischen FSB-Chef, geplant, um Putins Präsidentschaft weiter zu festigen. Es sollte nichts weiter als ein vorgetäuschtes Manöver sein, um Putins Autorität zu fördern, indem er die Geiselnahme erfolgreich beendete, und den nachlassenden Rückhalt in der Bevölkerung für den Krieg in Tschetschenien zu stärken. Patruschew habe Putin mitgeteilt, so der Insider, die angeheuerten Terroristen hätten keine echten Bomben dabei. Wenn die Geiselnahme vorbei sei, würden sie unter dem Schutz des FSB in die Türkei ausgeflogen, während Putin als Held aus der Sache hervorgehen würde – als Staatschef, der eine Geiselkrise beendet hatte, ohne dass dabei Zivilisten zu Tode gekommen waren. In der Folge hätte er in Tschetschenien noch härter durchgreifen können.

Doch bereits am ersten Tag der Geiselnahme sei der Plan in sich zusammengefallen, als einer der Tschetschenen eine Zivilistin erschoss, die das Theater betreten hatte. Putin wurde nervös, so der Informant: »Alles geriet außer Kontrolle. Niemand wusste, auf wen oder was er noch vertrauen konnte.« 15 Als die Sicherheitskräfte sich bereitmachten, das Gebäude zu stürmen, wurde die Geiselnahme wie ein echter Terrorakt behandelt. Igor Setschin, Putins engster KGB-Kollege aus Sankt Petersburg, wurde hinzugezogen, um die Situation in den Griff zu bekommen, und Patruschew, der von Setschins Neigung zu Übereifer wusste, stärkte ihm den Rücken, wie die an den Diskussionen beteiligte Person berichtete. »Er hat zu ihm gesagt: ›Igor, du hast doch Militärerfahrung. Hilf uns, das Problem zu lösen.‹«

Der Aussage dieser Person nach war die Verwendung von Gas Setschins Idee gewesen. Er hatte mit einem früheren Kommandanten von Russlands Abteilung für chemische Kriegsführung gesprochen, der ihm gesagt habe, das Gas sei alt, es könne daher möglicherweise unwirksam sein. »Setschin hat mir gesagt, er habe deshalb angeordnet, eine zehnfach erhöhte Dosis zu verwenden«, sagte der ehemalige Beamte, der auch behauptete, Putin habe, entsetzt über die Entwicklung der Ereignisse, eine Rücktrittserklärung unterzeichnet. Aber zu diesem Zeitpunkt sei er schon zu tief involviert gewesen, man habe ihm zu verstehen gegeben, dass er bleiben müsse. Patruschew schien die Planung des Angriffs und die Erwiderung der Sicherheitskräfte darauf absichtlich missverständlich gehalten zu haben. Auch Blutvergießen und Tod würden Putins Position als Präsident festigen. »Es war so organisiert, dass Putin auf jeden Fall für eine zweite Amtszeit bleiben müsste.« Falls irgendetwas schiefgehen sollte, würde er noch tiefer in die Sache hineingezogen werden müssen. »Wäre Putin ausgetauscht worden, hätte das für Kolja [Patruschew] das Aus bedeutet. Also hat er diese Geschichte organisiert, damit Putin Blut an den Händen hatte.« 16

Dmitri Peskow, der Kreml-Sprecher, tat den Bericht des Insiders als »absoluten Blödsinn« ab und sagte, diese Person »weiß gar nichts«. Womöglich lässt sich diese Geschichte niemals vollständig verifizieren. Nur ein sehr kleiner Kreis von Personen aus dem Führungszirkel weiß, was sich wirklich abgespielt hat, aber der ehemalige Funktionär, von dem ich diese Version der Ereignisse habe, war nah genug dran, um Bescheid wissen zu können.

Wäre da nicht ein wenig beachteter Bericht der Moskauer Staatsanwaltschaft, der ein Jahr nach der Geiselnahme auftauchte, könnte man seine Behauptungen leicht als eine weitere wilde Verschwörungstheorie abtun, wie sie immer entstehen, wenn im Kreml Entscheidungen hinter verschlossenen Türen getroffen werden – insbesondere nach den Unklarheiten im Zusammenhang mit den früheren Bombenanschlägen auf Wohnhäuser. Aber als die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen abschloss, hatte sie festgestellt, dass die beiden größten Bomben im Saal im Prinzip harmlose Nachbauten waren. Zumindest ein Teil der Geschichte des Insiders scheint also wahr zu sein. »Die Bomben waren nicht gebrauchsfertig: Es gab nichts, was die Zünder hätte auslösen können«, hieß es in dem Bericht. »Es gab keine Batterien. (…) Die Bomben stellten sich als ungefährliche Attrappen heraus.« 17 Dasselbe galt für die Selbstmordgürtel, die einige der Frauen getragen hatten, sowie für andere Sprengkörper. Viele der Frauen, die die Gürtel umgelegt hatten, befanden sich mit den Geiseln im Zuschauerraum, doch statt die Sprengkörper wie angedroht explodieren zu lassen, wurden sie durch das Gas ohnmächtig. Danach wurden sie von russischen Sicherheitskräften nicht etwa befragt, um die terroristische Verschwörung aufzuklären, sondern erschossen. 18

Obwohl es fünf bis zehn Minuten dauerte, bis die Wirkung des Gases eingetreten war, wie die Staatsanwaltschaft feststellte, hatten die Terroristen keine Bombe zur Detonation gebracht. War es wirklich denkbar, dass sie nie vorgehabt hatten, irgendetwas in die Luft zu sprengen, und dass die Verwendung des Gases zu vermeidbaren Todesfällen geführt hatte? Nicht namentlich genannte Quellen innerhalb des FSB und des Innenministeriums sagten dem Kommersant, der einzigen russischen Zeitung, die anscheinend über die Ergebnisse der Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft berichtete, dass die Terroristen selbst dafür gesorgt hatten, die Zünder zu entfernen, aus Angst vor ungeplanten Explosionen. 19 Auch die liberale Politikerin Irina Chakamada, die das Gebäude zu Verhandlungen betreten hatte, äußerte Zweifel bezüglich der Geiselnahme: »Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass die Terroristen nicht die Absicht hatten, das Theater zu sprengen, und dass die Behörden kein Interesse an der Befreiung aller Geiseln hatten. Aber der Chef der Präsidialverwaltung befahl mir in drohendem Ton, die Finger von dieser Geschichte zu lassen.« 20

Fragen ergaben sich auch hinsichtlich einiger der beteiligten Terroristen. Ihr offenkundiger Anführer, Mowsar Barajew, war Berichten zufolge nur zwei Monate zuvor verhaftet worden. 21 Wie konnte er unmittelbar nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis diesen Anschlag durchführen? Dasselbe gilt für die eine vermeintliche Selbstmordattentäterin, deren Mutter sie auf Filmmaterial von der Geiselnahme erkannte. 22 Waren die Behörden daran beteiligt gewesen, diese Personen aus dem Gefängnis zum Theater zu bringen?

Es war nicht das erste Mal, dass ein Terrorangriff in Russland Fragen über die Beteiligung der Sicherheitsbehörden aufwarf. Die bekanntesten vorherigen Fälle waren die Bombenanschläge auf Wohngebäude, die Putin halfen, seine Macht zu festigen. Doch in diesem Fall rief der Angriff weit weniger Kontroversen hervor. Die meisten Unklarheiten betrafen die Verwendung des Gases. Während sich die Ergebnisse der Staatsanwaltschaft bezüglich der Bombenattrappen am Ende des Kommersant-Berichts verbargen, wurde die Festnahme einer angeblichen Terrorgruppe, die weitere Attacken vorbereitet habe, an den Anfang des Artikels gesetzt. 23

Nach dem Angriff wurden kritische Stimmen zu den Ereignissen weitgehend beiseite gewischt, und der Großteil der Bevölkerung stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, dass die Anzahl der Todesopfer nicht noch höher war. Putin wurde von internationalen Staatschefs und russischen Politikern gleichermaßen für seinen Umgang mit der Situation gelobt. 24 Seine Umfragewerte erreichten ihren höchsten Stand seit seiner Wahl. 25 Statt dass bei den russischen Sicherheitsbehörden Verantwortliche gehen mussten, weil sie zugelassen hatten, dass eine Gruppe bewaffneter Terroristen ins Zentrum Moskaus vordringen konnte, wurden sie mit einer Mittelerhöhung belohnt. 26 Der Terrorakt ermöglichte es Putins Männern außerdem, beim Militäreinsatz in Tschetschenien einen Gang hochzuschalten, Pläne, die Truppenzahl zu reduzieren, wurden verworfen. 27 Unzählige Tschetschenen verschwanden nun bei nächtlichen Razzien aus ihren Häusern, und der zuvor gestiegene Druck auf den Kreml, Friedensgespräche mit dem Tschetschenenführer Aslan Maschadow zu führen, löste sich in Luft auf. Wieder einmal war der Rückhalt in der Bevölkerung für den Krieg erreicht, während Maschadow vollkommen diskreditiert war. Die russischen Behörden beschuldigten ihn, hinter der Attacke zu stecken, 28 aber sie präsentierten abgesehen von einer alten Videoaufnahme, in der er eine neue Offensive androhte, nie Beweise. Maschadow selbst bestritt jegliche Beteiligung.

Die Geiselnahme bot dem Kreml außerdem eine Gelegenheit, dem Krieg in Tschetschenien den Anstrich eines westlichen Kriegs gegen den Terror zu verpassen. Der Versuch, Verbindungen zwischen tschetschenischen Rebellen und militanten Islamisten aus dem Ausland herzustellen, hatte bereits in den Monaten vor dem Anschlag begonnen, 29 und die Geiselnahme verstärkte diese Sichtweise noch. Al Dschasira sendete ein Video, in dem Menschen vor Bannern, auf denen »Allah ist groß« auf Arabisch stand, behaupteten, Komplizen der Tschetschenen zu sein, während Putin die Attacke als »monströse Manifestation des Terrorismus« bezeichnete, geplant von »ausländischen Terrorzentren«. 30 In den darauffolgenden Monaten begannen die USA, ihre Sicht auf die Streitkräfte der tschetschenischen Rebellen zu verändern. Sie bezeichneten drei Gruppen, die an der Attacke beteiligt gewesen sein sollen, als Terrororganisationen mit Verbindungen zur al-Qaida, 31 und stuften Maschadow nicht länger als moderat ein. »Unsere Tschetschenienpolitik hat sich der Russlands angenähert«, sagte ein hochrangiger US-Diplomat kurz nach dem Überfall. »Dieser Angriff hat der [tschetschenischen] Sache massiv geschadet.« 32

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Während einerseits die KGB-Leute versuchten, Putin fest mit der Präsidentschaft zu verbinden, war zu beobachten, wie er sich zugleich auch an diese Rolle gewöhnte – wenn man von schrecklichen Ereignissen wie dem Dubrowka-Überfall absah. »Es fing an, ihm zu gefallen, all die Feierlichkeiten, die G8-Gipfel, die Anerkennung«, sagte Pugatschow. 33 Vom engsten Führungskreis wurde er als Retter Russlands gefeiert. Er habe das Land vor dem sicheren Zusammenbruch bewahrt, sagten sie, vor der Versklavung durch die Oligarchen und den zerstörerischen Kräften des Westens. Selbst diejenigen, die in der KGB-Hierarchie über ihm gestanden hatten, schmierten ihm nun Honig um den Bart.

Bei einer Gelegenheit zu Beginn seiner ersten Amtszeit, als Putin einen kleinen Kreis von Freunden zur Feier seines Geburtstags versammelt hatte, brachte einer seiner ehemaligen Chefs in Dresden, Sergej Tschemesow, einen Toast auf seinen Aufstieg zur Macht aus. »Er war einer seiner engsten Vertrauten, der in einem früheren Leben, bevor Putin Präsident wurde, nicht nur älter, sondern auch ranghöher war als dieser, und den Putin respektierte«, sagte Pugatschow. »Er sagte zu ihm: ›Wladimir Wladimirowitsch, ich erhebe mein Glas auf dich. Wie du weißt, ist viel Zeit vergangen, seit ich erfahren habe, dass du Präsident geworden bist, aber das Gefühl von damals ist geblieben. Für mich war es, als wäre über Russland die Sonne aufgegangen. (…) Jetzt teilen anscheinend hundert Prozent der Bevölkerung dieses Gefühl.‹«

Pugatschow fand die Rede peinlich. Er unterbrach sie, weil er mit der Besprechung der politischen Lage, der gewaltigen Aufgaben, die vor ihnen lagen, fortfahren wollte. Doch Putin habe ihn wütend angefunkelt und ihm gesagt, er solle seinen Freund aussprechen lassen. »Tschemesow sah ihm direkt in die Augen und sagte ihm, er sei ein Geschenk Gottes. Er sagte, Gott habe dem Land einen Herrscher gegeben, der das große Leid des russischen Volkes beenden werde. Das war ein Typ, der ihn seit fünfzehn Jahren kannte und einmal sein Chef gewesen war. (…) So etwas habe ich da zum ersten Mal erlebt. (…) Doch so war es von Anfang an, fast vom ersten Tag an. Er ist unglaublich eitel.« Wollte man Putin eine Frage stellen, wurde es üblich, ihm zuerst ausführlich zu schmeicheln. »Setschin war darin sehr gut. Mit einer tiefen Verbeugung sagte er zu ihm: ›Wladimir Wladimirowitsch, ich erinnere mich an deine Handlungen – du hast die Welt verändert.‹ Als ich das alles zum ersten Mal hörte, dachte ich, ich wäre in einer Irrenanstalt gelandet. Sie sagten Dinge zu ihm wie: ›Du hast das Wesentliche in der Menschheit aufgerüttelt. Du bist eine beeindruckende Persönlichkeit.‹« 34

Das ständige Katzbuckeln gefiel Putin zunehmend. Er begann an seine Macht als neuer Zar zu glauben, und wurde mutiger darin, härtere und autoritärere Entscheidungen zu treffen – unter anderem die, sich mit Chodorkowski und seinen Leuten anzulegen. »Im Grunde hatte sich ihm die gesamte Oligarchie unterworfen, bot ihm dies und jenes an und kam zu ihm, um wegen der geringfügigsten Dinge um Erlaubnis zu bitten«, erzählte Pugatschow. »Und das stieg ihm zu Kopf. Es war ein schleichender Prozess. Er hatte diese Tendenzen schon immer, aber an irgendeinem Punkt veränderte er sich, und dieser grandiose Glaube an sich als Zar ergriff Besitz von ihm.« 35

Zunächst hatte sich Putin den Staatsapparat noch mit Vertretern der Jelzin-Familie geteilt, doch nach der Festnahme von Chodorkowski lag er allein in seiner Hand. Entsetzt über die Ereignisse und weil er im Unklaren gelassen worden war, trat der gewiefte Alexander Woloschin von der alten Garde der Jelzin-Ära, seit März 1999 Leiter der Präsidialverwaltung im Kreml, zurück. Woloschin hatte mehrmals mit Putin über die juristische Attacke auf Chodorkowski gesprochen, aber bis zum letzten Moment hatte er geglaubt, dass sie noch verhindert werden könnte: »Ich habe ehrlich nicht damit gerechnet, dass sie ihn ins Gefängnis stecken würden. Ich hielt das alles für eine Art Missverständnis. Es war deutlich, dass es sich um eine Kampagne handelte, und sie war schlimm. Aus meiner Sicht schadete es der Entwicklung des Landes.« 36

Putin ersetzte Woloschin durch einen eigenen Mann, einen Kollegen aus Sankt Petersburg: Dmitri Medwedew, einen zurückhaltenden Anwalt, der Putin in rechtlichen Fragen beriet, darunter die Eindämmung der Auswirkungen des Öl-gegen-Lebensmittel-Skandals. Er besaß den Ruf, stets um Präzision bemüht, aber auch schüchtern zu sein. Vor allem aber war er buchstäblich von Putin großgezogen worden, nachdem er mit nur fünfundzwanzig Jahren in die Petersburger Verwaltung eingetreten war. »Putin hat Medwedew herangezogen«, sagte Waleri Mussin, der ebenfalls als Rechtsberater in Sobtschaks Bürgermeisterbüro tätig gewesen war. »Medwedew hat immer zu Putin aufgesehen; er betrachtete ihn als jemanden, von dem er lernen konnte.« 37

Das einflussreichste Relikt aus der Jelzin-Zeit war durch einen Jasager aus Sankt Petersburg ersetzt worden, der kaum mehr als drei Jahre Kreml-Erfahrung als stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung besaß. Am selben Tag, an dem Medwedews Ernennung bekanntgegeben wurde, signalisierten die Petersburger silowiki ihre Absichten unmissverständlicher denn je. Die Staatsanwaltschaft verkündete, dass sie 15 Milliarden Dollar Jukos-Aktien eingefroren habe – die 44 Prozent, die Chodorkowski indirekt am JukosSibneft-Konzern hielt –, um zu verhindern, dass er sie verkaufte. 38 Zutiefst erschüttert interpretierte der Markt diese Maßnahme als das offenkundigste Zeichen dafür, dass es den silowiki nicht nur mit Chodorkowskis Verhaftung ernst war, sondern auch mit der Übernahme von Jukos selbst. Darüber hinaus wurde dieser Vorgang als das Ende der Oligarchen der Jelzin-Ära gewertet, der »Familie«, deren Interessen fast vier Jahre sorgfältig gegen die der silowiki ausbalanciert worden waren. Für den Fall, dass es noch nicht alle begriffen hatten, machte Alexej Kudrin, Putins vergleichsweise liberaler Finanzminister, es noch einmal deutlich, als er Woloschins Rücktritt öffentlich als Ende der Jelzin-Jahre bejubelte. »Byzanz ist erledigt!«, erklärte er. »Bei allem Respekt gegenüber Alexander Woloschin möchte ich unterstreichen, dass sein Rücktritt mit dem Ende der Jelzin-Epoche zusammenfällt. (…) [Die Oligarchen] müssen nun wieder in einem wirtschaftlichen Umfeld agieren, in dem man nur mit Fairplay erfolgreich sein kann.« 39

Es war, als würde die Maschinerie der Parallelregierung, an der Setschin und andere heimlich hinter den Kulissen gearbeitet hatten, nun langsam in Gang gesetzt, es wirkte, als würde eine PR-Kampagne lanciert werden. Am selben Tag, an dem die Jukos-Aktien beschlagnahmt wurden und Medwedew zum Leiter der Präsidialverwaltung im Kreml ernannt wurde, hielt Putin ein vertrauliches Treffen mit den Chefs einiger der weltweit größten Finanzinstitute ab, darunter die CitiGroup, Morgan Stanley und die ABN Amro. 40 Der in den USA geborene Chef der russischen Investmentbank United Financial Group, Charlie Ryan, half Putin, seine Absichten zu vermitteln. Die beiden hatten seit Putins Petersburger Zeiten in den frühen Neunzigerjahren zusammengearbeitet. Von Anfang an war Ryan ein wichtiges Sprachrohr für die Botschaften von Putins Kreml an die globale Finanzgemeinde und die übrige Welt gewesen.

Putin teilte den Investoren mit, die Jukos-Kampagne kündige keineswegs einen größer angelegten Angriff auf die Privatwirtschaft an 41 und die Beschlagnahmung der Aktien sei kein Konfiszieren, es gehe dabei lediglich um die Deckung von Verbindlichkeiten. Die Kampagne sei nichts weiter als die Durchsetzung des Rechts. Zu einem gewissen Grad ließen sich die Banken – von denen einige, unter anderem die CitiBank, Risikopositionen von Jukos-Schulden im Wert von einigen Milliarden Dollar hielten – überzeugen. Sie forderten die Kredite nicht ein. Hätten sie es getan, hätten sich Chodorkowskis Voraussagen über den Zusammenbruch der Wirtschaft bewahrheiten können. Die Macht im Kreml war gekippt, und Putins Leute bauten bereits neue Kommunikationskanäle mit dem globalen Finanzwesen auf, dessen Giganten eines Tages auf Knien um die Hunderte Milliarden Dollar schweren Vermögenswerte unter Putins Kontrolle betteln würden.

Stellte Woloschins Rücktritt bereits einen Machttransfer von der Jelzin-Familie zu Putins Petersburger silowiki dar, so zementierten die Parlamentswahlen nur etwa einen Monat später ihren politischen Einfluss. Die prowestlichen liberalen Parteien hatten während der gesamten Ära Jelzin mit Anatoli Tschubais’ Union der rechten Kräfte und Grigori Jawlinskis Jabloko eine sichere und wichtige Vertretung im Parlament gehabt. In den Dezemberwahlen 2003 wurden sie jedoch vernichtend geschlagen. 42 Die TV-Sender, nun ein staatliches Monopol, verweigerten ihnen Sendezeit, während der Kreml sich hinter eine Partei der neuen Putin-Generation stellte, die nationalistische Rodina, über die ausgiebig im Staatsfernsehen berichtet wurde. Ihre Chefs, Sergej Glasjew und Dmitri Rogosin, kündigten einen entschieden staatstreuen Kurs an, der zu der neuen Stimmung im Kreml passte, den Oligarchen seien die Profite wegzunehmen und dem Staat zurückzugeben: »Gebt den Reichtum der Nation dem Volk!«, lautete einer der Slogans der Partei. 43

Das entsprach exakt der augenblicklichen Gemütslage, in der die staatlichen Fernsehsender Nachrichten über Chodorkowskis Verhaftung in Endlosschleife sendeten. Die liberale Union rechter Kräfte und Jabloko hatten keine Chance. Sie schafften es nicht über die Fünfprozenthürde, um Sitze in der Duma zu erlangen, während Rodina aus dem Nichts 9 Prozent der Stimmen auf sich vereinte. 44 Die Pro-Kreml-Partei Einiges Russland, die erst vier Jahre zuvor als Vehikel, um Putin an die Macht zu bringen, gegründet worden war, sicherte sich die absolute Mehrheit im Parlament, obwohl sie – abgesehen vom Thema der Präsidententreue – einen nahezu inhaltslosen Wahlkampf führte. 45 Die Kommunisten, der große Feind in der Jelzin-Ära, schleppte sich mit mageren 12,6 Prozent der Stimmen in die Duma.

Es war klar, dass Putin von nun an für jegliche politische Maßnahme, die er plante, freie Hand haben würde. Von den Liberalen würde es keinen nennenswerten Gegenwind geben. Die Pro-Kreml-Parteien verfügten über eine durchschlagende Mehrheit. In Russland hatte die Ära eines Scheinparlaments begonnen. In einem solchen Umfeld schien Putins Wiederwahl für eine zweite Amtszeit von vornherein so gut wie festzustehen, seine Umfragewerte lagen bei über 70 Prozent. Doch selbst in dieser Situation überließen er und seine Leute nichts dem Zufall.

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Seit der Verhaftung von Chodorkowskis Geschäftspartner Platon Lebedew im Juli hatten die Spannungen zwischen Putin und Michail Kasjanow, dem geselligen Ministerpräsidenten und letztem Überbleibsel aus der Jelzin-Zeit in einer Machtposition, zugenommen. Kasjanow war unter Jelzin Finanzminister gewesen, seine Verbindungen in die »Familie« wurzelten tief. Als Putin an die Macht kam, hatte Roman Abramowitsch darauf bestanden, dass Kasjanow als ihr Vertreter zum Ministerpräsidenten ernannt würde, so die Behauptung eines hochrangigen russischen Bankers, der dem Sicherheitsapparat nahestand. Ein Sprecher von Abramowitsch streitet das ab. 46 Kasjanow hatte wenig Lust auf dieses Amt; es erschien ihm gefährlich. Er hatte sich an seine bequeme Position im Finanzministerium gewöhnt, wo er als stellvertretender Finanzminister für die Auslandsschulden verantwortlich gewesen war. Im Zentrum eines heiklen Machtwechsels zu stehen, wo er sowohl der Familie als auch Putin verpflichtet war, hatte nicht zu seinen beruflichen Zielen gehört. Aber man überredete ihn, und er gewöhnte sich nach und nach an seine neue Rolle. »Dreieinhalb Jahre lang war ich der Ansicht, dass wir die richtigen Leute am richtigen Ort waren, die das Richtige taten«, sagte er. »Aber als sie Lebedew ins Gefängnis warfen und es zu einer Reihe anderer Skandale kam, begriff ich, dass es vorbei war.« 47

Kasjanows Regierung hatte die Wirtschaftsreformen mit liberalem Anstrich aus Putins erster Amtszeit umgesetzt, die Reduzierung des Einkommenssteuersatzes auf pauschale 13 Prozent sowie die Landreformen, die endlich eine Privatisierung von Land erlaubten. Als Ministerpräsident führte er außerdem die Gespräche mit Lee Raymond von Exxon über den möglichen Verkauf von JukosSibneft an ExxonMobil. »Damals«, sagte er, »waren wir und die USA uns freundschaftlich gesinnt. Die Beziehungen zu Bush und [Vizepräsident] Cheney waren sehr gut. Ich sprach viel mit Cheney über die Energiewirtschaft. Unsere Kooperation nach der Tragödie des 11. September war großartig, und die beiden Regierungen arbeiteten beim Truppentransit nach Afghanistan zusammen. (…) Hätte es einen Austausch von Unternehmensanteilen zwischen Jukos und ExxonMobil gegeben, hätte das den gesamten Energiesektor verändert. Er wäre viel liberaler geworden.«

Doch ab 2003 kam es zu häufigen Konfrontationen zwischen Kasjanow und Putins KGB-Leuten. Zu Beginn drehten sich diese Konflikte um Gazprom. Putin hatte seinen eigenen Mann, Alexej Miller, ans Steuer des staatlichen Gasgiganten gesetzt und begann dies als Möglichkeit für Muskelspiele des Kreml und für mehr Kontrolle über die früheren Sowjetrepubliken zu nutzen, die Russland gern als »nahes Ausland« bezeichnete. Auf Putins Anordnung hin wurde Gazprom unnachgiebiger, was die Zahlungen für Gaslieferungen an Belarus und die Ukraine anging. Der Kreml versuchte dafür zu sorgen, dass die ehemaligen Sowjetstaaten spurten.

Kasjanow dagegen hatte eine Gazprom-Reform verfolgt, auf die die Liberalen im Parlament seit den Jelzin-Jahren gedrängt hatten: Er wollte den Gasmarkt liberalisieren und Gazprom in eine Produktions- und eine Transportsparte aufteilen, also die Gasproduktion von dem Leitungsnetz zu trennen. Lange hatte dies als notwendige Reform gegolten, um den wirtschaftlichen Wettbewerb zu fördern. Doch nun verstärkten die Putin-Leute ihre Kontrolle, und die Umstrukturierungen wurden auf unbestimmte Zeit auf Eis gelegt – genau zu dem Zeitpunkt, als Kasjanow geglaubt hatte, er sei kurz davor, diese Reform von großer Tragweite verkünden zu können. 48 Im September hatte sich die Presse zu einer Versammlung des Kabinetts eingefunden, bei der die Gasreform ganz oben auf der Tagesordnung stand. Da erhielt Kasjanow einen Anruf von Putin. »Er sagte: ›Ich bestehe darauf, dass Sie diesen Punkt von der Agenda streichen‹«, erinnerte Kasjanow sich. »Wir waren so kurz davor. Wir waren in diesem Punkt sogar Europa voraus. Wir waren bereit. Aber Putin rief mich wenige Minuten vorher an.«

Kasjanows Position wurde allmählich unhaltbar. Als Chodorkowski einen Monat später verhaftet wurde, war Kasjanow einer von nur zwei erfahrenen Regierungsbeamten, die es wagten, das zu kritisieren. Bei einer Kabinettsitzung befahl Putin ihm jedoch vor allen Anwesenden, er solle »mit dem hysterischen Unsinn aufhören«. 49 »Das war eine Art Warnung an mich«, sagte Kasjanow. 50 Unbeeindruckt erhob er erneut öffentlich seine Stimme, als das Steuerministerium im Januar 2004 seit einiger Zeit kursierende Gerüchte bestätigte, dass Jukos rückwirkend 3 Milliarden Dollar Steuern für 2000 nachzahlen müsse. Kasjanow sagte gegenüber der Zeitung Wedomosti, eine rückwirkende Anwendung von Steuergesetzen sei nicht rechtmäßig. 51 Das alles werfe kein gutes Licht auf die Rechtsstaatlichkeit, sagte er.

Kasjanow war nahezu die einzige mächtige Stimme, die sich gegen Putins Griff nach dem Energiesektor aussprach. Sie redeten noch miteinander, aber Putin wurde Kasjanow gegenüber kälter und misstrauischer, als könne er seinen Anblick kaum ertragen. Mitte Februar, als die Temperaturen bei minus 24 Grad Celsius lagen, unternahm Gazprom erste Schritte, die Gasversorgung eines Nachbarlandes, in diesem Fall Belarus, 52 zu kappen, und die Spannungen zwischen den beiden Männern eskalierten zu einer offenen Auseinandersetzung. 53 Gazprom hatte in harten Verhandlungen mit Belarus über das Ende subventionierter Gaspreise für die ehemaligen Sowjetrepubliken und darüber, dass Gazprom sich in das Gastransportnetz des Landes einkaufen wollte, festgesteckt. Dabei hatte der russische Gasgigant schon lange damit gedroht, die Versorgung zu unterbrechen, aber Kasjanow hatte sich hartnäckig gegen diese Maßnahme gewehrt. »Ich hatte Miller [dem Vorstandsvorsitzenden von Gazprom] verboten, die Gasversorgung von Belarus abzustellen. In Minsk herrschten minus 25 Grad. Aber an diesem Morgen Mitte Februar riefen mich der polnische und der lettische Premierminister an und sagten: ›Wir haben kein Gas.‹ Man hatte mich nicht einmal informiert. Wir hatten einen öffentlichen Skandal.« Miller sagte, er habe auf Anordnung Putins gehandelt. »Wir schrien uns gegenseitig an und wir schrien Putin an. Alle anderen Minister hätten sich am liebsten unter dem Tisch verkrochen.« Putin hatte die Nase voll. Nur zehn Tage später feuerte er Kasjanow. 54 »Es war eins zum anderen gekommen«, sagte Kasjanow. »Chodorkowski, Exxon, die Gasreform, Belarus und die Ukraine. Und ich hatte diesen Skandal ausgelöst. Ich war für ihn untragbar geworden.« 55

Es waren nur noch zwei Wochen bis zur Präsidentschaftswahl, und man rechnete damit, dass Putin sein Kabinett nach der Wahl umstellen würde. Er und seine Männer überließen jedoch nichts dem Zufall. Nun, da sie konkret dabei waren, ihre Macht zu festigen, konnten sie sich keine Pannen leisten. Sollte Putin etwas zustoßen, würde gemäß der Verfassung der Ministerpräsident die Regierungsgeschäfte übernehmen.

In einem Wahlkampf, der im Grunde keiner war, hatte Putin das letzte Risiko ausgeräumt. Das letzte Relikt aus der Jelzin-Ära, das noch in der Lage gewesen wäre, ihn herauszufordern, war aus dem Weg geschafft. Als Ersatz für Kasjanow ernannte er Michail Fradkow, einen unbekannten Technokraten, der jahrzehntelang im Schatten der Sicherheitselite gearbeitet hatte. 56 Vor seiner Ernennung war er russischer Sonderbeauftragter in der EU gewesen. Er hatte sich für Putins KGB-Leute als treuer Verbündeter erwiesen. Seit den Achtzigerjahren war er in Schlüsselfunktionen im Bereich strategische Operationen im Außenhandel tätig gewesen, unter anderem hatte er mit sogenannten befreundeten Firmen zusammengearbeitet, die das Sowjetregime aus dem Ausland unterstützten. Zu Zeiten des Petersburger Öl-gegen-Lebensmittel-Programms war er stellvertretender Minister für Außenhandelsbeziehungen gewesen. Als Pjotr Awons Mann in Sankt Petersburg hatte er die Verträge, die Putin an den kleinen Kreis von Verbündeten und befreundeten Firmen aushändigte, bewilligt, wodurch schließlich ein strategisches Schwarzgelddepot für Putin und die Leute von den Sicherheitsbehörden in der Stadt errichtet worden war.

Auch nach seinem unverblümten Rauswurf glaubte Kasjanow noch, Putin könnte dazu gebracht werden, einen anderen Weg einzuschlagen. Es war für ihn schwer zu begreifen, dass Russland von dem Kurs, auf dem es sich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion befunden hatte, in die Gegenrichtung umgeschwenkt war. »Selbst nachdem ich die Regierung verlassen hatte, glaubte ich noch sechs weitere Monate, Putin habe sich geirrt, all dies könne und würde korrigiert werden. Erst später – nach dem Terrorangriff in Beslan – begriff ich, dass alles geplant worden war, um das gesamte politische System umzustürzen.« 57

*

Die Präsidentschaftswahlen in jenem März drangen kaum ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Putin gewann sie mit Leichtigkeit, er bekam mehr als 71 Prozent der Stimmen. Die bedeutendsten politischen Gegner aus der Jelzin-Zeit, Gennadi Sjuganow, Vorsitzender der Kommunistischen Partei, und Wladimir Schirinowski von der nationalistischen Liberaldemokratischen Partei, konnten sich nicht einmal dazu aufraffen, anzutreten. Sie schickten Stellvertreter zur Wahl; und der kommunistische Kandidat – der weitgehend unbekannte Nikolai Charitonow –, wurde mit großem Abstand und mit dreizehn Prozent der Stimmen Zweiter. 58 Es war nicht einmal ein Wettbewerb. Trotzdem hatte der Kreml nichts dem Zufall überlassen. Das staatliche Fernsehen gewährte den Kandidaten der Opposition praktisch keine Sendezeit: Charitonow rechnete aus, dass seine Treffen mit Wählern bloße vier Minuten und fünfzig Sekunden lang gezeigt wurden, im Gegensatz zu der flächendeckenden Berichterstattung über Putin. Putins KGB-Leute besetzten rasch alle einflussreichen Posten im Kabinett. So begann eine zweite Amtszeit ohne die Gegenmacht der Strippenzieher aus der Jelzin-Ära.

Der einzige Mensch, der Einwände gegen Putins zweite Amtszeit äußerte, war seine Frau Ljudmila. Sie war in einem ärmlichen Dorf in Kaliningrad aufgewachsen. Ihr Vater war ein schwerer Trinker, und sie hatte Mühe gehabt, sich mit dem Rampenlicht und dem Tamtam eines Lebens als Präsidentengattin anzufreunden. »Sie wollte ihn verlassen, als er ihr mitteilte, dass er sich ein zweites Mal aufstellen lassen würde«, sagte Pugatschow, der ihr Vertrauter wurde und häufig stundenlang mit ihr in der Küche des Präsidentenpalasts saß und auf Putins Rückkehr wartete. »Sie sagte, sie habe vier Jahren zugestimmt, nicht mehr. Er musste sie zum Bleiben überreden, weil alles andere schlecht gewesen wäre für die Umfragewerte. Er konnte nicht als Präsident kandidieren, während sie versuchte, sich von ihm scheiden zu lassen. Sie trank immer sehr viel.« 59

Es war schwierig für Ljudmila, sich an Putins ständige Abwesenheit zu gewöhnen. Während seiner gesamten Laufbahn hatte er viel gearbeitet, aber nun schien er gar kein Ende mehr zu finden. Als würde er sich für sie schämen, ging Putin auf Distanz zu ihr und nahm sie immer seltener mit auf offizielle Besuche und Reisen. Kam er dann nach Hause zurück, häufig mitten in der Nacht, setzte er sich lieber in Hausschuhen vor den Fernseher und schaute sich eintönige Comedysendungen an, als dass er Zeit mit seiner Frau verbracht hätte.

Pugatschow hatte die zunehmende Macht der KGB-Männer die ganze Zeit mit leichtem Unbehagen verfolgt. In den Achtzigern hatte er in seiner Heimatstadt Leningrad gegen den KGB gekämpft. Für ihn als Schwarzmarkthändler war der KGB damals der erklärte Feind gewesen, da der Geheimdienst versuchte, seine Geschäfte zu unterbinden, und ihm mit Gefängnis drohte. Aber er hatte auch gelernt, wie man KGB-Mitglieder kaufte. Und nun war er mit den neuen Mächtigen per Du, lud sie häufig zu sich nach Hause ein und lachte vertraut mit Witja (Iwanow) und Igor (Setschin). Er war ein Senator im Föderationsrat geworden, wurde aber immer noch als Drahtzieher im Hintergrund betrachtet. Eine Zeit lang behielt er sein Büro im Kreml, das dem des Leiters der Präsidialverwaltung gegenüber lag. Und eine Weile blieb Putin ein ständiger Wegbegleiter.

Aber die ganze Zeit, so sieht Pugatschow es heute, war er besorgt über die etatistische Richtung, in die sich die Politik entwickelte, über die Beschneidung der Freiheit und über die Ereignisse, die zur Festigung von Putins Macht beitrugen. Er sagt, er habe diese Bedenken zwar häufig geäußert, aber entschieden, nichts dagegen zu unternehmen. Wie er es darstellt, glaubte er damals, mehr von innen ausrichten zu können als durch Widerspruch und Rückzug. Er meinte, die autoritären Tendenzen Putins und seiner Leute besser ausbremsen zu können, wenn er nah dranblieb. Aber in Wahrheit genoss er seine Macht und seinen Status genauso wie die anderen. Und im Grunde genommen glaubte er schlichtweg, keine Wahl zu haben: »Das ist wie wenn man in ein Auto steigt, die Türen werden zugeschlagen, und man realisiert, dass der Fahrer am Rand des Wahnsinns ist«, sagte er. »Die Türen sind geschlossen, und das Auto fährt bereits mit recht hoher Geschwindigkeit. Nun muss man entscheiden, was gefährlicher ist – drinbleiben oder rauspringen. Der Moment, in dem man einfach ruhig aus dem Auto steigen kann, ist vorbei.« 60

Eine neue Ideologie entstand. Sie wurde von den KGB-Männern propagiert, um die Größe des russischen Staates und die imperialistischen Verbindungen zu den früheren Sowjetrepubliken wiederherzustellen. Eine von Putins ersten Amtshandlungen als Präsident war es gewesen – zum Entsetzen von Beamten aus der Jelzin-Ära wie Pugatschow und Woloschin –, die sowjetische Hymne, die mit den Worten »Die unzerbrechliche Union der freien Republiken« beginnt, wieder einzusetzen. 61 Der Klang von Alexander Alexandrows machtvoller Musik – entstanden als Hymne, um Stalin und die Heldentaten der Nation als globale Supermacht sowie die großen, fürchterlichen Opfer, die sie auf dem Weg dorthin hatte bringen müssen, zu ehren – war mehr als Nostalgie, sie war ein Aufruf, das russische Imperium der Sowjetzeit wiederaufleben zu lassen.

Mit dieser Verneigung vor der sowjetischen Vergangenheit schien die herrschende Elite zugleich eine neue Leidenschaft für die orthodoxe Kirche zu erfassen. Putin hatte der Welt seine religiösen Überzeugungen in einem Interviewbuch mitgeteilt, das wenige Monate vor seiner ersten Wahl zum Präsidenten erschienen war. Stolz erzählte er darin, wie seine Mutter und eine Nachbarin ihn in ihrer gemeinsamen Leningrader Wohnung heimlich tauften; sie verheimlichten es sogar seinem Vater, der Parteimitglied war und Religiosität nicht dulden konnte. 62 Putin erzählte, wie seine Mutter ihm in den frühen Neunzigerjahren, als er in seiner Funktion als Bürgermeister von Sankt Petersburg Israel besuchen sollte, sein Taufkreuz mitgegeben habe, damit er es am Grab Jesu segnen lassen konnte. »Ich habe es seitdem nicht mehr abgenommen«, sagte er. Bei seinem ersten Treffen mit George W. Bush im Jahr 2001 nahm er den US-amerikanischen Präsidenten mit der Geschichte für sich ein, wie er sein Kreuz vor einem Feuer, bei dem Mitte der Neunziger seine Datscha zerstört worden war, gerettet habe. Bush sagte hinterher, er habe »einen Einblick in seine Seele« 63 bekommen.

Es erschien merkwürdig, dass ein KGB-Beamter, der sein Leben lang für einen Staat gearbeitet hatte, in dem die orthodoxe Kirche geächtet wurde, nun offen seinen Glauben bekundete. Doch einer nach dem anderen folgten die mit Putin gemeinsam an die Macht gekommenen KGBler seinem Beispiel. Von Anfang an hatten sie nach einer neuen nationalen Identität gesucht. Die Glaubenssätze der orthodoxen Kirche stellten ein starkes, einigendes Credo dar, das über die Sowjetzeit hinaus in Russlands Vergangenheit als Großmacht zurückreichte und die großen Opfer, das Leid und Durchhaltevermögen des russischen Volks ansprach sowie einen mystischen Glauben, dass Russland das dritte Rom sei, das nächste Weltreich. Es war der perfekte Stoff, um eine Nation aus Not und Entbehrung wiederaufzubauen. Einem Oligarchen zufolge, der die zunehmende Religiosität kritisch sah, bot sie sich an, um das russische Volk wieder zu Leibeigenen zu machen und es im Mittelalter leben zu lassen, sodass Putin, der Zar, mit absoluter Macht herrschen konnte: »Das zwanzigste – und nun das einundzwanzigste – Jahrhundert stellten in Russland eine Fortführung des sechzehnten Jahrhunderts dar: Der Zar steht über allem, und seine Position ist eine heilige, göttliche … Diese heilige Macht umgibt sich mit einem vollkommen undurchdringlichen Band der Schuldlosigkeit. Die Behörden trifft nie die Schuld an irgendetwas. Sie agieren mit uneingeschränkter Macht.« 64

Pugatschow zufolge, seit seiner Jugend ein frommer orthodoxer Christ, verstand Putin wenig vom echten orthodoxen Glauben. Pugatschow gab sich oft selbst die Schuld daran, wie sich die Dinge entwickelten, da er es war, der Putin mit Bischof Tichon Schewkunow bekanntgemacht hatte, dem Priester, der Putins »Beichtvater« wurde. Aber die Verbindung, so Pugatschow, war für beide Seiten vorteilhaft. Schewkunow ermöglichte sie, die orthodoxe Kirche und ihre Lehren in den Vordergrund zu rücken sowie Wohlstand und finanzielle Mittel für sein Kloster Sretenski zu erlangen. Und Putin sprach dadurch noch stärker die breite Masse an – mehr bedeutete sie auch nicht für ihn. »Ich hätte Putin nie in die Kirche eingeführt, hätte ich gewusst, wie das alles endet«, sagte Pugatschow. Einmal besuchten Putin und Pugatschow gemeinsam einen Gottesdienst am Tag der Vergebung, dem letzten Sonntag vor der orthodoxen Fastenzeit. Pugatschow sagte Putin, er möge, wie in der Kirche üblich, vor dem Priester niederknien und um Vergebung bitten. »Er sah mich erstaunt an. ›Warum sollte ich?‹, fragte er. ›Ich bin der Präsident der Russischen Föderation. Warum sollte ich um Vergebung bitten?‹« 65

Als sie nach einer neuen Erzählung Ausschau hielten, um die Nation nach einem Jahrzehnt des Auseinanderbrechens zu einigen, war Putin und seinen Unterstützern längst klar, dass der Kommunismus gescheitert war. »Der Kommunismus hat seine Unfähigkeit, sich angemessen weiterzuentwickeln, deutlich gezeigt und unser Land dazu verdammt, dauerhaft hinter wirtschaftlich fortgeschritteneren Staaten zurückzubleiben. Er hat in eine Sackgasse geführt, fort von der Hauptströmung der Zivilisation«, hatte Putin am Abend seiner Ernennung zum Präsidenten gesagt. Und so bezogen sich Lehrer und andere Experten, die dem neuen Präsidenten im ersten Jahr seiner Amtszeit die Geschichte Russlands näherbringen sollten, auf dessen Vergangenheit als orthodoxes Zarenreich. Putin erfuhr von den Emigranten, die während der Oktoberrevolution aus Russland geflohen waren und ihren Aufenthalt im Exil dazu genutzt hatten, eine neue Ideologie für den Wiederaufstieg des Landes zu entwickeln, falls die Sowjetunion jemals zusammenbrechen sollte. Da war beispielsweise das Werk des Religionsphilosophen Iwan Iljin, der glaubte, dass Russlands neue nationale Identität auf dem orthodoxen Glauben und Patriotismus beruhen solle; Überzeugungen, auf die sich Putin in Reden während seiner zweiten Amtszeit bezog. Dazu kamen die Schriften des Linguisten Nikolai Trubetzkoy und Lew Gumiljows, des sowjetischen Historikers und Ethnologen, der Russlands einzigartige Natur als eine Verschmelzung slawischer, europäischer und türkischer Kulturen nach Jahrhunderten der Invasion durch mongolische Horden darstellte. Diese Denker unterstrichen Russlands besonderen eurasischen Weg und propagierten die Philosophie des Eurasismus als Alternative zum Atlantismus des Westens. Putin bezog sich immer wieder auf diese Philosophie, als er sich bemühte, die erste gemeinsame eurasische Wirtschaftszone zu gründen, die zunächst Belarus, die Ukraine und Kasachstan einschließen sollte und dann ein größeres Imperium, basierend auf den Allianzen früherer Sowjetstaaten, das, wie er hoffte, eines Tages bis nach Europa reichen würde. 66

Ziel war es, eine Identität für das Putin-Regime zu schmieden, die es gegen den inneren Zerfall und einen Angriff von außen stärken würde. Direkte Nachfahren von Emigranten, von denen viele enge Kontakte zum KGB pflegten, wurden in Putins engsten Kreis geholt, um eine Brücke zu Russlands Großmachtvergangenheit zu schlagen. Einer von ihnen beschrieb die Philosophie, die Putins Herrschaft zugrunde liegt, als einen »Knoten mit drei Elementen. Das erste ist die Autokratie – eine starke Regierung, ein starker Mann, ein Papa, ein Onkel, ein Boss. Also ein autokratisches Regime. Das zweite Element ist das Territorium, die Heimat, die Vaterlandsliebe und so weiter. Das dritte Element ist die Kirche. Dies ist das Element, das alles zusammenbringt. Der Mörtel, wenn man so will. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich tatsächlich um die Kirche oder um die Kommunistische Partei handelt. Das macht keinen großen Unterschied. Schaut man sich die russische Geschichte an, hat man immer diese drei Elemente. Nur so lässt sich dieses Land zusammenhalten. Nimmt man ein Element weg, bricht es auseinander.« 67

Diese Philosophie war eine direkte Kopie der Staatsdoktrin »Orthodoxie, Autokratie und Nationalität« von Zar Nikolaus I., einem der reaktionärsten Zaren, berüchtigt für seine brutale Unterdrückung eines der ersten demokratischen Aufstände in Russland. Nun wollten Putins KGB-Männer seine Ideologie neu auflegen, um ihre Herrschaft zu verdeutlichen und die Unterdrückung jeglicher Opposition zu rechtfertigen.

Doch dies waren nur die ersten Keime einer umfassenden Transformation. Erst gegen Ende 2004, als die Macht des Kreml über die wichtige ehemalige Sowjetrepublik Ukraine infrage gestellt und Russland von einem weiteren entsetzlichen Terrorangriff heimgesucht wurde, verschärften Putin und seine Verbündeten ihre Maßnahmen. Erst jetzt schlug Putin, auf Basis der Schriften über Russlands orthodoxe Großmachtvergangenheit, eine Richtung ein, die das, was von der Demokratie im Land übriggeblieben war, unterlief und die versuchte, das Land zu einen, indem es gegen den Westen ausgespielt wurde.

In den Köpfen von Putins Männern schienen die Ursachen der Krise in der Ukraine nur allzu deutlich: Sie glaubten, der Westen habe sich verschworen, um Kiew von Moskau zu lösen. Keineswegs so klar waren die Ursachen eines weiteren schrecklichen Terrorangriffs – eines Angriffs, bei dem mehr als dreihundert Geiseln starben und der Putins Kreml dazu veranlasste, die Zügel zu straffen.

*

Am Morgen des 1. September 2004 bereiteten sich Kinder in ganz Russland auf ihren ersten Schultag vor. Die Mädchen trugen ihre schönsten Kleider und große bunte Schleifen im Haar. Die Jungen hatten Blumen für ihre Lehrer und Lehrerinnen dabei, und die Eltern standen an den Schultoren, wuselten um ihren Nachwuchs herum und fotografierten ihn stolz. In Beslan, einer kleinen Stadt im Nordkaukasus, rund hundert Kilometer von der tschetschenischen Grenze entfernt, wurde die traditionelle Feier zum Schulstart allerdings gestört. Obwohl Putins verheerender Krieg in Tschetschenien offiziell vorbei war, hielten nach wie vor russische Truppen die Republik besetzt, und die gesamte Region war ein Pulverfass. Brutale Gefechte mit russischen Truppen waren nahezu an der Tagesordnung, und bewaffnete Überfälle auf benachbarte Republiken fanden weiterhin statt. 68

Kurz nach neun Uhr, als die Kinder von Beslan sich kurz vor Beginn der Feier am Schultor versammelten, fuhren Dutzende bewaffnete Terroristen in einem Polizeitransporter vor und schossen auf die Handvoll Polizisten, die vor der Schule Wache stand. Sie stürmten die Schule und nahmen über tausendeinhundert Eltern, Kinder und Lehrer als Geiseln. Mehrere Geiseln beschrieben später, dass die Terroristen große Mengen an Munition unter den Dielenbrettern der Schule hervorholten. Ein ranghoher Polizeibeamter erklärte, sie seien dort von Arbeitern während Renovierungsarbeiten vor Schuljahresbeginn versteckt worden. 69 Die Terroristen trieben die Geiseln in die Turnhalle und verteilten Sprengstoff im gesamten Schulgebäude. Bomben wurden an einer Leine zwischen zwei Basketballkörben aufgehängt, an je einem Ende der Halle, zwei weitere wurden an einer Tretmechanik an den Füßen zweier sitzender Terroristen befestigt. Um Rettungsversuche zu verhindern, wurde Stolperdraht rund um das Schulgebäude gezogen. Damit sie nicht wie bei der Dubrowka-Geiselnahme mit Gas betäubt werden konnten, waren die Terroristen mit Gasmasken ausgestattet. Zusätzlich schlugen sie alle Fenster der Turnhalle ein. In den folgenden zwei Tagen bekamen die Geiseln trotz der schrecklichen Hitze nichts zu essen oder zu trinken. Die Kinder bettelten sich gegenseitig um ihren Urin an und aßen die Blumen, die sie mitgebracht hatten. 70 Gelegentlich kam es zu Schusswechseln, und am zweiten Tag feuerten die Terroristen Granaten auf zwei Autos, die sich ihrer Ansicht nach zu weit der Schule genähert hatten. 71 Wieder forderten sie den sofortigen Rückzug russischer Truppen aus Tschetschenien, die Anerkennung der tschetschenischen Unabhängigkeit und ein Ende jeglicher kriegerischer Aktivitäten in der Republik. 72

Die Verhandlungen begannen umgehend. Am zweiten Tag gestatteten die Geiselnehmer Ruslan Auschew, dem ehemaligen Präsidenten der Nachbarrepublik Inguschetien, den Zutritt zur Schule, er erreichte prompt die Freilassung von sechsundzwanzig Müttern und Babys. 73 Der Tschetschenienberater des Präsidenten, Aslambek Aslachanow, ein gebürtiger Tschetschene, verkündete, er habe eine Vereinbarung erzielt, dass er das Schulgebäude am folgenden Tag um drei Uhr nachmittags betreten dürfe. 74 Er schlug vor, dass siebenhundert russische Prominente sich freiwillig als Geiseln zum Tausch gegen die Kinder anbieten sollten, und flog in der Hoffnung, den Plan umsetzen zu können, von Moskau nach Beslan. Später stellte sich heraus, dass die lokalen Behörden sogar Aslan Maschadow kontaktiert hatten, der Mitte der Neunziger Präsident des damaligen Separatistenstaates Tschetschenien gewesen war. 75 Für den Kreml war Maschadow nach wie vor Persona non grata, der Erzfeind, den sie als Terroristen betrachteten und den sie für die Geiselnahme im Dubrowka-Theater verantwortlich machten. Doch die Lage war so verzweifelt, dass ein Berater des stellvertretenden Vorsitzenden des Regionalparlaments von Nordossetien Maschadows engsten Vertrauten in London anrief, der sagte, er habe mit Maschadow gesprochen und dieser werde in die Schule kommen und mit den Geiselnehmern verhandeln. Maschadows einzige Bedingung war, dass seine Sicherheit für den Weg dorthin garantiert wurde. Am Mittag des dritten Tages wurde diese Nachricht dem Präsidenten von Nordossetien direkt übermittelt.

Doch nur eine Stunde nach diesem Gespräch fand plötzlich eine Explosion in der Turnhalle statt. Es folgte eine zweite, und dann weitere, eine ganze Reihe. 76 Schüsse waren zu hören und Raketenfeuer zu sehen, als eine russische Spezialeinheit die als Schmel (»Hummel«) bekannten Panzerabwehrgeschosse auf die Schule abfeuerten. 77 Bald stand das Dach in Brand. Gegen halb drei fuhr Augenzeugenberichten zufolge mindestens ein russischer Panzer auf das Gebäude zu und schoss auf die Mauern der Schule. 78 Als sich das Feuer ausbreitete, trieben die Terroristen viele Geiseln aus der brennenden Turnhalle in den Speisesaal, wo sie gezwungen wurden, sich als menschliche Schutzschilde in die Fenster zu stellen. 79 In einer unabhängigen Untersuchung wurde später festgestellt, dass dabei einhundertzehn Geiseln starben. 80 Währenddessen wütete das Feuer in der Turnhalle, aber erst zwei Stunden später traf die Feuerwehr ein. 81 Zu diesem Zeitpunkt war das Dach eingestürzt. Viele Geiseln, darunter Kinder, verbrannten bei lebendigem Leibe, während andere, die versucht hatten, aus der Schule zu fliehen, im Kugelhagel starben. Nur wenige Rettungswagen standen bereit, um die Verwundeten ins Krankenhaus zu fahren. 82 Die Schießerei setzte sich bis in die Nacht fort.

Als Aslambek Aslachanow in Beslan ankam, konnte er nur noch das Ende eines Terrorangriffs zur Kenntnis nehmen, der so viele Todesopfer gefordert hatte wie noch nie einer zuvor. 83 »Unterwegs dorthin war ich voller Vorfreude, weil wir die Kinder nun befreien würden«, sagte er. »Und als ich aus dem Flugzeug stieg, war ich schlicht und einfach ratlos. Ich fragte mich, wie das passieren konnte.« 84

Dreihundertddreißig Geiseln starben, über die Hälfte davon Kinder. Bis heute ist ungeklärt, weshalb sie sterben mussten, warum russische Spezialeinheiten begonnen hatten, das Gebäude mit Raketen- und Granatfeuer anzugreifen, und vor allem, was die erste Explosion in der Turnhalle verursacht hatte. Niemand vermochte zu sagen, ob sie absichtlich von den Terroristen ausgelöst worden war oder versehentlich von den russischen Truppen. Und: War die Ursache des Feuers, dem so viele Menschen zum Opfer fielen, die Explosion in der Schule oder waren es die Flammenwerfer des Militärs?

Widerwillig stimmte Putin einer parlamentarischen Untersuchung zu, die allerdings von einem engen Vertrauten geleitet wurde, Alexander Torschin, einem Senator mit langjährigen Verbindungen zum FSB. Die Untersuchungen konnten also kaum als unabhängig bezeichnet werden, und als sie nach über zwei Jahren endlich abgeschlossen wurden, war man zu dem Ergebnis gelangt, dass einer der Terroristen die Zerstörung der Schule durch eine absichtlich herbeigeführte Detonation einer Bombe verursacht hätte. 85 Er »handelte nach einem zuvor entwickelten Plan«, hieß es, während die staatlichen Behörden vollkommen im Einklang mit dem Gesetz gehandelt hätten. 86 »Als sich die tragischen Ereignisse entwickelten, wurden alle nur denkbaren Maßnahmen ergriffen, um Leben zu retten«, heißt es in dem Bericht, in dem auch behauptet wird, dass die Panzer und Flammenwerfer erst zum Einsatz gekommen wären, nachdem die Geiseln das Gebäude verlassen hätten. Das stand in direktem Widerspruch zu den Augenzeugenberichten, 87 während die Feststellung, die Explosion der ersten Bombe sei vorsätzlich von einem Terroristen ausgelöst worden, den Ergebnissen anderer unabhängiger Untersuchungen widersprach. Eine dieser Untersuchungen wurde von Stanislaw Kesajew, dem stellvertretenden Sprecher des nordossetischen Parlaments, geleitet, der bei der Geiselnahme anwesend gewesen war. Sie zitierte die Aussage eines festgenommenen Geiselnehmers, dass die erste Explosion dadurch zustande kam, dass ein Scharfschütze einen der Terroristen tötete, dessen Fuß auf dem Auslöser gestanden habe. 88

Es war recht leicht für Torschins Kommission, diese Behauptung anzuzweifeln, da die Schulfenster nicht transparent waren, wodurch es für einen Scharfschützen fast unmöglich gewesen sein dürfte, hineinzuschauen. 89 Aber es war viel schwerer, die Ergebnisse einer dritten Untersuchung zu ignorieren, die von dem Waffen- und Sprengstoffexperten Juri Saweljew, einem unabhängigen Duma-Abgeordneten, durchgeführt wurde. Er fand heraus, dass die ersten Explosionen nur von Raketen hervorgerufen worden sein konnten, die außerhalb der Schule abgefeuert worden waren. 90 Sein Bericht stellte fest, dass die Spezialkräfte ohne Warnung Panzerfäuste abgefeuert hatten, als die Verhandlungen noch liefen. 91 Es war das Eingreifen des russischen Militärs, das die Reihe an Explosionen ausgelöst hatte, die das sinnlose Sterben so vieler Menschen zur Folge hatten, lautete seine Kernaussage.

Saweljew war eine Autorität auf seinem Gebiet. Anfangs hatte er zu Torschins Gremium gehört, und zwar als einziger Ballistik- und Waffenexperte, doch er hatte es verlassen, als klar wurde, dass die offiziellen Ergebnisse stark von seinen eigenen abweichen würden. Seine Schlüsse passten zu einem Video, das fast drei Jahre nach den Ereignissen in Beslan veröffentlicht wurde. Es zeigte offenbar, nach dem Ende des Geiseldramas, Ingenieure der Armee im Gespräch mit Vertretern der Strafverfolgungsbehörden. 92 Die Ingenieure untersuchten mehrere von den Terroristen selbstgebastelte Sprengkörper, die ungezündet auf einem Tisch in der Schule lagen. Es waren mit Schrapnell und Kugellagern gefüllte Plastikflaschen. »Die Löcher im Inneren [in den Wänden der Schule] können nicht von diesen Sprengkörpern verursacht worden sein«, kommentiert einer der Ingenieure. »Es heißt ja immer, all diese [Kugellager] würden durch die Gegend fliegen, aber an den Kindern, die wir rausgeholt haben, haben wir keine solchen Verletzungen gesehen. Und auch sonst nirgendwo.« »Im Gebäude hat also keine Explosion stattgefunden?«, fragt ein anderer Ingenieur. »Im Gebäude hat keine Explosion stattgefunden«, wiederholt der erste.

Durch das Ausmaß des Blutbads war es schwierig, die Beweise so zu präsentieren, dass sie absolut eindeutig waren. Aber die Behauptung, die ersten Schüsse seien von außerhalb der Schule abgefeuert worden, wurde von Überlebenden in einem Interview mit der Los Angeles Times wiederholt. Eine der Geiseln berichtete von dem Entsetzen auf den Gesichtern der Geiselnehmer, als die Explosionen begannen: »Sie haben nicht mit den Explosionen gerechnet. Und dieser Satz – ich werde ihn nie vergessen: ›Eure eigenen Leute sprengen euch in die Luft.‹ Einer der Geiselnehmer wiederholte ihn mehrmals mit seiner sehr tiefen Stimme. Ich werde ihn nie vergessen.« 93 Könnte es sein, wie ein ehemaliger Kreml-Insider nahelegte, dass die russischen Behörden die Schüsse, die den Sturm auf die Schule auslösten, angeordnet hatten, weil sie nicht riskieren wollten, dass Maschadow, der ehemalige Rebellenführer und erklärte Feind, zu Hilfe kam und Gespräche führte? 94 Nur eine Stunde nachdem sein Vertrauter die Nachricht überbracht hatte, dass er zu Verhandlungen kommen würde, waren die ersten Explosionen zu hören. Es war ein Gerücht, viel zu entsetzlich, um es näher in Betracht zu ziehen.

Putin sah sich mit einer Welle der Wut über seinen Umgang mit der Geiselnahme konfrontiert. Statt wie nach der Beendigung des Dubrowka-Attentats gelobt zu werden, wurden Fragen über Fragen gestellt, nicht nur bezüglich des Blutbads, das sich ereignete, als russische Militärs das Gebäude stürmten, sondern auch dazu, wie die Terroristen überhaupt dorthin gelangen konnten, wieder bis an die Zähne bewaffnet, wieder unter aller Augen. Die wenigen verbliebenen unabhängigen Parlamentarier in der Duma zweifelten an, dass er die Sicherheit der Nation garantieren könne. Einer der wesentlichen Punkte des Gesellschaftsvertrags, den Putin bei seinem Amtsantritt als Präsident dem russischen Volk angeboten hatte, war das Ende des Terrorismus, der als Folge des Krieges gegen Tschetschenien zu den Bombenanschlägen auf Wohnblocks geführt hatte. Seine Sicherheitsbehörden hätten versäumt, die Lektion aus der Geiselnahme im Dubrowka-Theater zu lernen, sagten seine Kritiker. Der bekannte politische Kommentator Sergej Markow, der als Kreml-nah gilt, bezeichnete die Situation als »eine gewaltige Krise«. 95 Sogar die Kommunisten, die sich als oppositionelle Kraft lange eingeschüchtert und still verhalten hatten, begannen Putins rigoroses Vorgehen gegen politische Gegner dafür verantwortlich zu machen, dass seine Regierung das größere Problem des Terrorismus nicht angegangen war. »Sie haben eine Machtvertikale errichtet, die sich angesichts dieser terroristischen Bedrohung als nutzlos erwiesen hat«, sagte Iwan Melnikow, stellvertretender Vorsitzender der Kommunistischen Partei. 96 Seit Putins Wiederwahl waren seine Umfragewerte stetig gesunken, der Überdruss über den Tschetschenienkrieg hatte zugenommen; nach Beslan stand sein Zuspruch bei 66 Prozent, der tiefste Punkt innerhalb von vier Jahren. 97

Doch die Antwort, die Putin bleich, aber entschlossen verkündete, als klar war, dass die Zahl der Toten eine katastrophale Dimension erreicht hatte, lautete: Der Angriff sei von ausländischen Mächten inszeniert worden, mit dem Ziel, die territoriale Integrität des Landes zu zerstören und einen Kollaps herbeizuführen. In einer Ansprache an die Nation am Tag nach dem Ende der Geiselnahme bezeichnete er die tragischen Ereignisse als »eine Herausforderung für ganz Russland, für unser gesamtes Volk. Das ist ein Angriff auf uns alle. Wir haben es mit einer direkten Attacke des internationalen Terrorismus gegen Russland zu tun, mit einem absoluten, umfassenden Krieg, der wieder und wieder die Leben unserer Landsleute fordert«, sagte er. Statt tschetschenischen Terroristen die Schuld zu geben, behauptete er, der Angriff sei Teil einer größeren Verschwörung, die, wie er zu glauben schien, ihren Ursprung im Westen hatte: »Manche wollen ein ›wertvolles Stück Kuchen‹ von uns haben. Andere helfen ihnen. Sie helfen ihnen, weil sie Russland unverändert für eine der größten Nuklearmächte der Welt halten und als solche für eine Bedrohung. Also setzen sie alles daran, die Bedrohung zu beseitigen. Terrorismus ist nur ein Mittel, um dieses Ziel zu erreichen.« 98

Der Angriff, so seine Argumentation, sei eine unmittelbare Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion gewesen, der ihm und seinen KGB-Männern zufolge vom Westen herbeigeführt wurde. Russland, das im Kern ein »weitläufiger, großer Staat« gewesen sei, sei unfähig gewesen, »die Komplexität und die Gefahren des Prozesses zu verstehen, der in unserem Land und im Rest der Welt ablief. Jedenfalls waren wir nicht in der Lage, angemessen zu reagieren. Wir haben Schwäche gezeigt. Und die Schwachen werden geschlagen. Wir können und sollten nicht länger so arglos leben wie bisher. Wir brauchen ein viel effektiveres Sicherheitssystem. (…) Vorrang hat nun angesichts dieser allgemeinen Gefahr die Mobilisierung der ganzen Nation.« Bei einem Jahrestreffen mit westlichen Akademikern ging er noch weiter und zog eine direkte Parallele zwischen dem Terrorangriff in Beslan und der Pattsituation mit dem Westen im Kalten Krieg: »Dies ist eine Neuauflage der Mentalität des Kalten Krieges. (…) Gewisse Leute wollen, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf interne Probleme richten, und sie ziehen hier die Strippen, damit wir uns international nicht einmischen.« 99

Obwohl Untersuchungen zu ergeben schienen, dass die meisten Opfer in Beslan wegen des Eingreifens des russischen Militärs gestorben waren, kam es in der Folge zu erheblichen Umwälzungen in Putins Russland, als seine KGB-Leute sich bemühten, ihren Einfluss auszuweiten. Putin sprach von der größten Verfassungsänderung in der Geschichte der postsowjetischen Nation. Zehn Tage nach der Geiselnahme von Beslan erklärte er die Abschaffung der Regionalgouverneurswahlen in Russland. Dies ging wesentlich weiter als die bisherigen bereits vom Kreml durchgesetzten Bemühungen, die Macht der Regionalgouverneure zu beschränken. Sie sollten von nun an nicht mehr gewählt, sondern vom Kreml eingesetzt und durch die Regionalparlamente bestätigt werden. Diese Maßnahme würde das System gegen Bedrohungen von außen stärken, sagte Putin: »Die Organisatoren, diejenigen, die den Terrorangriff durchgeführt haben, zielen auf die Zerstörung des Landes, auf das Auseinanderbrechen Russlands. (…) Der staatliche Machtapparat muss aufgrund der Tragödie von Beslan nicht nur angepasst werden, sondern auch dafür sorgen, dass sich eine solche Krise nicht wiederholt.« 100

Unabhängige politische Kommentatoren wie Nikolai Petrow und unabhängige Duma-Abgeordnete warnten vor diesen Veränderungen – in ihren Augen eine Rückwendung zu sowjetischen Praktiken, gleichbedeutend mit einer Rückkehr zum Einparteiensystem mit der uneingeschränkten Herrschaft des Kreml. 101 Die Maßnahme bedeutete die vollständige Umkehr einer der wichtigsten Freiheiten, die während Jelzins Präsidentschaft errungen worden waren. Dadurch wurde ein System abgeschafft, das Wählern und regionalen Eliten gleichermaßen eine der deutlichsten Lektionen in lokaler Demokratie bot. Der Kreml hingegen argumentierte, er hebele damit korrupte Strukturen aus, in denen Regionalgouverneure von denen, die über das meiste Geld verfügen, gekauft werden konnten. Russlands junge Demokratie sei zu schwach für das Risiko von Direktwahlen, und die Bedrohung seiner Einheit von außen sei zu groß.

Putins Männer errichteten eine Festung Russland und stellten es so dar, als würde sich das Land im Belagerungszustand durch eine externe Gefahr befinden. In Wahrheit ging es ihnen nur darum, ihre eigene Macht zu sichern. Putins außenpolitische Vertreter hatten schon lange den Westen attackiert, weil er Menschen aufnahm, die ihrer Meinung nach tschetschenische Terroristen unterstützten – Achmed Sakajew in Großbritannien und Iljas Achmadow in den USA. 102 Sie diskutierten, ob die tschetschenischen Rebellen das Pankissi-Tal, ein schmales Tal zwischen Georgien und dem Nordkaukasus, als Route für Terrorangriffe auf russischem Boden genutzt hätten. Aber bis zu diesem Augenblick hatten Putins Leute selten öffentlich darauf angespielt, der Westen könne die Absicht haben, den Staat Russland zu zerschlagen.

Die Beweise für die Mitverantwortung des Westens an der Geiselnahme von Beslan waren Putin einem Kreml-Insider zufolge von Patruschew unterbreitet und vom Präsidenten natürlich widerspruchslos hingenommen worden: »Putin glaubte das, weil es ihm gelegen kam. Für ihn war das Wichtigste, einen Mythos zu schaffen und dem Westen die Schuld zu geben. So konnten sie alles vertuschen. Erst danach beschlossen sie, dass dies auch eine gute Begründung für die Abschaffung der Gouverneurswahlen wäre.« 103 In Wirklichkeit war dieser Schachzug schon lange geplant gewesen. Die Männer aus den Sicherheitsbehörden hatten nur auf den geeigneten Moment gewartet, um ihn durchzuführen.

Nach der Geiselnahme im Dubrowka-Theater hatte Putin keine vergleichbaren Anschuldigungen über eine Beteiligung des Westens geäußert. Hinzu kommt, dass keinerlei Beweise präsentiert wurden, dass westliche Kräfte in den Terrorakt involviert waren. In einem Bericht, der aus den russischen Sicherheitsbehörden geleakt wurde, hieß es, dass drei in Großbritannien lebende Männer an der Geiselnahme beteiligt gewesen sein sollten, einer von ihnen Besucher einer bekannten radikalen Moschee in Finsbury Park, London, die anderen beiden in London ansässige Algerier. 104 Doch bald war davon keine Rede mehr, die Behauptungen wurden nie bestätigt.

Was sich zu jener Zeit tatsächlich änderte, war der Einfluss, den Russland auf seinen wichtigsten Nachbarn ausüben konnte. In der Ukraine standen in jenem Herbst Präsidentschaftswahlen bevor. Die verfassungsgemäße Amtszeit von Leonid Kutschma, dem ehemaligen Vorsitzenden der Kommunistischen Partei, der das Land seit 1994 in der Balance zwischen Ost und West gehalten hatte, näherte sich dem Ende. Der Kandidat des Kreml war der damalige Ministerpräsident Viktor Janukowitsch, ein ehemaliger Strafgefangener und Industrieboss, der aus dem prorussischen Stützpunkt Donezk in der Ostukraine stammte. Er sah sich einer wachsenden Herausforderung durch einen Kandidaten gegenüber, der eine engere Anbindung an den Westen bevorzugte. Dieser Kandidat war Wiktor Juschtschenko, der ebenfalls eine Zeit lang Ministerpräsident gewesen war. Alles, was er repräsentierte, stand Putins Ukraineplänen diametral entgegen.

Von allen ehemaligen Sowjetrepubliken hatte Moskau den Verlust der Ukraine nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion am stärksten gespürt, als handelte es sich bei dem Land um ein Phantomglied des Reiches, von dem Russland glaubte, es befinde sich noch an seinem Körper. Die Ukraine war nach Russland und Kasachstan die drittgrößte ehemalige Sowjetrepublik. Für fast 30 Prozent seiner Bevölkerung war Russisch die Muttersprache, und ihre Wirtschaft war seit Sowjetzeiten eng mit der russischen verknüpft. Das Politbüro hatte in großem Stil in die Industrialisierung der Ukraine investiert, die einst eine Agrarregion gewesen war, und hatte das Land zu einem wichtigen Rüstungshersteller für Russland umgebaut. Die Stahlwerke des Landes waren in der sowjetischen Planwirtschaft mit den russischen zusammengelegt worden, während die Fabriken nach wie vor unverzichtbare Lieferanten von Rohstoffen für Russlands Aluminiumindustrie waren. Vor allem jedoch war die Ukraine eine unerlässliche Transitzone für Russlands strategisch relevantestes Exportgut. 85 Prozent der russischen Gasexporte nach Europa wurden durch das ukrainische Rohrnetz geleitet, Arterien des Reiches, die in der Sowjetzeit erbaut wurden. Auf der ukrainischen Halbinsel Krim am Schwarzen Meer befand sich überdies nach wie vor ein strategisch bedeutsamer russischer Marinestützpunkt.

Dass die Ukraine sich Richtung Westen wandte, war das Letzte, was Putin in seinem Streben, die russische Großmacht wiederauferstehen zu lassen, gebrauchen konnte. Aber das Land war lange zwiegespalten gewesen, ein Scheidepunkt seit vorrevolutionären Zeiten zwischen Ost und West. Seit 1686, als Russland und Polen das Land nach dreißig Kriegsjahren unter sich aufteilten, hatten Polen und Litauen große Teile der Westukraine kontrolliert. Auch wenn die sowjetische Herrschaft dieser Teilung ein Ende gesetzt hatte, blieb der westliche Einfluss in der Westukraine unauslöschlich bestehen, und die proeuropäische Unabhängigkeitsbewegung war unvermindert stark. Während seiner Amtszeit hatte Kutschma geschickt die prowestlichen und prorussischen Kräfte des Landes ausbalanciert. Aber nun war Juschtschenko aufgetaucht und stellte Putins Pläne für eine stärkere Einheit der ehemaligen Sowjetrepubliken durch die Schaffung einer gemeinsamen eurasischen Wirtschaftszone infrage. Die Parlamente beider Länder hatten im April die Gründung der gemeinsamen Wirtschaftszone ratifiziert. Aus Putins Sicht wurde Juschtschenko jedoch von westlichen Regierungen unterstützt, die es darauf abgesehen hatten, Russlands Wiederaufstieg zu verhindern.

Juschtschenko trat mit Nachdruck für die Aufnahme der Ukraine in die Europäische Union und die NATO ein – Kutschma hatte ihn als Ministerpräsidenten genau deshalb, wegen seiner prowestlichen Neigung, abgesetzt. Seine ukrainisch-amerikanische Frau war in Chicago aufgewachsen und hatte im US-Außenministerium gearbeitet. Die beiden hatten sich kennengelernt, als sie nebeneinander im Flugzeug saßen, was Putin als Rekrutierung Juschtschenkos durch die CIA interpretierte.

Putin und seine Leute waren entsetzt über ein aus ihrer Sicht klares Eindringen auf ihr Territorium, eine unmittelbare Gefahr für die engere eurasische Anbindung, die sie planten. Putin hatte bereits im Sommer eine erste Warnung zum Thema Ukraine in Richtung Westen ausgesprochen, einige Monate vor dem Terrorangriff in Beslan. Die Pläne des Kreml für die ersten Schritte hin zu einer Wiederauferstehung der russischen Großmacht, die sogenannte Eurasische Wirtschaftsunion zwischen Russland, der Ukraine, Belarus und Kasachstan, standen auf dem Spiel. »Indem wir näher zusammenrücken, erhöhen wir unsere Wettbewerbsfähigkeit. Doch das wissen nicht nur wir, sondern auch ernstzunehmende Partner im Ausland«, hatte Putin bei einem Treffen mit Kutschma im Juli erklärt. 105 »Ihre Vertreter, sowohl in unseren Ländern als auch im Ausland, versuchen mit allen Mitteln, die Integration Russlands und der Ukraine zu stören.« Putin hatte die Kulisse für diese Aussage sorgfältig gewählt: Das Treffen mit Kutschma fand im historischen Liwadija-Palast in Jalta statt, in dem Stalin, Roosevelt und Churchill Europa kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Einflusssphären zwischen Ost und West aufgeteilt hatten. Putin machte auf diese Weise ein historisches Recht geltend, beanspruchte eine russische Einflusszone im nahen Ausland.

Aber seine Warnung schien keine Wirkung zu entfalten. Trotz einer Entsendung von Spindoktoren des Kreml nach Kiew, um Stimmen für Janukowitsch zu werben, nahm Juschtschenkos Beliebtheit täglich zu. Am 5. September, nur einen Tag nachdem Putin in seiner Rede über Beslan behauptet hatte, ausländische Kräfte würden versuchen, sich wertvolle Stücke Russlands zu sichern, gingen Juschtschenkos Gegner in die Offensive. Juschtschenko war zum Abendessen in die Datscha von General Ihor Smeschko eingeladen, dem Chef des ukrainischen Geheimdienstes. Am nächsten Tag fühlte er sich krank, und schreckliche Zysten brachen in den Folgetagen in seinem Gesicht aus. Ärzte in Österreich, wohin er zur Behandlung gebracht wurde, kamen zu dem Schluss, er sei mit reinem Dioxin vergiftet worden. Die Wahlkampfmaschinerie lief jedoch unaufhaltsam weiter.

Juschtschenko war zwar kurzfristig außer Gefecht gesetzt worden, aber Julija Timoschenko, eine eindrucksvolle politische Akteurin und ukrainische Nationalistin, führte den Wahlkampf in seiner Abwesenheit fort. Die Kampagne war eingängig und clever. Der Slogan war auf eine einfaches Tak – Ja – beschränkt, und die orangefarbenen Transparente und Plakate der Bewegung schienen überall zu sein. Putins Versuche einzugreifen – er besuchte sogar die ukrainische Hauptstadt Kiew nur Tage vor der Wahl, um die Bevölkerung aufzufordern, für den Pro-Kreml-Kandidaten Janukowitsch zu stimmen –, schienen nach hinten loszugehen. 106 Die flächendeckende Unterstützung des russischen Staatsfernsehens für den schroffen Janukowitsch, den Parteichef und ehemaligen Strafgefangenen aus der russischen Hochburg in der Ostukraine, der gelegentlich wirkte, als würde er keinen vollständigen Satz aussprechen können, ging den Wählern, die sich nach Jahrzehnten der Sowjetherrschaft nach Unabhängigkeit sehnten, auf die Nerven. Im Vergleich mit dem gebildeten Juschtschenko, der außerdem als Held gefeiert wurde, weil er den Giftanschlag überlebt hatte, der sein Gesicht verunstaltet hatte und nach wie vor lebensbedrohlich sein konnte, verblasste Janukowitsch.

Als die Nation Ende November an die Wahlurnen ging, schien Putins Eingreifen erneut eher zu stören. Er gratulierte Janukowitsch zu seinem Sieg, bevor die Ergebnisse ausgezählt waren und obwohl Nachwahlbefragungen auf das gegenteilige Ergebnis hindeuteten. 107 Die offizielle Zählung wurde von einem engen Putin-Verbündeten überwacht, und als sie schließlich mit Putins vorzeitiger Aussage übereinstimmte, behauptete die Opposition, die Wahl sei manipuliert worden. Zehntausende von Juschtschenkos Unterstützern gingen auf die Straße, darunter unzählige junge Menschen. Viele von ihnen waren in der Jugendgruppe Pora! organisiert, die eine Zeltstadt auf Kiews zentralem Platz, dem Majdan, aufgebaut hatte. 108 Trotz der eisigen Kälte wurden die Proteste immer größer, es versammelten sich bis zu einer Million Menschen auf dem Majdan. Schließlich sah sich Kutschma gezwungen, einer Wahlwiederholung zuzustimmen. Diesmal endete die Abstimmung, die im Dezember unter intensiver Aufsicht lokaler und internationaler Beobachter stattfand, mit einem Sieg Juschtschenkos. Der Kandidat des Westens hatte gewonnen.

Für Putin und seine Unterstützer war das eine verheerende Niederlage, die viele bis heute nicht vergessen haben. Die Auswirkungen der sogenannten Orange Revolution waren so gravierend, der Schlag für die Pläne des Kreml so schwer, dass Putin zwei Vertrauten zufolge einen Rücktritt erwog. 109 Doch niemand aus seinem inneren Zirkel wollte seinen Platz einnehmen, niemand war bereit, die enorme Verantwortung zu übernehmen.

Es handelte sich um die zweite prowestliche Revolution in Russlands Hinterhof. Erst ein Jahr zuvor war der westfreundliche Columbia-Absolvent Micheil Saakaschwili in der ehemaligen Sowjetrepublik Georgien an die Macht gekommen. Putin und seinen Verbündeten schien es, als würden die Kräfte des Westens überall um sie herum aktiviert, als breiteten sie sich in Russlands Einflussbereich und womöglich bald sogar in Russland selbst aus. Es war der schlimmste Albtraum von Putins KGB-Männern, dass russische Oppositionelle, inspiriert durch die Ereignisse um sie herum und finanziert durch den Westen, versuchen würden, auch Putins Regierung zu stürzen. Von diesem Zeitpunkt an waren viele ihrer Maßnahmen von einer solchen düsteren Paranoia beeinflusst und initiiert.

Wieder bestand die Reaktion Putins und seiner Vertrauten darin, ihre Bemühungen zu verstärken und Russland als eine Nation im Belagerungszustand darzustellen. Was in der Ukraine und Georgien geschehen war, würde Putins Vorgehen im Kreml für die nächsten Jahre prägen. Da sie glaubten, sich im Kampf um das Imperium und um die eigene Selbsterhaltung zu befinden, konnten sie nicht zulassen, dass irgendein Einfluss von außen noch hinzukam; eine Sichtweise, die sicherlich auch ihre Entscheidung, die Regionalgouverneurswahlen abzuschaffen, beeinflusst hatte.

Im Dezember, wenige Tage vor der zweiten Abstimmung in der Ukraine, nutzte Putin seine jährliche Pressekonferenz dazu, gegen den Westen zu wüten, der angeblich versuchte, Russland zu isolieren, indem er Revolutionen im benachbarten Ausland schürte. Wieder verknüpfte er dies mit den Unruhen in Tschetschenien: »Sollte dies der Fall sein, wird die Tschetschenienpolitik des Westens verständlicher (…) als eine Politik, die darauf abzielt, Elemente durchzusetzen, welche die Russische Föderation destabilisieren.« Die Umbrüche in den ehemaligen Sowjetrepubliken, behauptete er, seien »anderswo« geplant worden, und er fügte hinzu, die neue georgische Regierung stehe bei dem US-amerikanischen Milliardär George Soros auf der Gehaltsliste. 110

Als Putin im folgenden April seine jährliche Rede zur Lage der Nation hielt, waren darin Argumentationslinien zu erkennen, die er von den Emigranten über die imperiale Vergangenheit übernommen hatte. Er zitierte gern Iwan Iljin, den Religionsphilosophen, der vor der bolschewistischen Revolution geflohen war, und führte Sergej Witte an, den reformatorischen Ministerpräsidenten des letzten Zaren, indem er sagte, Russland folge einem individuellen Weg, seiner eigenen Bestimmung. Seine Form der Demokratie habe ihr Vorbild nicht in den westlichen Modellen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion zähle zu den größten Tragödien des 20. Jahrhunderts: »Viele dachten oder schienen damals zu denken, dass unsere junge Demokratie keine Fortführung der russischen Souveränität sei, sondern ihr endgültiger Kollaps, das fortgeführte Sterben der Sowjetunion. Aber sie haben sich getäuscht«, sagte er. Nun trete das Land in eine neue Entwicklungsphase ein: »Unsere Gesellschaft hat nicht nur die Energie zur Selbsterhaltung aufgebracht, sondern auch den Willen zu einem neuen Leben in Freiheit. (…) Wir mussten unseren eigenen Weg finden, um eine Gesellschaft und einen Staat, die demokratisch, frei und gerecht sind, aufbauen zu können.« 111

Vor dieser Zeit hatte sich Putin in seinen Reden zur Lage der Nation meist nahezu vollständig auf die Wirtschaft konzentriert, auf Maßnahmen zur Verdoppelung des Bruttoinlandsprodukts, zur Schaffung eines »angenehmen« Lebens für die russische Bevölkerung und eine engere Anbindung des Landes an die Weltwirtschaft und Europa. »Die Expansion der Europäischen Union sollte uns einander nicht nur geografisch näherbringen, sondern auch wirtschaftlich und geistig«, hatte er in seiner Ansprache noch ein Jahr zuvor gesagt. 112 In der diesjährigen Rede klangen nun andere Töne an: »Russland sollte seine zivilisatorische Mission auf dem eurasischen Kontinent fortführen. Die internationale Unterstützung für den Respekt der Rechte Russlands im Ausland ist für uns von großer Bedeutung und kann nicht politisch oder diplomatisch verhandelt werden.« 113

Russland steckte seinen Einflussbereich in den ehemaligen Sowjetrepubliken ab, wenn auch etwas spät. Es befand sich auf einer neuen Marschroute. Es war dabei, eine Brücke zu seiner Großmachtvergangenheit zu errichten.