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»DER APPETIT KOMMT BEIM ESSEN«

Als Michail Chodorkowski im Juni 2004 in Handschellen in einen vollen Moskauer Gerichtssaal geführt wurde, begann ein Prozess, der den Lauf der russischen Wirtschaft verändern und die Justiz auf eine Weise untergraben würde, wie es Putins Leuten zugutekam. Chodorkowski war seit seiner Verhaftung in der Morgendämmerung auf einem sibirischen Rollfeld nicht mehr gesehen worden. Doch nun war er da, hinter den Gittern des Metallkäfigs, in dem Angeklagte gemäß den drakonischen russischen Regeln für Gerichtssäle sitzen mussten, und es war für alle sichtbar, dass er in Ungnade gefallen war. Ein Trio von Richterinnen mit hochtoupierten Haaren blickten mit strengen Gesichtern von einer Sperrholztribüne herunter. Bewaffnete Wachen umstanden den Käfig. 1

Die Hitze in dem winzigen Gerichtssaal an jenem Sommertag war drückend. Auf improvisierten Holzbänken drängten sich Anwälte in Power-Suits Schulter an Schulter mit Reportern und Familienmitgliedern Chodorkowskis, darunter seine Eltern, die bereits im fortgeschrittenen Alter waren. Staub hing in der Luft. Von Zeit zu Zeit drangen die hilflosen »Freiheit!«-Rufe einer Handvoll Protestierender durch ein offenes Fenster herein. Chodorkowski trug schlichte Jeans und eine braune Jacke und wirkte gefasst und eindringlich wie immer, als er forderte, auf Kaution freigelassen zu werden. Bei seiner achtmonatigen Inhaftierung in dem berüchtigten Moskauer Gefängnis Matrosskaja Tischina, sagte er ruhig, habe es sich um Machtmissbrauch gehandelt, der den Staat ermutigen würde, auch andere Menschen zu verfolgen: »Mein Fall ist ein Präzedenzfall für die Justiz im Allgemeinen; er wird dazu führen, dass Hunderte vor ihren Prozessen inhaftiert werden.« 2

Das Ergebnis des elfmonatigen Verfahrens, von Hunderten Stunden an Kreuzverhören und Zeugenaussagen, bildete die Basis von Putins Staatskapitalismus. Der Fall eröffnete den KGB-Leuten die Möglichkeit, die Kontrolle über die »Kommandohöhen« der Wirtschaft des Landes zu übernehmen, und schuf tatsächlich einen Präzedenzfall für die Verwandlung der russischen Justiz: als erweiterter langer Arm von Putins silowiki. Der Prozess half, die gesamte Strafverfolgung – die Polizei, die Staatsanwaltschaften und die Gerichte – in eine verbrecherische Maschinerie umzubauen, die Unternehmen in ihren Besitz nahm und politische Rivalen von Putins herrschender Elite aus dem Weg räumte. Als die Umwandlung vollzogen war, wurden jedes Jahr Tausende Geschäftsleute vor ihren Prozessen in Untersuchungshaft genommen, und viele von ihnen wurden nur freigelassen, wenn sie sich bereit erklärten, ihre Unternehmen abzugeben. 3 Es war die gröbste Waffe, die die silowiki in ihrem juristischen Arsenal hatten. Für den FSB und die Polizei wurde diese Vorgehensweise schließlich im ganzen Land im Großen wie im Kleinen systematisch ausgebaut.

Durch die Verhaftung Chodorkowskis bekamen Putins Sicherheitsleute einen so großen Spielraum, dass 2012 mehr als 50 Prozent von Russlands Bruttoinlandsprodukt unter der unmittelbaren Kontrolle des Staates und von Geschäftsleuten mit engen Verbindungen zu Putin standen – eine gewaltige und schnelle Kehrtwende seit der Zeit des Chodorkowski-Prozesses, als über 70 Prozent der Wirtschaft in privater Hand waren. 4 Es förderte zudem eine riesige Schattenwirtschaft mit Schwarzgeld für die wieder erstarkenden Sicherheitsbehörden, das zum Teil aus Bestechungen bei Razzien stammte und mit dem unzählige FSB-Leute und andere Polizeibeamte aufgemotzte Humvees und Luxuswohnungen finanzierten, die weit über der Kaufkraft ihrer offiziellen Gehälter lagen. Es bescherte den Beamten der Sicherheitsbehörden ungehinderten Zugang zu Insiderdeals, durch die sie Billionen Rubel in bar gewannen, die beiseitegeschafft und später auf Konten im Westen gewaschen werden konnten.

Der Prozess veränderte, vereinfacht gesagt, alles. Er fand zu einem Zeitpunkt statt, als Putins Männer an dem – aus ihrer Sicht – Wiedererstarken ihres Landes gegenüber den Mächten des Westens arbeiteten, vor dem Hintergrund von Beslan und den ukrainischen und georgischen gesellschaftlichen Umbrüchen. Aus ihrer Perspektive war die Übernahme von Jukos der entscheidende Schritt, um den Glanz der Großmacht wiederherzustellen und die Kontrolle über das Land und seine Finanzflüsse zu verstärken. Zumindest rechtfertigten sie die Maßnahmen damals auf diese Weise vor sich selbst. »Der KGB sah, dass er ein Monster geschaffen hatte, das zur Hälfte ein eigenes Leben besaß – den Kapitalismus«, sagte Chodorkowskis früherer Berater Christian Michel. »Sie sahen, wie die Oligarchen, die sie selbst groß gemacht hatten, nun Milliarden machten, während sie nichts davon abbekamen. Und so begannen sie sich die Ressourcen im Namen des Landes zurückzuholen. Sie sagten sich: ›Wir holen uns die Ressourcen zurück, die der Nation gehören. Sonst erkaufen sich die Amerikaner die Kontrolle.‹« 5

Diese praktische Erfindung eines Mythos war nicht nur Antrieb und Motivation, sie erlaubte ihnen auch, sich zu verhalten, wie es ihnen beliebte. Aus ihrer Sicht waren sie die Hüter von Russlands Erneuerung; sie sahen sich als Russlands Retter, die es verdienten, ein eigenes Vermögen aufzubauen. Wie vor ihnen schon die sowjetische Führung waren sie die Personifikation des Staates, ihre Interessen stimmten vollkommen mit den staatlichen überein. Doch während der Staat früher synonym war mit der Partei, waren sie nun dabei, eine neue Ära des Staatskapitalismus einzuläuten, in denen die Grenzen zwischen den strategischen Zielen des Staates und ihren eigenen, individuellen nahezu ununterscheidbar waren. »Sie gaben allem den Anschein, es diene einem höheren Zweck. Aber es befriedigte auch die persönliche Gier, und da begannen die Probleme«, sagte Michel.

Dass der Staat wieder das Kommando über die Wirtschaft übernahm, hatte bereitwillige Unterstützung in einer Bevölkerung gefunden, die über die Milliardäre der Jelzin-Zeit ebenso erbittert war wie Putins KGBler. Putin fasste die verbreitete Missgunst zusammen, als er eine Woche vor Chodorkowskis Festnahme auf die Magnaten der Neunzigerjahre schimpfte, weil sie ein System der »Oligarchenherrschaft« geschaffen hätten: »Wir haben eine Kategorie von Leuten, die, wie man so schön sagt, über Nacht Milliardäre geworden sind. Der Staat hat sie zu Milliardären gemacht. Er verteilte ein gewaltiges Vermögen, praktisch gratis. Als sich das Spiel entwickelte, bekamen sie den Eindruck, als würden die Götter sie beschützen, als wäre ihnen alles erlaubt.« 6 Der Kreml versuchte sogar das Vorgehen gegen Jukos als Teil des Kampfes gegen den Terrorismus darzustellen. Drei Wochen nach der Geiselnahme von Beslan sendete der inzwischen staatlich gelenkte Sender NTW eine merkwürdige Anschuldigung – ohne jegliche Beweise –, dass Chodorkowski und seine Partner die tschetschenischen Terroristen finanziert hätten. 7

Sergej Iwanow, Putins enger KGB-Vertrauter aus Sankt Petersburg und nun Verteidigungsminister, war der Erste gewesen, der offen signalisiert hatte, womit nun zu rechnen war. »Der Staat darf nicht die Kontrolle über strategische Wirtschaftssektoren verlieren«, sagte er im November 2003, einen Monat nach Chodorkowskis Verhaftung. »Wir sollten die Kontrolle über die Ölförderung und – erschließung behalten. (…) Die Sowjetunion hat ungeheure Mittel in die Exploration und Entwicklung der Felder investiert, und nun streichen die Chefs der Mineralölkonzerne gewaltige Gewinne ein. Ölquellen und – reserven sind in jedem Fall staatliches Eigentum, kein privates. Der Staat hat also das volle Recht, diesen Prozess zu lenken.« 8

Doch obwohl die Signale deutlich waren, dass Umwälzungen in Russlands Führung bevorstanden, schienen westliche Regierungen nicht davon auszugehen, dass diese so weit gehen würden wie es letztendlich der Fall war. Anfangs hatten US-Beamte Mühe zu verstehen, ob es sich hier um einen Kreuzzug allein gegen Chodorkowski handelte oder eine breiter angelegte Kampagne, sich den Energiesektor unter den Nagel zu reißen. 9 Sie realisierten nicht, dass es der Beginn einer Machtübernahme der gesamten Justiz und Politik war und dass die Mittel, die Putins KGB-Leute anhäuften, schließlich gegen den Westen eingesetzt würden. Obwohl Sergej Iwanow unmissverständlich auf ihren Wunsch, den Einfluss des Staates zu vergrößern, hingewiesen hatte, achteten er und Putins Leute darauf, es so darzustellen, dass dies keine Revision der Privatisierungen der Neunzigerjahre darstellte, dass der Fall Chodorkowski der eines einzelnen skrupellosen Oligarchen war, dass Eigentumsrechte respektiert würden und dass Russland nach wie vor eine Marktwirtschaft war und die Integration in den Westen anstrebte.

Die scharfe Verurteilung seiner Verhaftung durch die US-Regierung, mit der Chodorkowski gerechnet hatte und von der er geglaubt hatte, sie würde zu einer schnellen Freilassung führen, blieb aus. Die Reaktionen waren eher gedämpft. Einzelne Politiker wie der republikanische Senator John McCain oder George Soros, der Milliardär, der sich vom Devisenhändler zum Philanthropen gewandelt hatte, verlangten, Russland solle aus der Elitegruppe der Industrienationen, der G8, ausgeschlossen werden, die Russland ohnehin erst mit Beginn von Putins Präsidentschaft aufgenommen hatte. Doch nur McCain schien die möglichen Konsequenzen eines staatlichen Sturms auf Jukos zu erkennen: »Eine schleichender Coup gegen die Kräfte der Demokratie und des Marktkapitalismus in Russland bedroht die Grundlage der Beziehungen zwischen den USA und Russland und beschwört das Gespenst einer neuen Ära des kalten Friedens zwischen Washington und Moskau herauf«, sagte er vor dem US-Senat nach Chodorkowskis Verhaftung. »Die Vereinigten Staaten können kein normales Verhältnis, geschweige denn eine Partnerschaft mit einem Land pflegen, das zunehmend mehr Gemeinsamkeiten mit seinen sowjetischen und zaristischen Vorgängern hat als mit dem modernen Staat, den Wladimir Putin angeblich aufbauen will.« 10

Doch die Regierung von George W. Bush verhielt sich im Großen und Ganzen nicht anders als vorher. In jener Zeit, nach den Terrorattacken vom 11. September, lag der Fokus auf dem gemeinsamen Kampf gegen den Terrorismus. Deshalb war es wichtig, den Dialog mit Russland aufrechtzuerhalten, besonders jetzt, da es Russland gelungen war, den Westen von den Verbindungen zwischen den tschetschenischen Rebellen und dem globalen Terrorismus zu überzeugen. Die USA wurden zudem immer abhängiger von Moskaus Unterstützung in Afghanistan, unter anderem wegen der Bereitstellung einer Transportroute für Kriegsmaterial durch Russland. »Das Mindeste, was die US-Regierung wollte, war, dass Russland ihren Plänen nicht im Weg stand«, sagte Thomas E. Graham, damaliger Direktor für Russland im Nationalen Sicherheitsrat der USA. »Beispielsweise gab es Meinungsverschiedenheiten über den Irak, und bestenfalls wollte sie Unterstützung im Kampf gegen den Terrorismus, wie wir sie in Afghanistan erlebt haben.« 11

Dennoch äußerte die US-Regierung in mehreren Gesprächen mit dem Kreml Bedenken bezüglich Chodorkowskis Inhaftierung und der staatlichen Übernahme von Jukos, sagte Graham. »Aber sie konzentrierte sich damals nicht so stark auf die innenpolitischen Entwicklungen in Russland.« Damals habe man nicht den Eindruck gehabt, Russland wende sich von der Demokratie ab, sagte er, und Putins Bemühungen, die Macht des Staatsapparats zu vergrößern, wurden nach dem Chaos der Jelzin-Jahre nicht als etwas Schlechtes betrachtet. Die erzwungene Ausreise der Medienmogule Wladimir Gussinski und Boris Beresowski und die Übernahme ihrer Sender durch den Staat wurden als interne Angelegenheit betrachtet. Keiner von beiden galt als Unterstützer der Demokratie, so Graham. Sie hätten ihre Medienimperien genutzt, um ihre eigene Agenda zu verbreiten. 12 Chodorkowski dagegen hatte sich zu einer anderen Art von Oligarch entwickelt, seit er sein Image als Räuberbaron allmählich ablegen konnte und eine bessere Corporate Governance verfolgte – wie auch der Verkauf seines Ölunternehmens an die USA zeigte. »Doch vom Standpunkt der Regierung war das keine große Sache, keine, die uns dazu veranlasste, einen Schritt zurückzutreten und unsere Russlandpolitik zu überdenken.« 13 Im Grunde hatte die US-Regierung Chodorkowski trotz seiner Bemühungen, Verbindungen nach Amerika zu knüpfen, den Wölfen zum Fraß hingeworfen.

Für die internationalen Investoren, die an eine Transformation des russischen Marktes geglaubt hatten, besaß die Verhaftung Chodorkowskis und die darauffolgende Übernahme seines Unternehmens eine wesentlich größere Bedeutung. Vom Augenblick der Festnahme und des Einfrierens von Chodorkowskis 44-Prozent-Anteil an Jukos durch den Staat waren die Augen der Investoren auf das Unternehmen gerichtet, man verfolgte genau, ob der Staat den Prozess dazu nutzen würde, Jukos zu zerschlagen. Jukos war Russlands Mineralölproduzent Nummer eins, es förderte mehr Öl als Kuwait. Es war das bekannteste Unternehmen des Landes, ein Flaggschiff für Investitionen aus dem Westen, und jeder staatliche Anspruch auf den Konzern konnte auf eine allgemeine Revision der Marktreformen hindeuten. Investoren fürchteten, je länger Chodorkowski im Gefängnis säße, desto größer wäre das Risiko, dass die silowiki sein Unternehmen beschlagnahmen würden, was den gesamten russischen Markt für Investments uninteressant machen würde. 14 Sie fürchteten eine Wiederholung der Behandlung Gussinkis im Fall von NTW, und dass Chodorkowskis Inhaftierung dazu genützt würde, ihn zu zwingen, seine Anteile abzugeben – Taktiken, die von Putins KGB-Männern in Sankt Petersburg entwickelt worden waren.

Trotz global hoher Ölpreise und einer wachsenden Wirtschaft war der russische Aktienmarkt derjenige mit der schlechtesten Performance weltweit in jenem Jahr, und Jukos-Aktien hatten seit ihrem Hoch im Herbst zuvor über die Hälfte ihres Wertes verloren. 15 Chodorkowskis engster Geschäftspartner, Leonid Newslin, hatte bereits vorgeschlagen, dass Menatep-Anteilseigner die Kontrolle über Jukos dem Staat überlassen sollten, im Austausch für die »Geiseln«. Dabei erklärte er, er spreche bloß öffentlich aus, welche Deals ihm tagtäglich von Vermittlern in Hinterzimmern angeboten würden. 16

Doch in diesem Fall kamen solche Vorschläge bei Putins Kreml überhaupt nicht gut an, der nach wie vor verzweifelt darum bemüht war, sich westliche Investoren – und den Westen im Allgemeinen – gewogen zu halten. Den KGB-Männern war klar, dass sie sich jeden Schritt gut überlegen mussten. Die Festnahme und Inhaftierung Chodorkowskis wegen Vorwürfen von Betrug und Steuerhinterziehung mussten einen rechtmäßigen Eindruck machen und als Teil eines Prozesses verstanden werden können, der die Zerschlagung und Übernahme von Jukos legitimierte und aus einem bestimmten Blickwinkel auch dem Westen gerechtfertigt erscheinen konnte. Damals fürchteten Putins Leute noch die Konsequenzen internationaler Gerichtsverfahren. Sie waren erpicht darauf, Russlands stärkere Anbindung an die internationalen Märkte voranzutreiben, und sie wussten, dass sie westliche Investitionen benötigten, damit sich die wirtschaftliche Erholung des Landes fortsetzte. Nur so konnten sie einen Staatskapitalismus etablieren, mit dem sie in den Westen expandieren – und ihn infiltrieren – konnten, ohne als Bedrohung wahrgenommen zu werden.

Statt also einfach Menateps Anteile an Jukos zu beschlagnahmen, starteten sie einen ausgeklügelten juristischen Feldzug, in dem Chodorkowskis Prozess nur ein Element einer quälend langsamen Übernahme darstellte. Die Anfänge eines raffinierten Verfahrens, in dem stark kontrollierte gerichtliche Verfügungen und das Gerichtswesen insgesamt als Tarnung dienten für die Enteignung durch die silowiki. 17

Es war ein Verfahren, das durch den chaotischen Übergang während der Neunziger begünstigt wurde, als die Oligarchen, darunter auch Chodorkowski, ihr Umfeld zu ihren Gunsten beeinflussen und die Rechte kleinerer Investoren und anderer mit Füßen treten konnten, wobei es insgesamt bei den Privatisierungen nicht immer mit rechten Dingen zuging. Die meisten Geschäftsleute hatten in einem rechtlichen Vakuum agiert, der Staat war so schwach, dass er kaum Gesetze durchsetzen konnte. Das Gerichtswesen und die Polizei waren im Grunde bereit für den Ausverkauf. Doch nun, da Putins KGB-Leute den Kreml übernommen hatten, begannen sie die Situation fast vollständig umzukehren. In Chodorkowskis Fall wurden die Gerichtsurteile gleichsam vom Kreml diktiert. Die Anhörungen waren voller Verfahrensfehler, Gesetze wurden rückwirkend und selektiv angewendet. Statt die Institutionen zu stärken, um den Missbrauch in der Vergangenheit zu überwinden, kaperten Putins Verbündete sie einfach und gaben sich selbst das Monopol für Machtmissbrauch.

Die Tatsache, dass viele russische Gesetze voller Schlupflöcher waren, half ihnen dabei. Dies erleichterte es, allen möglichen Personen vorzuwerfen, gegen sie zu verstoßen. In einem solchen Umfeld waren Gesetze frei für Auslegungen und galten weniger als ein mafiaartiges System von »Abmachungen« oder Übereinkünften zwischen Freunden, in dem man auf der richtigen Seite des Kreml stehen musste, wenn man überleben wollte.

Als Chodorkowskis erster Prozesstag bevorstand, hatte Jukos gewarnt, dass das Unternehmen am Rande des Konkurses stand. Die Strafverfolgungsbehörden hatten gleichzeitig einen Belagerungskrieg geführt und rückwirkend 3,4 Milliarden Dollar Steuern für das Jahr 2000 nachgefordert. Investoren fürchteten, die Absicht sei, Jukos bewusst zahlungsunfähig zu machen, damit der Staat den Konzern übernehmen könne. Ausländische Gläubiger waren bereits besorgt, dass das Unternehmen nicht in der Lage sein würde, Schulden in Höhe von einer Milliarde zurückzuzahlen. 18 Regierungsbeamte unter der Leitung von Finanzminister Alexej Kudrin, einem Technokraten mit liberalen Tendenzen, waren schon lange frustriert über die Ölfirmen, die die heimischen Offshore-Gebiete nutzten, um Steuern zu sparen. Aber Jukos war bei Weitem nicht das einzige Unternehmen, das solche Tricks anwandte, die zudem damals nach russischem Recht legal waren. Der effektive Steuersatz, den Jukos zahlte, glich dem anderer Ölfirmen in privater Hand, etwa Roman Abramowitschs Sibneft und TNK-BP. 19 Während Investoren fürchteten, dass ähnliche rückwirkende Steuerforderungen auch gegen andere Unternehmen eingesetzt werden könnten, waren der Kreml und servile westliche Banker darauf bedacht zu betonen, dass es in diesem Fall einzig und allein um Chodorkowski ging.

Es zeugt von der Raffiniertheit des Kreml, dass Putin einen Tag nach Chodorkowskis erstem Auftritt hinter Gittern in dem Gerichtsaal in Moskau mit einer beruhigenden Ansprache für Investoren über den Fall an die Öffentlichkeit trat, wie er es selten tat. Bei einem offiziellen Besuch der benachbarten ehemaligen Sowjetrepublik Usbekistan gab er den großmütigen Staatslenker und betonte noch einmal, wie sich Chodorkowskis Schicksal gewendet hatte. »Die offiziellen Behörden der Russischen Föderation, die Regierung und die Wirtschaftsbehörden des Landes haben kein Interesse an der Insolvenz eines Unternehmens wie Jukos«, sagte er. Erleichterte Investoren ließen den Aktienpreis innerhalb eines Tages um 34 Prozent in die Höhe schießen. Aber Putin behielt sich selbst ein Hintertürchen offen, wobei das Schauspiel eines Prozesses innerhalb eines unabhängigen Gerichtssystems als Tarnung dafür diente, dass sich der Staat Vermögen einverleibte: »Die Regierung wird alles tun, um einen Zusammenbruch des Unternehmens zu verhindern. Aber was im Gericht passiert, ist eine andere Geschichte. Die Gerichte sollen für sich selbst sprechen.« 20

Er erwähnte natürlich nicht, dass alles, was in den Gerichten geschah, damals bereits vollständig von seinem engsten Vertrauten Igor Setschin diktiert wurde, seinem stellvertretenden Leiter der Präsidialverwaltung, der die juristische Attacke auf Chodorkowski von Anfang an vorangetrieben und gesteuert hatte. Als wollte er eine enge Zusammenarbeit sicherstellen, wurde Setschin sogar Teil der Familie des Generalstaatsanwalts Wladimir Ustinow: Seine Tochter hatte Ustinows Sohn im November 2003 geheiratet, genau zu dem Zeitpunkt, als die Attacke gestartet wurde. In seiner Rolle als Überwacher des Feldzugs hatte der untertänige ehemalige KGB-Mann nichts als Gelegenheiten gesehen.

Für Setschin war der Jukos-Fall eine einmalige Gelegenheit, seine Position als bislang stets unterwürfiger Diener Putins zu verbessern. Jahrelang hatte er für Putin die Taschen getragen und den Zugang zu ihm kontrolliert; nun konnte er diese Funktion zu seinem eigenen Vorteil nutzen. Ein Kreml-Insider beklagte sich einmal mir gegenüber, dass Setschin absichtlich eine Direktive verloren habe, die der Insider mit Putin abgestimmt hatte: »Alle fragten, wo sie sei. Sie war noch nicht veröffentlicht worden. Putin hatte sie unterschrieben und sie Igor gegeben. (…) Ich ging zu ihm und er sagte: ›Ups, sie muss hinter den Schrank gefallen sein. Ich habe so viel Papier hier.‹ Und so ging es weiter. Er tat das, um zu zeigen, dass er derjenige war, der Entscheidungen traf und der entschied, ob etwas umgesetzt wurde oder nicht, und dass ich zu ihm kommen sollte, um Dinge abzusprechen.« 21

Mit dem Jukos-Fall erhielt Setschin eine Gelegenheit, seine Machtbasis zu erweitern und sein eigenes Reich zu schaffen. »Er begriff, dass es eine Gelegenheit für ihn war, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen«, sagte Alexander Temerko, einer von Jukos’ früheren Hauptaktionären. »Sich das Vermögen zu schnappen und den Fall zu nutzen, um die Kontrolle über die Strafverfolgung zu erlangen.« Als Setschins Tochter den Sohn des Generalstaatsanwalts heiratete, »wurde daraus ein Familienunternehmen«. 22

Temerko war der einzige Anteilseigner von Jukos, der in Moskau blieb, um zu versuchen, einen Ausweg aus der Sackgasse zu finden. Alle anderen Geschäftspartner Chodorkowskis, mit denen er das Menatep-Imperium gegründet hatte, auch Newslin, waren aus Angst, verhaftet zu werden, aus Russland geflohen, in den meisten Fällen nach Israel. Aber Temerko war anders. Drei- und Viersternegeneräle hatten früher unter ihm gearbeitet, und er war im Grunde unantastbar. 23 Zu Beginn von Jelzins Präsidentschaft hatte er einen staatlichen Militärausschuss geleitet. Er hatte gute Kontakte zu einer Reihe von Verteidigungsministern der Jelzin-Ära und führte ein strategisches staatliches Rüstungskonglomerat. Er kannte Chodorkowski seit seinen Tagen im Komsomol und hatte Jukos geholfen, einen wichtigen Vertrag zur Versorgung der Armee mit Treibstoff abzuschließen. 24 Temerko war der unübertroffene Lobbyist. Er war charmant und aufbrausend, mit einem runden Bauch und einem dichten Schnurrbart. Falls irgendjemand in der Lage war, eine Lösung für den Konflikt mit dem Kreml zu verhandeln, dann war er das. Er bildete eine Brücke zwischen der Welt von Chodorkowski und jener der undurchsichtigen Sicherheitsbehörden, die Putins Kreml in der Hand hatten – seine Geschäftspartner sagten, er sei ein Vertrauter des FSB-Chefs Nikolai Patruschew, eines Hardliners, gewesen.

Westliche Investoren setzten ihre Hoffnungen auf eine Verhandlungslösung auf die zwei amerikanischen Ölhändler, die noch als Führungskräfte bei Jukos verblieben waren: Steven Theede, der vorher bei ConocoPhilips gewesen war, und Bruce Misamore, ein Texaner von Marathon Oil. Beide waren in westlichen Managementtechniken ausgebildete, hart arbeitende US-Amerikaner, die mit der Moskauer Metro ins Büro zu fahren pflegten. Aber in den byzantinischen Labyrinthen der Kreml-Verhandlungen waren sie völlig überfordert. Temerko war der Einzige, der es damit aufnehmen konnte. Hinter den Kulissen nahm er die Rolle des Hinterzimmerunterhändlers ein; er saß manchmal acht Stunden lang im Vorraum von Setschins Büro im Kreml und wartete auf eine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Einmal versuchte er Setschin zu umgehen und sein Anliegen Putin direkt vorzutragen. Dazu vereinbarte er mit einem einflussreichen Kreml-Beamten, dass er ein Treffen des Sicherheitsrats durch den Hinterausgang verlassen konnte, um den Präsidenten abzufangen. Aber Setschin erfuhr von dem Plan und versperrte ihm wütend den Weg. »Es war Setschins Aufgabe, dem Präsidenten ernst zu nehmende Vorschläge zu übergeben«, sagte Temerko. »Aber er sagte immer: ›Das ist nicht korrekt, das ist nicht ernst zu nehmen.‹ Und wir fingen noch einmal von vorn an.« 25

Von Anfang an kämpften Chodorkowskis Leute auf verlorenem Posten. Anfang Juli, keine drei Wochen nach Putins beruhigenden Kommentaren, wurde der Druck auf Jukos verstärkt. Das System, das der Präsident aufbaute, zeigte sein wahres Gesicht. Dutzende Regierungsbeamte führten eine Razzia in Jukos’ Hauptgeschäftsstelle in einem von Moskaus schicksten neuen Bürotürmen durch, beschlagnahmten Server und froren die Konten des Unternehmens ein. 26 Wie um noch eins draufzusetzen, überreichten bewaffnete Steuerbeamte persönlich den Bescheid über eine weitere Steuerschuld von 3,4 Milliarden Dollar für das Jahr 2001 an Steven Theede. Dies verdoppelte die Steuerbelastung des Unternehmens zu einem Zeitpunkt, zu dem es nicht in der Lage war, die vorherige Schuld zu bezahlen, und die Frist war kurz davor auszulaufen. »Das ist sein Ende«, sagte Igor Jurgens, ein erfahrenes Mitglied der Lobbygruppe des Oligarchen. 27

In den Tagen nach der Razzia trat Chodorkowski mit einem weiteren Angebot, Menateps Anteile an Jukos abzugeben, um die Steuerschuld anzuzahlen, an die Öffentlichkeit. 28 Jukos’ Führungsmannschaft, geleitet von Theede und Misamore, hatte einen Restrukturierungsplan vorgelegt, der es dem Unternehmen erlauben würde, über drei Jahre hinweg 8 Milliarden Steuerschulden zu begleichen – wenn die Regierung Jukos Konten wieder freigab, damit es dazu überhaupt in der Lage wäre. 29

All diese Bemühungen fruchteten nicht. Die Verhandlungen wurden den Juli über fortgesetzt, als plötzlich die Regierungsseite verkündete, sie werde die Restrukturierungspläne nicht akzeptieren und stattdessen Juganskneftegas (kurz Jugansk), die Hauptproduktionseinheit von Jukos, verkaufen, um damit die Steuerschulden hereinzuholen. 30 Die Anlage allein war verantwortlich für 60 Prozent von Jukos Gesamtproduktion, das war mehr Öl, als Libyen verkaufte. Die Entscheidung sandte erneut Schockwellen durch den Markt. Die Zerschlagung von Jukos war Realität geworden. Nur Tage nach der Ankündigung legte sich Setschin, der die Attacke hinter den Kulissen koordiniert hatte, fest. Er war zum Vorstand des staatlichen Ölkonzerns Rosneft berufen worden, 31 und Gerüchte, dass Rosneft hinter Jukos Vermögen her war, wurden plötzlich plausibel.

Mit jedem koordinierten Schlag gegen Jukos war Setschins Einfluss gewachsen. Er wandelte sich vom vertrauenswürdigen Putin-Stellvertreter, strengen Wächter und Kontrolleur von Informationen selbst zu einem mächtigen Akteur. Während der Verhandlungen hatte er den unterwürfigen Assistenten gespielt, angeboten, mit der Steuerbehörde und dem Justizministerium zu sprechen und Vorschläge an Putin weiterzuleiten, um die Verhandlungen von Menatep voranzutreiben. »Anfangs versuchte er sich zu distanzieren. Er verriet nie, dass er den Prozess leitete«, sagte Temerko. »Aber jedes Mal, wenn wir glaubten, eine Einigung erzielt zu haben, froren sie ein weiteres Konto ein, sodass wir nicht zahlen konnten.« Dann schüttelte Setschin bedauernd den Kopf und sagte Temerko, wie leid es ihm tue, dass er nicht zustimmen könne. »Er sagte zu uns, wir seien nicht fähig, uns zu einigen. Dabei war seine eigentliche Absicht, uns zu mehr und mehr Kompromissen und der Preisgabe von Informationen zu zwingen.« 32

Die Regierung versuchte jedoch nach wie vor, westliche Investoren bei der Stange zu halten. Sie versprach den Verkauf von Jukos Hauptproduktionseinheit, Jugansk, zu einem fairen Marktpreis, aber mit der Bewertung wurde die Moskauer Zweigstelle der Dresdner Bank beauftragt, die einer von Putins engsten Verbündeten leitete, der frühere Stasi-Agent Matthias Warnig, mit dem er in Dresden zusammengearbeitet hatte. 33 Durch die nur spärlich an die Öffentlichkeit gelangenden Informationen und die nicht endenden Attacken gewöhnte sich der Westen an den Gedanken, dass Jukos zerschlagen würde. Als die Regierung den Verkauf von Jugansk verkündete, boten westliche Ölkonzerne ihre Hilfe dabei an, Chodorkowski das Unternehmen aus den Händen zu nehmen. Diese Angebote schwächten die Warnsignale der US-Regierung an den Kreml im Fall Jukos. »Das Problem war: Jedes Mal, wenn wir den Russen sagten, dass ihre Handlungen negative Folgen für das Investitionsklima in Russland haben würden, meldete sich eine der westlichen Firmen mit einem Kaufangebot für Jukos«, sagte Thomas Graham. »Dem Kreml lagen zwei oder drei Angebote vor, die Jukos-Anteile aufzukaufen und damit die Probleme zu mildern, die Russland mit seinem Image hatte.« 34

Die Angebote bestätigten zudem Putins schon lang gehegte zynische Überzeugung, dass im Westen alles käuflich war und kommerzielle Zwänge immer moralische oder andere Bedenken dominieren würden. Und bald startete der Kreml eine neue Charmeoffensive, um sich die Unterstützung westlicher Investoren beim staatlichen Griff nach Privatunternehmen zu sichern.

*

Zu diesem Zeitpunkt hatte der Kreml bereits zu einer professionellen Arbeitsweise gefunden. Im Hintergrund berieten westliche Investmentbanker, darunter auch Charles Ryan, ein US-Bürger, der einer weiteren Moskauer Investmentbank, der United Financial Group, vorstand, die Regierung zur Übernahme von Jukos. Als Putin Mitte September als Reaktion auf die Tragödie von Beslan verkündete, dass er eine der größten Errungenschaften von Russlands Übergang zur Demokratie, die Wahlen von Regionalgouverneuren, aufheben werde, hätten diese Nachrichten vor dem Hintergrund der zunehmend offensichtlicher werdenden Bemühungen des Staates, Jukos zu zerschlagen und zu übernehmen, bedrohlich wirken können.

Doch Putin hatte eine angenehme Überraschung für ausländische Investoren parat. Am Tag nachdem der Kreml das Ende der Gouverneurswahlen erklärt hatte, teilte er der Wirtschaft auch mit, dass er plane, den weltgrößten Energiekonzern zu gründen. Er werde den staatlichen Gasriesen Gazprom mit dem letzten verbliebenen staatlichen Ölkonzern, Rosneft, zusammenlegen, um einen Energiegiganten zu schaffen, der nach Saudi-Arabiens Aramco die zweitgrößten Reserven der Welt haben und fünfmal größer sein werde als sein nächster Mitspieler im Westen, ExxonMobil. Anders als bei Aramco sollten westliche Investoren hier jedoch die Möglichkeit bekommen, Anteile zu erwerben. 35

Der geplante Deal bewies die kühnen globalen Ambitionen Putins und seines Zirkels zu einer Zeit, in der das Interesse des Westens an Russlands Rolle als Energieversorger wegen der Unruhen im Nahen Osten wuchs. Es war eine große Kehrtwende im Vergleich zu sechs Monaten zuvor, als Ministerpräsident Michail Kasjanow Gazprom im Zuge liberaler Reformen zerschlagen wollte, um dessen Monopol auf dem Gasmarkt zu reduzieren. Putin hatte das kurzerhand abgelehnt, und der neue Plan, den Gasmonopolisten mit Rosneft zu fusionieren, war ein deutliches Symbol für die Absichten der Regierung, die Macht über den Energiesektor zu erlangen.

Doch für westliche Investoren waren dies zugleich gute Nachrichten. Die Zunahme des staatlichen Einflusses auf die Wirtschaft, die sie lange gefürchtet hatten, ging einher mit der verlockenden Aussicht, ein Stück eines gewaltigen neuen Energieriesen erwerben zu können. Der Deal würde die Beteiligung des Staates an dem zusammengeschlossenen GazpromRosneft-Konzern auf 51 Prozent erhöhen, womit der Staat den Konzern kontrollierte und automatisch die Beschränkungen für die Menge an Aktien wegfielen, die ausländische Investoren an Gazprom halten durften. Pläne, diese »ring-fence« genannten Beschränkungen aufzuheben, waren lange von Putins Regierung in Erwägung gezogen worden; nun hatten sie anscheinend grünes Licht bekommen, was den Aktienpreis sofort in die Höhe trieb.

Westliche Investoren leckten sich die Finger nach dem Geld, das sie mit dem Handel von Anteilen des geplanten staatlichen Ungetüms verdienen konnten. »Dies wird das größte Öl- und Gasunternehmen der Welt, in das Ausländer investieren können, zu einer Zeit, in der die Preise für Öl und Gas durch die Decke gehen«, sagte William Bowder, Chef des Investmentfonds Hermitage Capital Management, der einen bedeutenden Anteil an Gazprom-Aktien hielt, 36 und fügte hinzu, es sei »eine Art Zucker gewesen, damit die Jukos-Medizin leichter zu schlucken war«. 37 Ian Hague, Vorstand des in New York ansässigen Firebird Fund, beschrieb den Vorschlag des Kreml mit deutlicheren Worten: »Sie erkaufen sich die Loyalität der ausländischen Investorengemeinde, während sie etwas entwickeln, das nach einer politischen Diktatur aussieht. Und es funktioniert.« 38

Für manche war es der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, da der Kreml signalisierte, dass ausländische Investitionen willkommen seien, solange Putins Männer die Kontrolle behielten. Das Unbehagen über den Abbau von Jukos verflüchtigte sich, als die Investoren Schlange standen, um einen Teil des neuen Staatsriesen zu ergattern. Der einzige Mensch, dem diese Aussicht nicht zu gefallen schien, war der Rosneft-Vorstand Igor Setschin, da die geplante Verbindung zwischen Rosneft und Gazprom seinen eigenen Träumen von einem staatlichen Energiegiganten einen Riegel vorzuschieben drohte.

Setschin schäumte, doch das Drama um den geplanten Jukos-Ausverkauf war noch lange nicht vorbei. In einem durchgesickerten Bericht stand, die Dresdner Bank habe den Wert der Produktionseinheit auf 15,7 bis 17,3 Milliarden Dollar geschätzt, was mit der Einschätzung des Marktes, wie ein fairer Preis aussehen würde, übereinstimmte, 39 und was die westlichen Jukos-Manager dazu verleitete zu glauben, es würden liquide Mittel übrigbleiben, um den Rest des Unternehmens nach dem Verkauf von Jugansk zusammenzuhalten. Jegliche Hoffnung darauf wurde allerdings Ende November des Jahres unwiederbringlich zerstört, als das Justizministerium für die staatliche Versteigerung von Jugansk nicht nur einen Eröffnungspreis von 8,65 Milliarden Dollar festlegte, somit einen Preis weit unter dem Schätzwert der Dresdner Bank, sondern dem Unternehmen noch zwei weitere gewaltige Steuernachforderungen für 2002 und 2003 stellte. 40 Dies erhöhte die Steuerschuld von Jukos auf monumentale 24 Milliarden, mehr als viermal so viel wie die angeschlagene Marktkapitalisierung des Unternehmens. Für das Jukos-Management war nun vollkommen klar, dass das Spiel vorbei war und dass der Rest des Unternehmens aufgeteilt und zu einem Schleuderpreis verkauft würde.

Sollte die Botschaft nicht deutlich genug gewesen sein: In der Nacht vor der Verkündung der neuen Steuerforderungen veranstaltete die Polizei Razzien bei Dutzenden Jukos-Managern, die hinterher sagten, die Aktion habe sie an die stalinistischen Säuberungen von 1937 erinnert. Sie hätten »Angst, nachts zu Hause zu sein, Angst um ihre Verwandten«, berichtete einer von ihnen. 41 Die Position wurde auch westlichen Ölmanagern gegenüber klargemacht, die Chodorkowski als Symbol für seine Bemühung um bessere Unternehmensführung in den Konzern geholt hatte. Bruce Misamore, der umgängliche Finanzvorstand aus Texas, war an jenem Tag in London. Als er abwog, ob er den Rückflug nach Russland riskieren sollte, erreichte ihn ein Anruf von Temerko, der ihn warnte, dass er bei der Ankunft festgenommen würde. 42 Er kehrte nie zurück. Dasselbe galt für Steven Theede, Jukos-Chef seit Juni 2004. Auch er war an jenem Tag auf Geschäftsreise außer Landes gewesen, und eine Razzia der Polizei in seinem Büro sandte ein unmissverständliches Signal, dass er nicht nach Moskau zurückkehren sollte. Der niedrige Preis, den die Regierung für den Verkauf von Jugansk ansetzte, hielt er für »staatlich organisierten Diebstahl, um eine politische Rechnung zu begleichen«. 43

Bruce Misamore hatte begriffen, dass alle Anstrengungen des Managements, zu einer Einigung zu kommen, vergeblich waren. Dadurch, dass es in letzter Minute Steuerforderungen über insgesamt 24 Milliarden Dollar hagelte, konnten alle Jukos-Aktien Stück für Stück an staatlich kontrollierte Unternehmen veräußert werden. Misamore glaubte, dass dies von Anfang an das Ziel des Kreml gewesen war. Das Einfrieren der Vermögenswerte und Konten sorgte dafür, dass das Unternehmen nie in der Lage sein würde, mit der Abzahlung der Schulden zu beginnen. »Anfangs glaubten wir, wenn wir das Geld bezahlen würden, würden sie vielleicht von Jukos ablassen«, sagte er. »Wir haben ganz unterschiedliche Wege ausprobiert, um die richtigen Leute im Kreml zu erreichen, um eine Einigung zu erzielen. Sie führten uns an der Nase herum, und wir glaubten immer wieder, wir wären einer Lösung nahe, aber dann traf sich jemand mit Putin und das Ganze wurde fallen gelassen.« 44

Auch für Alexander Temerko war schließlich deutlich, dass die Verhandlungen nirgendwohin geführt hatten, sondern lediglich Setschin, Putin und seinen Leuten als Tarnung für die Übernahme gedient hatten, da sie den Markt und ausländische Staatschefs glauben machen mussten, dass ein reguläres Verfahren eingehalten würde. Aber letztendlich galt: »Wir wurden angelogen. Sie sandten falsche Botschaften. Einige hochrangige Leute aus Putins Umfeld hatten mir gesagt: ›Das ist alles ein Spiel.‹ Sie sagten: ›Wenn sie angefangen haben, an dem Unternehmen zu knabbern, nagen sie es vollständig auf, bis auf die Knochen.‹ Sie dachten wahrscheinlich, sie müssten irgendeinen Fortschritt zeigen, eine gewisse Verhandlungsbereitschaft. Aber als alle sich an das gewöhnten, was da vor sich ging, dachten sie sich: ›Warum sollen wir zustimmen? Es gehört sowieso alles uns.‹« Die Bewertung der Dresdner Bank, das ständige Winken mit möglichen Deals waren »typisch tschekistische Methoden. Sie gaben Falschinformationen heraus und fuhren nebenbei mit ihren eigenen Plänen fort.«

Diese Taktik sollte von Putins Kreml immer wieder eingesetzt werden, bis zu Russlands Übernahme der Krim von der Ukraine 2014, viele Jahre später. Dabei behaupteten sie zuerst, das plötzliche Erscheinen der Truppen auf der Krim hätte nichts mit ihnen zu tun. Aber als die Annexion der Halbinsel gesichert war, gab Putin zu, dass es sich um russische Streitkräfte handelte. »Sie haben die westlichen Staatschefs angelogen«, sagte Temerko. »Sie behaupteten, wir seien Kriminelle, sie würden uns das Unternehmen aber nicht wegnehmen, sie würden bloß eine gemeinsame Sprache finden wollen. Putin wiederholte mehrmals: ›Wir wollen nicht, dass Jukos bankrottgeht.‹ Aber dann wollten sie es doch. Im Jukos-Fall haben sie das Lügen gelernt. Mittlerweile sind sie Profis darin.« 45

Als Russland den Verkauf von Jugansk vorbereitete, brach zwischen den beiden Hauptfraktionen von Putins Männern in den Sicherheitsbehörden ein Konflikt über die Beute aus. Ermutigt durch Putins Rückhalt bei der Fusion mit Rosneft, war Gazprom, der Gasgigant des Landes, ebenfalls entschlossen, Jugansk zu erwerben. Es hatte die Unterstützung der liberaleren Technokraten in Putins Regierung, angeführt von Alexej Kudrin, dem Finanzminister, dem daran gelegen war, dass sich die Macht des Rosneft-Vorstands Setschin, des militantesten führenden Mitglieds des Sicherheitsblocks und größten Rivalen der liberaleren Kräfte, nicht weiter ausdehnte. Sie drängten darauf, dass Jugansk zu einem fairen Marktpreis verkauft würde, und wollten, dass Gazprom den Segen des Westens für die Übernahme in Form von Milliardendarlehen westlicher Institutionen vorwies. 46 Sie glaubten, ein solches Ergebnis würde eine akzeptablere Version des Staatskapitalismus hervorbringen, und der Westen war mehr als bereit, sich zu solchen Bedingungen zu beteiligen.

Als die Versteigerung stattfinden sollte, hatte Gazprom das größte Darlehen in Russlands Unternehmensgeschichte zusammenbekommen – über 13 Milliarden Dollar von einem Bankenverband, angeführt von der Deutschen Bank und der Dresdner Bank. 47 Gazprom hatte außerdem die Unterstützung derselben Energieriesen, Chevron und Exxon, gewonnen, die einst fast einen Deal mit Chodorkowski abgeschlossen hätten und nun bereit waren, sich gegen ihn zu wenden. Jetzt diskutierten sie, zwei eingeweihten Personen zufolge, einen Anteil an Jugansk in einem Konsortium mit Gazprom zu erwerben, 48 während die britische Royal Dutch Shell ebenfalls Gespräche über eine Beteiligung führte.

Für Putin war dies bloß ein weiteres Beispiel dafür, wie für den Westen wirtschaftliche Überlegungen gegenüber Bedenken wegen der Richtung, in die sich die Demokratie entwickelte, überwogen. Doch für Chodorkowskis Partner hatte dieser Verkauf nicht einmal einen Hauch von Seriosität, und Kudrins Versuche, ihn durch die Beteiligung des Westens zu legitimieren, stellten nichts weiter als eine Verschleierungstaktik dar – und einen Ausverkauf der Prinzipien des Westens. Aus ihrer Sicht war der Jugansk-Verkauf schlicht und einfach Diebstahl, und sie mussten alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihn zu verhindern.

Alles war durch den Kreml vorbereitet für den Verkauf des Jahrhunderts, die Versteigerung, bei der eines der wertvollsten Beutestücke der Mineralölindustrie zurück in die Hände des Staats geholt werden sollte, noch dazu mit Zustimmung und Beteiligung westlicher Banken und Ölkonzerne. Doch nur vier Tage bevor der Verkauf von Jugansk stattfinden sollte, stürzte sich die Geschäftsleitung von Jukos, nach wie vor unter der Führung von Theede und Misamore aus dem Londoner Exil, in ein letztes Aufbegehren. Der Schlag kam ohne Vorwarnung: Still und heimlich meldeten sie bei einem Gericht in Houston für Jukos Konkurs an, wodurch es ihnen gelang, den Verkauf vorerst zu stoppen. 49 Plötzlich brachen Gazproms westliche Unterstützer weg. 50 Die Jukos-Manager hatten argumentiert, das Unternehmen stehe unter dem Schutz der US-Justiz, weil amerikanische Minderheitsgesellschafter 10 Prozent der Aktien hielten, während der Ölkonzern selbst »Geschäfte in bedeutendem Umfang« in den USA tätige. 51

Diese Aktion in letzter Minute ließ Putin vor Wut ausfallend werden. »Ich bin mir nicht sicher, ob die Richterin überhaupt weiß, wo Russland liegt«, kommentierte er giftig. 52 Der Kreml beharrte darauf, dass die US-Gerichte keinerlei Zuständigkeit für Geschehnisse in Russland hätten, und trieb den Verkauf voran. Doch für Gazprom wurde es zu riskant, sich an der Auktion zu beteiligen. Dadurch, dass der Konzern ein Geflecht an Vermögenswerten im Westen besaß, Lagerhallen, Handelszentren und Gemeinschaftsunternehmen zur Gasverteilung in Europa, war er anfällig für Klagen, falls er Gebote bei dem Verkauf abgab und damit die Verfügung des US-Gerichts verletzte. Stattdessen war nun der Weg frei für Igor Setschin, den silowik, der in Bankkreisen von vielen wegen seines Hangs zu Intrigen und seines skrupellosen Ehrgeizes der »dunkle Lord« genannt wurde, erneut auf Jugansk zu bieten. Sein Ölkonzern Rosneft besaß keine Vermögenswerte im Westen.

Der Verkauf von Jugansk sollte das Gegenteil der hinter verschlossenen Türen ausgehandelten Darlehen-gegen-Anteile-Auktionen darstellen, bei denen die Kronjuwelen der Sowjetindustrie zu Schleuderpreisen in den Händen einiger weniger gut vernetzter Tycoons gelandet waren. Auch wenn Jukos ihn als Diebstahl verunglimpfte, versuchte die russische Regierung den Verkauf so darzustellen, als folgte er den üblichen Marktregeln.

Wie um den Unterschied zu den Vorgängen hervorzuheben, die in den Hinterzimmern der Neunziger stattgefunden hatten, waren Journalisten eingeladen worden, die Versteigerung zu beobachten, die live über zwei Bildschirme in den luxuriösen roten Konferenzsaal des Eigentumsfonds der Russischen Föderation übertragen wurde. 53 Damit sollte ein neues Beispiel für Transparenz gesetzt werden. Doch der Insolvenzantrag in letzter Minute an dem texanischen Gericht führte dazu, dass der Verkauf in einer Farce endete. Alles wurde zwar für die Journalisten übertragen, aber es gab nur ein Gebot, und niemand wusste, wer es abgegeben hatte. Von den zwei Gruppen anzugtragender Manager, die an Tischen in einem kleinen Raum mit Holzpaneelen saßen, wurde nur eine Frau identifiziert. Sie gehörte zu GazpromNeft, der Ölsparte von Gazprom, die nur wenige Wochen zuvor gegründet worden war. Die anderen beiden, ein großer Mann in einem grauen Anzug und eine untersetzte Frau mit Brille, waren vollkommen unbekannt. Ihr Unternehmen hatte sich nur drei Tage zuvor zur Teilnahme an der Versteigerung registriert, und nun waren sie die einzigen Bieter. Der große Mann hob feierlich seine Tafel, um 9,37 Milliarden Dollar zu bieten, was nur 500 Millionen über dem Eröffnungspreis lag, während die Angestellten von GazpromNeft einen Anruf tätigten und dann überhaupt nicht mitboten. Kaum hatte der mit Spannung erwartete Verkauf begonnen, war er mit einem plötzlichen Hammerschlag des Auktionators auch schon wieder vorbei.

Die Ölproduktionseinheit, die mehr Öl als Libyen erzeugte, war an ein später als Baikal-Finanzgruppe bezeichnetes Unternehmen verkauft worden, von dem noch nie jemand etwas gehört hatte. Selbst der Vorsitzende des Eigentumsfonds der Russischen Föderation, Juri Petrow, wusste nicht mehr. »Wir wissen nichts über dieses Unternehmen«, sagte er. 54 Wie sich herausstellte, war die Baikal-Finanzgruppe erst zwei Wochen zuvor in einem vorrevolutionären Gebäude über einer Bar namens »London« in der russischen Provinzstadt Twer gegründet worden. 55 Niemand schien die Eigentümer zu kennen.

Putin aber wusste genau, wer hinter dem Gebot steckte, das den Zuschlag bekam, und sagte allen, sie müssten sich keine Sorgen machen. Die Personen hinter dem Unternehmen besäßen »jahrelange Erfahrung im Energiesektor«. 56 Wie sich zeigen sollte, hatten sie Verbindungen zu zweien seiner engsten Verbündeten. Auf einem der beiden war Chodorkowski herumgetrampelt, als er in den Neunzigerjahren die Östliche Ölgesellschaft (VNK) übernahm: Gennadi Timtschenko, der Mineralölhändler, der mit Putin in Sankt Petersburg zusammengearbeitet hatte, und Andrej Akimow, der ehemalige sowjetische Staatsbankier, der Timtschenkos Handelsunternehmen finanziert und ein konkurrierendes Gebot für VNK abgegeben hatte. Die Mitarbeiter, die bei der Auktion geboten hatten, wurden als Angestellte im mittleren Management von Surgutneftegas, dem Kreml-treuen Ölkonzern, identifiziert. 57 Surgutneftegas war der Hauptlieferant von Timtschenkos Mineralölhandelsfirma, zum Zeitpunkt des Jugansk-Verkaufs kontrollierte er einen bedeutenden Anteil an dem Unternehmen, wie Wladimir Milow, der frühere stellvertretende Energieminister, ein ehemaliger Timtschenko-Geschäftspartner sowie ein hochrangiger russischer Bankier, der mit Timtschenko zusammengearbeitet hatte, sagten. 58 Timtschenko behauptete, er sei nie mit mehr als 0,01 Prozent an Surgutneftegas beteiligt gewesen. Seine Anwälte sagten, er habe keine Verbindung zu und kein Eigentum an der Baikal-Finanzgruppe.

Putins KGB-Verbündete hatten sich endlich an Chodorkowski gerächt, weil er sie aus der VNK herausgedrängt hatte. Sie schnappten sich das erste und größte Stück von Jukos, nachdem sie über ein Jahr mit Winkelzügen hinter den Kulissen daran gearbeitet hatten, Putin zum Angriff auf Chodorkowski zu überreden. Sie scheinen die Baikal-Finanzgruppe schnell als Tarnfirma aus dem Boden gestampft zu haben, um ihre Beteiligung am Verkauf zu verschleiern und rechtliche Konsequenzen aus dem amerikanischen Gerichtsbeschluss zu vermeiden. Innerhalb von vier Tagen nach dem Erwerb verkaufte die Baikal-Finanzgruppe Jugansk an Setschins Rosneft. 59

Über Nacht wurde Rosneft von einem kleinen Fisch, der nicht mehr als 6 Milliarden Dollar wert war, zu einem Ölgiganten von globalem Format mit einem Vermögen im Wert von fast 30 Milliarden. Ganz nebenbei wuchs dadurch Setschins Einfluss. Statt den Ausverkauf zu stoppen, kreierte das Insolvenzverfahren von Jukos ein neues Machtzentrum für einen silowik, der einen großen Teil der juristischen Kampagne orchestriert hatte, die Jukos stürzen sollte.

Wäre Gazprom in der Lage gewesen, Jugansk legal zu erwerben, ohne rechtliches Risiko, wäre Rosneft wahrscheinlich auch mit Gazprom fusioniert worden, wodurch Setschin ein wesentliches Machtelement gefehlt hätte. Setschin wäre zwar einflussreich gewesen, aber ein reiner Bürokrat geblieben. Doch nun wurde das Unternehmen, dessen Vorstand er war, ein neuer staatlicher Ölchampion und mauserte sich vom Hintergrundakteur im Kreml zu einer echten Wirtschaftsmacht. Sein neuer Rang barg Probleme für die vielgepriesene Fusion von Rosneft und Gazprom. Setschin wollte, dass Rosneft eine unabhängige Kraft blieb.

Für einen der westlichen Banker, die mit Gazprom daran gearbeitet hatten, das Kapital für den Kauf von Jugansk aufzubringen, war der Insolvenzantrag in Houston nur eine lästige Lappalie. Ihm zufolge beeinflusste er den Prozess dahingehend, dass die silowiki gestärkt wurden. Für ihn waren die liberalen Technokraten unter der Führung von Kudrin, die Gazprom unterstützt hatten, eine harmlosere Kraft, die in der Zukunft für ein investorenfreundlicheres Klima in Russland gesorgt hätte. »Wir bereiteten einen Deal vor, der die Transparenz verbessert und den Einfluss des Westens verstärkt hätte«, sagte er. »Wir wollten eine dieser Firmen als strategischen Partner einbringen. Aber dann gab es diese einstweilige Verfügung, und die Bösen haben wieder übernommen. Macht, Einfluss und Karriere von Igor [Setschin] wären dramatisch beschnitten worden. Diese dumme US-Richterin war einfach verrückt.« 60

Falls dieser westliche Banker wirklich geglaubt hatte, der Verkauf von Jugansk an Gazprom hätte die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens verbessert, so täuschte er sich vermutlich. Relevant war, dass der Verkauf im Grunde genommen eine staatliche Enteignung war, ausgelöst dadurch, dass die Regierung selektiv Dutzende Milliarden Dollar Steuerschulden einforderte wegen Tricks, die zum fraglichen Zeitpunkt legal gewesen waren. Jegliche Beteiligung westlicher Banken wäre nichts weiter als Augenwischerei gewesen, während es bei der Enttäuschung der Technokraten vermutlich um bloße interne Streitigkeiten um die Beute ging. Ein Verkauf an Gazprom wäre für den Westen vielleicht leichter zu schlucken, das Ergebnis aber wäre dasselbe gewesen.

Für Setschin war es zweifellos ein Sieg, für die Transparenz – und den russischen Haushalt – ohne Zweifel ein weiterer Verlust. Der Verkauf, der von westlichen Banken finanziert werden sollte, wurde am Ende durch einen undurchsichtigen Deal unter anderem aus der Staatskasse bezahlt. Obwohl der Jugansk-Verkauf vordergründig durchgesetzt worden war, um Milliarden Dollar Steuerschulden für den Staatshaushalt zurückzugewinnen, zeigten Daten der Zentralbank, dass die Staatskasse letztlich 5,3 Milliarden über die staatliche Wneschekonombank an Rosneft überwies, um die Finanzierung des Kaufs zu unterstützen. 61 Einer der größten Skandale der Darlehen-gegen-Anteile-Verkäufe der Neunziger war die weitverbreitete Überzeugung, dass die Oligarchen sich zur Finanzierung an staatlichem Vermögen bedienten, das sich auf Konten ihrer Banken befand. Nun schien es, als hätte Rosneft fast genau das Gleiche getan. Doch diesmal war von einem Skandal kaum die Rede. Nur eine Zeitung, die Tageszeitung Wedomosti, berichtete über diese Finten, und nur ein einziger staatlicher Beamter meldete sich zu Wort. Das Geld wurden erst 2005 an die Staatskasse zurückgezahlt, als Rosneft und die Wneschekonombank Soforthilfe in Höhe von 6 Milliarden Dollar von chinesischen Banken als Teil eines Ölversorgungsdeals, dessen Bedingungen nie an die Öffentlichkeit drangen, bekamen. 62

Der einzige Beamte im Kreml, der gegen den Verkauf protestierte und ihn als »Halsabschneiderei« bezeichnete, 63 war Andrej Illarionow, ein liberaler Ökonom, der seit den Anfangstagen von Putins Präsidentschaft dessen Wirtschaftsberater gewesen war. Die Finanzierung des Kaufs aus der Staatskasse, sagte er, entlarvte die Heuchelei, dass es angeblich nur darum gehe, Steuerschulden einzutreiben. Illarionow, für seine Prinzipientreue hochangesehen, fühlte sich zunehmend unbehaglich. Er wusste nicht, wie lange er auf seinem Posten bleiben konnte, wenn sich das Land endgültig von jeglicher Variante eines freien Marktes abwandte und der entstehende Staatskapitalismus einen so korrupten Eindruck machte. Wegen seiner Kritik war er bereits von einer seiner Hauptfunktionen degradiert worden. Die offizielle Erklärung für die Attacke auf Jukos »hatte weder Hand noch Fuß«, sagte er. »Es ging nicht um die Existenz von Steuerrückständen, denn in diesem Fall interessierte sich niemand für sie. Das Unternehmen hatte mit den Rückzahlungen begonnen, als es noch nicht einmal zugegeben hatte, dass sie existierten. (…) Sie waren bereit, selbst diese fantastischen Summen zu bezahlen, aber niemand wollte davon etwas wissen.« Die gesamte Kampagne mit Steuernachforderungen gegen Jukos war, wie er glaubte, ausgeheckt worden, um an das Konzernvermögen zu gelangen. Putins Kreml »verzichtete zugunsten des Eigentums auf weitere Steuerzahlungen. Das ist die dramatischste und freimütigste Offenlegung ihrer wahren Interessen in der Jukos-Affäre.« 64

In den folgenden Monaten und Jahren unterwarfen sich die Institutionen des Westens Putins neuer Wirtschaftsordnung. Der Weg dazu war letztendlich Tausende Kilometer entfernt von Moskau in einem Gerichtssaal im texanischen Houston freigemacht worden, wo im Februar 2005, zwei Monate nach dem Verkauf, eine Richterin die Begründung von Jukos’ Eingabe bezüglich des Insolvenzschutzes abwies und starken Argumenten der Rechtsvertreter von Gazprom aus der mächtigen texanischen Kanzlei Baker Botts folgte. Auch wenn ein vorübergehender Aufschub rechtzeitig vor dem Verkauf ergangen war, urteilte die Richterin nach dem Abwägen aller Argumente, dass Jukos nicht genügend stark in den USA vertreten sei, um sich auf den Schutz der US-Gerichte berufen zu können. 65 Diese Entscheidung war im Grunde genommen das Startsignal für die Zerschlagung des restlichen Jukos-Konzerns. Der Weg war frei für westliche Unternehmen, die hungrig waren auf ein Stück vom Kuchen, sich weiter an dem Konkursausverkauf des Jukos-Vermögens zu beteiligen.

Als das Urteil erging, sagte Temerko: »Mir wurde klar, dass der Kampf vorbei war, dass die USA nicht im Weg stehen würden.« 66 Bis dahin, so Temerko, sei der Kreml nervös gewesen, dass die Amerikaner zurückschlagen könnten. Aber obwohl das US-Außenministerium den Verkauf weiter hinter verschlossenen Türen verurteilte – die Aussicht auf einen größeren Aufschrei des Westens, auf den Chodorkowski und seine Partner gehofft hatten, schwand. Stattdessen begannen die westlichen Ölgiganten immer begieriger Schlange zu stehen, um als Investoren und Partner des vergrößerten Rosneft Teil von Putins neuer Ordnung zu werden. Insbesondere die Deutsche Bank und die westlichen Gazprom-Anwälte ebneten dafür den Weg. Ein wichtiger Akteur war und blieb Charlie Ryan, der Chef der Moskauer Investmentbank United Financial Group, an der die Deutsche Bank seit Ende 2003 mit 40 Prozent beteiligt war. Ryan hatte Gazprom geholfen, Kredite von westlichen Institutionen zu bekommen und stellte den Gasgiganten dann der Kanzlei Baker Botts vor, die für ihn entschieden gegen den Insolvenzantrag von Jukos in Houston kämpfte.

Ryan hatte Russlands Kampagne, die Zustimmung des Westens zu erlangen, zu einer der renommiertesten Anwaltskanzleien der USA, tief im Herzen des republikanischen Establishments verankert, getragen. Baker Botts’ Unterstützung des Kreml und seiner Energieriesen Gazprom und Rosneft folgte einem Modell, das die Kanzlei bereits in vielen autokratisch regierten Ländern auf der ganzen Welt erprobt hatte, in denen sie seit Jahrzehnten die Interessen der großen US-Ölfirmen vertrat. Der Hauptpartner der Kanzlei, der ehemalige Außenminister James Baker, war mit Alexej Miller, dem engen Putin-Vertrauten und Vorstandsvorsitzenden von Gazprom, bekannt gemacht worden; beim Frühstück im vornehmen Speisesaal des Hotel Rossija gegenüber dem Kreml hatte man ihn überzeugt, die Verteidigung von Gazprom zu übernehmen. 67 »Ich sagte ihm, Chodorkowski sei ein Mörder«, sagte einer der westlichen Mittelsmänner, die bei dem Prozess involviert waren. »Baker ist sehr klug.« Er begriff sofort.

Etwas moralischer Relativismus half, die texanische Kanzlei zu gewinnen. Die Männer, mit denen sie es in Russland zu tun hatten, wirkten im Vergleich zu einigen Staatsoberhäuptern, mit denen sie im Nahen Osten zu tun gehabt hatten, harmlos. »Von allen Orten in der Welt, wo Gott in seiner unendlichen Weisheit beschlossen hatte, Öl sprudeln zu lassen, schien Russland eine der zivilisierteren Regionen zu sein, verglichen mit der Schurkengalerie, mit denen sie sich sonst in Person von Gaddafi und Saddam Hussein beschäftigten«, sagte der westliche Mittelsmann. »Gegen diese Truppe wirkte Alexej Miller wie ein Schuljunge.« 68

Aber Miller, ein Bürokrat, der im Petersburger Bürgermeisteramt im Komitee für Außenbeziehungen gearbeitet hatte, war nichts anderes als ein Stellvertreter Putins. Es spielte keine Rolle, dass er ein wenig wie ein Schuljunge aussah, weil Putin bei Gazprom die Entscheidungen traf. Für Baker Botts erwies sich die neue Beziehung als lukrativ. Die Kanzlei sollte über ein Jahrzehnt eng mit Gazprom und Rosneft zusammenarbeiten und schließlich den Weg für Exxon bereiten, eine strategische 3,2-Milliarden-Dollar-Verbindung mit Rosneft einzugehen, um gemeinsam in der Arktis und dem Schwarzen Meer nach neuen Ölreserven zu forschen. 69 Sie half bei Rosnefts Verteidigung gegen Klagen von Jukos-Managern und Menatep wegen der staatlichen Enteignung. E-Mails beweisen, dass sie Rosneft offenbar sogar bei der Rechtsverdrehung unterstützte, indem sie bei der Vorbereitung von Urteilsentwürfen half, die Rosneft-Anwälte für ein armenisches Gericht schrieben, als sich der staatliche Ölriese gegen die Anschuldigungen von Menatep wehrte. 70

Die Folgen des Jugansk-Verkaufs hatten es Putin ermöglicht, eine wichtige Schwachstelle in der Rüstung des Westens auszumachen: Am Ende überwogen dessen finanzielle Interessen die Bedenken über den Missbrauch von Recht und Demokratie durch sein Regime. Es gehörte zu der weitverbreiteten egozentrischen Sichtweise – zu einem gewissen Grad auch der Arroganz – des Westens, dass Russland für ihn keine Gefahr mehr darstelle, dass das Land nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion so sehr am Boden lag, dass der Westen nur einen Weg finden müsse, einen Anteil von dessen reichen Energiereserven an sich zu reißen, während die Integration des Landes in die Märkte des Westens bedeuten würde, dass es Teil der westlich dominierten Globalisierung werden und denselben Regeln folgen würde wie andere Nationen auch. Doch für Temerko sah es so aus, als würden sich die USA auf einen Nichtangriffspakt mit Russland stützen, der Putin und seinen Männern erlaubte zu tun, was immer sie wollten.

Für den Kreml wurde der Weg freigemacht, immer größere Geldströme zu kontrollieren, die es ihm eines Tages ermöglichen würden, den Westen herauszufordern. Seine Übernahme des Ölsektors erhielt im Sommer 2006 noch einmal die Zustimmung des Westens, als Rosneft mit Aktien im Wert von 10,4 Milliarden Dollar an die westlichen Börsen ging. Bis dahin war das Unternehmen auf fast 80 Milliarden Dollar bewertet gewesen, eine gewaltige Steigerung gegenüber den 6 Milliarden Dollar vor der Fusion mit von Jugansk. BP kaufte Beteiligungen im Wert von 1 Milliarde Dollar, und andere internationale Ölkonzerne erwarben ebenfalls große Anteile. 71 Investoren weltweit setzten auf den fortgesetzten Rückhalt des Kreml bei der Übernahme von Jukos durch den staatlichen Ölgiganten sowie auf rasch steigende Ölpreise. All dies diente dazu, die Putin-Regierung zu legitimieren und ihre weitere Integration in die westlichen Märkte zu erleichtern, wodurch sich der Wirkungsbereich des Kreml vergrößerte. Die Möglichkeiten waren potenziell unendlich. »Vorher dachten sie nur an Kaffee und vielleicht ein wenig Salat«, sagte Temerko. »Aber als der Salat gebracht wurde, stellte sich heraus, dass sie das gesamte Büfett leeressen konnten. Der Appetit kommt beim Essen«, kommentierte er verächtlich. 72

Als der Rest von Jukos bei einer Reihe von Insolvenzversteigerungen 2007 unter den Hammer kam, erleichterten westliche Ölkonzerne und Finanzinstitute den Prozess. Sie boten sogar eine gern gesehene Tarnung für Putins Männer. Zuerst reichte ein Konsortium westlicher Banken 2006 unter Leitung der französischen Société Générale – und nicht der russische Staat – einen Konkursantrag für Jukos ein, es ging um ausstehende Darlehen in Höhe von 482 Millionen Dollar. 73 Obwohl die westlichen Banken den Konkursantrag gestellt hatten, hatten Rosneft und der Kreml das Ruder in der Hand. Der Londoner Rechtsanwalt Tim Osborne, der die Interessen der bedrängten Menatep-Gruppe vertrat, war der Ansicht, die westlichen Banken würden in Rosnefts Auftrag agieren. 74 Und tatsächlich, drei Tage nachdem sie den Antrag gestellt hatten, kaufte Rosneft den westlichen Banken die ausstehenden Schulden ab. 75

Als die Zeit gekommen war, dass der Hammer über Jukos’ verbleibende Vermögenswerte fallen sollte, erteilte ein anderes westliches Bankenkonsortium Rosneft einen rekordverdächtigen Kredit in Höhe von 22 Milliarden Dollar, 76 während drei westliche Energiekonzerne den Prozess legitimierten – trotz der Proteste von Menatep, dass es sich bei den Verkäufen um unverblümten Diebstahl handelte. Beim ersten Insolvenzverkauf eines Anteils von 9,4 Prozent, den Jukos an Rosneft besaß, stieg TNK-BP, das russische Energieunternehmen, das zur Hälfte BP gehörte, nach nur zehn Minuten des Bietverfahrens aus, sodass Rosneft den Zuschlag bekam. 77 Als Jukos’ Gaswerte dann zum Verkauf standen, bekamen die italienischen Energiekonzerne Eni und Enel den Zuschlag für 5,6 Milliarden und übergaben die Vermögenswerte prompt an Gazprom, als Teil eines größer angelegten Deals mit dem Gasgiganten. 78 In beiden Fällen buhlten die ausländischen Teilnehmer um die Gunst des Kreml, und das aus Sicht von Marktanalysten zu einer Zeit, in der es unerlässlich war, die Unterstützung des Staates zu gewinnen, wollte man einen Fuß in den russischen Energiesektor bekommen. »Der Kreml begrüßt es, wenn Unternehmen wie Eni oder BP mitbieten, weil er zeigen will, dass trotz der Zerstörung von Jukos (…) die Realität so aussieht, dass internationale Ölkonzerne Schlange stehen, um in den russischen Energiesektor zu gelangen«, sagte Chris Weafer, damaliger Chefstratege bei der russischen Alfa-Bank. 79

Am Ende der Zerschlagung von Jukos hatte der Staat die Kontrolle über 55 Prozent der nationalen Mineralölproduktion inne – eine gewaltige Kehrtwende im Vergleich zu den 80 Prozent, die in privater Hand waren, als Putin an die Macht kam. 80 Manche westliche Anwälte und Banker hatten sich insgeheim bemüht, ihre Unterstützung des Kreml bei einer Kampagne, die ihm solche Reichtümer bescherte, zu rechtfertigen. »Chodorkowski war extrem aggressiv an der Steuerfront«, sagte Frank Kujilaars, der damals Vorstand für den Bereich globales Öl und Gas der nun nicht mehr existierenden niederländischen Bank ABN Amro war, die die Finanzierung der Übernahme von Jukos durch Rosneft anführte. »Er versuchte die Renditen zu maximieren, indem er jedes Schlupfloch nutzte. Das war nicht illegal, aber doch grenzwertig.« 81

*

Während westliche Anwälte und Banker sich bei der Übernahme von Jukos durch den Kreml die Taschen füllten, war Chodorkowskis Lage deutlich trostloser. Elf Monate lang war er fast jeden Tag in Handschellen in denselben Moskauer Gerichtssaal geführt worden, wo er stundenlang den Zeugenaussagen beiwohnen musste, während der Kreml, entschlossen, die Legitimität seines Falls gegen den Oligarchen zu beweisen, seine Anschuldigungen darlegte. Aber diese Anschuldigungen waren äußerst mangelhaft – wie selbst die ausländischen Banker zu erkennen schienen, die dem Kreml bei der Enteignung halfen. Ein Teil der Vorwürfe bezog sich auf Chodorkowskis Privatisierung von Apatit, einem großen Düngemittelhersteller im hohen Norden von Russland, im Jahr 1994 sowie einem daran angeschlossenen Forschungsinstitut im Jahr darauf. Dies waren die ersten großen Privatisierungen, an denen Chodorkowskis Menatep-Gruppe beteiligt war. Chodorkowskis Anwälte argumentierten, dass die Vorwürfe keine faktische oder gesetzliche Grundlage hätten. Sie bezogen sich außerdem auf Ereignisse, deren zehnjährige Verjährungsfrist sich mit großen Schritten näherte. Der zweite Teil der Anklagepunkte bezog sich auf Jukos’ Nutzung von Steueroasen innerhalb Russlands in den Jahren 1999 und 2000, was laut Staatsanwaltschaft illegal war. Solche Methoden wendeten jedoch auch andere Ölkonzerne in großem Stil an, und sie waren zu jenem Zeitpunkt gemäß russischem Gesetz rechtmäßig. Chodorkowski werde rückwirkend und selektiv ins Visier genommen, sagten seine Anwälte.

Als Chodorkowski endlich seine Position in einem Schlussplädoyer darlegen durfte, holte er zu einer Tirade aus, in der er einen Anklagepunkt nach dem anderen abarbeitete. Es gab »kein einziges Dokument – lassen Sie mich das unterstreichen –, kein einziges, das auf illegale Aktivitäten meinerseits hindeutet«, sagte er. »Nach zwei Jahren unglaublicher Mühen der Generalstaatsanwaltschaft – ein Nichtergebnis!«

Der ganze Fall, behauptete er, sei als Schauprozess in Gang gesetzt worden, um die Enteignung von Jukos durch gierige Staatsbeamte zu verschleiern: »Das gesamte Land weiß, warum ich im Gefängnis saß: damit ich die Plünderung von Jukos nicht durchkreuzen konnte. Indem sie das taten, versuchten die Personen, die meine persönliche Verfolgung organisierten, den Autoritäten und der Gesellschaft mit meinem vermeintlichen politischen Ehrgeiz Angst einzujagen. Wenn sie sagen, der ›Jukos-Fall‹ habe zu einer Stärkung der Rolle des Staates in der Wirtschaft geführt, ruft das bei mir bitteres Gelächter hervor. Diese Leute, die heute eifrig das Vermögen von Jukos plündern, haben in Wirklichkeit nichts mit dem russischen Staat und seinen Interessen zu tun. Sie sind ganz einfach dreckige, eigennützige Bürokraten und sonst nichts.«

Er beendete seine leidenschaftliche Rede mit einem direkten Appell an den Gerechtigkeitssinn der Richterin und äußerte seine Hoffnung, dass die Staatsanwaltschaft mit solch einer »direkten, unverfrorenen Täuschung« des Gerichts doch sicherlich nicht durchkommen werde: »Ich glaube daran, dass mein Land, Russland, ein Land der Gerechtigkeit und des Rechts sein wird. Und deshalb muss das Gericht auf der Grundlage von Gerechtigkeit und Recht urteilen.« 82

Doch obwohl die drei Richterinnen aufmerksam zuzuhören schienen und sich Notizen machten, während er sprach, 83 stand ihr Urteil bereits fest. Ein Augenzeugenbericht ist aufgetaucht, der erstmals ausführlich beschreibt, wie Setschin und einer seiner Stellvertreter den Prozess während jeder Etappe engmaschig kontrollierten. 84 Um jegliche Unsicherheit über die Entscheidung der Richterinnen auszuräumen, sorgte der Kreml dafür, dass sie, während sie ihr Urteil schrieben, auf Staatskosten in einem Sanatorium fünfzig Kilometer vor Moskau untergebracht wurden. In jenen Tagen konnte sich der Kreml der Loyalität der Richterinnen noch nicht hundertprozentig sicher sein, doch dies war der Zeitpunkt, in dem die russische Justiz vollends unter die Herrschaft des Kreml geriet. Der Kreml war ängstlich darauf bedacht sicherzustellen, dass Chodorkowskis Geschäftspartner die Richterinnen nicht durch Bestechung dazu bringen konnten, zu seinen Gunsten zu entscheiden. In dem Sanatorium konnten Vertreter der Sicherheitsbehörden sie im Auge behalten.

Setschin und sein Stellvertreter in der Präsidialverwaltung, ein strenger, blasser FSB-General namens Wladimir Kalanda, der zufällig mit der Chefjuristin von Rosneft verheiratet war, hatte die Situation genauestens beobachtet. Als eine der Richterinnen sich weigerte, unter Polizeibegleitung in das Sanatorium zu fahren, stattete Kalanda der Vorsitzenden des Moskauer Stadtgerichts einen Besuch ab. Diese Frau war eine furchtlose Blondine namens Olga Jegorowa, die sich seit Sowjetzeiten an die Spitze der Justiz hochgearbeitet hatte und nun dafür sorgen sollte, dass ihre Untergebene sich fügte. 85

Nach einem Monat im Sanatorium hatten die drei Richterinnen das Urteil immer noch nicht zu Ende geschrieben. Es fiel ihnen schwer, mehr als nur einen Bruchteil den Wünschen des Kreml entsprechend zu formulieren. Also nahm sich Jegorowa der Aufgabe an und wies einen Kollegen an, das Urteil blindlings zu verfassen und sich jeglicher Zweifel zu enthalten. Dem Augenzeugenbericht zufolge habe der Kollege ihr gesagt, dass die Vorwürfe keinen Sinn ergäben, doch Jegorowa war von Anfang an klargewesen, wie das Urteil aussehen sollte. »Wenn ich mich entschieden habe, dann bleibe ich dabei«, erklärte sie. 86

Das Moskauer Stadtgericht tat den Augenzeugenbericht als »Erfindung« ab, die keines Kommentars bedürfe. Als das Urteil schließlich im Gericht verlesen wurde, wich es kaum von den Vorwürfen ab, welche die Staatsanwaltschaft erhoben hatte, und erschien teilweise, als wäre es einfach aus der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft kopiert worden. Zudem wurden Unmengen an Zeugenaussagen für die Staatsanwaltschaft wortwörtlich zitiert. Abgesehen von dem Anklagepunkt im Zusammenhang mit der Privatisierung der Apatit-Düngemittelfabrik, dessen Verjährungsfrist abgelaufen war, wiesen die Richterinnen die Argumente der Verteidigung eins nach dem anderen zurück. »Ich habe den Eindruck, das sind im Kern genau die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft, nur ein wenig überarbeitet«, kommentierte Chodorkowskis betagter Vater kopfschüttelnd nach dem ersten Tag des Urteilsspruchs. 87 »Die Richterin hat sich ganz auf die Seite der Staatsanwaltschaft gestellt«, sagte einer von Chodorkowskis führenden Anwälten. 88

Das Strafmaß, das die Richterinnen nach zwölf langen Tagen der Urteilsverlesung mit monotoner Stimme verkündeten, war streng. Chodorkowski wurde für die rückwirkenden Steuerbetrugsvorwürfe und in Verbindung mit der Privatisierung des Apatit-Forschungsinstituts wegen Betrugs, dessen Verjährungsfrist noch nicht abgelaufen war, zu neun Jahren Haft verurteilt. 89

Auch wenn das Urteil die ganze Zeit feststand, war es dennoch ein Schock. Im Gerichtssaal waren Schluchzer zu hören, als Chodorkowskis schlanke, blonde Frau die Arme vor der Brust verschränkte, während sie Mühe hatte, sich zusammenzureißen. 90 Auch Chodorkowski wurde blass, als hätte er das nicht erwartet, als hätte er geglaubt, die Kreml-Maschinerie würde doch noch Milde walten lassen, oder vielleicht sogar, dass die Gerechtigkeit irgendwie siegen würde. Obgleich er zusammengesunken an den Käfigstäben lehnte, während der Rest des Urteils verkündet wurde, nahm er die Kraft für einen letzten Protest zusammen. Als alle aus dem Gerichtssaal strömten, wie um ihn seinem Schicksal zu überlassen, kletterte er auf eine Bank und rief einem Reporter entgegen: »Das ist gesetzlos!«, obwohl bewaffnete Wachen versuchten, ihn davon abzuhalten. »Dafür gibt es keine rechtliche Grundlage.« 91

Falls Chodorkowski immer noch auf Milde gehofft hatte: Als sein Berufungsverfahren nur vier Monate später, im September 2005, stattfand, hatte der Kreml die Zügel noch stärker angezogen. Setschin hatte Druck auf Jegorowa ausgeübt, das Verfahren eilig abzuhandeln. Der Kreml war beunruhigt, weil die Verjährungsfrist für den verbleibenden Betrugsvorwurf im Zusammenhang mit der Privatisierung des Apatit-Forschungsinstituts, der mit einer Höchststrafe von sieben Jahren belegt werden konnte, kurz davor war abzulaufen. Die anderen Vorwürfe in Verbindung mit Steuerbetrug konnten nur mit vier, drei und anderthalb Jahren geahndet werden, und obwohl es einen weiteren Betrugsvorwurf im Zusammenhang mit der Verwendung von Schuldscheinen bei einer der Steuertricksereien mit einer möglichen Haftstrafe von sieben Jahren gab, war der Kreml – in jenen Tagen noch darauf bedacht, dass das Verfahren den Anschein von Rechtmäßigkeit hatte – besorgt, dass das Strafmaß kaum haltbar wäre. 92 Das Verfahren gegen Chodorkowski musste rechtmäßig wirken, um die Übernahme von Jugansk durch Rosneft zu legitimieren. Jegorowa musste die Berufungsentscheidung bekanntgeben, bevor die Verjährung bei dem Apatit-Vorwurf eintrat. Andernfalls fürchtete der Kreml eine Auseinandersetzung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Als das Berufungsverfahren begann, ließ Setschin Jegorowa jeden Tag in sein Büro kommen – so oft, dass die Wachen sie bald vom Sehen kannten. 93 Nervös setzten ihr Setschin und einer seiner engsten Vertrauten, der Personalchef des Kreml, Wiktor Iwanow, der den Jukos-Fall genau beobachtet hatte, zu, um sicherzustellen, dass das Urteil zum Betrugsvorwurf rechtzeitig gesprochen wurde. Sie fürchteten, das Strafmaß reduzieren zu müssen, wenn die Verjährungsfrist ablief, sodass Chodorkowski vor der nächsten Präsidentschaftswahl 2008 wieder auf freiem Fuß sein könnte. In diesem Fall könnte die gesamte Übernahme von Jukos möglicherweise rückgängig gemacht werden. Sie waren über die Ereignisse in der Ukraine im Vorjahr so erschrocken, dass sie fürchteten, sie könnten ihre eigene Orange Revolution bekommen, sollte Chodorkowski rechtzeitig freikommen, um einen Aufruhr zu organisieren. »In drei Jahren«, sagte Setschin dem Augenzeugenbericht zufolge zu Jegorowa, »wird das hier ein Tollhaus sein. Der Häftling muss im Gefängnis bleiben.« 94

Setschins Nerven waren am ersten Tag des Berufungsverfahrens, dem 14. September, zum Zerreißen gespannt, als niemand von Chodorkowskis Verteidigungsteam erschien. Chodorkowski sagte dem Gericht, der einzige Anwalt, der autorisiert sei, ihn zu vertreten, liege im Krankenhaus. Jegorowa blieb also nichts anderes übrig, als die Verhandlung auf den folgenden Montag, den 19. September, zu verschieben. Ein vor Wut schäumender Setschin rief sie zu sich in den Kreml und befahl ihr, den Prozess ohne die Verteidigung zu beginnen. Als Jegorowa sich weigerte, ließ er sie ein weiteres Mal zu sich kommen, und Iwanow und der stellvertretende Generalstaatsanwalt setzten sie unter Druck, die Sache zu beschleunigen. In Moskau ging ein Gerücht herum, Jegorowa habe Bestechungsgelder in Höhe von 1 Milliarde Dollar von Chodorkowskis Partnern bei Menatep entgegengenommen, um die Verhandlung zu verschieben, sodass sich die Strafe in Luft auflösen würde.

Es waren die Gerüchte, die sie zum Einknicken brachten. Jegorowa konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass der Kreml sie für korrupt hielt. Obwohl sie weiterhin auf Chodorkowskis Recht auf Verteidigung bestand, sagte sie Setschin und dem Leiter der Präsidialverwaltung, Putins Getreuem Dmitri Medwedew, dass sie eine Haftstrafe von acht Jahren verhängen werde – ein Jahr weniger als im ursprünglichen Urteil –, was auch geschah. »Ich übernehme dafür die alleinige Verantwortung«, sagte sie. »Und wenn ich Sie damit irgendwie enttäusche, dann kündige ich. Mir reicht es.« 95

Das Verfahren wurde unter weiteren Spannungen und Verzögerungen wegen der Abwesenheit von Chodorkowskis Hauptanwalt, Genrich Padwa, fortgeführt, und der Druck auf Jegorowa wuchs, weil es weiterhin hieß, sie habe sich bestechen lassen. »Sollen sie mich doch verhaften«, gab sie zurück. »Sollen sie tun, was sie wollen. Ich war noch nie in meinem Leben so verletzt. (…) Damit Sie nicht glauben, ich hätte irgendetwas angenommen, werden es acht Jahre«, sagte sie zu Setschin und Medwedew. Als Chodorkowski sich in letzter Minute einverstanden erklärte, Padwa durch einen anderen Anwalt zu ersetzen, der mit dem Fall vertraut war, wurde die Verhandlung an einem einzigen Tag, dem 22. September, durchgezogen, damit die Verjährungsfrist auf keinen Fall vorher ablief.

Chodorkowskis Verteidigung protestierte wiederholt während der Verhandlung gegen das Tempo, mit dem sie durchgeführt wurde. »Wir haben es hier nicht mit der Staatsanwaltschaft oder den Richterinnen zu tun, sondern mit dem gesamten Gewicht des Staatsapparats«, sagte sein führender Anwalt. 96 »Die politischen Behörden diktieren, was hier passiert.« Die Akte des ursprünglichen Prozesses umfasste sechshundert Seiten, und die Verteidigung beklagte sich, dass sie nicht genug Zeit gehabt habe, sie zu studieren. Doch die Richterinnen pflügten erbarmungslos vorwärts. Als Chodorkowski eine Abschlussrede zu seiner Verteidigung hielt, versuchten sie, ihn nach einer Stunde zum Schweigen zu bringen. »Wir haben alle Dokumente. Wir sind bereit für den Urteilsspruch«, sagte eine von ihnen. 97

Es war bereits 19.20 Uhr, weit nach der üblichen Feierabendzeit des Gerichts. Die Richterinnen räumten Chodorkowski noch eine weitere Stunde Redezeit ein. Aber es spielte keine Rolle, was er sagte. Sie hatten die Entscheidung längst gefällt. Sie verließen den Gerichtssaal nur für wenige Minuten, bevor sie zurückkehrten, um ihr Urteil zu sprechen: acht Jahre, genau wie Jegorowa angekündigt hatte. Es war neun Uhr abends am 22. September. Die Verjährungsfrist für den Betrug war noch nicht abgelaufen.

Chodorkowski und sein Geschäftspartner Platon Lebedew sollten in noch nicht bekanntgegebene Straflager geschickt werden. Blass und erschöpft hatte Chodorkowski diesmal nichts mehr zu sagen, als er aus dem Saal geführt wurde. Seine Eltern, Boris und Marina, winkten ihm mit Tränen in den Augen zu. Nur rund drei Wochen später wurde er in einem fensterlosen Waggon über die russische Steppe ans Ende der Welt, in ein Straflager in der tristen Uranbergbaustadt Krasnokamensk in der abgelegenen östlichen Region Tschita gebracht, wohin fast zwei Jahrhunderte zuvor die politischen Gefangenen der Zarenzeit, die Dekabristen, geschickt worden waren. 98

*

Es war dieser Prozess, der alles in Putins Russland veränderte. Der Druck, den Setschin auf die Richterinnen ausgeübt hatte, das Tempo des Berufungsverfahrens, der Mangel an Substanz bei den Vorwürfen hatten die Justiz endgültig den silowiki untergeordnet. Hatten die lächerlich niedrigen Gehälter zuvor Tür und Tor für Bestechungen von mächtigen Oligarchen geöffnet, übernahm nun der Kreml. »Das war eine Staatsangelegenheit«, sagte Putin dem Augenzeugenbericht zufolge zu Jegorowa, als er sie nach dem Prozess im Kreml empfing, um ihr für ihre Arbeit zu danken. 99 Er verteidigte die Hast, mit der Chodorkowski hinter Gitter gebracht wurde, indem er erklärte: »Ausländisches Kapital hat dieses Land regiert, daher das ganze Chaos hier.« Putin und der Kreml rechtfertigten ihre Machtübernahme, indem sie Chodorkowski und seine Verbündeten als Agenten des Westens darstellten. Chodorkowskis Männer hätten 10 Milliarden Dollar zusammengelegt, um sich in das Verfahren einzumischen, sagte er ihr. Diese Behauptung wurde nie überprüft. Sie war einfach Teil des ausgeklügelten Lügengebäudes, das errichtet wurde.

Putins Kreml beeilte sich, seine Herrschaft abzusichern. Dies war der Beginn von etwas, was allgemein als rutschnoje uprawlenije oder manuelle Steuerung bekannt wurde, in dem die Mechaniken jedes Prozesses eng von den Männern des Kreml kontrolliert wurden. Putin hatte immer beharrt, der Jukos-Fall habe nichts mit ihm oder dem Kreml zu tun. Doch von Anfang an war jede Entscheidung, jeder Schritt genauestens überwacht worden. Die Übernahme der Justiz hatte mit Anschuldigungen und Gerüchten begonnen, die Richterinnen würden Schmiergelder von den Kreml-Gegnern entgegennehmen. Die Richterinnen bemühten sich, solchen Vorwürfen entgegenzutreten und ihre Loyalität unter Beweis zu stellen, indem sie Urteile ergehen ließen, die genau den Vorgaben des Kreml entsprachen. Dieses Muster ging auf Sowjetzeiten zurück, als Kollegen einander ausspioniert und verraten hatten, als alle unter Verdacht standen und scharf beobachtet wurden.

Diese Paranoia war nie ganz verschwunden. Und nun verfiel das Land wieder in Zeiten, in denen erneut alle in »wir und die« aufgeteilt wurden, in denen die Furcht vor einem externen Feind herrschte, der das System angeblich korrumpieren wollte. Aber nun, und das war der neue Dreh, wurden die Richter vom Kreml manipuliert. Der Ehemann einer Richterin beispielsweise wurde an seinem Geburtstag von Sicherheitsbeamten von zu Hause abgeholt und zu einem Subaru-Händler gefahren, wo man ihm sagte, er solle sich einen Wagen aussuchen. 100 Allen war klar, dass er sich das Auto von seinem Gehalt nicht leisten konnte. Alle wussten, welchen Beruf seine Frau hatte und welchen Fall von großem öffentlichen Interesse sie gerade geleitet hatte. Alle würden davon ausgehen, dass es sich um Bestechung handelte, egal wie sehr der Ehemann auch protestieren mochte, er habe keine Wahl gehabt. Mit solchen Mitteln wurden die Leute beschmutzt, an den Kreml gebunden und kontrolliert. Im Laufe der Zeit, als Putins Regime seine Macht festigte, wurden diese »Geschenke« noch sehr viel größer.

Für Jegorowa, die mit einem FSB-Beamten, einem späteren General, verheiratet war, stellte der Prozess ebenfalls einen Wendepunkt dar. Sie wurde als »Eiserne Lady« der russischen Justiz bekannt, sie war jetzt die Vorsitzende, die eine starke Kontrolle über die Gerichte etablierte und Richtern mit dem Verlust ihrer Position und ihrer Wohnungen drohte, wenn sie sich nicht fügten. 101

Das Land kehrte zu Gulag-Zeiten zurück. Das sowjetische System der »Telefonjustiz« wurde wieder eingeführt. Der Kreml hatte die Kontrolle über die Justiz übernommen. Die Macht des Geheimdienstes wurde gefestigt. Chodorkowski, einst der reichste Mann des Landes, schmachtete in einem Straflager in Krasnokamensk dahin. Und der Westen machte sich mitschuldig an diesem Prozess.