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WEICHE MACHT IN EISERNER HAND –
»ICH NENNE SIE DIE ORTHODOXEN TALIBAN«

Bereits eine ganze Weile bevor russische Agenten Regionalregierungen im Osten des Landes infiltrierten und Pro-Kreml-Separatisten halfen, diese mühelos zu übernehmen, hatten die Einflussoperationen in der Ukraine still und heimlich begonnen. Ukrainische Politiker hatten schon lange vor der zerstörerischen Macht des russischen Schwarzgelds gewarnt. Dessen Einfluss war bereits bei den undurchsichtigen Gashandelsabkommen spürbar geworden, die man dafür verantwortlich machte, eine Reihe ukrainischer Präsidenten korrumpiert zu haben. Er zeigte sich auch in Russlands zunehmenden Investitionen in die Aktivitäten der orthodoxen Kirche, deren Wurzeln historisch weit in die Ukraine hineinreichten. Lange bevor die Region von den Pro-Kreml-Milizen besetzt wurde, forderten Priester der russisch-orthodoxen Kirche Moskau auf, die »Heilige Rus« zu retten – das ist die Bezeichnung für die Wiege des russischen Großreiches, das Jahrhunderte zuvor in Kiew gegründet worden war und Russland, die Ukraine und Belarus vereinte. Das orthodoxe Christentum wurde zunehmend als Gegengewicht zu den liberalen Werten des Westens propagiert, und seine Ausbreitung zuerst in der Ukraine und dann im Westen wurde aus den tiefen Taschen russisch-orthodoxer Oligarchen gefördert.

Zu diesen gehörten der ehemalige KGB-Mann und Vorstand der Russischen Eisenbahnen, Wladimir Jakunin, und Konstantin Malofejew, der pausbäckige Geschäftspartner des Netzwerks von Genfer Geldmännern und ein Schützling Serge de Pahlens und Jean Goutchkoffs, der in Genf ansässigen imperial gesinnten Nachfahren der exilierten »Weißen«, die Putin und seinem Ölhändler Gennadi Timtschenko nahestanden.

Als er de Pahlen im schummrigen Spektrallicht der Petersburger Peter-und-Paul-Kathedrale kennenlernte, war Malofejew ein siebzehnjähriger Monarchist. 1 De Pahlen alias Großfürst Wladimir Kirillowitsch, der letzte direkte Nachfahre des russischen Zaren, betete zum ersten Mal an der Begräbnisstätte seiner Vorfahren, und für die Sowjetunion brach der letzte Monat ihrer Existenz an. Die Beziehung, die Malofejew an jenem grauen Novembertag 1991 mit dem hochgewachsenen, gebeugten de Pahlen knüpfte, sollte sich, wie bereits die von Putin und de Pahlen, als lange während erweisen. De Pahlen »spielte eine große Rolle in meinem persönlichen Schicksal«, sagte Malofejew. »Er ist eine einzigartige Persönlichkeit. Die ganze russische Geschichte lebt in ihm.« 2 Malofejew sollte ein integraler Bestandteil eines Netzwerks von KGB-Männern und Imperialisten werden, das Russland nach Putins Amtsantritt wieder zur Großmacht machen wollte. Seine Unterstützer prahlten gern, er sei die russische Version von George Soros, dem milliardenschweren Financier, der einen großen Teil seines Vermögens für die Förderung des Liberalismus in den Staaten des ehemaligen Sowjetblocks ausgegeben hatte. Doch Malofejew war zugleich natürlich auch dessen Antithese.

2005, im zarten Alter von einunddreißig Jahren, gründete er den Investmentfonds Marshall Capital, der bald Werte aus den Bereichen Telekommunikation, Babynahrungsproduktion, Hotels und Immobilien in Höhe von über 1 Milliarde Dollar verwaltete. 3 Er legte nie offen, wer seine Investoren waren, 4 aber etwa zur selben Zeit gründete er gemeinsam mit de Pahlen, der dort dann auch im Vorstand saß, eine russisch-orthodoxe Wohltätigkeitsorganisation, die Stiftung Sankt Basilius der Große – angeblich zur Verbreitung orthodoxer Werte und konservativer Ideale in der Ukraine, Europa und schließlich den USA. 5 Er gewann schnell hochrangige Unterstützung von Putins KGB-Leuten, und 2009 ergatterte er einen Posten im inneren Zirkel als unabhängiger Direktor im Vorstand der staatlichen Telekommunikationsgiganten Swjasinwest und Rostelekom, als dort eine umfassende Restrukturierung stattfand. 6 Während Malofejews Partner bei Marshall Capital die Funktion des Aufsichtsratsvorsitzenden von Rostelekom übernahm, 7 begann die von der Bank Rossija kontrollierte Gazprombank still und leise in Malofejews Auftrag einen Anteil von 7 Prozent an der Telekommunikationsfirma zusammenzukaufen. 8 Es war eine schleichende Übernahme, die Malofejews engen Geschäftspartnern half, genau wie Jakunin, von Milliarden Rubel schweren Staatsaufträgen zu profitieren. Rostelekom vergab Aufträge im Wert von über 12 Milliarden Rubel, das waren mehr als 80 Prozent des Gesamtvolumens, an ein Unternehmen, das von einem anderen Malofejew-Partner bei Marshall Capital geleitet wurde. 9 »Malofejew stand im Zentrum der aus Rostelekom herausgeschleusten Mittel«, sagte Jewgeni Jurtschenko, der ehemalige Chef von Swjasinwest, das später in der Rostelekom aufging. 10

Dank der staatlichen Unterstützung wurde Malofejew schnell zum Milliardär, während das Vermögen, das von seiner Firma Marshall Capital gemanagt wurde, noch schneller wuchs. Wie sich herausstellte, gab es dafür einen Grund. Malofejews Stiftung Sankt Basilius der Große sollte eine wichtige Akteurin bei dem zunehmend in den Vordergrund rückenden politischen Projekt des Kreml werden, Russlands Einflussbereich auszuweiten, und Malofejew ein Frontmann im Kampf des Landes gegen den Westen um die Vormachtstellung in der Welt. Er war Teil eines Prozesses, der kurz nach der prowestlichen Wende der Ukraine während der Orangen Revolution begann, als der Kreml anfing, ein Netzwerk russischer Nichtregierungsorganisationen und stellvertretender Interessengruppen für den Staat aufzubauen, das als Erstes versuchte, sich in der Ukraine zu etablieren und von da aus in den Westen zu expandieren. Ihre Mission war es, ein Gegengewicht zu den US-finanzierten Nichtregierungsorganisationen wie National Endowment for Democracy, Freedom House und George Soros’ Open Society, die Putin und seine Kumpane am meisten verachteten, zu bilden. 11 Putins KGB-Männer glaubten, diese Gruppen hätten sich mit dem US-Außenministerium verschworen, um Russlands Macht in der Ukraine zu verringern. Aus Sicht des Kreml war die Konzentration dieser Organisationen auf Menschen- und Bürgerrechte und auf die Förderung der Demokratie bloß ein zynischer Vorwand, um ehemalige Sowjetstaaten, die Moskau immer als seinen eigenen Hinterhof betrachtet hatte, in die Umlaufbahn des Westens zu ziehen.

Im Gegensatz zu Soros, der eine Person des öffentlichen Lebens war, operierte Malofejew im Schatten. Er ließ sich weder in die Kassen noch in die Karten schauen. Und statt der liberalen Offenheit, die Soros’ Open Society voranzutreiben versuchte, wollten Putins Männer eine Ideologie basierend auf den gemeinsamen slawischen Werten des russisch-orthodoxen Glaubens durchsetzen, die nahezu das Gegenteil der westlich-liberalen Vorstellungen von Toleranz propagierte. Der russisch-orthodoxe Glaube galt innerhalb der Kirche als der einzig wahre, alle anderen als Irrlehren. Individuelle Rechte, predigte sie, müssten sich der Tradition und dem Staat unterwerfen, Homosexualität sei eine Sünde. Putins KGB-Leute hatten eine ideologische Begründung für ihre Kampagne zur Auferstehung des russischen Imperiums gefunden, die bei denjenigen Anklang fand, die sich im Tumult der Globalisierung übersehen fühlten, sowie bei allen mit tiefsitzenden niederen Vorurteilen. Sie wendeten sich einst randständigen Philosophen wie Alexander Dugin zu, einem bärtigen politischen Denker, der einem Dostojewski-Roman entsprungen zu sein schien, um Theorien über Russlands Schicksal als eurasisches Großreich zu verbreiten, das seinen rechtmäßigen Platz als die eine, wahre Macht, als das dritte Rom, einnehmen würde. Sie hatten händeringend nach einer Ideologie gesucht, die ihre Verbündeten gegen den liberalen Westen einen würde, und Putin hatte diese Ideen – und die anderer Exilrussen – lange mit de Pahlen und den anderen Genfer Geldmännern diskutiert. Ihre Worte schienen tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen zu haben. »Wir hatten großes Glück mit dieser Gruppe«, sagte Malofejew. »Dieses Zivilisationsprojekt entstand aus ihrem Hintergrund und ihrem Verständnis der Vergangenheit und der Zukunft des Landes heraus. Putin redete viel mit ihnen.« 12 Seit dem Kollaps der Sowjetunion hatte sich der KGB mit mehr oder weniger Erfolg darin versucht, sich Russlands ultrarechte nationalistische und imperialistische Gruppen zu erschließen. Aber erst nach der Orangen Revolution in der Ukraine Ende 2004 wurden die Gruppierungen nach und nach – anfangs noch kaum wahrnehmbar – von den Rändern in die Mitte gezogen und erhielten allmählich Zugang zu einem steten Strom finanzieller Mittel.

Malofejew und Jakunin – Letzterer über die von ihm gegründete, nach dem Apostel benannte russisch-orthodoxe Sankt-Andreas-Stiftung – waren bei Weitem nicht die Einzigen, die mobil machten. Russlands zunehmender offizieller und inoffizieller Wohlstand brachte es mit sich, dass immer höhere Summen in ein Netz staatlicher Organisationen gesteckt wurden, die die »weiche Macht« Russlands im Ausland verbreiten sollten. Dazu gehörten Rossotrudnitschestwo und die Stiftung Russkij Mir (»die russische Welt«), die 2007 beziehungsweise 2008 gegründet wurden. 13 Sie boten Kultur- und Sprachprogramme für die russische Diaspora und weitere Interessierte an und investierten Millionen, um die Kreml-Versionen von Ereignissen zu verbreiten. Wie Russkij Mir es ausdrückte, stellten sie »objektive Informationen« über das aktuelle Russland und seine Bürger zur Verfügung. Doch ihre finanziellen Strukturen waren undurchsichtig, und laut einem ehemaligen sowjetischen Auslandsgeheimdienstler waren sie im Grunde genommen Tarnorganisationen des russischen Nachrichtendienstes. 14 Weder Rossotrudnitschestwo noch Russkij Mir veröffentlichen jemals Finanzberichte, und die staatliche Unterstützung dieser Operationen wurde zwar (basierend auf einer Regierungswebsite, auf der Verträge mit dem Staat aufgelistet wurden) 2015 auf 130 Millionen Dollar geschätzt, aber diese Zahl bildet nicht die gesamte Finanzierung ab, denn Hilfe kam auch, über den Kreml vermittelt, von Oligarchen. 15

Eine Vielzahl anderer Stellvertreterorganisationen trat ebenfalls in Aktion. Russische Kosakengruppen führten soldatisch organisierte Jugendlager durch. Eine buntgemischte Bikergang, die Nachtwölfe, die mal als Propaganda-, mal als Kampftruppe diente, gewann Putins ausdrückliche Unterstützung. Vier Jahre bevor seine »kleinen grünen Männer« auf der Krim auftauchten, fuhr Putin triumphierend röhrend und Staub aufwirbelnd mit einer Nachtwölfe-Gang in Lederjacken und mit Bandanas auf einer riesigen dreirädrigen Harley Davidson auf die Halbinsel. 16 Niemandem ist es bisher gelungen, die finanziellen Ressourcen solcher Gruppen vollständig zu berechnen. Die Nachtwölfe beispielsweise bekamen 2014 vom Kreml für »die patriotische Aufklärung der Jugend« 18 Millionen Rubel, eine der größten Subventionen dieser Art. 17 Aber da der Kreml – und insbesondere der FSB – sich bei jedem Geschäftsmann und jeder schwarzen Kasse bedienen konnte, wurden auch inoffizielle Geldquellen genutzt.

Die Ukraineoperation begann beinahe unmerklich. Als eine zusammengewürfelte Gruppe prorussischer Separatisten 2005, kurz nach der Orangen Revolution, in der Ostukraine die politische Bewegung »Republik Donezk« gründete, nahm niemand sie besonders ernst. Ihre Anführer galten als »drei verrückte Typen«, 18 und bei keinem von ihnen schien die Biografie viel herzumachen. Einer von ihnen, Andrej Purgin, ein stämmiger russischer Nationalist mit einem drahtigen Bart, schien bereits siebzig verschiedene Jobs gehabt zu haben – darunter war auch ein Abstecher in den Zirkus –, bevor er sich für das Leben als Separatist entschied. 19 Die Gruppe hielt spärlich besuchte Versammlungen ab, auf denen sie forderte, dass Donezk ein besonderer föderaler Status mit mehr Nähe zu Russland gewährt werden solle. Sie verteilten trostlos aussehende Flugblätter, in denen ukrainische Nationalisten als Faschisten bezeichnet wurden. Und sie begannen lose Kontakte zu den neu geschaffenen, vom Kreml bezahlten russisch-nationalistischen Gruppen zu knüpfen, besuchten Jugendlager des Kreml und traten dem von Alexander Dugin – mit dem Malofejew ebenfalls zusammenarbeitete – gegründeten Eurasischen Jugendbund bei. 20 Eine Zeit lang verbot die prowestliche Regierung der Ukraine die Bewegung Republik Donezk, aber diese führte ihre Tätigkeit im Untergrund fort. »Sie reisten nach Moskau und nahmen an den Rossotrudnitschestwo-Programmen teil«, sagte Kostyantyn Batozsky, Berater eines früheren Donezker Gouverneurs und führenden Industriellen, Sergej Taruta. »Sie wurden nie ernst genommen.« 21 Selbst die Pro-Kreml-Regierung von Viktor Janukowitsch ignorierte sie weitgehend.

Irgendwann jedoch änderten sich die Dinge. 2012 verfügte die Bewegung Republik Donezk über das nötige Kleingeld, um ihre eigene »Botschaft« im Hauptquartier von Dugasins Eurasischem Jugendbund in Moskau zu eröffnen, wo sie Pässe der Volksrepublik Donezk ausgab, die jedoch nirgends anerkannt wurden. 22 Und dann, eines Tages, so erzählt es Batozsky, als die Ukraine während der Proteste auf dem Majdan im Januar und Februar 2014 ins Chaos stürzte, erschienen mehrere nicht identifizierte Russen in der sogenannten Botschaft und teilten den Anführern der Volksrepublik Donezk mit, sie müssten nun an die Arbeit gehen, und Russland stünde hinter ihnen. 23

Als Janukowitsch kurz nach den Schüssen auf dem Majdan floh, wurden die politischen Ziele der Randgruppe Wirklichkeit. Sie beteiligte sich an der Erstürmung der Donezker Regierungsgebäude, wo sie kurzfristig die russische Flagge hisste. 24 Ihr erster Versuch, eine Volksrepublik Donezk zu proklamieren, dauerte nur wenige Tage, dann führte die Bereitschaftspolizei die Aktivisten ab. Dennoch standen sie an der Spitze der Ereignisse, die der Kreml gern als »den Russischen Frühling« bezeichnete, Russlands erste echte Reaktion auf die prodemokratischen Proteste in aller Welt. Die Bewegung Republik Donezk führte Demonstrationen an, deren Teilnehmerzahlen rasch von wenigen Hundert Anfang März 2014 auf Tausende anwuchsen, als russische Nationalisten über die Grenze strömten, um sich ihnen anzuschließen. 25 Ukrainische Regierungsvertreter behaupteten, einige wären, als Touristen getarnt, mit Bussen herangekarrt worden, darunter Mitglieder des Militärgeheimdienstes, die Waffen in die Ukraine schmuggelten.

Im April wurde aus den Demonstrationen ein gewaltsamer Aufstand, als Hunderte vermummter und bewaffneter Männer überall in der Ukraine Regierungsgebäude stürmten und besetzten. 26 Obwohl die lokale Unterstützung nur Hunderte Menschen zu umfassen schien, war aus dem, was als Protest von ein paar Dutzend »Verrückten« begonnen hatte, im Mai, als die ukrainischen Truppen um die Wiedererlangung der Kontrolle kämpften, irgendwie plötzlich eine Armee sehr gut organisierter und mit Waffen ausgestatteter Pro-Kreml-Separatisten geworden. 27 Die Anführer der Bewegung Republik Donezk wurden nicht vergessen: Andrej Purgin, der es nie zuvor geschafft hatte, länger auf einer Arbeitsstelle zu bleiben, wurde der erste Vizeregierungschef der selbstproklamierten Volksrepublik Donezk, 28 und die aus Moskau gekommenen Militärführer nahmen gemeinsam mit ihnen die Zügel der neuen Separatistenrepublik in die Hand. 29 Die russische Regierung beharrte darauf, dass dies alles Freiwillige seien, doch zwischen einigen von ihnen und den Pro-Kreml-Oligarchen bestanden intensive, langjährige Verbindungen.

Der Krieg in der Ukraine, der mehr als 13 000 Todesopfer forderte und eine große Krise im Westen auslöste, hätte ohne russisches Schwarzgeld nie stattgefunden. Manches davon entstammte komplexen Geldwäschesystemen, anderes wurde einfach direkt abgezweigt. Es war ein wesentlicher Faktor in einem Stellvertreterkrieg, in dem alles inoffiziell war: von den russischen Militärs, die die Kämpfe anführten, bis zu den eingeschmuggelten Waffen. Alles ließ sich leugnen. Nichts konnte nachverfolgt werden. Ein Teil der Mittel, die in das Wiedererstarken der Pro-Kreml-Separatisten in jenem Frühjahr gesteckt wurden, schien von den Rebellen über die ukrainische Grenze geschleust worden zu sein. Es hatte immer schon inoffiziellen Handel und eine beträchtliche Schattenwirtschaft zwischen der Ukraine und Russland gegeben, während die Grenze extrem durchlässig war und jeden Versuch, den Weg des Geldes nachzuvollziehen, nahezu unmöglich machte. »Es war alles Schwarzgeld. Es wurde in Koffern reingebracht«, sagte Batozsky. »Wir konnten niemanden auf frischer Tat ertappen.« 30 Ukrainische Offizielle glaubten, dass ein großer Teil der ersten Mittel für den Aufstand vom russischen Geheimdienst stammte, der kurz nach der Annexion der Krim in die Region kam.

Mittendrin bewegte sich Malofejew. Sein zentral gelegenes Moskauer Büro beherbergte nicht nur eine beeindruckende Sammlung antiker Ikonen und seltener Karten aus der Zarenzeit, sondern es war auch der Arbeitsplatz der Männer, die die Anführer von Russlands verdecktem Einmarsch in die Ukraine wurden: Malofejews früherer Sicherheitschef, ein Militärgeheimdienstler mit schmalem Oberlippenbart, der wahlweise als Igor Strelkow, »Strelok« oder Igor Girkin bekannt war, 31 kommandierte die russischen Ad-hoc-Streitkräfte, die von der Krim aus in die Ostukraine vordrangen; sein stämmiger PR-Berater war der neue Ministerpräsident der Volksrepublik Donezk. 32 Im November 2013, bevor die Kämpfe ausbrachen, machte Malofejew seinen Anteil an Rostelekom zu Geld, indem er ihn für 700 Millionen Dollar zurück an das Staatsunternehmen verkaufte, um sich auf »humanitäre Projekte« zu konzentrieren. 33

Malofejews Sicherheitschef Igor Strelkow hatte bereits zuvor in verdeckten Kriegen in Tschetschenien und Bosnien für Russland gekämpft 34 und wurde vom ukrainischen Innenminister als »Monster und Mörder« bezeichnet. 35 In den Monaten, bevor die Ukraine ins Chaos stürzte, begleitete er Malofejew auf einer von ihm für die russisch-orthodoxe Kirche organisierten Triumphtour, bei der die Gaben der Heiligen Drei Könige aus einem orthodoxen Kloster in Griechenland nach Moskau gebracht wurden, von dort nach Kiew und dann auf die Krim. 36 Strelkow war vorgeblich für die Sicherheit der antiken Schätze Gold, Weihrauch und Myrrhe zuständig, die Tausende orthodoxe Gläubige sehen wollten. Aber die beiden Männer hatten eine weitere Mission auf der Krim. Sie trafen sich dort mit Sergej Aksjonow, der einen Monat später der neue prorussische politische Führer der Krim werden sollte. 37 Der Vorsitzende der kleinen Pro-Moskau Partei Russische Einheit war praktisch aus dem Nichts aufgetaucht, fast genauso plötzlich wie die nicht gekennzeichneten russischen Truppen auf der Halbinsel. 38 »Bei diesen Ausstellungen lernten Malofejew und Strelkow einander gut kennen«, sagte Batozsky. »Für das, was später passierte, gibt es keine Zeugen.« 39 Zumindest ein ehemaliger orthodoxer Kirchenführer hielt die Reliquientour für bloße Tarnung einer Aufklärungsmission für alles, was danach geschah. »Die Gaben wurden auf die Krim gebracht, um den Boden für die Machtübernahme zu bereiten und um nachrichtendienstliche Informationen zu sammeln«, sagte Waleri Otstawnich, der sein Kirchenamt später abgab, weil er fürchtete, als Handlanger von Putins Staat benutzt zu werden. 40

Malofejew galt als wesentliche Figur bei den Geldschiebeaktivitäten zugunsten der Pro-Kreml-Separatisten, die wohl über ein Geflecht von Wohltätigkeitsorganisationen verliefen, die mit seiner Stiftung Sankt Basilius der Große verknüpft waren. Später leakten die ukrainischen Sicherheitsbehörden Dokumente, bei denen es sich um von ihnen abgehörte Telefonate zwischen Malofejew und Strelkow handeln sollte, in denen die beiden Männer Kampferfolge gegen die ukrainische Armee besprechen. Laut der Transkription eines Telefonats sagt Strelkow zu Malefejew: »Von unserer Seite wurde keine einzige Position aufgegeben. Alle Stellungen in Kramatorsk wurden gehalten. Aber, Konstantin Walerjewitsch, könnten Sie mir sagen, wen genau wir getroffen haben?« Malefejew antwortet, dass er die Nachricht von Strelkows Erfolgen an den Ministerpräsidenten der Krim, Aksjonow, weitergeben werde, der bei ihm zu Besuch sei. 41

Malofejew stritt ab, in irgendeiner Weise an dem Konflikt beteiligt gewesen zu sein, abgesehen davon, dass er Flüchtlinge aus den Kampfgebieten finanziell unterstützt habe, und tat seine Verbindungen zu den Rebellenführern als »Zufall« ab. 42 Doch sogar die EU war der Ansicht, dass er bis zum Hals in der Sache drinsteckte, und verhängte wegen seiner Beziehungen zu den Separatisten Sanktionen gegen ihn. 43 Die ukrainische Regierung warf ihm die Finanzierung von Terroristen vor und leitete ein Ermittlungsverfahren gegen ihn ein. 44

Für den Kreml war Malofejew jedoch der ideale Counterpart. Seine Beteiligung verschaffte der russischen Regierung Spielraum, ihre eigene abzustreiten. Sie konnte behaupten, er, der hitzköpfige Imperialist, agiere auf eigene Faust. Tatsächlich konnte sich Malofejew in Interviews oft nicht zurückhalten. »Tut mir leid, wenn das nicht politisch korrekt ist«, äußerte er gegenüber Bloomberg, »aber die Ukraine ist ein Teil Russlands. (…) Sie wurde künstlich auf den Ruinen des russischen Imperiums erschaffen.« 45 »Aus Russlands Sicht ist das eine Schlacht ums politische Überleben«, sagte er mir. »Russland ist seiner Natur nach ein Großreich. Als die USA entstanden, war es bereits eine Großmacht. Und es kann in keiner anderen Form existieren.« 46 Doch hinter den Kulissen hatte er lang gepflegte solide Verbindungen in die Kreml-Spitze. Neben seiner Freundschaft mit de Pahlen baute er über den orthodoxen Priester Tichon Schewkunow, den immer mächtiger werdenden Beichtvater des Präsidenten, auch Kontakt zu Putin auf. 47

Als Malofejew Russland half, seinen Einfluss in der Ostukraine auszuweiten, betrachteten die Genfer Geldmänner mit KGB-Verbindungen, die im Hintergrund mit Putin und Timtschenko zusammenarbeiteten, dies mit Wohlwollen. »Es ist wirklich ein Religionskrieg«, sagte einer von ihnen. »Schaut man sich die Leute aus Donezk und Charkow an, also ihre Vorfahren, dann waren sie schon immer russisch. Sie sind seit ewigen Zeiten Russen.« 48

Von Anfang an scheinen Malofejews Operationen in Zusammenhang mit dem russischen Geheimdienst gestanden zu haben. Der Telekommunikationssektor, in dem er den Großteil seines Vermögens erwirtschaftete, ist traditionell die Domäne des Militärgeheimdienstes. Die Unterstützung des Kreml von rechtsnationalistischen russischen Gruppierungen, deren Ziel es war, die Ukraine zu spalten und ihren EU-Beitritt zu verhindern, wirkte wie eine Wiederholung von Putins Aktivitäten in seiner Dresdner Zeit. Damals hatte der KGB (und auch Putin, seinen beiden ehemaligen Kollegen zufolge, die wir getroffen haben) Agenten tief in deutsche Neonazigruppen eingeschleust ebenso wie in die Rote Armee Fraktion, die Angehörige des amerikanischen Militärs und westdeutsche Industrielle ermordete, um Chaos und Instabilität auszulösen. 49

Das Vordringen des Kreml in die Ukraine wirkte wie eine Passage aus einem alten KGB-Handbuch zum Thema teilen und Unruhe stiften, zum Schmuggel von Waffen und Geld über eine Reihe von Scheininstitutionen und Mittelsmännern – wie aus der Zeit, als die strategischen Operationen auf Schwarzhandel basierten und für die sowjetische Führung nur die Demonstration der eigenen Macht und der Kampf gegen den Westen um die Vorherrschaft der Mächte von Bedeutung waren. Putins Männer holten die Taktiken aus der Versenkung, die damals zum Einsatz kamen, als, genau wie nun, Russland einer direkten Konfrontation nicht gewachsen war und auf Täuschungsmanöver, Stellvertreter, Einflussagenten und Tarneinrichtungen zurückgreifen musste, auf Propaganda und offensichtliche Lügen, um den Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen und von innen heraus zu schwächen.

Zu Sowjetzeiten wurden solche Methoden als »aktive Maßnahmen« bezeichnet. Und 2014, nachdem Russland den Übergang zu seiner eigenen verzerrten Version des Staatskapitalismus vollzogen hatte, war der Kreml bereit, es erneut mit dem Westen aufzunehmen. Einige der in der Ukraine verfeinerten Taktiken wurden rasch auch in Osteuropa und dann im Westen angewendet. Alte Netzwerke wurden reaktiviert und neue Tarnorganisationen eingesetzt.

Die Ukrainer waren die Ersten gewesen, die davor gewarnt hatten, dass ein wiedererstarkendes Russland versuchen würde, den Westen auseinanderzutreiben. »Alle dachten, die Russen würden nur stehlen«, sagte Kostyantyn Batozsky, der Berater des ehemaligen Donezker Gouverneurs. »Aber sie arbeiten daran, ihren eigenen Kreis korrupter Politiker aufzubauen. Das läuft bereits seit Langem, und Russland wird Europa untergraben. Russland legt eine gewaltige Bombe an die Fundamente der Europäischen Union. Es sucht nach Schwachstellen, um einen Keil zwischen die europäischen Staaten zu treiben. Das ist heute eine gewaltige Gefahr. Russische NGOs sind sehr aktiv und verteilen Mittel an Gruppen am linken und am rechten Rand.« 50

Auch im Westen wurde einigen Experten zunehmend bewusst, dass Russlands mit Schwarzgeld finanzierte Einflusskampagnen sich nicht auf die Ukraine beschränkten. »Russland unterstützt den Front National in Frankreich, die Jobbik in Ungarn, die Lega Nord sowie die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien«, sagte Michael Carpenter, damaliger Russlandberater von US-Vizepräsident Joe Biden im September 2015. »Sie haben die Syriza in Griechenland und, wie wir vermuten, Die Linke in Deutschland finanziell unterstützt. Sie sind hinter all diesen Antiestablishmentparteien her, links wie rechts. Sie sind in dieser Hinsicht überhaupt nicht wählerisch und nutzen dafür die Schwarzgeldkonten. Sie zielen auf die europäischen Länder ab, um die EU zu schwächen und den Konsens hinsichtlich der Sanktionen zu zerstören. Das ist sehr ernst zu nehmen. Sie haben eine Menge Zeit und Geld dafür aufgewendet.« Aber solche Befürchtungen gingen angesichts anderer Bedrohungen unter, die auf politische Akteure, die sich weniger gut mit Russland auskannten, konkreter und greifbarer wirkten. »Uns wurde gesagt, wir seien voreingenommen«, so Carpenter. »Sie sagten zu mir: ›Ihr Spezialgebiet ist Russland, natürlich halten Sie Russland für eine Gefahr.‹« 51

Erschöpft von dem Ukrainekonflikt, den zunehmenden Spannungen im Nahen Osten und der wachsenden Flüchtlingswelle glaubte im Westen kaum jemand so recht, dass Putins Russland in seine politischen und wirtschaftlichen Institutionen vordringen könnte. Seine offensichtlich erfolgreiche Spaltung der Ukraine wurde im Westen als Pyrrhussieg interpretiert. Russlands Wirtschaft galt lange als hoffnungsloser Fall und sein Auslandsgeheimdienst nach dem Kollaps der Sowjetunion als geschwächt. Das Geld, das in den Westen strömte, wurde nur als gestohlen betrachtet und nicht als ein riesiger Bestechungsfonds, auf den für jede strategische Agenda zugegriffen werden konnte.

Doch überall in Europa wurden alte KGB-Strukturen wieder zum Leben erweckt. Als Konstantin Malofejew noch ein Kind war, das in einem Moskauer Vorort aufwuchs, war Serge de Pahlen in verdeckter Mission für den KGB in Paris tätig, als Teil eines von Igor Schtschogolew aufgebauten Netzwerks, 52 und hatte mit Jean Goutchkoff für befreundete Firmen gearbeitet, um die Sowjetindustrie auszustatten. 53 Ein weiterer »weißer« Verbündeter, Alexander Trubezkoi, war ebenfalls Teil von Schtschogolews Netzwerk und versorgte die Sowjets mit französischer Computertechnologie. 54 Nun unterstützten sie alle Malofejew: De Pahlen saß im Vorstand der Stiftung Sankt Basilius der Große und Goutchkoff in dem einer Firma mit Verbindungen zu Malofejew. 55 2011 wurde Trubezkoi Aufsichtsratsvorsitzender von Swjasinwest, dem staatlichen Telekommunikationsgiganten, der zu diesem Zeitpunkt in Rostelekom integriert worden war – und an dem Malofejew einen Anteil besaß. 56 Er war ebenfalls Vorstandsmitglied der Sankt-Basilius-Stiftung, während Schtschogolew als Putins Kommunikationsminister seine Hand über Malofejews geschäftlichen Fortschritt hielt.

Ohne ihre Unterstützung wäre Malofejew möglicherweise nicht weit gekommen. Als seine Stiftung sich nach Osteuropa ausbreitete, machte es den Eindruck, als würden Putins Männer Distanz wahren. In Tschechien schien Malofejew eine chaotische Kampagne zu führen, um antiwestliche Politiker jeglicher Couleur zu umgarnen, und er übergab einer belarussischen politischen Kontaktperson mindestens 100 000 Euro, damit diese die Machtergreifung der dortigen prorussischen Gruppen orchestrierte, wie durchgestochene E-Mails der beiden Männer belegen. 57

Aber die Leaks zeigten nur die Oberfläche dessen, was bereits eine ausgeklügelte Operation war, in der Malofejew nur einer aus einem ganzen Kreis von Akteuren war. Jakunin beispielsweise hatte den Politiker Miloš Zeman lange vor dessen Wahl zum tschechischen Präsidenten 2013 hofiert, während Martin Nejedlý, der Chef der tschechischen Lukoil-Sparte, also eines großen, Kreml-treuen Mineralölkonzerns, ein wichtiger Berater Zemans und Mitgründer der Partei war, die Zemans Präsidentschaftswahlkampf finanzierte. 58 Die Angestellten beider Unternehmen, die einem der Schweizer Anwälte aus dem Umfeld des Bank-Rossija/Rodulgin-Bestechungsfonds gehörten, waren ebenfalls einflussreiche Unterstützer von Zeman, 59 der ein verlässlicher Fürsprecher von Putins Kreml wurde: Er war einer der ersten EU-Staatschefs, die öffentlich eine Aufhebung der EU-Sanktionen gegen Russland forderten.

In Ungarn wurden die Interessen des Kreml durch einen raschen Aufstieg der Rechtsaußenpartei Jobbik gefördert, deren Glück sich seit 2005, als sie noch eine bloße Randpartei gewesen war, gewendet hatte. Die geleakten E-Mails belegen, dass Malofejews Kontaktperson auch mit der Jobbik kooperiert hat. 60 Aber der Katalysator, der sie zu Ungarns größter Oppositionspartei machte, war das scheinbare Auftauchen aus dem Nichts eines geheimnisvollen ungarischen Geschäftsmanns namens Béla Kovács, der, nachdem er jahrelang in Russland gearbeitet hatte, der Partei beitrat und sie dann prompt vor dem Bankrott bewahrte. 61 Kovács behauptet steif und fest, er habe die Rettung aus eigener Tasche bezahlt, aber 2014 begannen ungarische Strafverfolgungsbehörden zu ermitteln, ob er ein KGB-Agent sei, und das Europäische Parlament war davon immerhin so überzeugt, dass es ihm seine Immunität als EU-Parlamentarier entzog. Die Ermittlungen endeten jedoch ergebnislos – der ungarische Präsident Viktor Orbán war nämlich ebenfalls ein enger Verbündeter des Kreml geworden.

Indem der Kreml sowohl linke als auch rechte politische Gruppierungen unterstützte, hängte er sich an eine zunehmende Frustration in Osteuropa und befeuerte sie weiter. Nun, da die ehemaligen Ostblockstaaten seit fast einem Jahrzehnt EU-Mitglieder waren, begann der Glanz des Westens und des Liberalismus Risse zu bekommen. Die Konsumgütersehnsucht infolge der Knappheit der Planwirtschaft war längst gestillt, und Osteuropa war voll mit glänzenden Shoppingmalls und den neuesten iPhone-Modellen. Aber die Konsequenzen des Beitritts zur liberalen Ordnung der Europäischen Union waren deutlich spürbar, und die Geister der Sowjetvergangenheit – das Geflecht von Agenten, die einst mit dem KGB zusammengearbeitet hatten – durchdrangen nach wie vor die Gesellschaft.

Als Russland, das gerade erst dazu beigetragen hatte, die Ukraine zu spalten, sich im Nahen Osten einmischte und 2015 mit Bombereinsätzen in Syrien begann, um das Regime des langjährigen Kreml-Verbündeten Baschar al-Assad zu stützen, verschärften sich Europas Probleme. Die Bombardements führten dazu, dass eine ohnehin beträchtliche Flüchtlingswelle von Hunderttausenden, die in Europa Schutz suchten, noch anschwoll. Im Jahr 2015 flohen über eine Million Menschen aus Syrien nach Europa. Für Putins Kreml stellte dies eine Gelegenheit dar, Unzufriedenheit, Hass und Widerstand gegen die herrschende liberale Ordnung zu schüren. Die Taktiken des Kreml fielen insbesondere in Osteuropa auf fruchtbaren Boden, wo die Verteilung wirtschaftlichen Wohlstands extrem ungleich war und die konservative Meinung der russisch-orthodoxen Kirche, die gegen die liberalen Freiheiten des Westen wetterte, auf offene Ohren stieß.

In Genf träumte der Timtschenko-nahe Schweizer Bankier Jean Goutchkoff offen von der Schaffung eines slawischen Europas, das Polen, Tschechien und Bulgarien mit Russland und der Ukraine verschmelzen, sich bis nach Ungarn ausdehnen und sich von der französisch-deutsch dominierten EU lossagen würde. 62 Im Mai 2014, auf dem Höhepunkt der Ukrainekrise, behauptete Goutchkoff, die Europäische Union sei dem Untergang geweiht und die französischen und deutschen Staatschefs wollten ein neues Europa ohne die lästigen jüngsten Mitglieder aus dem Osten errichten. Das war erst der Beginn eines Prozesses, von dem Putins Männer hofften, er werde Europa auseinanderbrechen lassen.

Der Kreml weitete die Taktiken aus, die er zunächst im Osten verfolgt hatte, und begann seine Ressourcen im Westen einzusetzen. Die Genfer Geldmänner beispielsweise hatten seit Langem Verbindungen zur französischen Elite gepflegt, insbesondere zur Aristokratie. Als Gennadi Timtschenko anfing, eine Beziehung zu Frankreichs wichtigstem Energiekonzern Total aufzubauen, war der Weg frei, den russischen Einfluss noch weiter in die Spitze der französischen Gesellschaft zu tragen. 2009, als Timtschenko sich gerade in Russlands zweitgrößten Gasproduzenten Nowatek einkaufte, hatte Alain Bionda, ein jovialer Genfer Anwalt, der eng mit Goutchkoff und Timtschenko zusammenarbeitete, zwei Topmanager von Total zu einem fürstlichen Abendessen eingeladen; Goutchkoff hingegen nahm Anfang 2013 an einem Arbeitsfrühstück mit François Hollande bei dessen erstem Moskaubesuch als französischer Präsident teil. 63

Mithilfe seiner Genfer Geschäftspartner festigte Timtschenko diese Verbindungen, indem er 12 Prozent seiner Firma Nowatek und 20 Prozent ihres Flüssigerdgasprojekts für 4 Milliarden Dollar an Total verkaufte. Zwei Jahre später wurde er mit dem höchsten französischen Verdienstorden, dem Orden der Ehrenlegion (Légion d’honneur), ausgezeichnet. Er war außerdem in den Vorstand des Wirtschaftsrats der Französisch-Russischen Industrie- und Handelskammer gewählt worden, eines Handelsorgans, in das bald darauf Frankreichs wichtigste Industrielle sowie Spitzenvertreter von Putins KGB-Kapitalismus eintraten, darunter Andrej Akimow, der Gazprombank-Aufsichtsrat mit KGB-Verbindungen, und Sergej Tschemesow, Putins KGB-Kamerad aus Dresdner Zeiten, der nun Russlands staatlichen Waffenmonopolisten leitete. 64 Als der Westen beschloss, Russland nach seinem Einmarsch auf die Krim zu sanktionieren, blieben Timtschenko und Akimow von EU-Sanktionen verschont, obwohl die USA sie ins Visier nahmen, während es Tschemesow irgendwie gelang, im Vorstand des Wirtschaftsrats zu bleiben, obwohl ihm EU-Sanktionen drohten. Total verlangte, dass die Sanktionen aufgehoben würden, Punkt.

Russlands Bemühungen erschöpften sich nicht darin, geschäftliche Kontakte zu knüpfen, oder in Versuchen, die Einheit des Westens durch Konflikte über Sanktionen zu gefährden. Durch staatliche Organisationen wie Rossotrudnitschestwo und Russkij Mir begann eine Reihe von Thinktanks in Paris Wurzeln zu schlagen. Russlands Institut für Demokratie und Zusammenarbeit schlug 2008 in einer ruhigen Straße im 7. Arrondissement seine Zelte auf. Es sollte die russische Antwort auf die US-amerikanische Carnegie Endowment for International Peace sein, negativen westlichen Wahrnehmungen Russlands entgegentreten und, einem seiner Gründer zufolge, »das westliche Monopol« über die Definition von Menschenrechten und ihrer Einhaltung durch Russland beenden. Es war Teil einer PR-Offensive, die ihren Anfang genommen hatte, als Putins Regierung Russia Today gründete, das weltweit in englischer Sprache operierende TV-Netzwerk, das die Hegemonie westlicher Kanäle wie CNN und der BBC herausfordern sollte. 65 Doch an dem imposanten steinernen Gebäude, das vermeintlich das Institut beherbergte, deutete nichts auf es hin. Geleitet wurde es von einer Frau namens Natalija Narotschnizkaja, deren Identität als russische Geheimdienstlerin kaum verhüllt wurde und die zu Sowjetzeiten eine hochrangige UN-Diplomatin gewesen war. Laut einem früheren leitenden russischen Geheimdienstmitarbeiter hatte sie bereits damals für den KGB gearbeitet. Die stets elegant gekleidete, vogelartig wirkende Brünette war zur Zeit der Perestroika-Reformen Protegé des Meisterspions Jewgeni Primakow am Institut für Weltwirtschaft in Moskau gewesen. 66 Während ihre Organisation ihren Beitrag dazu leistete, die Weltsicht von Putins KGB-Männern zu verbreiten, arbeitete sie nebenbei daran, zukünftige Einflussagenten zu finden und zu rekrutieren. 67 Ihre Finanzierung war unklar – einer ihrer Gründer konnte dem US-Botschafter in Moskau nicht mehr sagen, als dass sie unter anderem von »zehn Geschäftsleuten« unterstützt werde. 68

Narotschnizkaja stand in engem Kontakt zu Wladimir Jakunin, der über seine russisch-orthodoxe Sankt-Andreas-Stiftung und seine Denkfabrik »Dialog der Zivilisationen« Verbindungen in europäische politische Kreise knüpfte, darunter die Spitze der französischen Partei Les Républicains, mit denen de Pahlen ebenfalls verbandelt war. Im Mai 2014 sprachen de Pahlen und ich in seinem Genfer Büro miteinander, wo auf dem Schreibtisch ein paar Bücher seines eigenen Verlags verteilt lagen (den ein undurchsichtiger Investmentfonds finanzierte). Er sagte mir, die Zeit der US-Hegemonie sei vorbei. »Die Soft Power der USA scheitert«, erklärte er, ein sanfter, über den Schreibtisch gebeugter Riese. »Sie haben schon keine Macht mehr. Die Zeiten, in denen sie die EU dominierten, sind vorüber. Nun ist Russland groß, genau wie China. Die Vereinigten Staaten besitzen heute keine Glaubwürdigkeit mehr. Was sie in Libyen getan haben, machen sie nun in der Ukraine. Vielleicht ist Amerika nicht klar, dass seine Macht schwindet.« Als ich fragte, ob er versuche, die europäischen Einflussnetzwerke der Sowjetvergangenheit wiederzubeleben, schaute er mich ungläubig an und grinste dann breit. »Wenn Sie damit Lobbying meinen, dann Ja. Alle tun es.« 69

Genau wie damals die Sowjetunion die Finanzierung politischer Verbündeter und Parteien in ganz Europa über ein Geflecht befreundeter Firmen gesteuert hatte, um im Kalten Krieg die Einheit des Westens zu unterminieren, nutzte Moskau nun ein neues Geflecht von Strohmännern und Stellvertretern, um überall Parteien der extremen Linken und der extremen Rechten zu unterstützen. Teile des alten Netzwerks und einige der Geldmänner, darunter Goutchkoff und de Pahlen, waren noch da und erhielten nun neues Kapital. In Frankreich lag Moskaus Fokus hauptsächlich auf der Förderung rechter Parteien. Obwohl es in Jean-Luc Mélenchon einen bereitwilligen Fürsprecher im linken Lager fand (er war bereits erklärtermaßen gegen die USA und gegen die NATO, ohne dass es dazu Moskaus Hilfe bedurft hätte), öffnete es zügig Kreditlinien für den Front National von Jean-Marie Le Pen und seiner Tochter Marine. Die Quelle dieser Mittel wurde wieder durch Stellvertreter verschleiert, um dem Kreml zu ermöglichen, sich davon zu distanzieren, aber es wurde leichter, einige aufzudecken. Im November 2014 beispielsweise kam heraus, dass der Front National 9,4 Millionen Euro von einer tschechischen Bank mit Verbindungen zu Gennadi Timtschenko geliehen hatte. 70 (Timtschenkos Anwälte sagen, er habe bei der Entscheidung keine Rolle gespielt und sei nie am Management der Bank beteiligt oder ein Nutznießer gewesen.) Konstantin Malofejew half indessen, einen weiteren Deal zu organisieren, um Jean-Marie Le Pen 2 Millionen Euro zu leihen. 71 Bei einer anderen Gelegenheit machte eine französische Dokumentarfilmerin Aufnahmen von Le Pen, wie er das Marshall-Capital-Büro von Malofejew in Moskau betrat und später mit einem Aluminiumkoffer wieder verließ. Man nahm daraufhin an, dieser sei mit Bargeld gefüllt gewesen – eine Behauptung, der Le Pen (genau wie Malofejew) energisch widersprach. 72

Die Aktivitäten wurden verwirrend. Moskau hatte lange daran gearbeitet, sich Unterstützung in ganz Europa zu sichern. In Deutschland hatte Putin einen treuen Kameraden in Ex-Kanzler Gerhard Schröder, der für seine Mühe, Putins Handeln in der Ukraine und Syrien und sein rigoroses Vorgehen gegen die Demokratie zu Hause zu verteidigen, reich belohnt wurde. Gemeinsam mit Matthias Warnig, Putins engem Stasi-Verbündeten, saß Schröder in der Unternehmensführung der Nord Stream AG, dem von Russland angeführten 14,8 Milliarden Euro teuren Gaspipelineprojekt, um Gas direkt von Russland am Boden der Ostsee nach Europa exportieren zu können, ohne die Ukraine passieren zu müssen.

In Italien hatte Putin lange einen Freund in Silvio Berlusconi. Die beiden Männer machten zusammen Urlaub auf Sardinien, und Berlusconi war häufig zu Gast in Putins Residenz in Sotschi. Berlusconi war außerdem ein Mitglied des Finanz- und Einflussnetzwerks, das bereits zu Sowjetzeiten existiert hatte. In den späten Achtzigern bekam sein Fininvest-Medienkonzern Sendezeit vom staatlichen TV-Unternehmen der Sowjetunion, um italienische Filme zu zeigen. 73 Berlusconi arbeitete außerdem eng mit dem Bankier Antonio Fallico zusammen, der sich mit der Mittelbeschaffung der Kommunistischen Partei bestens auskannte, und dessen Intesa-Bank (heute Intesa Sanpaolo) eine wichtige finanzielle Stütze von Putins KGB-Kapitalismus blieb. Als der offensichtliche Versuch eines mit Gazprom verbundenen Mittelsmanns, Geld an Berlusconi zu schleusen, vom italienischen Parlament enthüllt wurde, sagten Politiker sowohl aus Berlusconis eigener Partei als auch aus der Opposition dem US-Botschafter in Rom, dass sie glaubten, es sei nicht die einzige Maßnahme des Kreml zur persönlichen Bereicherung Berlusconis. 74

Diese Beziehungen waren schon lange bekannt, doch nun trat Russlands Engagement im Westen in eine wesentlich aktivere Phase ein. Überall in Europa warb Malofejew für eine rechtspopulistische Agenda, eine Rebellion gegen das liberale Establishment. Im Juni 2014 veranstaltete er eine Konferenz rechter Kräfte in Wien, bei der Marine Le Pens Nichte Marion sich unter die Chefs von Österreichs rechter Freiheitlicher Partei und Bulgariens Rechtsaußenpartei Ataka mischte. Auch Serge de Pahlen war dort. 75 Malofejew hatte immer darauf bestanden, dass er als Förderer und Beschützer von Christen keine politischen, sondern ausschließlich religiöse Ziele verfolge. 76 Aber die Spuren seiner Verbündeten fanden sich überall, auch im Zusammenhang mit dem Aufstieg von Syriza, der radikalen Linkspartei, die im Januar 2015 in Griechenland an die Macht gelangte: Durch geleakte E-Mails kam ans Licht, dass der Eurasienphilosoph Alexander Dugin, der mit Malofejew zusammengearbeitet hatte, sie bei Strategie und PR beraten hatte. Malofejew entwickelte außerdem enge Bindungen zur rechten Partei Anexartiti Ellines (Unabhängige Griechen), deren Vorsitzender Panos Kammenos war, ein nationalistischer Aufwiegler, der schließlich das Amt des Verteidigungsministers bekam. 77 Kammenos war ein häufiger Moskaubesucher gewesen, wo er eine tiefe Freundschaft mit Malofejew aufbaute, während sein in Athen ansässiges Institut für Geopolitische Studien eine »Absichtserklärung« unterschrieb, man wolle mit dem einflussreichen Russländischen Institut für Strategische Studien zusammenarbeiten, das wiederum eng mit Natalija Narotschnizkajas Institut in Paris kooperierte und im Grunde genommen ein Zweig des russischen Auslandsgeheimdienstes war. 78

Keine dieser Aktivitäten hörte auf, als die USA und Europa im März 2014 Sanktionen gegen Russland verhängten. Vielmehr beschleunigte und intensivierte Russland seine Anstrengungen, den Westen zu spalten, noch. Beispielsweise wurden die Allianzen in Italien vertieft, wo ein weiterer Geschäftspartner von Malofejew eng mit Gianluca Savoini zusammenarbeitete, einem wichtigen Berater des Chefs der rechten Partei Lega Nord, Matteo Salvini. 79 Gemeinsam gründeten sie den Lombardisch-Russischen Kulturverein, der Kreml-freundliche rechtspopulistische Ansichten zu verbreiten begann und sich dann zum Ziel machte, »ganz Europa zu verändern«. 80 Währenddessen prüfte Savoini Mineralöldeals mit Kreml-nahen Unternehmen, um die Wahlkampagne der Lega Nord zu finanzieren: Zuerst verfolgte er Geschäfte über die recht unbekannte Ölfirma Awangard – die, laut einer Investigativrecherche des italienischen Magazins L’Espresso zufällig dieselbe Adresse besaß wie Malofejews Büro im Moskauer Stadtzentrum. 81 Dann ging es um einen Deal, mit dem der Partei Dutzende Millionen Euro durch Ölverkäufe von Rosneft über einen Mittler des italienischen Energiekonzerns Eni zufließen würden. 82

Diese Deals sollten genauso strukturiert sein wie die einstigen Auslandsfinanzierungsgeschäfte der KGB-gelenkten Kommunistischen Partei. Das Öl sollte zu einem rabattierten Preis über einen Mittelsmann verkauft werden, der Mittler konnte dadurch die Differenz einstecken und die Gewinne (ungefähr 65 Millionen Dollar im Laufe eines Jahres) auf die Konten der Lega Nord weiterleiten, wie BuzzFeed berichtete. »Das ist genau dasselbe Prinzip wie bei den Finanzierungsgeschäften, die wir über die befreundeten Firmen abwickelten«, sagte ein ehemaliger leitender KGB-Beamter, der zu Sowjetzeiten am Ölhandel beteiligt gewesen war. 83

Salvini leugnete, dass diese Pläne jemals umgesetzt wurden. Einer Abschrift der Diskussionen, die bei BuzzFeed veröffentlicht wurden, ist jedoch zu entnehmen, dass sein Berater Savoini deutlich machte, dass das Bündnis, das als Ergebnis des vorgeschlagenen Deals geschmiedet würde, den Dreh- und Angelpunkt einer prorussischen Koalition in ganz Europa darstellen sollte. »Das neue Europa muss Russlands Nähe suchen, denn wir wollen unsere Souveränität«, sagte er. »Wir dürfen nicht von den Entscheidungen der Illuminati in Brüssel oder in den USA abhängig sein. Salvini ist der erste Mann, der ganz Europa verändern will (…) gemeinsam mit unseren Verbündeten«, fuhr er fort und listete dann andere Kreml-freundliche Parteien des rechten Spektrums auf wie die österreichische FPÖ, die deutsche AfD und Marine Le Pens Rassemblement National (wie der Front National seit 2018 heißt) in Frankreich. »Wir wollen wirklich eine große prorussische Allianz mit diesen Parteien bilden.« 84

Statt sich um die Aufhebung der Sanktionen zu bemühen, indem es sich an die vorrangig liberale, regelbasierte Ordnung des Westens hielt, versuchte Putins Russland, sich aus ihnen herauszukaufen. Doch seine Absichten reichten noch viel weiter. Seine Männer strebten danach, ihren eigenen Block in Europa aufzubauen und die politische Landschaft des gesamten Kontinents auf den Kopf zu stellen. Und Politiker aus vielen politischen Gruppierungen vom rechten Rand waren nur allzu empfänglich für das Schwarzgeld und den Einfluss des Kreml. In Österreich sah sich FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache zum Rücktritt gezwungen, nachdem ein Video von einem alkoholgeschwängerten Treffen in einer Villa auf Ibiza geleakt wurde, bei dem er um die politische Unterstützung einer Frau warb, die behauptete, die Nichte eines russischen Gastycoons zu sein. 85 Im Gegenzug für Hilfe bei den Wahlen hatte Strache lukrative staatliche Aufträge angeboten, unter anderem durch die Übernahme der Kronen Zeitung, die auflagenstärkste Tageszeitung Österreichs.

Putin und seine Männer hatten sich schon längst über alle Einwände gegen Russlands Rebellion von westlich gesinnten Wirtschaftsbossen hinweggesetzt. Unmittelbar nach dem Beginn der Sanktionen im März 2014 traf Putin sich hinter verschlossenen Türen mit führenden russischen Industriellen. Einer von ihnen versuchte dem Präsidenten respektvoll zu erklären, dass solche Sanktionen nun, da Russland in einer globalisierten Welt agierte, kein gutes Ergebnis seien. Die Reaktion auf diese Meinungsäußerung war ein Faustschlag auf den Tisch. Putin machte den Anwesenden klar, dass es für ihn keine Rolle spiele, ob ihnen das gefiel oder nicht. »Kein Widerspruch!«, sagte er laut einem Genfer Geschäftspartner eines der Oligarchen, die bei dem Treffen vor Ort waren. 86 Die Tycoons mögen persönlich enttäuscht gewesen sein, aber sie hatten keine andere Wahl, als die Situation zu akzeptieren. In der Euphorie nach der Besetzung der Krim galt Patriotismus mehr als alles andere.

Timtschenko seinerseits soll Freunden zufolge am Boden zerstört gewesen sein, als er sich auf der Liste der US-Sanktionen wiederfand. Er hatte immer davon geträumt, ein internationaler Geschäftsmann zu sein. Er packte seine Sachen in Genf und verließ seine schmucke Villa im vornehmen Cologny am Genfer See. Er fürchtete, in seinen Worten, »Provokationen« der USA, vielleicht sogar eine Festnahme, da das Justizministerium Timtschenkos Geschäfte auf Geldwäsche hin überprüft haben soll. 87 Er wagte es nicht, aus Russland westwärts nach Europa zu gehen, obwohl er dort nicht auf der Sanktionsliste stand. Stattdessen flog er Richtung Osten, nach China, wo er mithilfe von Alain Bionda, dem Genfer Anwalt, der mit Timtschenko und Goutchkoff zusammengearbeitet hatte, begann Verbindungen zur politischen Führung zu knüpfen. 88 Wegen des amerikanischen Herstellers musste sein Gulfstream-Privatjet während der Dauer der Sanktionen am Boden bleiben. (Die Piloten waren nicht in der Lage, die eingebauten Navigationskarten zu nutzen, und das Unternehmen Gulfstream annullierte seine Serviceverträge für das Flugzeug.) 89 Ansonsten lief im Großen und Ganzen alles weiter wie gehabt.

Timtschenkos Einfluss in westlichen Politikkreisen reichte anscheinend so weit, dass er möglicherweise vorab von den US-Sanktionen erfahren hatte. Wenige Tage bevor sie erlassen wurden, arbeitete eine kleine Gruppe bis spät in die Nacht in Biondas Büro im Genfer Finanzdistrikt hastig daran, die Holding eines von Biondas russischen Klienten umzustrukturieren. »Das gesamte Team war da«, sagte einer der Anwesenden. »Der Zigarrenrauch stand im Raum. Einer der Klienten machte sich große Sorgen wegen der Sanktionen. Man hatte ihm mitgeteilt, dass er auf der erweiterten Liste stehe.« 90

Bionda stritt ab, dass diese Aktivitäten irgendetwas mit Timtschenko zu tun gehabt hatten, aber als die Sanktionen am nächsten Tag verkündet wurden, war Timtschenkos Ölhändler Gunvor vorbereitet. Er gab bekannt, dass Timtschenko seinen Unternehmensanteil an seinen schwedischen Geschäftspartner Torbjörn Törnqvist verkauft hatte, wodurch Gunvor trotz der Sanktionen weitermachen konnte. Laut einem von Biondas Geschäftspartnern handelte es sich bei dem Deal um »eine Fronting-Operation«: »Die Banken hatten alle Kreditlinien gestoppt, bis sie diese Ankündigung machten. Das Problem war, dass sie ihre Geschäfte in Dollar abwickelten. Aber sobald sie erklärten, dass sie den Anteil verkauft hatten, verschwanden die Probleme.« 91 (Timtschenko sagte, Bionda sei an der Transaktion nicht beteiligt gewesen und die Verhandlungen hätten begonnen, »lange bevor« die Sanktionen verhängt wurden. Jede Andeutung, es habe sich um eine reine »Fronting-Operation« gehandelt, sei völlig aus der Luft gegriffen.)

Die Sanktionen erschwerten das Leben. Konten wurden in China und Hongkong eröffnet. Umstrukturierungen wurden vorgenommen. Jean Goutchkoff trat still und leise von seinem Posten als Vorstand des Privatkundengeschäfts bei der Genfer Société Générale zurück, anscheinend befürchtete er genauere Untersuchungen seiner Beziehung zu Timtschenko. 92 »Heute bedeuten Verbindungen dieser Art ein Risiko«, sagte einer seiner Geschäftspartner. 93 Die Sanktionen beendeten jedoch nicht die Geschäftstätigkeit oder die gezielte Einflussnahme der Genfer Geldmänner. Bionda beispielsweise hatte sich immer gern mithilfe der Beteiligung einer seiner Firmen am Lotus-Formel-1-Team bei Giganten der globalen Energiewirtschaft eingeschmeichelt. »Wenn du in Shanghai oder Singapur bist, ist es toll für die Manager aus der Ölindustrie, mit ihren Geliebten dorthin zu kommen. Dafür ist es gut«, sagte einer der Genfer Geldmänner. 94 Nach dem Ende der Sanktionen lenkte einer von Biondas Kontakten Geld auf die Konten der britischen Conservative Party.

Über seine Kontakte zu Timtschenko und Goutchkoff hatte Bionda lange an der Schnittstelle von russischem Geld und Einfluss gestanden. Von seinem Büro am Place du Port Nummer 1 aus, dem Tor zu Genfs Finanzdistrikt, verwaltete er seinen Anteil an einer Firma namens Genii Energy. Sein Partner bei Genii und beim Lotus-Formel-1-Team war ein Spanier namens Gerard López, der seine erste Milliarde durch eine Investition in Skype gemacht hatte und ein enger Freund des russischen Präsidenten wurde. Mit ihm verbrachte er Zeit in dessen Sommerresidenz, verfütterte dort Äpfel an die Haustiere und lauschte Live-Klaviermusik. 95 Eine andere Firma, in die López investiert war, Rise Capital, bekam bald darauf russische Staatsaufträge in Milliarden-Dollar-Höhe. Als Großbritannien im Juni 2016 vor dem Referendum über seine EU-Mitgliedschaft stand, spendete López überraschend 400 000 Pfund an die Konservativen. Fragen wurden hierzu keine gestellt. 96

Es war Teil der Ströme russischen Geldes, das in die britische Politik geflossen war, darunter das von zwei prominenten Männern mit engen KGB-Verbindungen, die ebenfalls große Summen an die Tories spendeten. Einer von ihnen war Alexander Temerko, der redselige ehemalige Jukos-Großaktionär, der sein Geschäftsleben an der Spitze der staatlichen russischen Waffenindustrie begonnen hatte. Nachdem er zunächst in Russland geblieben war, um mit dem Kreml zu verhandeln, während die anderen Jukos-Eigner flohen, hatte er 2011 die britische Staatsbürgerschaft erworben und mehr als 1 Million Pfund in die Kassen der Konservativen gespült. Er stellte sich als Kritiker des Putin-Regimes dar, privat lobte er jedoch weiterhin leitende Mitglieder der russischen Sicherheitselite, darunter den mächtigen Chef des Sicherheitsrats, Nikolai Patruschew. Er lud Granden der Konservativen zu üppigen Abendessen ein und knüpfte eine enge Beziehung zu Boris Johnson, der die Brexit-Kampagne anführte. Öffentlich behauptete er, gegen den Brexit zu sein, aber privat feierte er die Initiative gelegentlich als »eine Revolution gegen die Bürokratie«. Außerdem waren all seine Verbündeten prominente Brexit-Befürworter. Ehemalige Geschäftspartner sagten, er hätte bereits seit Langem bestehende Verbindungen zu den russischen Sicherheitsbehörden. Leonid Newslin, der ehemalige Hauptanteilseigner von Jukos, sagte, Temerko sei ursprünglich wegen seiner Kontakte im »Föderalen Sicherheitsdienst und im Verteidigungsministerium« zu Jukos geholt worden, und ergänzte, Temerko kenne Patruschew »gut«. 97

Hauptsächlich schienen die russischen Aktivitäten jedoch auf britische Geschäftsleute abzuzielen, die aus dem Nichts aufgetaucht waren, um sich maßgeblich an der Finanzierung der Brexit-Kampagne zu beteiligen. Einer von ihnen war Arron Banks, ein schriller Millionär, der sein Vermögen anfänglich in der Versicherungsbranche gemacht und seine unternehmerischen Tätigkeiten dann auf südafrikanische Diamantminen ausgeweitet hatte. Banks’ Frau war in den späten Neunzigern als junge Russin mit einem Studierendenvisum nach Großbritannien gekommen und war, nachdem ihre erste Ehe mit einem pensionierten Soldaten der Handelsmarine, der mehr als doppelt so alt war wie sie, Misstrauen geweckt hatte, nur knapp einer Abschiebung entronnen. 98 (Nachdem die Sicherheitspolizei kurz gegen sie ermittelt hatte, kaufte sie sich das Autokennzeichen »XMI5 SPY«.) Banks war mit einer Spendensumme von 8,4 Millionen Dollar der größte finanzielle Unterstützer der Leave.EU-Kampagne. Laut einer parlamentarischen Untersuchungskommission, die sich mit dem Referendum befasste, hatte er jedoch nie deutlich gemacht, woher das Geld stammte. Die Kommission reichte den Fall an die Kriminalpolizei weiter, weil sie der Meinung war, es bestehe Grund zu der Annahme, dass Banks nicht die »wahre Quelle« des Geldes sei. Die Ermittler blieben ohne Erfolg und gaben an, es habe keine Hinweise auf Gesetzesverstöße gegeben. 99 Banks hatte die Mittel zusammenbekommen, indem er 6 Millionen Pfund von einer auf der Isle of Man registrierten Firma namens Rock Holdings Ltd. lieh, deren Mehrheitseigner er war – ein Kredit, der Banks nach Polizeiangaben rechtmäßig zustand.

Doch sowohl die Kommission als auch Transparency International kritisierten die Ermittlungen scharf: Sie demonstrierten die »Schwäche« der britischen Gesetze, die den Weg für Spenden aus dem Ausland in die britische Politik freimachte. 100 Banks hat wiederholt vehement abgestritten, irgendwie geschäftlich mit Russland verbandelt zu sein. Die Spekulationen hatten erst begonnen, nachdem geleakte E-Mails offenlegten, dass er sich in den Monaten vor dem Referendum mit hochrangigen russischen Diplomaten getroffen und eine Reihe lukrativer Deals in Russland angeboten bekommen hatte, die er nach eigener Aussage jedoch nicht verfolgt habe. 101

Während die ursprüngliche Quelle des Rock-Holdings-Geldes möglicherweise nie bestimmt werden wird, hatte Banks’ wichtigster Geschäftspartner seine eigenen Beziehungen. Jim Mellon, neben Banks Eigentümer der weitläufigen Manx Financial Group (Banks’ Anteil wurde über Rock Holdings verwaltet), war Gründer eines Investmentfonds, der Hunderte Millionen Dollar angehäuft hatte, indem er in den Neunzigern an der russischen Börse investierte. In jüngerer Zeit hielt Mellon immer noch einen Anteil von 20 Prozent an einem anderen Fonds mit Russlandfokus, Charlemagne Capital, der bis Ende 2016 eng als Co-Investor mit dem Staatsfonds des Kreml zusammengearbeitet hatte. 102

Die Zeichen standen auf Spaltung, und Europa befand sich vor seiner turbulentesten Zeit seit dem Ende des Kalten Krieges.

*

Als wir uns trafen – in Sankt Petersburg und Moskau und später in London, wo sein Sohn die britische Staatsbürgerschaft erworben hatte –, stellte Wladimir Jakunin sich und die Putin-Regierung gern als Kämpfer für konservative Werte dar, die im Westen im Zuge der fortschreitenden Globalisierung verlorengegangen seien. Er gab den jovialen Patrioten, der zufällig mit einem Großteil des Westens uneins war.

Eines unserer ersten Treffen fand im Juni 2013 statt, kurz nachdem das vom Kreml gesteuerte russische Parlament ein Gesetz verabschiedet hatte, das die Verbreitung von »Propaganda über nichttraditionelle sexuelle Beziehungen« unter Kindern und Jugendlichen verbot. Das Gesetz rief überall in Europa Kritik hervor, weil es Russlands ohnehin schon tiefsitzende Homophobie verschärfen würde: Schwule wurden regelmäßig verprügelt, und später in Tschetschenien wurden sie gejagt, festgenommen und gefoltert. Aber Jakunin war stolz auf das Gesetz und behauptete, viele europäische Politiker hätten ihm im Vertrauen gesagt, sie hätten gern ähnliche Verordnungen in ihren Ländern. »Vertreter französischer Organisationen, die gegen das Gesetz zur gleichgeschlechtlichen Ehe demonstrierten, sagten mir, sie betrachteten Russland als das einzige Bollwerk, das diese Verkommenheit noch stoppen könne«, erzählte er. »Sie erwarteten nicht, dass ihre Aussagen an Putin weitergegeben würden. Sie erwarteten keine Belohnung. Sie erzählten bloß von ihrer Verzweiflung. Ich bin häufig in Griechenland. Heute gibt es praktisch keinen Griechen mehr, der, wenn er erfährt, dass du Russe bist, nicht sagt: ›Wir zählen auf euch, dass ihr die Orthodoxie verteidigt.‹ Und wenn ich mich mit westlichen Partnern und Politikern treffe, sagen sie, Russland sei heute objektiv die führende positive Kraft, die dafür sorgen könne, dass die Menschheit nicht in den Abgrund stürzt. Das ist keine Putin-Schmeichelei, sondern die reine Feststellung einer Tatsache.« 103

Diese angebliche Verteidigung von »Familien«-Werten gegen die Toleranz und den Liberalismus des Westens wurde zum Leitmotiv von Putins Regierung, als sie die Unterstützung rechter Nationalisten und Konservativer in Russland, Europa und den Vereinigten Staaten suchte. Jakunin war einer der ersten KGB-Männer aus Putins Umfeld, die demonstrativ zum russisch-orthodoxen Glauben konvertierten, nachdem sie den Hauptteil ihrer beruflichen Laufbahn damit verbracht hatten, den offiziell atheistischen sowjetischen Staat zu verteidigen. Seine Sankt-Andreas-Stiftung gab viel Geld für die Restauration russisch-orthodoxer Klöster und Außenposten des Kirchenimperiums aus. Konstantin Malofejew behauptete ebenfalls, christliche Werte gegen die Verdorbenheit des Westen zu verteidigen, und er und Jakunin taten sich zusammen, um im September 2014 in Moskau eine Veranstaltung im Rahmen des World Congress of Families abzuhalten, einer obskuren, in den USA beheimateten homosexuellenfeindlichen Organisation, die enge Kontakte zu Amerikas mächtiger evangelikaler Bewegung pflegte. 104 Malofejew erklärte auf der Versammlung, die trotz der aktuellen US-Sanktionen stattfand und an der prominente Mitglieder des Front National und der FPÖ teilnahmen, dass die Welt Zeugin »eines nie dagewesenen Triumphes der Orthodoxie« sei und Russland eine Bastion, die christliche Werte gegen den Säkularismus des Westens verteidige. 105

Ein großer Teil dieses neuen religiösen Eifers war in Wahrheit nichts als ein Deckmantel. In Russland war die Verbindung von Kirche und Staat nur ein weiteres Element der Erosion jeglichen demokratischen Rests; die Hinwendung der herrschenden Elite zum orthodoxen Christentum erlaubte ihr, weiter hart gegen jeden vorzugehen, der außerhalb ihres Systems operierte. »Ich nenne sie die orthodoxen Taliban«, sagte Ljudmila Narussowa, die Witwe von Putins einstigem Mentor Anatoli Sobtschak. »Das ist die Rückkehr zu einer Art Mittelalter. Sie benutzen die Religion, um die Verfassung und die fundamentalen Rechte der russischen Bürger zu untergraben.« 106

Jakunin und die anderen Männer aus Putins innerstem Zirkel hatten diese Vorgehensweise seit Langem verinnerlicht. Als Jakunin im KGB begann, tat er das in der Abteilung zur Bekämpfung von Dissidenten, Homosexuellen und allen Andersdenkenden. 107 Nun verwendeten sie dieselben Methoden, um die westliche Politik zu infiltrieren. Der World Congress of Families war eines der Vehikel, das Putins Leuten die Kontaktaufnahme zu US-amerikanischen Rechtskonservativen ermöglichte. Jakunin baute außerdem eine Beziehung zu Dana Rohrabacher auf, einem republikanischen Kongressabgeordneten, der für seine Putin-freundlichen Positionen bekannt wurde, 108 während Malofejew und Serge de Pahlen durch die Pro-Life-Bewegung eine Verbindung mit Rand Paul knüpften, dem republikanischen Senator, dessen Vater, Mitglied der Libertarian Party, einst die Tea-Party-Bewegung inspirierte. 109

Diese Taktiken stammten, wieder einmal, direkt aus dem Skript aus Sowjetzeiten, als der KGB die amerikanische Anti-Atomkraft-Bewegung und die Proteste gegen den Vietnamkrieg unterwanderte. Doch nun appellierten Putins Verbündete an den niederträchtigsten Populismus, an Vorurteile gegenüber Immigranten und Minderheiten. Es war eine verführerische Botschaft für viele, die sich in der Hektik der Globalisierung und des Multikulturalismus zurückgelassen fühlten und nach vermeintlich einfacheren Zeiten zurücksehnten – eine deutlich gewachsene Gruppe, seit die Finanzkrise 2008 die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert hatte.

Doch selbst Jakunin musste zugeben, dass das, was er als »Kampf der Zivilisationen« bezeichnet hatte, in Wahrheit nicht viel mehr als eine ideologische Tarnkappe für dasselbe alte Ringen gegen den Westen um die geopolitische Vorherrschaft war, das seit Beginn des Kalten Krieges stattfand. »Was vorher ein Konflikt zwischen zwei Ideologien war, der kommunistischen gegen die kapitalistische, (…) ist heute einer zwischen Ideen einer traditionellen humanistischen Gesellschaft und dem absoluten Materialismus. Ich werde Ihnen nicht widersprechen«, sagte er, »dies ist in der Tat ein Kampf, den Russland nutzt, um seine globale Position wiederherzustellen. Natürlich ist der Streit um Ideen immer auch eine Form der Staatspolitik und sollte ein konkretes Ziel verfolgen. Aber ich möchte noch einmal zu Putins Münchener Rede zurückkehren«, sagte er, nicht imstande, nicht auf den Moment im Jahr 2007 zu verweisen, an dem Putin zum ersten Mal die tiefen Frustrationen seines KGB-Clans mit dem Westen herunterbetete: die Expansion der NATO bis an Russlands Grenzen, das Raketenabwehrsystem in Rumänien und Polen und die Reihe von Farbenrevolutionen, aufgrund derer die ehemaligen Sowjetrepubliken sich zum Westen hin orientierten. »Putin sprach damals offen über das, was Russland Sorgen bereitete. Er hat es nicht versteckt. Er hat nicht den russischen Geheimdienst überallhin geschickt. (…) Er stellte sich hin und sagte: ›Leute, das ist es, was uns Sorgen macht. Das ist ungerecht.‹ Und danach machten sie ihn zum Außenseiter. Sie wiesen ihn ab. Verstehen Sie?« 110

Das war die Erklärung für Russlands zunehmende Aktivität, die Motivation hinter den Bemühungen des Kreml, im Westen Spaltung und Chaos hervorzurufen, die Weltordnung nach dem Kalten Krieg zu zerstören. Putin hatte für Russland einen Platz am Tisch der globalen Sicherheit verlangt und fühlte sich nun auf ganzer Linie ignoriert. Während Barack Obama auf Dmitri Medwedew zugegangen war, hatte die US-Regierung sich von Putin und seinen Männern aus den Sicherheitsbehörden während dessen zweiter Präsidentschaft distanziert, als hoffte sie, sie so in die Vergangenheit verbannen zu können. Und Putin glaubte, die USA wären daran beteiligt gewesen, die Proteste gegen ihn nach seiner zweiten Machtübernahme anzustacheln.

Putin hatte in seiner Münchner Rede gewarnt, der Westen solle den Aufstieg der Schwellenländer Russland, Indien und China zur Kenntnis nehmen. Der Westen hatte Russlands Wirtschaft immer als ressourcenbasierten, hoffnungslosen Fall betrachtet, unfähig, dieselben Produktivitätssteigerungen wie er selbst zu erzielen. Russland durch diese Linse zu betrachten, bedeutete jedoch, die kurzfristigen Ambitionen von Putins Geheimdienstlern zu übersehen. Das wirtschaftliche Wohlergehen der Menschen in ihrem Land war ihnen nicht sonderlich wichtig, solange die Wirtschaft stabil genug war, sodass sie die Macht behalten konnten – und sie der ganzen Welt diese Macht vorführen konnten. Russlands Bruttoinlandsprodukt betrug nun 1,6 Billionen Dollar, und die Hälfte – oder mehr – davon hatten Putins KGB-Männer auf Offshore-Bankkonten geparkt.

Dies war ein Punkt, den Jakunin ab und zu gern deutlich machte, wenn auch ein wenig subtiler. Er erzählte beispielsweise eine Geschichte, wie Putin in den Anfangstagen seiner Präsidentschaft und sein innerer Zirkel sich mit Zbigniew Brzeziński, dem nationalen US-Sicherheitsberater zur Zeit des Kalten Krieges, trafen, der mit einem bedauernden Kopfschütteln die Milliarden Dollar der russischen Elite auf Überseekonten erwähnte. Brzeziński fragte, um wessen Elite es sich denn handle, wenn sich all das Geld auf Konten im Westen befinde, womit er sagen wollte, dass nun der Westen sie in der Hand habe. Solche Kommentare des Kalten Kriegers hatten die Russen aufgebracht. Doch nun, sagte Jakunin gelassen, »haben sich die Bedingungen geändert«. 111 Dieses Geld kontrollierten nun hauptsächlich Putins Männer.

Einige Kommentatoren haben vermutet, das Leaken der Panama Papers mit den Details über Putins vetternwirtschaftlich gemanagte Bankkonten sei der Grund gewesen, weshalb Putin begann, sich in die westliche Politik einzumischen. Doch das traf nicht den Kern. Der Kampf von Putins KGBlern gegen den Westen hatte sich schon lange zusammengebraut. Er war schon vor dem Kollaps der Sowjetunion vorbereitet worden, als Teile des KGB sich bemühten, ihre Netzwerke nach dem Übergang zur Marktwirtschaft zu erhalten, und verschiedenen Fraktionen halfen, Putins Aufstieg an die Macht zu planen und zu unterstützen.

»Bush verkündete den Sieg des Westens im Kalten Krieg, und das war’s«, sagte Jakunin. »Und sie entschieden, wenn sie die Sieger sind, könnten sie die Vorgaben machen. Plötzlich stellte sich jedoch heraus, dass nicht alle bereit sind, nach dieser Ordnung zu leben. Putins Anstrengungen wurden kurzerhand zurückgewiesen. Heute ernten wir nun alle die Früchte dieser kurzsichtigen westlichen Politik.« Die Sanktionen, die der Westen Russland nach dessen Einmarsch in die Ukraine auferlegt hatte, hätten den Konflikt nur verschärft und beschleunigt, sagte er. »Sie kennen die Russen gut. Wir können faul sein, wir können betrunken sein. Wir können uns selbst Verletzungen zufügen, bis wir bluten. Aber sobald eine Bedrohung von außen kommt, verlangt unser genetisches Erbe, egal ob wir jung sind oder alt: Verteidige dich. Die Sanktionen haben stärker dazu beigetragen, die russische Gesellschaft zusammenrücken zu lassen als alle Informationskampagnen des Kreml. Warum sollten wir uns zurücklehnen und uns abwischen, wenn man uns anspuckt? Das Verhängen der Sanktionen war eine Kriegserklärung.« 112

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Russland stürzte sich tiefer in einen Konflikt mit dem Westen hinein, und manche in der Obama-Regierung wurden zunehmend besorgt über das, wozu Putins Regierung in der Lage war. Eine der lautesten Stimmen war damals Vizepräsident Joe Biden, der davor warnte, dass der Kreml inzwischen die Fähigkeit besitze, loyale Oligarchen dazu zu bringen, geopolitische strategische Operationen durchzuführen, und Korruption nutzte, um demokratische Regierungen zu schwächen. »Korruption ist das neue Werkzeug ihrer Außenpolitik«, sagte Biden. »Und sie ist praktisch und nützlich in den Händen einer Nation, die spalten will, und von Oligarchen, die auf ihr Wort hören. Sie ist wie das Kryptonit einer funktionierenden Demokratie. (…) Die Risiken sind sowohl strategischer als auch wirtschaftlicher Art, da Russland und andere Staaten Korruption und Oligarchen als Instrumente zur Nötigung nutzen.« 113

Westliche Russlandexperten erlebten ein schrittweises Erwachen. Die ersten echten Weckrufe über die wahre Natur der Putin-Regierung erreichten das US-Justizministerium und das FBI im November 2006 mit dem qualvollen Poloniumtod von Alexander Litwinenko, einem ehemaligen FSB-Agenten aus dem Umfeld von Boris Beresowski, und dann durch spanische Ermittlungen gegen die russische Mafia, an denen Litwinenko beteiligt war. Dort hoben die Fahnder mit seiner Hilfe einen russischen Geldwäschering aus. Führende Mitglieder der Tambow-Mafia, mit der Putin zu seinen Petersburger Zeiten eng zusammengearbeitet hatte, waren darin involviert.

Was sie aufdeckten, unter anderem durch Mitschnitte von Telefonaten zwischen verschiedenen Bandenmitgliedern, war unglaublich. Die Anführer der Gruppe, zu denen Gennadi Petrow gehörte, ein ehemaliger Anteilseigner der Bank Rossija, standen in regelmäßigem Kontakt mit leitenden Beamten der russischen Strafverfolgungsbehörden. Mit einem Anruf dort konnte eine russische Ermittlung, die ihnen zu sehr auf den Pelz rückte, abgewendet werden, ein weiterer Anruf konnte helfen, Druck auf Zollbeamte auszuüben, damit sie Schiffsladungen in den Petersburger Hafen durchwinkten, der nach wie vor ein Tor für Drogenlieferungen an den Westen war. Bestechung hochrangiger Ermittlungsbeamter sorgte dafür, dass Rivalen festgenommen wurden und belastende Beweise aus Regierungsdatenbanken verschwanden, während Petrow kontinuierlich im Austausch mit dem russischen Verteidigungsminister stand, der ebenfalls aus Sankt Petersburg stammte. 114

Russland, so der spanische Ermittler, der die Untersuchungen leitete, gegenüber seinen Kollegen im US-Verteidigungsministerium, sei »faktisch ein Mafiastaat«. 115 Die Allianz, die im Bürgermeisteramt von Sankt Petersburg begonnen hatte, hatte ihren Einfluss auf ganz Russland ausgeweitet, und die organisierte Kriminalität war mit den höchsten Ebenen der Sicherheitsbehörden verstrickt. Zu den Aktivitäten der Tambow-Gruppe in Spanien zählten Drogenhandel und Waffenschmuggel: Der dortige Stützpunkt war notwendig, um die schwarzen Kanäle des Waffenhandels nach Syrien und in den Iran zu überwachen, erklärte der ehemalige Militärgeheimdienstler Anton Surikow. 116

Die zunehmende Besorgnis über die Verschmelzung des organisierten Verbrechens mit den höchsten Regierungsebenen in Russland fiel zusammen mit einem wachsenden Bewusstsein für russische Geheimdienstaktivitäten im Westen. 2010 nahm das FBI zehn russische Staatsbürger fest, die es beschuldigte, Agenten des russischen Geheimdienstes zu sein, darunter die rothaarige Femme fatale Anna Chapman, die ein Onlinemaklerbüro in New York führte und gleichzeitig Kontakt zu politischen Spitzenbeamten suchte. Acht von ihnen wurden angeklagt, unter extremer Geheimhaltung als »Illegale« agiert und sich Tarnidentitäten zugelegt zu haben, mit denen sie ein scheinbar normales amerikanisches Leben führten. Die Aktivitäten dieses Spionagerings wurden von vielen Kommentatoren abgetan, die meinten, sie würden höchstens beweisen, wie sehr die Fähigkeiten des russischen Auslandsgeheimdienstes seit dem Ende des Kalten Krieges nachgelassen hätten. Aber für ehemalige westliche Geheimdienstmitarbeiter war die Affäre ein Zeichen dafür, dass die Netzwerke des russischen Auslandsgeheimdienstes quicklebendig waren. Die Gruppe, die sie festnahmen, sei nur die »Spitze des Eisbergs«, sagte einer von ihnen. 117 »Die Zahl der Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes in den USA ist viel höher, als alle geglaubt haben«, bekräftigte ein anderer. 118

Doch die Obama-Regierung entschied sich, viele Bedenken der Experten beiseitezuwischen. Sie war nach wie vor entschlossen, auf den Neustart der Beziehungen zu Russland zu setzen, der während Medwedews Amtszeit als Präsident begonnen hatte. »Das Interesse an einem Neuanfang war groß«, sagte Frank Montoya Jr., damaliger Chef der Spionageabwehr des FBI. »Das lag teilweise daran, dass man glaubte, durch Medwedew Einfluss gewinnen und die Welt dadurch verändern zu können.« 119

Als Vizepräsident Joe Biden 2015 seine Warnungen aussprach, stellte sich bald heraus, dass die Gefahr für die Einheit des Westens viel größer war, als er vermutet hatte. Die Schwächen des westlichen politischen Systems hatten die Gesellschaft geprägt. Zunehmende Ungleichheit und die Sparpolitik nach der Finanzkrise 2008 hatten den Westen für Russlands aggressive neue Taktik, die rechten und linken Ränder aufzuheizen, geöffnet. »Wir beobachteten ein neues Selbstbewusstsein in Georgien, auf der Krim und in den baltischen Staaten«, sagte Montoya. »Man machte sich große Sorgen, dass sie sich gegen uns wenden könnten. Doch die Befürchtungen wurden ausgeblendet, weil sie das noch nie getan hatten. Und dann explodierte es plötzlich.«

Als Großbritannien am 24. Juni 2016 erwachte und das schockierende Ergebnis des Referendums lautete, dass eine Mehrheit für den Austritt aus der Europäischen Union war, geriet die Weltordnung nach dem Kalten Krieg auf bisher unbekanntes Terrain. In den USA zeichnete sich ab, dass auch die bevorstehende Präsidentschaftswahl eine Abstimmung über die etablierte Ordnung sein würde. Ein weitverbreitetes Gefühl, dass die herrschende Elite das amerikanische Herzland und die Arbeiterklasse zurückgelassen und vergessen habe, hatte den Weg freigemacht dafür, dass ein Promi-Immobilienmogul der führende Kandidat der Republikaner werden konnte. »Wenn Donald gewinnt, begräbt er die EU«, sagte Alexander Temerko, der ehemalige russische Waffenmagnat, der Verbindungen zu den tonangebenden Mitgliedern der Pro-Brexit-Kampagne in Großbritannien pflegte. »Das war’s dann für das transatlantische Bündnis.« 120