EPILOG

SISTEMA

Stellte Putins Russland über seine Grenzen hinaus eine zunehmende Bedrohung für die liberale Ordnung des Westens dar, so schienen die Strukturen des KGB-Kapitalismus gleichzeitig von innen zu verkalken und nicht mehr aufrechtzuerhalten zu sein. Die Mafiamethoden der engmaschigen Kontrolle und Korruption durchdrangen jeden Winkel der Gesellschaft, jede politische Entscheidung und jeden Geschäftsabschluss. Nach dem Einsatz gegen Jukos und der Verhaftung von Michail Chodorkowski hatte sich die Macht der Sicherheitsleute derart ausgeweitet, dass der FSB Material über Druckmittel für nahezu jeden Geschäftsmann und jeden Regionalpolitiker verfügte, auch für diejenigen, die relativ weit unten in der Nahrungskette standen. Es war ein System rivalisierender Clans – darunter sogar die verschiedenen Zweige der Strafverfolgungsbehörden –, die um Stücke vom russischen Wohlstandskuchen stritten und in dem man, um zu überleben, kooperieren musste. Diejenigen, die rebellierten, landeten im Gefängnis.

Das Beispiel eines Bürokraten relativ weit unten in der Hierarchie veranschaulicht die Funktionsweise des Systems. Im Gegensatz zu Tausenden anderen, die spurlos verschwanden, nachdem sie in Untersuchungshaft genommen wurden, konnte dieser Bürokrat vernichtende Beweise veröffentlichen, die belegten, dass die korrupten Verflechtungen der Sicherheitsbehörden mit der organisierten Kriminalität selbst über geringste Fragen in den regionalen Verwaltungen entschieden. Die Spur, die er offenlegte, führte zu dem FSB-General, der mit Felix Saters Freund Jewgeni Dwoskin bei den Schwarzgeldbetrügereien zusammengearbeitet hatte.

Alexander Schestun war der Vorsitzende der Bezirksverwaltung von Serpuchow, eines kleinen, ländlichen Distrikts etwa hundert Kilometer südlich von Moskau. In Russlands rauem Neunzigerjahrekapitalismus wurde er als hartgesottener Baumaterialhändler erfolgreich und stieg zu einem der reichsten Geschäftsmänner in der Gegend auf, ein großer Fisch in einem kleinen Teich. 1 Seit seiner Wahl zum Chef der Bezirksverwaltung 2003 hatte er sich alle Mühe gegeben, seine Treue zu Putins Staat unter Beweis zu stellen. Er trat der Pro-Kreml-Partei Einiges Russland bei und arbeitete eng mit dem FSB zusammen. Schestun war das, was der FSB als »Torpedo« bezeichnete. Er war bereit, heimlich Gespräche mit regionalen Geschäftsleuten und Beamten aufzunehmen, um dem FSB belastendes Material zu liefern, mit dem dieser Rivalen aus dem Weg räumen konnte. Es handelte sich dabei fast um eine Kopie des sowjetischen Informantensystems, in dem Bürger Geschichten über ihre Nachbarn erzählten, um sich mit den Behörden gutzustellen und nicht ins Gefängnis zu wandern, nur dass es jetzt hundertmal ausgefeilter war.

Schestuns Arbeit hatte sich für den FSB als extrem wertvoll erwiesen; er half, dessen Vormachtstellung zu erhalten, indem er ihm Informationen über einen Ring lokaler Staatsanwälte zuspielte, die ein illegales Casinogeschäft betrieben. 2 Als 2013 jedoch ein neuer mächtiger Gouverneur der Moskauer Region ernannt wurde, waren seine Tage als Distriktleiter gezählt. Der neue Gouverneur war der ehemalige Stellvertreter des Verteidigungsministers Sergej Schoigu. Putins enger Verbündeter Gennadi Timtschenko hatte in das Unternehmen seiner Familie investiert, und er wollte die hochwertigen Immobilien, die Schestun kontrollierte, für sich selbst. Als sich Schestuns Amtszeit als Bezirkschef dem Ende näherte, eröffnete der FSB ein Ermittlungsverfahren gegen ihn, es ging um den Kauf des Grundstücks, auf dem er sein Haus gebaut hatte. Doch anstatt sich nun dem Unvermeidlichen zu beugen, wehrte Schestun sich. Als Iwan Tkatschew, der FSB-General, mit dem er früher kooperiert hatte, ihn im Zusammenhang mit dem Fall zu erpressen begann, nahm Schestun ihre Gespräche auf und lud später einige von ihnen bei YouTube hoch.

Tkatschew war der Leiter des mächtigen FSB-Direktorats K, das offiziell Wirtschaftskriminalität bekämpfen sollte, in Wahrheit aber viele der Schwarzgeldstrukturen beaufsichtigte. Einem ehemaligen hochrangigen Bankier zufolge, der Jewgeni Dwoskin kannte, hatte er bei den Schwarzgeldtransfers eng mit Dwoskin und Iwan Mjasin zusammengearbeitet. 3 Schestun berichtete später, er habe Tkatschew häufig in Dwoskins Firma und mit einem anderen Banker zusammen gesehen, der die dazugehörigen Geldwäschekanäle managte, über die Dutzende Milliarden Rubel auf westliche Konten geschleust wurden. 4 Tkatschew hatte seine Position außerdem genutzt, um eine Untersuchung des Innenministeriums zu einigen dieser Kanäle zu verhindern. Als 2014 zwei Fahnder, Denis Sugrobow und Bors Kolesnikow, der Sache zu nahe kamen, organisierte Tkatschew ihre Verhaftung. Kolesnikow stürzte in der Haft von einem Balkon in den Tod.

Auf einer der von Schestun veröffentlichten Aufnahmen nehmen Tkatschew und ein leitender Beamter auf das Schicksal des Polizisten Bezug, als sie versuchen, Schestun dazu zu zwingen, sein Amt aufzugeben. »Sie wollen doch in Ruhe gelassen werden«, drohte Tkatschew. »Die Angelegenheit wurde dem Präsidenten vorgebracht. Der Leiter des FSB, der Leiter der Präsidialverwaltung, sie alle haben darüber gesprochen. Wenn Sie Ärger machen, werden Sie von denen mit einer Dampfwalze überfahren. Haben Sie nicht mitbekommen, was mit Kolesnikow passiert ist? (…) Wozu brauchen Sie das? Wozu brauchen Sie, Ihre Frau oder Ihre Kinder solche Probleme? Sie werden Sie ins Gefängnis stecken, und dort werden Sie sitzen, so lange wie die wollen. Das muss Ihnen klar sein.« Dann sagte er ihm, er habe bereits eine Reihe weitaus mächtigerer Regionalgouverneure hinter Gittern gebracht, die sich gegen ihre Absetzung gewehrt hatten, und zählte sie einen nach dem anderen auf. »Denken Sie an Udmurtia – er war der Zar und Gott dort. Denken Sie an Mari El, ebenfalls ein Zar und ein Gott. Sachalin in Wladiwostok – er war der Coolste, aber ich habe ihn mit meinen eigenen Händen rausgetragen. Ich habe mit allen Gouverneuren zusammengearbeitet, mit allen regionalen Chefs.« 5

Tkatschew erklärte Setschun, er habe eine größere Überlebenschance, wäre er mit der organisierten Kriminalität in Konflikt geraten statt mit Putins Staat: »Sie sind ein ganz normaler Typ. Sie sind kein Verräter. Sie konnten immer einstecken. Aber nun sind Sie wirklich unter die Räder gekommen. Es wäre besser für Sie, wenn Sie mit Banditen aneinandergeraten wären.« 6 In jedem Fall, sagte er ihm, stehe Putin in Kontakt mit Sergej Lalakin, auch bekannt unter dem Namen Lutschok, dem Anführer einer lokalen Gruppe des organisierten Verbrechens. »Der Präsident redet mit ihm. Er hat eine Medaille bekommen. Wie könnte er nicht mit ihm reden? So ist das Leben, verstehen Sie?« 7

Es war ein System, so ein Kreml-Insider, das sich eigentlich nicht mehr aufrechterhalten ließ. 8 Der Erfolg von Putins außenpolitischen Heldentaten hatte den Präsidenten weit über den Rest seines innersten Zirkels erhoben. Doch nun eskalierten die internen Machtkämpfe unter seinen Sicherheitsleuten. Die aufgrund der westlichen Sanktionen schwächelnde Wirtschaft führte zu einem noch erbitterteren Kampf um die Kontrolle über Ressourcen und Vermögen. Igor Setschin, flüsterte der Kreml-Insider, gewann rasch an Macht. Zügig und ohne großes Aufheben war er in einen der höchsten Ränge im FSB gelangt, den eines Generaloberst, und hatte seine eigenen Gefolgsleute, die seine Befehle ausführten, mit leitenden Posten im FSB versorgt.

Der einst so mächtige Chef der Russischen Eisenbahngesellschaft und Putin-Verbündete Wladimir Jakunin schien dagegen in Schwierigkeiten geraten zu sein. Seine engen Geschäftspartner wurden verhaftet. Ein russischer Tycoon spekulierte, dass sie nur eine Unterschrift von einer Aussage gegen Jakunin selbst entfernt waren. 9 Gleichzeitig durchdrang die Korruption jeden Bereich des Systems, bis hin zu dunklen Geschäften mit aufgeblähten Preisen bei der Versorgung von Putins persönlichen Sicherheitskräften, der Nationalgarde, mit Wurst und anderen Lebensmitteln. 10

Angesichts der zunehmenden Skrupellosigkeit und Russlands sich verschärfender Isolation hätten »diejenigen, die sich Sorgen darüber gemacht hatten, was der Westen denken könnte, längst damit aufgehört«, sagte der Tycoon. »Jetzt ist es nur noch ein Kampf ums Überleben.« Eine leitende Moskauer Richterin, die früher zumindest versucht hatte, den Anschein zu erwecken, Recht und Gesetz aufrechtzuerhalten, sei schon lange vom System verschluckt worden. Ihre Tochter verdiene ein enormes Gehalt bei Rosneft, dem staatlichen Ölgiganten, und sie würde nichts tun, um das zu gefährden. »Diese Leute haben sich verändert«, sagte der Tycoon. »Es ist, als hätte die Richterin Blut geleckt. Sie ist ganz und gar Teil des Systems. Nun denken diese Leute nur noch darüber nach, wie sie härter und gemeiner als alle anderen auftreten könnten.« 11

Russische Offizielle schienen sich so wenig um westliche Investitionen zu scheren, dass sie im Februar 2019 sogar einen der wenigen in Russland verbliebenen westlichen Investoren, Michael Clavey, verhafteten, die Werte in seinem Fonds einfroren und sie so bereit machten zur Übernahme durch Putins Männer.

Gleichwohl: Die Sanktionen, die internen Machtkämpfe und der nahezu monopolistische Einfluss von Putins Leuten erwiesen sich als Dauerbremse für die Wirtschaft. Vor dem Krieg auf der Krim, bemerkte ein westlicher Anwalt trocken, sei Russland auf dem Weg gewesen, bis 2020 die fünftgrößte Wirtschaftskraft der Welt zu werden. 12 Nun könne das Land von Glück reden, die Nummer dreizehn zu werden – aber das schien niemand zu kümmern. Das Wachstum stagnierte bei knapp über einem Prozent. Waren die meisten seiner Klienten zuvor Geschäftsmänner aus der Privatwirtschaft gewesen, so waren sie nun offenbar alle in irgendeiner Form für Putins Staat tätig, sagte er.

»Das passiert, wenn der KGB an die Macht kommt. Sie können nichts anderes als Geheimoperationen durchführen«, sagte ein ehemaliger hochrangiger Regierungsbeamter. 13

Der Zuwachs an Patriotismus und Stolz nach Russlands Annexion der Krim hatte gerade lang genug angehalten, um Putin mit 77 Prozent der Stimmen durch die Wiederwahl im März 2018 zu tragen. Kurz darauf nahm die öffentliche Zustimmung für Putin jedoch endlich ab. Der ungeschriebene Pakt, der ihm und seinem Zirkel erlaubt hatte, nach Belieben zu herrschen, solange die Einkommen stiegen, war gefährdet.

Genau wie zu Sowjetzeiten konzentrierte sich auch Putins Russland auf Einflussoperationen und die Wiederherstellung des russischen Gewichts im Ausland und vernachlässigte gleichzeitig die Entwicklung der heimischen Wirtschaft. Im Bestreben, westliche Bündnisse zu zerstören, gab Putins Regierung immer offener immer mehr Geld für militärische Muskelspiele im Nahen Osten und für politische Unterstützung befreundeter Nationen aus. Ein Bericht des unabhängigen Senders TVRain setzte die Kosten des Militärschlags in Syrien bei 3 Milliarden Dollar an; eine weitere Milliarde wurde Syrien für den Wiederaufbau seiner Infrastruktur zugesichert. 14 Zur selben Zeit entwickelte Russland eine neue Raketengeneration. Kredite wurden an Schwellenländer vergeben – Venezuela hatte mehr als 20 Milliarden Dollar erhalten –, in der Hoffnung, dass sie Russland im Kampf gegen den liberalen Westen unterstützen würden. All das kam zu den immensen Summen Schwarzgeld hinzu, die aus dem Land geschleust und für verdeckte Operationen ausgegeben wurden, um ausländische Politiker und Einfluss zu kaufen.

Gleichzeitig teilte die Regierung der Bevölkerung 2018 mit, dass die Mittel zur Auszahlung der Renten knapp würden und sie das Rentenalter anheben müsse. »Die Leute wissen, dass die Regierung über eine Menge Geld verfügt«, sagte der ehemalige stellvertretende Energieminister und jetzige Oppositionspolitiker Wladimir Milow, »und vor diesem Hintergrund begeht sie einen großen Fehler, wenn sie behauptet, wir hätten kein Geld für die Rente. Die Renten sind eine der wichtigsten Garantien, die der Staat der Bevölkerung geben sollte. Die Leute haben ihr gesamtes Leben darauf ausgerichtet. Der Kreml glaubte, die Unterstützung der Bevölkerung für Putin sei bedingungslos, wie die für einen großen Zaren. Aber sie wird ihm nicht alles verzeihen.« 15

Als Moskau auf die Regionalwahlen im September 2019 zusteuerte, gab es die ersten Anzeichen, dass es eines Tages zu einer kritischen Auseinandersetzung zwischen dem Zaren und seinem Volk kommen könnte. In diesem Sommer nahm die Bereitschaftspolizei gewaltsam Hunderte Demonstranten fest, die auf die Straße gegangen waren, um gegen die Sperrung von Oppositionskandidaten zu protestieren. Einigen drohten unter den neuen drakonischen Gesetzen fünfzehnjährige Haftstrafen, und Oppositionsführer wurden wochenlang ins Gefängnis gesteckt. Die harte Reaktion auf die friedlichen Proteste konnte nur eines bedeuten: Putins Sicherheitsmänner bekamen Angst. Das öffentliche Vertrauen in den Präsidenten sank auf 31,7 Prozent – bis der Kreml hastig die Umfragemethoden optimieren ließ.

Die Unruhen klangen rasch ab, und, gestärkt durch die konstante Fütterung mit Propaganda und Almosen aus dem Staatshaushalt, Putins Umfragewerte stiegen wieder. Putin und seine Leute nahmen die Warnhinweise jedoch ernst. Bald würde er erneut eine verfassungsrechtliche Beschränkung seiner Macht erreichen: Diesmal würde er 2024 – am Ende seiner zweiten Amtszeit in Folge seit seiner Wiederwahl als Präsident 2012 – gemäß Verfassung abtreten müssen. Die zunehmende Unsicherheit über einen potenziellen Nachfolger verschärfte die Machtkämpfe innerhalb der Elite, und Putins Leute waren sich der Risiken jeglicher Machtübergabe nur zu bewusst. Sie hatten die Gefahren gesehen, denen die Jelzin-Familie im letzten Jahr von Jelzins Präsidentschaft ausgesetzt war. Und mit jedem Jahr von Putins eigener zwanzigjährigen Herrschaft gingen die potenziellen Bedrohungen für ihn oder jeden seiner Sicherheitsleute persönlich weit über das hinaus, womit die Jelzin-Familie konfrontiert war. Jede Übergabe, selbst innerhalb der Führungsclique, war riskant. Da waren die Bombardierungen der Wohnhäuser, die Belagerung des Dubrowka-Theaters, der Umgang mit dem Terrorangriff in Beslan, die Verhaftung des einst reichsten Mannes Russlands und dann die Zersetzung der Justiz und der Wirtschaft sowie die Hunderte Milliarden Dollar, über die sie die Kontrolle erlangt hatten, als sie ihre eigene Macht verstärkten und nach außen hin demonstrierten. Niemand konnte sagen, wohin ein Rückschlag führen könnte. Putin und seine Männer aus den Sicherheitsbehörden waren bei der Errichtung ihrer eigenen Machtfestung so weit gegangen, dass sie sich in ein tiefes Netz von Bestechlichkeit und Kriminalität verstrickt hatten; der einzige Weg, um ihre Position zu sichern, bestand darin, Putins Herrschaft zu verlängern – oder den Machtwechsel zumindest hinauszuzögern.

Sie hatten das politische System derart im Klammergriff, dass jede Herausforderung von außen unwahrscheinlich erschien. Aber die Unsicherheit und die Machtkämpfe innerhalb der eigenen Reihen erzeugten Schwachstellen, und die nachlassende Unterstützung für die regierende Kreml-Partei Einiges Russland stellte ein immer größer werdendes Risiko dar. Am 15. Januar 2020 trat Putin mit einer überraschenden Ankündigung an die Öffentlichkeit: Er schlug Änderungen der Verfassung vor, die ihm den Weg freiräumen würden, die Kontrolle über das politische System zu behalten. Die Macht des Parlaments würde gestärkt werden, es würde mehr Kontrolle über die Regierung bekommen. Das galt aber vor allem auch für den Präsidenten. Zukünftige Präsidenten würden Richter, Minister und den Premierminister nach Belieben entlassen können. Am wichtigsten war wohl, dass die Ankündigung Putin die Möglichkeit einräumte, Präsident zu bleiben, sollten wachsende soziale Unruhen oder zunehmende interne Machtkämpfe eine sichere Übergabe seiner Macht verhindern. Mit einer neuen Verfassung könnte er für zwei weitere Amtszeiten als Präsident kandidieren, was ihm im Grunde genommen erlauben würde, Russland auf Lebenszeit zu regieren.

Alternativ erlaubten die vorgeschlagenen Änderungen Putin, die Politik aus großer Höhe zu steuern: als eine Vater-der-Nation-Figur, die einem neu ermächtigten Staatsrat vorstehen würde. Das hatte zuerst wie der wahrscheinlichere Weg gewirkt, schien aber letztlich ausgeschlossen worden zu sein. Es wäre der alternative Weg zur Machtübergabe gewesen, hätte Putin es als sicher eingeschätzt, sich nach und nach aus der aktiveren Politik zurückziehen zu können. Stattdessen begann er jedoch klare Signale zu senden, dass dies aus seiner Sicht nicht der Fall war, folglich stellte er die Verfassungsänderungen als notwendig dar, um das Land in Zeiten »extremen Aufruhrs« zu stabilisieren.

Auf einen Streich schien Putin jegliche potenzielle politische Herausforderung verhindern zu wollen. Nie zuvor hatte er es gewagt, formelle Verfassungsänderungen in den Raum zu stellen. Wenngleich seine Gefolgsleute die Verfassung ohnehin ignoriert hatten, war sie immer als Fundament der Stabilität des Landes bewahrt worden. Darüber hinaus behauptete Putin außerdem kühn, Russland werde sich nicht länger den Urteilen internationaler Gerichte beugen – als würde er potenzielle Bedrohungen von außen voraussagen –, und vertiefte so die Isolation seines Landes, diesmal als freiwillige Entscheidung seiner Regierung.

Die Macht seiner Männer schien nachzulassen. Nun, da er die Büchse der Pandora der Verfassungsänderungen geöffnet hatte, war die Gefahr gestiegen, dass sie Tag für Tag schwächer wurde.

ABRECHNUNG

Als Wladimir Putin im Dezember 2013 der vorzeitigen Entlassung Michail Chodorkowskis aus der zehnjährigen Haft im sibirischen Straflager zustimmte, war dies die letzte großzügige Geste eines edelmütigen Zaren. Es war kurz vor den Olympischen Winterspielen in Sotschi, in einer – von heute aus betrachtet – anderen Welt. Es war die Zeit vor den Sanktionen, vor der Wiederbelebung der russischen Ambitionen auf der globalen Bühne und bevor sich der Westen der zerstörerischen Macht des russischen Schwarzgelds bewusst wurde. Doch schon damals erinnerte Chodorkowskis Freilassung, vielleicht wie ein Symbol für alles, was danach kommen sollte, an einen Gefangenenaustausch im Kalten Krieg.

Zehn Jahre lang hatte Chodorkowski eine Ernährung mit dünner Grütze und Kartoffeln überlebt, er hatte in einem riesigen, zugigen Hangar in Russlands eisigem hohen Norden Papiermappen gefaltet, wobei Überwachungskameras über seinem Kopf surrten und jede seiner Bewegungen beobachteten. Ohne Vorwarnung war er in einen Gefangenentransporter verfrachtet und durch den verschneiten Wald zu einer kleinen, eisbedeckten Landebahn gefahren worden, wo ein zweimotoriges Flugzeug auf ihn wartete. Er wurde nach Schönefeld geflogen, den tristen Flughafen im Süden Berlins, früher der westlichste Außenposten sowjetischer Herrschaft, wo er von Hans-Dietrich Genscher, dem ehemaligen deutschen Außenminister, begrüßt wurde, der einst im Zentrum der Verhandlungen um die Wiedervereinigung Deutschlands gestanden hatte. Am nächsten Morgen, nach einer kurzen Erholungspause und einem emotionalen Wiedersehen mit seinen Eltern, machte er sich auf den Weg zum Museum am Checkpoint Charlie, der Stelle, an der sich der berüchtigte Grenzübergang zwischen Ost und West befunden hatte.

Dort empfing er eine ausgewählte Gruppe von Journalisten, die er aus der Zeit vor seiner Inhaftierung kannte. Mit seinem angedeuteten Lächeln, dem makellos rasierten Gesicht und seinem schicken Armani-Anzug sah er auf den ersten Blick aus, als käme er aus einem Sitzungssaal. Aber seine graue Blässe und sein nervöser Blick verrieten den zermürbenden Weg, den er gegangen war. Sein Haar war kurz geschnitten, aber es war über die vergangenen Jahre weiß geworden. »Die meisten von Ihnen habe ich zuletzt vor zehn Jahren gesehen«, sagte er. »Für mich ist dieses Treffen eine Art Brücke in die Freiheit. Als Erstes möchte ich mit Menschen sprechen, die ich kenne.« Er beantwortete Fragen über seine Zeit in Gefangenschaft und die Ereignisse, die ihn dorthin gebracht hatten. Die Frage, die ihm die größten Schwierigkeiten bereitete, war die zur Reaktion des Westens auf seine Verhaftung. Er stolperte über seine Worte, errötete und sagte, die Handlungen einiger Leute hätten ihn enttäuscht.

Als wir fast vier Jahre später in seinem komfortablen Büro am Hanover’s Square in London miteinander sprachen, ärgerte ihn die Angelegenheit der Beteiligung und Hilfe westlicher Banken und Energiekonzerne bei der Übernahme von Jukos nach wie vor. Ich fragte, ob der Westen zu einem gewissen Grad für Russlands darauffolgende Versuche, westliche Institutionen zu untergraben, den Boden bereitet habe. »Es war ein strategischer Fehler einiger westlicher Institutionen zu glauben, dass sie ohne Prinzipien leben könnten«, antwortete er. »Sie dachten, das wäre super: ›Wir arbeiten mit Putin zusammen, weil uns das Geld einbringt.‹ Aber es stellte sich als nicht sonderlich gute Idee heraus. Dieser Prinzipienmangel hat dem Westen die Konsequenzen gebracht, die er nun erlebt. Dieser ständige Wechsel dabei, was gut und was schlecht sein soll, hat dazu geführt, dass diese Prinzipien in der Gesellschaft selbst verlorengegangen sind. Und nun haben wir eine Situation, in der Populisten an die Macht kommen. Alles wird auf den Kopf gestellt. Sie zeigen auf Putin als Vorbild und sagen: ›Seht, er hat jeden getäuscht und war trotzdem politisch erfolgreich.‹« 16

Auch wenn Chodorkowski kein Heiliger und ein etwas unwahrscheinlicher Freiheitskämpfer ist, war es so, dass der Rückhalt des Westens bei der Übernahme seines Unternehmens durch den Kreml und dessen Eingriff in die Justiz die Herrschaft von Putins Männern aus den Sicherheitsbehörden ermöglichte und ihre Integration in westliche Finanzmärkte vorantrieb. Die Schwäche des westlichen Kapitalismus, in dem Geld letztendlich alle Bedenken überwog, hat das System weit für die Manipulationen des Kreml geöffnet.

In Russland hatte die bereitwillige Komplizenschaft des Westens geholfen, die KGB-Simulation einer normalen Marktwirtschaft zu erschaffen. Mächtige Institutionen und der Markt, die unabhängig sein sollten, waren in Wahrheit nur Tarnorganisationen des Kreml. Die Urteile, die an russischen Gerichten gefällt wurden, sahen auf dem Papier aus, als könnten sie rechtmäßig sein. Im Chodorkowski-Fall machte der Öltycoon über zwei Jahre Gerichtsverhandlungen und zwei verschiedene Klagen mit, wobei ihm in der zweiten vorgeworfen wurde, er habe das ganze Öl, das Jukos je produziert hatte, gestohlen – dasselbe Öl, auf das er zuvor keine Steuern gezahlt haben soll. In Wirklichkeit waren die richterlichen Entscheide keine echten Gerichtsurteile, sondern Anweisungen des Kreml. Die Justiz war keine echte Justiz, sondern ein Arm des Kreml. Dasselbe galt für das Parlament, für die Wahlen und für die Oligarchie. Putins KGB-Männer hatten sie alle unter Kontrolle. Es war ein Phantomsystem mit Phantomrechten, sowohl für jeden Einzelnen als auch für Unternehmen. Jeder, der dem Kreml in die Quere kam, konnte jederzeit mithilfe gefälschter oder aufgeblähter Vorwürfe ins Gefängnis geworfen werden. Das Recht auf Eigentum hing von der Loyalität gegenüber dem Kreml ab.

In einem System, in dem überall gestohlen wurde, wo Eigentum ständig auf ein Nicken und ein Schmiergeld an eine entscheidende Person im Kreml und in den Strafverfolgungsbehörden hin aufgeteilt wurde, besaßen Putins Männer über jeden belastende Informationen. Das Land war in die Zeit der Informanten zurückgekehrt. Alle nahmen sich gegenseitig bei Gesprächen auf. Es war bekannt, dass alle Räume verwanzt waren. Im Dezember 2017 wurde der Wirtschaftsentwicklungsminister Alexej Uljukajew zu acht Jahren Haft verurteilt, nachdem er dabei gefilmt worden war, wie er von Setschin ein Bestechungsgeld in Höhe von 2 Millionen Dollar erhält. Es handelte sich um eine Falle, die Setschin selbst ihm gestellt hatte, um ihn als politischen Rivalen loszuwerden. Die Magomedow-Brüder, einst prominente Oligarchen an der Spitze der strategischen Hafenindustrie, kamen im März 2018 ins Gefängnis, augenscheinlich wegen illegaler Geschäftsführung und Diebstahl von Staatsvermögen. Ihr wahres Verbrechen, so ein leitender russischer Banker, war es jedoch gewesen, dass sie nicht rechtzeitig aufhörten: »Sie sind zu weit gegangen. Es ist ganz einfach: Wenn der Film zu Ende ist, verlässt man das Kino. Man bleibt nicht einfach sitzen und wartet auf die nächste Vorführung.« 17 »Mittlerweile können sie jeden verschwinden lassen«, sagte ein Wirtschaftsboss. »Oligarchen, Minister. Niemand weiß, was im Fall der Magomedow-Brüder passiert ist. Sie waren Superoligarchen, und jetzt weiß niemand, wo sie sind.« 18

Jeder war eine Geisel des Systems, auch die Strippenzieher der Jelzin-Ära, die den Weg für Putins Männer aus den Sicherheitsbehörden an die Macht freigemacht hatten. Ehemalige Kreml-Beamte wie Alexander Woloschin und der frühere Ministerpräsident Michail Kasjanow würden nie offen sprechen oder frei agieren können. Putin hatte ihnen deutlich gesagt, wenn sie ihre Macht abgeben würden, wüsste er, wo ihr Geld stecke. 19

Putin und die Männer aus den Sicherheitsbehörden waren am engsten an das System gefesselt. Nach allem, was sie getan hatten, um ihre eigene Macht zu sichern, konnten sie niemandem mehr trauen, nicht einmal innerhalb ihrer eigenen Kreise. Und Putin hatte, indem er kontinuierlich alle politischen Konkurrenten ausgeräumt und die Macht in den eigenen Händen konzentriert hatte, sich selbst derart in die Enge getrieben, dass es für ihn nahezu keinen Ausweg gab.

Selbst diejenigen, die aus Russland geflohen waren, wie Sergej Pugatschow, wussten, dass sie dem System niemals ganz entkommen konnten. Für Pugatschow war sein Schachern und Manipulieren, um Putin vor rund zwanzig Jahren an die Macht zu bringen, eine ständige Quelle der Reue und des Bedauerns. »Ich habe eine wichtige Lektion gelernt«, sagte er, als wir während der letzten juristischen Attacke auf ihn in seinem Haus in Frankreich miteinander sprachen. »Und das ist, dass Macht heilig ist. Wenn man die Leute für dumm hält und glaubt, wenn man nichts tut, würden sie die Kommunisten wählen, dann ist das ein großer Fehler. Wir alle glaubten, das Volk wäre noch nicht bereit, und wollten deshalb Putin einsetzen. Aber Macht kommt von Gott. Und wenn die Macht von Gott kommt, dann braucht man sich nicht einzumischen. (…) Die Leute wussten nichts über Putin. Und innerhalb von drei Monaten wurde er Präsident. Wir fanden das natürlich cool. Wir waren überzeugt, wir hätten das Land vor den Kommunisten gerettet, vor Primakow und Luschkow. Aber heute ist nicht klar, welches Ergebnis schlimmer gewesen wäre. Es wäre besser gewesen, wenn Primakow an die Macht gekommen wäre. Innerhalb von einem Jahr wäre er abgesetzt worden. Als ich Russland verließ, dachte ich, ich hätte all das hinter mir gelassen. Aber es verfolgt mich immer noch. Mein Schicksal ist mit dem von Putin verknüpft. (…) Wir sind aneinander gebunden, was auch geschieht.« 20

In der Eile, seinen Mann an die Macht zu bringen und die Jelzin-Familie vor einer Verhaftung zu bewahren, hatte Pugatschow die Warnungen von Boris Beresowski in den Wind geschlagen, der sagte, jemanden aus dem KGB zu ernennen bedeute, »einen Teufelskreis in Gang zu setzen. Sie können nicht alles ändern.« Er ignorierte die entsetzte Reaktion von Putins früherem Mentor Anatoli Sobtschak, der, als er hörte, dass Putin als Premierminister eingesetzt werden sollte, sagte: »Machen Sie mir keine Angst!« »Ich dachte, er wäre vielleicht eifersüchtig«, gab Pugatschow niedergeschlagen zu und errötete immer noch bei der Erinnerung daran. »Aber natürlich wusste er alles. Heute bin ich entsetzt über mich selbst.« 21

In vielerlei Hinsicht war die jüngste Geschichte Russlands allerdings schon lange vor ihm geschrieben worden. Die Würfel waren bereits gefallen. Der KGB infiltrierte unverändert Russlands herrschende Elite. Die Idee der Lustration – ein Verbot für jeden, der mit dem KGB zusammengearbeitet hat, offizielle Posten einzunehmen – war von Jelzin eingebracht, dann aber schnell von den leitenden Beamten seiner Regierung verworfen worden, die alle KGB-Männer mit unterschiedlichen Erfahrungen und Rängen waren. »Sie sagten mir, das sei unmöglich«, erzählte Pugatschow. »Es wäre niemand übriggeblieben, der hätte arbeiten können. Es hätte neunzig Prozent der herrschenden Elite betroffen. Diejenigen, die nicht in irgendeiner Art und Weise [mit dem KGB] kooperierten, waren sehr wenige.« 22

Hier schloss sich der Kreis von Russlands Revolution. Die Reformer, die der Welt vor fast dreißig Jahren so vielversprechend verkündeten, dass sich das Land auf einem Weg hin zu einer neuen Marktwirtschaft und in Richtung globaler Integration befände, sollten bald kompromittiert werden oder hatten schon lange mit dem KGB an Russlands Übergang zur neuen Ordnung gearbeitet. Diejenigen, die glaubten, dass sie daran mitwirkten, einen freien Markt einzuführen, hatten die anhaltende Macht der Männer aus den Sicherheitsbehörden unterschätzt. »Das ist die Tragödie Russlands im zwanzigsten Jahrhundert«, sagte Pugatschow. »Die Revolution wurde nie vollendet.« Von Anfang an hatten die Sicherheitsmänner den Samen für eine Revanche gesät. Aber sie waren anscheinend auch von Anfang an dazu verdammt, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen.