PROLOG

MOSKAUER REGELN

Eines späten Abends im Mai 2015 blätterte Sergej Pugatschow durch ein mindestens dreizehn Jahre altes Familienalbum, das er wiedergefunden hatte. Auf einem Foto, das auf einer Geburtstagsfeier in seiner Moskauer Datscha entstanden war, hält sein Sohn Wiktor den Blick gesenkt, während Wladimir Putins Tochter Maria ihm lächelnd etwas ins Ohr flüstert. Auf einem anderen posieren Wiktor und Pugatschows zweiter Sohn Alexander mit Putins beiden Töchtern auf einer Holzwendeltreppe in der Präsidentenbibliothek des Kreml. Am Rand des Bildes lächelt Ljudmila Putina, die damalige Frau des russischen Präsidenten.

Wir saßen in der Küche von Pugatschows jüngster Bleibe, einem dreistöckigen Wohnhaus im betuchten Londoner Stadtteil Chelsea. Das Abendlicht schien durch die kathedralengroßen Fenster herein, in den Bäumen zwitscherten die Vögel, und der Verkehr auf der nahe gelegenen King’s Road war nur als fernes Brummen zu vernehmen. Das Leben im Turbogang, das Pugatschow einst in Moskau geführt hat – die Geschäfte, die endlosen Absprachen hinter den Kulissen, die »Übereinkünfte« zwischen Freunden, die in den Korridoren der Macht im Kreml zustande kamen –, schien hier in weiter Ferne zu liegen. Doch in Wahrheit lauerte der Einfluss Moskaus wie ein Schatten vor der Tür.

Am Tag zuvor war Pugatschow gezwungen gewesen, die Londoner Polizei um Schutz zu bitten. Seine Bodyguards hatten an der Unterseite seines Rolls-Royce und an dem Wagen, in dem seine drei jüngsten Kinder – sieben, fünf und drei Jahre alt – zur Schule und in den Kindergarten gefahren wurden, verdächtig aussehende Kästen gefunden, aus denen Kabel ragten. Jetzt hatte das SO15, die Antiterroreinheit der Metropolitan Police, an der Wand von Pugatschows Wohnzimmer, hinter dem Schaukelpferd und gegenüber den Familienporträts, eine graue Box angebracht, über die sich im Fall eines Angriffs ein Alarm auslösen ließ.

Fünfzehn Jahre zuvor war Pugatschow ein Kreml-Insider gewesen, der hinter den Kulissen viele Strippen gezogen hatte, um Wladimir Putin an die Macht zu bringen. Er, der einst als Bankier des Kreml gegolten hatte, war ein Meister der Hinterzimmerdeals gewesen, der Volten, die damals über die Geschicke des Landes bestimmten. Jahrelang hatte er unantastbar gewirkt, ein Mitglied des innersten Zirkels an der Spitze der Macht, der die Regeln so formulierte und auslegte, wie es den Beteiligten am besten passte, und sich dabei der Strafverfolgungsbehörden, der Gerichte und sogar manipulierter Wahlen bediente. Doch nun hatte sich die Kreml-Maschinerie, der er damals selbst angehört hatte, gegen ihn gewandt. Der großgewachsene, gläubige russisch-orthodoxe Pugatschow mit seinem dunklen Bart und seinem fröhlichen Grinsen war zum jüngsten Opfer von Putins unaufhaltsam wachsendem Einfluss geworden. Zunächst hatte sich der Kreml sein Firmenimperium vorgenommen und es Stück für Stück für sich beansprucht, weshalb Pugatschow Russland verlassen hatte und erst nach Frankreich, dann nach England gegangen war. Putins Männer hatten ihm das vom Präsidenten genehmigte Hotelprojekt am Roten Platz entrissen, nur einen Steinwurf vom Kreml entfernt, ohne ihn auch nur zu entschädigen. Dann wurden seine zwei Werften, die zu den größten Russlands zählten und deren Wert auf 3,5 Milliarden Dollar geschätzt wurde, für einen Bruchteil des Preises an einen von Putins engsten Verbündeten, Igor Setschin, verkauft. Anschließend erwarb ein enger Verbündeter Ramsan Kadyrows, des mächtigen tschetschenischen Präsidenten, Pugatschows Kohlegeschäft – das weltgrößte Kokskohlevorkommen in der sibirischen Region Tuwa im Wert von geschätzt 4 Milliarden Dollar – für nur 150 Millionen Dollar. 1

Außerdem hatten ihm Putins Leute vorgeworfen, er trage die Schuld am Zusammenbruch der Meschprombank, die er in den Neunzigerjahren mitgegründet hatte und die den Schlüssel seiner Macht darstellte. Die Kremlbehörden hatten ein Strafverfahren gegen ihn eröffnet, in dem sie ihn beschuldigten, durch die Überweisung von 700 Millionen Dollar auf ein Schweizer Konto auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2008 die Insolvenz der Bank verursacht zu haben. Dass Pugatschow darauf beharrte, das Geld sei sein eigenes gewesen, interessierte den Kreml nicht im Geringsten. Und es schien auch kaum eine Rolle zu spielen, dass Setschins Übernahme der Werften zu einem Bruchteil ihres Wertes viel größere Auswirkungen auf die Zahlungsrückstände der Bank ihren Gläubigern gegenüber gehabt hatte. 2

Die Absicht des Kreml schien eindeutig. »Leute innerhalb des Staates haben die Regeln zu seinen Ungunsten manipuliert, um den Kollaps der Bank herbeizuführen, natürlich so, dass sie selbst davon profitierten«, meinte Richard Hainsworth, langjähriger Experte für das russische Bankensystem. 3

Das war eine typische Geschichte für die Kreml-Maschinerie, die ihre Reichweite erbarmungslos ausdehnte. Anfangs hatte sie ihre politischen Feinde ins Visier genommen, doch mittlerweile wandte sie sich auch gegen Putins frühere Verbündete. Pugatschow war das erste Mitglied des inneren Zirkels, das stürzte. Und jetzt hatte der Kreml die Kampagne gegen ihn von den rabiaten Gerichten Moskaus, wo die Urteile hinter verschlossenen Türen fielen, in den nach außen hin ehrwürdigen Londoner High Court ausgelagert. Dort wurde umgehend eine Vermögenssperre gegen Pugatschow ausgesprochen, die den Tycoon während des Verfahrens arg in Bedrängnis brachte.

Der Kreml war hinter Pugatschow her, seit dieser Russland verlassen hatte. In seinem Haus in Frankreich war er von finsteren Gestalten bedroht worden, die ihm der Insolvenzverwalter der Meschprombank auf den Leib gehetzt hatte. Drei Mitglieder der Moskauer Mafia hatten ihn auf eine Jacht verschleppt und waren mit ihm vor die Küste Nizzas hinausgefahren, wo sie von ihm 350 Millionen Dollar verlangten, als Garantie für die »Sicherheit« seiner Familie. Das sei »der Preis des Friedens«, erklärten sie ihm, wie Aufzeichnungen zeigen – die Gegenleistung dafür, dass das russische Strafverfahren gegen ihn anlässlich der Pleite der Meschprombank geplatzt war. 4 Bei den Verhandlungen in England hatte Pugatschow wie ein Fisch auf dem Trockenen gewirkt, er fand sich mit den unvertrauten Regeln und Abläufen einfach nicht zurecht. Seine Welt waren die Hinterzimmerdeals seiner Kreml-Vergangenheit gewesen, er war daran gewöhnt, aufgrund seiner Stellung und Macht immer durch die Maschen von Recht und Gesetz zu schlüpfen.

Dementsprechend schlecht fiel das Bild aus, das er nun abgab. Da er von der Rechtmäßigkeit seiner Ansprüche überzeugt war und sich als Opfer des jüngsten Beutezugs des Kreml sah, glaubte er, über den Vorschriften der britischen Gerichte zu stehen. Er hatte sich nicht an deren Verfügungen in Bezug auf die Vermögenssperre gehalten und Millionen Pfund von einem Konto ausgegeben, das er verheimlicht hatte. Seiner Ansicht nach war die Offenlegungspflicht unter seiner Würde, eine Spitzfindigkeit im Vergleich zu dem Unglück, das über sein Firmenimperium hereingebrochen war, und nur ein weiterer Versuch des Kreml, ihn unter Druck zu setzen und zu schikanieren, wo es nur ging. Der Kreml hingegen hatte mittlerweile einiges Geschick darin entwickelt, seine Feinde unter Einschaltung des englischen Rechtssystems zu verfolgen, während eine PR-Maschinerie dafür sorgte, dass die Seiten der englischen Boulevardpresse mit Behauptungen über die gestohlenen Reichtümer des russischen Oligarchen gefüllt waren.

Der Kreml hatte zunächst beobachtet, wie sich das englische Gerichtssystem verhielt während Roman Abramowitschs Sieg über Boris Beresowski, dem Oligarchen im Exil, der sich zu Putins schärfstem Kritiker entwickelt hatte. Der Fall hatte, so der Eindruck für einige, die russische Geschichte auf den Kopf gestellt. Beresowski, der schnell sprechende einstige Kreml-Insider, hatte – vergeblich – versucht, vor dem britischen High Court 6,5 Milliarden Dollar von seinem früheren Geschäftskollegen Roman Abramowitsch, dem früheren Gouverneur, einzuklagen. Die Richterin, die das Verfahren leitete, Dame Elizabeth Gloster, hatte sich nicht so recht davon überzeugen lassen, dass Beresowski einen der größten russischen Ölkonzerne, Sibneft, und einen Teil von Rusal, Russlands Aluminiumgiganten, in Teilen mit Abramowitsch besessen hatte, bevor Abramowitsch ihn zwang, seine Anteile zu einem Schleuderpreis zu verkaufen. Richterin Gloster erklärte Beresowski zum »grundsätzlich unzuverlässigen Zeugen« 5 und stellte sich hinter Abramowitsch, der behauptete, Beresowski sei nie der Besitzer der Unternehmen gewesen; er sei nur für politische Unterstützung und Protektion bezahlt worden. Die Einschätzung wurde in Russland mit einiger Verwunderung zur Kenntnis genommen, wo Beresowski weithin als Besitzer von Sibneft betrachtet worden war. Beresowski kritisierte das heftig. Richterin Gloster hatte zu Beginn der Verhandlungen angegeben, dass ihr Stiefsohn Abramowitsch in der Frühphase des Prozesses vertreten hatte. Die Anwälte von Beresowski behaupteten, seine Beteiligung sei weitreichender gewesen, sie legten jedoch keine Beschwerde ein. Später stellte sich heraus, dass der Stiefsohn von Richterin Gloster fast 500 000 Pfund erhalten hatte, um Abramowitsch in der Frühphase des Prozesses zu vertreten. Beresowskis Anwälte behaupteten, dessen Mitwirken sei ausgeprägter gewesen als zuvor angegeben. 6

Weiter verfeinert hatte der Kreml seinen Umgang mit dem britischen Gerichtssystem im Verfahren gegen Muchtar Abljasow, einem kasachischen Milliardär, der zugleich der bedeutendste politische Gegner des kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew, eines wichtigen Verbündeten des Kreml, war. Abljasow wurde von der russischen Einlagensicherungsbehörde vorgeworfen, bei der kasachischen BTA-Bank, deren Vorsitzender er gewesen war und die über Zweigstellen in ganz Russland verfügte, mehr als 4 Milliarden Dollar veruntreut zu haben. Die russische Behörde beauftragte eine Gruppe von Anwälten von der renommierten Londoner Kanzlei Hogan Lovells, die in Großbritannien daraufhin elf zivile Betrugsklagen gegen Abljasow einreichten und das Einfrieren seiner Mittel verlangten. Privatdetektive hatten die Spuren der verschwundenen 4 Milliarden bis zu einem Netz aus Offshore-Firmen im Besitz des kasachischen Magnaten verfolgt. 7

Doch in Pugatschows Fall waren wohl keine gestohlenen oder versteckten Werte aufgespürt worden. Niemand hatte in England oder sonstwo außerhalb von Russland Betrugsvorwürfe gegen ihn erhoben. Stattdessen hatte dasselbe Anwaltsteam von Hogan Lovells einzig auf der Grundlage eines in Russland ergangenen Urteils eine Vermögenssperre gegen Pugatschow erwirkt und ihn geschickt vorgeführt, als er sich an der Vielzahl von gerichtlichen Anordnungen aufrieb, denen er sich ausgesetzt sah. Er war zu seinen Vermögensverhältnissen befragt worden und hatte falsche Angaben dazu gemacht, ob der Verkauf seines Kohleunternehmens durch ihn selbst oder seinen Sohn erfolgt war. Dem Richter schien es egal zu sein, dass der bei dem erzwungenen Verkauf erzielte Preis nur einem Zwanzigstel des wahren Wertes entsprach. Wichtig war nur, ob Pugatschow alle Vorgaben beachtet und alle ihm noch zur Verfügung stehenden Vermögenswerte angegeben hatte. Pugatschow hatte dem Gericht seine Pässe aushändigen müssen und durfte das Vereinigte Königreich nicht verlassen, solange die Vernehmungen über die Offenlegung seiner Mittel andauerten.

Währenddessen zogen die Anwälte des Kreml die juristische Schlinge um ihn weiter zu. Pugatschow verschliss eine ganze Reihe von Rechtsbeiständen, die entweder völlig verblüfft waren, mit einem Fall konfrontiert zu sein, der in der Sache nie in England verhandelt worden war, oder ihn hinterhältig als leichte Beute betrachteten. Verwöhnt durch die Flut russischer Prozesse am Londoner High Court, für die die Moskauer Magnaten horrende Summen auszugeben bereit waren, stellten die Kanzleien astronomische Beträge in Rechnung, für Arbeit, die nie getan wurde, wie die Unterlagen beweisen. Es gab PR-Firmen, die Pugatschow anboten, seinen Ruf für monatlich 100 000 Pfund zu verteidigen. »Er befindet sich jetzt auf unserem Terrain«, sagte ein Partner einer weltweit agierenden Kanzlei, die ihn vertrat.

Anfangs war Pugatschow davon ausgegangen, dass hinter dem Verfahren ein paar renitente Handlanger aus dem Kreml steckten, die unbedingt einen Strich unter seine Enteignung ziehen wollten. Doch als sich die Kampagne gegen ihn immer weiter ausdehnte und Pugatschow um seine körperliche Unversehrtheit fürchten musste, gelangte er zu der Überzeugung, dass Putin selbst die Weisung gegeben hatte. »Wie kann er mir das antun? Ich habe ihn doch zum Präsidenten gemacht«, sagte er an jenem Abend in seiner Küche in Chelsea zu mir, immer noch schockiert über den Fund der verdächtigen Objekte unter seinen Autos und den Besuch des SO15. 8 Ein früherer Freund, der vom Kreml nach London geschickt worden war, hatte ihm erzählt, dass Putin höchstpersönlich jeden Schritt der Kampagne gegen ihn steuere, und ihn gewarnt: »Wir haben hier alles im Griff, die Sache ist durch.«

Pugatschow war bereits lange zuvor aufgefallen, dass der Einfluss des Kreml-Geldes in London zunahm. Er habe schon vor Beginn der gerichtlichen Offensive eine Reihe englischer Lords getroffen, die ihm begeistert die Hand schüttelten und ihm erklärten, wie toll sie Putin fänden. Sie hielten ihn für »Putins Bankier«, wie er damals in der Presse genannt wurde, baten ihn aber trotzdem ohne zu zögern oder weitere Fragen zu stellen um Spenden für die konservative Partei. Pugatschows ehemalige Freunde aus dem Kreml hatten allesamt Verwandte oder Geliebte in London und ließen bei ihren Wochenendbesuchen enorme Summen in der Stadt. Setschins Exfrau Marina besaß hier zusammen mit ihrer Tochter ein Haus, und Igor Schuwalow, der stellvertretende Ministerpräsident, nannte die begehrteste Wohnung der Stadt sein Eigen, ein Penthouse mit Blick auf den Trafalgar Square. Die Söhne von Arkadi Rotenberg, Putins milliardenschwerem ehemaligem Judopartner, besuchten eine der renommiertesten Privatschulen des Landes, während seine Exfrau Natalja shoppen ging und beim Londoner High Court die Scheidung einreichte. Der stellvertretende Duma-Vorsitzende Sergej Schelesnjak, ein entschiedener Patriot, der lange gegen den Einfluss des Westens gewettert hatte, ließ seine Tochter Anastasia gleichwohl jahrelang in der englischen Hauptstadt wohnen. Die Liste der Funktionäre, die in London lebten, sei endlos, sagte Pugatschow. »Sie haben sich auf dieser kleinen Insel mit dem fürchterlichen Wetter sehr gut eingerichtet«, schnaubte er. »In England ging es immer vor allem um Geld. Putin hat seine Agenten geschickt, um die britische Elite zu korrumpieren.«

London hatte sich an die Flut russischen Geldes gewöhnt. Die Immobilienpreise waren in die Höhe geschossen, als erst die Unternehmer und dann die russischen Funktionäre Luxusvillen in Knightsbridge, Kensington und Belgravia aufkauften. Eine Reihe russischer Börsengänge, angeführt von den staatlichen Unternehmen Rosneft, Sberbank und Wneschtorgbank (VTB), hatten den wohlhabenden PR-Firmen und Kanzleien Londons einen guten Teil ihrer Mieten und Lohnkosten finanziert. Lords und ehemalige Politiker wurden großzügig dafür entlohnt, Vorstandsposten bei russischen Firmen zu übernehmen, obwohl sie wenig Einblick in die betrieblichen Vorgänge erhielten. Russlands Einfluss war überall zu spüren. Alexander Lebedew, der ehemalige KGB-Agent und Banker, der sich für eine freie Presse in Russland einsetzte, hatte die auflagenstärkste und einflussreichste Tageszeitung Londons erstanden, den Evening Standard, wodurch er zum Stammgast bei eleganten Abendveranstaltungen und zu einem der gefragtesten Gastgeber der Stadt wurde. Dann war da noch Dmytro Firtasch, ein ukrainischer Unternehmer, der als Lieblingsgashändler des Kreml galt und trotz seiner Verbindungen zum bekannten, auf der Fahndungsliste des FBI stehenden russischen Mafiaboss Semjon Mogilewitsch Milliarden an die Cambridge University hatte spenden dürfen. Sein wichtigster Londoner Lakai, Robert Shetler-Jones, hatte Millionen Pfund an die Tories überwiesen, während einflussreiche Parteigranden im Vorstand von Firtaschs Britisch-Ukrainischer Gesellschaft saßen.

Zugleich gab es auch weniger bedeutende Akteure. Mindestens einer von ihnen hatte es geschafft, Freundschaft mit Boris Johnson zu schließen, als dieser Bürgermeister von London und ein führender Vertreter der Tory-Elite war. »In Filmen tragen Spione immer dunkle Sonnenbrillen und wirken verdächtig«, sagte Pugatschow. »Aber hier sind sie überall. Sie sehen ganz normal aus. Man erkennt sie nicht.«

Pugatschow hatte keine Ahnung, ob der Gesandte des Kreml, der ihn gewarnt hatte, dass die Sache in England durch sei, die Wahrheit sagte oder ob er ihn nur hatte einschüchtern sollen. Doch irgendwann – nachdem er die verdächtigen Objekte an seinen Autos gefunden und davon Wind bekommen hatte, dass Russland sich um seine Auslieferung bemühte – beschloss er, dass es ihm zu riskant war, das herauszufinden. Trotz seines ehemals engen Verhältnisses zu Putin und seiner weitreichenden Kontakte innerhalb der silowiki, dem Clan ehemaliger KGB-Mitglieder im Kreml, war ein Treffen zwischen ihm und einem hochrangigen Mitarbeiter des britischen Außenministeriums in letzter Minute geplatzt. Stattdessen hatte ihm ein in der Stadt weilender Kreml-Agent mitgeteilt, dass er sich mit einem MI6-Mann treffen solle, den der russische Geheimdienst auf seine Seite gezogen habe. Alles stand Kopf. Pugatschow befürchtete, dass die britische Regierung einen Auslieferungsdeal mit den Russen vorbereitete. Außerdem rätselte er über das Schicksal seines Freundes Boris Beresowski, des erbitterten Kreml-Kritikers, der im März 2013 tot auf dem Badezimmerboden seines Landsitzes in Berkshire aufgefunden worden war, mit seinem bevorzugten schwarzen Kaschmirschal um den Hals und einem nicht identifizierten Fingerabdruck am Ort des Geschehens. Aus irgendeinem Grund hatte Scotland Yard die Ermittlungen der lokalen Thames-Valley-Polizei überlassen, die den Fall als Selbstmord einstufte und damit für abgeschlossen erklärte. 9 »Es scheint, als gebe es eine Vereinbarung mit Russland, keinen Wirbel zu machen«, meinte Pugatschow beunruhigt. 10

Und so kam es, dass Pugatschow eines Tages im Juni 2015, wenige Wochen nach unserem Treffen in seinem Haus in Chelsea, plötzlich aus England verschwunden war. Seine Mobiltelefone hatte er ausgeschaltet und unterwegs an den Straßenrand geworfen. Er widersetzte sich den Auflagen des Gerichts, das Land nicht verlassen zu dürfen, und hatte nicht einmal seiner Partnerin und Mutter seiner drei jüngsten Kinder Bescheid gegeben, der Londoner High-Society-Berühmtheit Alexandra Tolstoi, die bis spät in die Nacht darauf wartete, dass er auf der Feier zum achtzigsten Geburtstag ihres Vaters erschien. Zum letzten Mal gesehen wurde er bei einem Treffen mit seinen Anwälten, die ihn gewarnt hatten, sie bräuchten 10 Millionen Pfund für eine Kaution, um sich gegen den bevorstehenden russischen Auslieferungsantrag zu stellen – eine Summe, auf die Pugatschow nicht zugreifen konnte.

Wenige Wochen später tauchte er in Frankreich auf, wo er 2009 die Staatsbürgerschaft erlangt hatte und wo die Gesetze die Bürger vor einer Auslieferung nach Russland schützen. Er war in die relative Sicherheit seiner Villa hoch oben in den Bergen über der Bucht von Nizza geflohen, einer Festung, die von einem unüberwindlich hohen Eisenzaun, einem Tross Bodyguards und einer ganzen Batterie von Überwachungskameras an jeder Ecke gesichert war.

Die Leichtigkeit, mit der der Kreml ein Verfahren gegen ihn in London hatte durchdrücken können, erschien Pugatschow wie die erste lastotschka, wie man in Russland sagt – die erste Schwalbe des Frühlings. Sie markierte den Einzug der Moskauer Regeln in London. Der Kreml hatte das juristische Verfahren dort nach Belieben verbiegen und verdrehen können und das schwerwiegendere Anliegen, nämlich dass Pugatschow sein milliardenschweres Firmenimperium entrissen worden war, kunstvoll unter einer Vielzahl von Detailfragen rund um das Einfrieren seines Vermögens und deren ordnungsgemäßer Einhaltung begraben. Natürlich war Pugatschow kein Unschuldslamm. Es war keineswegs klar, was mit den 700 Millionen Dollar passiert war, die er angeblich aus der Meschprombank abgeschöpft hatte. Doch eine Reihe von Offenlegungen, die der High Court nicht angezweifelt hatte, ergab, dass 250 Millionen dieses Geldes an die Bank zurückgeflossen waren, während sich die Spur der übrigen Summe in Unternehmen verlor, die ein ehemaliger Verbündeter Pugatschows, der jetzt eng mit dem Kreml zusammenarbeitete, liquidiert hatte. Später erklärte die Schweizer Bundesanwaltschaft, bei der Russland beantragt hatte, Pugatschows Schweizer Bankkonten zu sperren, dass sie bei der Überweisung der 700 Millionen Dollar von Pugatschows Firmenkonten bei der Meschprombank auf das Schweizer Konto auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2008 keine Beweise für kriminelle Machenschaften gefunden habe. 11

Doch obwohl die Kreml-Anwälte in England keinen Betrugsprozess gegen ihn in die Wege geleitet hatten, obwohl es keine Hinweise auf gestohlene Gelder gab, war die gerichtliche Verfolgung von Pugatschow gnadenlos. Anwälte, die für die russische Einlagensicherungsbehörde arbeiteten, beharrten darauf, in Bezug auf den Bankrott der Meschprombank »wasserdichte Beweise« gegen ihn in der Hand zu haben. »Wer Geld vom Staat kriegt, sollte es dazu nutzen, die Bank am Leben zu halten, statt es sich selbst auszuzahlen«, sagte eine Person aus dem Umfeld des Anwaltsteams. 12 Obwohl der Kreml ihn enteignet hatte und er mittlerweile um sein Leben fürchtete, wurde Pugatschow nach seiner Flucht aus England wegen Nichterscheinens vor Gericht angeklagt und in Abwesenheit zu zwei Jahren Haft verurteilt. Während der Verhandlung in dieser Sache wurde er regelmäßig als Lügner bezeichnet. Er hatte sich über die Auflagen der Vermögenssperre hinweggesetzt. Er war nicht nur aus dem Land geflohen, sondern hatte auch den Erlös aus dem Verkauf zweier Autos nach Frankreich überwiesen. Richterin Vivienne Rose aus dem zuständigen Richterteam erklärte, sie halte »keine seiner Aussagen für verlässlich«. Ein angeblich in Neuseeland eingerichteter Immobilienfonds, in den Pugatschow Besitztümer im Wert von Dutzenden Millionen Dollar verschoben hatte, auch sein Haus in Chelsea, stellte sich später als Schwindel heraus.

Trotz all seiner Verfehlungen beharrte Pugatschow darauf, einem Rachefeldzug des russischen Staates ausgesetzt zu sein, der sich in den englischen Gerichtssälen abspielte. Die russischen Behörden schienen fest entschlossen, alle Hinweise darauf auszuräumen, dass Pugatschow je gute Verbindungen in den Kreml gehabt hätte oder über Wissen verfügte, das dem Kreml schaden könnte. Sie schafften es, alle politischen Beiklänge des Falls zu unterdrücken, indem sie auf den nachlassenden Kenntnisstand der britischen Nachrichtendienste, die durch die Überwachung der Gefahren durch den islamistischen Terror abgelenkt waren, in Bezug auf Russland und auf Pugatschows geringen Bekanntheitsgrad setzten. Bevor sich die Lage in London zuspitzte, hatte er noch nie ein Interview gegeben. Kaum jemand wusste, wer er war. Die meisten Menschen glaubten, dass der kurz zuvor verstorbene Oligarch Boris Beresowski Putin an die Macht gebracht hätte. Den Anwälten bei Hogan Lowells war erzählt worden, Pugatschow sei ein Niemand und der Fall gegen ihn besitze keinerlei politische Dimension. »Ich habe keine Beweise für sein Wirken im Kreml gesehen«, sagte eine Person aus dem Umfeld des Anwaltsteams. »Wir müssen extrem vorsichtig sein. Pugatschow scheint zu sagen, was immer er will. Die Leute, mit denen ich mich unterhalten habe, halten ihn schlicht für einen Schurken.« 13

Doch in Wahrheit hatte Pugatschow im Herzen des Kreml gearbeitet und war in einige der bestgehüteten Geheimnisse eingeweiht gewesen, unter anderem in das, wie genau Putin an die Macht gekommen war. Das schien einer der Hauptgründe dafür zu sein, warum der Kreml so gnadenlos hinter ihm her war und ihn unbedingt mit Prozessen überziehen wollte. Noch bevor Pugatschow sein Firmenimperium verloren hatte, hatte er Russland verlassen wollen, um den ewigen Wirtschaftsintrigen dort zu entkommen. Er war bereits damals von Putins KGB-Freunden aus Sankt Petersburg ins Abseits gedrängt worden und bemühte sich ab 2007 um die französische Staatsbürgerschaft. Nach Ansicht von Insidern wurde Pugatschow dafür bestraft, dass er aus dem dicht verflochtenen System, das über Russland herrschte, aus dem Mafiaclan, aus dem es eigentlich kein Entkommen gab, ausbrechen wollte. »Pugatschow war wie eine Niere. Sein Wirken war lebenswichtig für das Funktionieren des Systems. Aber er verlor den Verstand und glaubte, einfach gehen und sich seinen eigenen Geschäften zuwenden zu können. Natürlich erging die Order, ihn auszuschalten«, sagte ein führender russischer Bankier, der auch mit den Finanzgeschäften des Kreml zu tun hatte. 14

Auf seiner hastigen Flucht von England nach Frankreich ließ Pugatschow eine Reihe vielsagender Spuren zurück. Als Detektive im Auftrag der Kreml-Anwälte, die in den Tagen nach seinem Verschwinden eine entsprechende gerichtliche Verfügung erwirkt hatten, sein Büro in Knightsbridge durchsuchten, fanden sie zwischen den Papierstapeln auch eine Reihe Festplatten. Eine von ihnen enthielt Audioaufnahmen: Die russischen Sicherheitsbehörden hatten insgeheim jedes Treffen, das seit dem Ende der Neunzigerjahre in Pugatschows Büro im Zentrum Moskaus stattgefunden hatte, mitgeschnitten.

Eine der Aufnahmen zeigt eindrücklich, wie aufrichtig Pugatschow Putins Aufstieg zur Macht und seine eigene Rolle dabei bedauerte. Aufgezeichnet wurde ein Treffen zwischen Pugatschow und Walentin Jumaschew, dem Schwiegersohn des ehemaligen Präsidenten Boris Jelzin, der unter ihm auch Leiter der Präsidialverwaltung war. Die beiden erörtern bei einem Abendessen mit gutem Wein die angespannte Lage; Moskau durchlebte gerade erneut eine politische Krise. Das war im November 2007, wenige Monate bevor Putins zweite aufeinanderfolgende Amtszeit als Präsident endete und er das Amt laut Verfassung abgeben musste. Doch obwohl Putin angedeutet hatte, nach seiner Zeit als Präsident Ministerpräsident werden zu wollen, waren seine wahren Intentionen bis dahin noch völlig unklar. In den labyrinthartigen Korridoren des Kreml rangelten die ehemaligen Mitarbeiter des KGB und der Sicherheitsbehörden, die unter Putin zu Macht gekommen waren, um die Positionen, sie stritten sich und fielen einander in den Rücken, in der Hoffnung, sie selbst – oder ihr jeweiliger Kandidat – würden als Putins Nachfolger gewählt.

Pugatschow und Jumaschew stießen leise miteinander an, während sie die unklare Lage diskutierten. Die Ungewissheit, wer auf Putin folgen würde, erinnerte sie stark an die Situation im Jahr 1999, als sie Putin zum Aufstieg verholfen hatten. Das erschien ihnen nun wie ein anderes Zeitalter. Mittlerweile waren sie von Putins KGB-Kollegen aus Sankt Petersburg verdrängt worden. Jetzt waren sie fast schon Relikte aus einer völlig anderen Ära. Das Machtsystem hatte sich unwiederbringlich verändert, während sie noch zu verstehen versuchten, was sie angerichtet hatten.

»Weißt du noch, wie es war, als er an die Macht kam?«, sagt Pugatschow auf der Aufnahme. »Er sagte immer: ›Ich bin der Geschäftsführer. Man hat mich angestellt.‹« In jener Zeit hatte es so gewirkt, als würde Putin die Führungsrolle nur widerwillig annehmen; auf diejenigen, die ihm zur Macht verhalfen, hatte er formbar und gefügig gewirkt. »Unter uns gesagt, hatte ich am Anfang das Gefühl, dass es ihm nur darum ging, reich zu werden, ein glückliches Leben zu führen und sich um seine persönlichen Angelegenheiten zu kümmern«, fährt Pugatschow fort. »Und alles das hat er im Grunde ziemlich schnell erreicht. (…) Doch nach den vier Jahren seiner ersten Amtszeit erkannte er, dass Dinge passiert waren, nach denen er sich unmöglich zurückziehen konnte.«

Putins erste Amtszeit war blutgetränkt und von Kontroversen durchzogen gewesen. Die Weise, wie das Land geführt wurde, veränderte sich dabei weitreichend. Putin hatte eine Reihe tödlicher Terroranschläge erlebt, unter anderem die Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater durch tschetschenische Terroristen im Oktober 2002. Die Belagerung endete mit weit über hundert Toten, als die russischen Sicherheitskräfte bei der Erstürmung des Gebäudes versagten und sie die Theaterbesucher, die sie hatten befreien wollen, vergasten.

Putins Kampf gegen die Rebellen aus der widerspenstigen Nordkaukasusrepublik Tschetschenien hatte Tausende Tote gefordert, darunter die 294, die bei einer Serie von Bombenanschlägen auf Wohnhäuser ums Leben kamen. In Moskau flüsterten viele, dass hinter diesen blutigen Explosionen Putins Sicherheitskräfte gesteckt hatten, nicht zuletzt, weil sein rigoroses Durchgreifen im Anschluss seine Macht stärkte.

Den übermütigen Oligarchen der Neunzigerjahre wurden rasch Grenzen aufgezeigt. Es brauchte nur einen großen Prozess gegen den reichsten Mann des Landes, bis Putin und seine Leute die Freiräume des Marktes, die in der Jelzin-Zeit entstanden waren, wieder eingehegt und eine Übernahme der Wirtschaft durch den Staat in die Wege geleitet hatten.

»Ich glaube, er wäre bereitwillig nach vier Jahren abgetreten«, meint Pugatschow. »Aber dann kamen die ganzen Kontroversen. Die Situation mit dem Westen ist heute fast so ernst wie während der Kubakrise. Und jetzt stößt er sogar noch weiter vor. (…) Ihm ist klar: Es dauert nicht mehr lange, und er kommt da nicht mehr raus.«

Auf beide Männer wirkte das von Putin erschaffene Staatskonstrukt, das so viel Macht auf den Präsidenten konzentrierte, sodass jede Entscheidung von ihm abhing, alles andere als stabil. »Es ist ein Kartenhaus. Ein kleiner Stoß reicht, und alles bricht zusammen. (…) Das weiß er auch, aber er kann nicht aus sich heraus.«

»Ich habe nicht den Eindruck, dass er das versteht«, meint Jumaschew.

»Es wäre seltsam, wenn er sagen würde: Alles, was ich tue, ist rückwärtsgewandt«, wirft Pugatschow ein. »Viele der Entscheidungen, die er trifft, basieren auf seiner Vorstellung, wie die Welt funktioniert. Patriotismus ist etwas, woran er wirklich glaubt. Wenn er den Zusammenbruch der Sowjetunion als Tragödie bezeichnet, ist er aufrichtig davon überzeugt, dass es so ist. (…) Das sind eben seine Werte. Was er tut, daran glaubt er auch. Wenn er Fehler macht, geschieht es aus Überzeugung.«

Putin hatte die Zusammenlegung aller Hebel der Macht – etwa die Abschaffung der Gouverneurswahlen und die Unterwerfung der Justiz unter das Diktat des Kreml – oft damit gerechtfertigt, dass diese Maßnahmen notwendig seien, um eine neue Ära der Stabilität einzuläuten und das Chaos und den Niedergang der Neunzigerjahre zu beenden. Doch hinter dem patriotischen Brustgetrommel, das auf den ersten Blick die meisten dieser Entscheidungen antrieb, verbarg sich eine weitere, beunruhigendere Motivation. Putin und seine KGBler, die mithilfe eines Netzwerks treuer Verbündeter die Wirtschaft kontrollierten, vereinten alle Macht auf sich und hatten ein neues System geschaffen, in dem staatliche Positionen als Instrumente zur Selbstbereicherung dienten. Das war weit von den antikapitalistischen, antibürgerlichen Prinzipien des sowjetischen Staates, dem sie einst gedient hatten, entfernt.

»Diese Leute sind Mutanten«, sagt Pugatschow. »Sie verbinden den homo sovieticus mit dem unbändigen Kapitalisten der letzten zwanzig Jahre. Sie haben gewaltige Diebstähle begangen, um sich die Taschen zu füllen. Ihre Familien leben irgendwo in London. Aber wenn sie sagen, jemand gehöre im Namen des Patriotismus vernichtet, meinen sie das ernst. Ist es allerdings London, das sie zur Zielscheibe erklären, bringen sie ihre Familien als Erstes aus der Stadt.«

»Ich finde das ganz schrecklich«, sagt Jumaschew. »Einige meiner Freunde, die im Kreml arbeiten, sagen jetzt – ganz im Ernst –, wie toll es sei, dass sie dort so reich werden können. In den Neunzigern war das inakzeptabel. Man musste sich zwischen der Wirtschaft und dem Dienst für das Land entscheiden. Jetzt können sie hingehen und für den Staat arbeiten, um Geld zu verdienen. Minister verteilen Lizenzen zum Gelddrucken. Und natürlich kommt das alles vom Chef. (…) Das erste Gespräch, das [Putin] mit einem neuen Staatsangestellten führt, verläuft so: ›Hier ist dein Unternehmen. Teile es nur mit mir. Wenn dich jemand angreift, verteidige ich dich, und wenn du deine Position nicht als Geschäftsmodell nutzt, bist du ein Dummkopf.‹«

»Putin hat es selbst so gesagt«, meint Pugatschow. »Ganz offen. Ich erinnere mich noch an das Gespräch mit ihm. Er fragte: ›Worauf wartet der Kerl? Warum verdient er kein Geld? Worauf wartet er? Er hat die passende Position. Soll er doch Geld verdienen.‹ Jetzt haben diese Leute Blut geleckt. Sie können nicht mehr aufhören. Heute sind die Staatsangestellten die Geschäftsleute.«

»Es sind kaum noch echte Geschäftsleute übrig«, stimmt Jumaschew zu und schüttelt traurig den Kopf. »Die Stimmung, die Stimmung im Land hat sich sehr verändert. Die Luft ist anders. Sie erstickt uns jetzt. Wirklich, sie erstickt uns.«

Die beiden Männer seufzen. Alles hat sich gewandelt – bis auf ihre Fähigkeit, ihre eigene Rolle zu verherrlichen. »Das Tolle an den Neunzigern war, dass damals nicht gelogen wurde«, fährt Jumaschew fort.

»Absolut richtig«, sagt Pugatschow. »Für mich war die Wahrheit mein Leben lang gleichbedeutend mit Freiheit. Ich habe nicht Geld verdient, um reich zu werden, sondern um frei zu sein. Wie viel kann man ausgeben? Solange man genug hat, um sich zwei Jeans zu kaufen, ist doch alles gut. Aber mit einer gewissen Unabhängigkeit war ein Vorteil verbunden: Ich muss nicht lügen.«

Den beiden Männern kam es so vor, als sei der Präsident mittlerweile von Jasagern umgeben, die sich bei Tischreden in Lobeshymnen über ihn ergingen und ihm erzählten, er sei von Gott gesandt worden, um das Land zu retten, während sie auf sein Wohlwollen angewiesen waren. Dennoch glaubte Pugatschow, dass diese Jasager durchschauten, wie scheinheilig das System war, für welch eine Pseudodemokratie die Regierungspartei im Kreml, Einiges Russland, stand und wie zutiefst korrupt sie mittlerweile war.

»Guck dir die Leute rund um WW [Putin] doch an, die sagen: ›Wladimir Wladimirowitsch, du bist ein Genie!‹«, fährt Pugatschow fort. »In meinen Augen glauben sie an nichts. Sie wissen, dass das alles Schwachsinn ist. Dass Einiges Russland Schwachsinn ist, dass die Wahlen Schwachsinn sind, dass der Präsident Schwachsinn ist. Aber obwohl sie es begreifen, stellen sie sich auf eine Bühne und sagen, wie wunderbar alles sei. Und all die Tischreden, die sie auf ihn halten, sind voller Lügen. Sie sitzen zusammen und erzählen irgendeinen Müll darüber, dass sie immer schon befreundet waren, schon seit Schulzeiten. Aber gleichzeitig sagen die Männer im Büro nebenan: ›Sobald er rauskommt, war es das mit ihm.‹ Das ist so zynisch. Ich glaube nicht, dass sie sich wohlfühlen. Diejenigen, die Macht haben, sie tun mir leid. Sie klauen links und rechts, und dann stellen sie sich hin und erzählen, wie Putin gegen Korruption kämpft. Ich schaue sie an und denke mir: Das ist das Ende. Sie tun mir leid. WW fragte immer: ›Wie lautet das Wort mit S? Sowest – Gewissen.‹ Dafür fehlen ihnen die Rezeptoren. Sie verstehen es gar nicht. Sie haben das Wort und seine Bedeutung vergessen. Sie sind mittlerweile völlig kaputt.«

Alle bisherigen Errungenschaften der Putin-Zeit – das Wirtschaftswachstum, die Einkommenssteigerung, der Reichtum der Milliardäre, der Moskau in eine funkelnde Metropole verwandelt hatte, in der ausländische Luxuskarossen durch die Straßen fuhren und gemütliche Cafés an den Straßenecken eröffneten – seien im Grunde auf den starken Anstieg des Ölpreises zurückzuführen, meinen sie. »Im Jahr 2000 stand der Ölpreis bei siebzehn Dollar, und wir waren zufrieden«, sagt Jumaschew. »Als du und ich an der Macht waren, lag er bei zehn oder sechs Dollar. Mein Höhepunkt war erreicht, als er einmal für zwei oder drei Wochen auf sechzehn Dollar stieg. Heute beträgt er einhundertfünfzig Dollar, und sie haben nichts Besseres zu tun, als sich hässliche Häuser zu bauen.«

»Der Staat macht nichts mit dem Geld. Er hätte damit eine ganz neue Infrastruktur im Land schaffen können. Aber Putin glaubt, dass alles gestohlen würde, wenn wir Straßen bauen. Die Zeit vergeht so schnell«, sagt Pugatschow.

»Jetzt sind acht Jahre vorbei. 2000 haben wir dem Chef eine gut geölte Maschine übergeben. Alles funktionierte. Und was hat es uns gebracht?«, fragt Jumaschew.

»Wir haben nicht verstanden, dass er die Dinge nicht vorantreiben würde. Ich hielt ihn für liberal, jung«, antwortet Pugatschow.

»Für mich war es von enormer Bedeutung, dass er jung war«, sagt Jumaschew.

»Und dann hat sich herausgestellt, dass er von einem ganz anderen Schlag war.«

»Ja. Sie sind andere Menschen als wir«, stimmt Jumaschew zu.

»Sie sind völlig andere, spezielle Menschen. Das haben wir nicht begriffen. Nur [Generalstaatsanwalt] Ustinow hat es durchschaut«, sagt Pugatschow. »Er sagte zu mir: ›Die Typen aus den Sicherheitsbehörden sind anders, verstehst du? Selbst wenn du ihnen das gesamte Blut aussaugen und ihnen einen neuen Kopf aufsetzen würdest, wären sie immer noch anders. Sie leben in ihrem eigenen System. Du wirst niemals einer von ihnen sein. Es ist ein ganz und gar anderes System.‹«

Die Aufnahme gestattet einen einzigartigen Einblick in die unverstellten Ansichten zweier Männer, die Putin zur Macht verholfen hatten, und ihr Entsetzen über ein System, zu dessen Entstehung sie beigetragen hatten. Dieses Buch erzählt die Geschichte dieses Systems – wie Putins KGB-Truppe die Spitze der Macht eroberte und dann dazu überging, sich am neuen Kapitalismus zu bereichern. Es ist die Geschichte, wie Jelzin die Macht überhastet an Putin übergab und wie das den Aufstieg eines »deep state« aus KGB-Sicherheitsleuten ermöglichte, der schon während der Jelzin-Jahre im Hintergrund gelauert hatte, sich nun aber für mindestens zwanzig Jahre die Macht sicherte – und irgendwann auch zur Gefahr für den Westen wurde.

Ursprünglich sollte dieses Buch die Übernahme der russischen Wirtschaft durch Putins frühere KGB-Kollegen darlegen. Doch dann wurde klar, dass etwas noch Schlimmeres dahintersteckte. Die Recherchen – und später auch die Ereignisse – zeigten, dass die Kleptokratie der Putin-Ära nicht nur darauf abzielte, die Taschen seiner Freunde zu füllen. Die Übernahme der Wirtschaft – und der Justiz und des politischen Systems – durch die KGB-Kräfte führte zu einem Regime, in dem die Milliarden Dollar, die Putins Kumpanen zur Verfügung stehen, aktiv dafür genutzt werden, die Institutionen und Demokratien des Westens zu untergraben. Das KGB-Handbuch aus den Zeiten des Kalten Krieges, als die Sowjetunion »aktive Maßnahmen« ergriff, um den Westen zu spalten, Unfrieden zu stiften, verbündete politische Parteien finanziell zu unterstützen und den »imperialen« Feind zu schwächen, ist nun wieder voll und ganz reaktiviert. Anders ist heute nur, dass für diese Strategien nun viel mehr Mittel zur Verfügung stehen, durch einen Kreml, der sich mit den Märkten auskennt und dessen Tentakel sich bis tief in die Institutionen des Westens erstrecken. Teile des KGB, unter ihnen Putin, benutzen den Kapitalismus als Werkzeug, um es dem Westen heimzuzahlen. Dieser Prozess begann bereits vor langer Zeit, in den Jahren vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

Bei Putins Übernahme der strategisch wichtigen Branchen ging es immer um mehr als nur darum, die Kontrolle über die nationale Wirtschaft zu erlangen. Für das Putin-Regime hat Wohlstand weniger mit dem Wohlergehen des russischen Volkes als mit Machtbewusstsein zu tun, damit, die Position des Landes auf der Weltbühne zu untermauern. Das System, das Putins Männer erschufen, war ein hybrider KGB-Kapitalismus, der auf die Anhäufung von Vermögen ausgerichtet war, um damit Amtsträger im Westen zu kaufen und zu korrumpieren, während die Politiker dort, die nach dem Ende des Kalten Krieges in Selbstzufriedenheit versanken, die sowjetischen Taktiken der nicht allzu fernen Vergangenheit längst vergessen hatten. Die westlichen Märkte begrüßten den neuen Reichtum, der aus Russland kam, und schenkten den kriminellen Vereinigungen und KGB-Kräften, die dahintersteckten, wenig Beachtung. Der KGB hatte sich schon vor langer Zeit mit dem organisierten Verbrechen in Russland verbündet, kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als wertvolle Metalle, Öl und andere Rohstoffe im Wert von mehreren Milliarden Dollar vom Staat in Unternehmen verschoben wurden, die mit dem Geheimdienst in Verbindung standen. Im Ausland tätige KGB-Agenten versuchten von Anfang an, Schwarzgeld anzuhäufen, um Netzwerke aufrechtzuerhalten und zu schützen, von denen man lange glaubte, dass sie durch den Kollaps der Sowjetunion in sich zusammengefallen seien. Unter Jelzin hielten sich die KGB-Kräfte eine Zeit lang im Hintergrund. Doch als Putin an die Macht kam, wagte sich die Allianz zwischen dem KGB und dem organisierten Verbrechen wieder hervor und zeigte ihre Zähne. Um zu verstehen, wie es dazu kam, müssen wir ganz an den Anfang zurückkehren, in die Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion.

Für die Männer, die Putin zur Macht verhalfen, war die Kehrtwende mit einer Abrechnung einhergegangen. Als Jelzins Gesundheitszustand sich verschlechterte, hatten Pugatschow und Jumaschew die Machtübergabe in größter Eile über die Bühne gebracht, um die Zukunft des Landes – und sich selbst – vor dem zu schützen, was sie für eine kommunistische Bedrohung hielten. Doch auch sie hatten die gar nicht so ferne sowjetische Vergangenheit vergessen.

Die Geheimdienstler, die sie an die Macht gebracht hatten, sollten vor nichts zurückschrecken, um ihre Herrschaft zu erweitern – über alle Grenzen dessen hinweg, was die beiden für möglich gehalten hätten.

»Wir hätten uns mehr mit ihm unterhalten sollen«, seufzte Jumaschew.

»Sicher«, meinte Pugatschow. »Aber dazu war keine Zeit.«