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»OPERATION LUTSCH«
SANKT PETERSBURG – Anfang Februar 1992 fährt ein offizieller Wagen der Stadtverwaltung langsam die Hauptstraße hinab. Der graue Schneematsch ist teilweise von den Gehwegen geräumt worden, und die Menschen stapfen in dicken, gleichförmigen Mänteln durch die Kälte, mit Tüten beladen, die Schultern hochgezogen gegen den Wind. Hinter den heruntergekommenen Fassaden der einst prachtvollen Bauten am Newski-Prospekt sind die Geschäfte fast leer, durch die Nachbeben der abrupt kollabierten Sowjetunion befinden sich in den Regalen praktisch keine Waren. Es sind kaum sechs Wochen vergangen, seit die Sowjetunion aufhörte zu existieren: seit dem schicksalhaften Tag, an dem der russische Präsident Boris Jelzin und die Regierungschefs der anderen Sowjetrepubliken ihre Union mit einer Unterschrift aufgelöst hatten. Die Lebensmittellieferanten der Stadt haben Schwierigkeiten, auf die plötzlichen Veränderungen zu reagieren, seit die strikten Vorgaben, die jahrzehntelang sämtliche Lieferketten und Preise steuerten, plötzlich wegfielen.
In den Schlangen an den Bushaltestellen und auf den improvisierten Märkten, die überall in der Stadt entstanden sind, weil die Bewohner Schuhe und andere private Besitztümer zu Geld machen wollen, drehen sich die Gespräche schon den ganzen Winter über um Versorgungsengpässe, Lebensmittelkarten und Schwermut. Zu allem Unglück frisst die Hyperinflation auch noch die Ersparnisse auf. Manche Stimmen warnen sogar vor einer Hungersnot, was in einer Stadt, in der die Erinnerungen an die Blockade im Zweiten Weltkrieg mit ihren täglich bis zu tausend Hungertoten noch lebendig sind, die Alarmglocken läuten lässt.
Doch der städtische Beamte hinter dem Steuer des schwarzen Wolga wirkt ruhig. Bei der schlanken, entschlossenen Gestalt, die konzentriert nach vorn schaut, handelt es sich um Wladimir Putin. Er ist neununddreißig Jahre alt, stellvertretender Bürgermeister von Sankt Petersburg und vor Kurzem zum Vorsitzenden des städtischen Komitees für Außenbeziehungen ernannt worden. Das Ganze ist ein Dreh für eine Dokumentarreihe über die neue Stadtregierung, und in diesem Teil geht es um den jugendlich wirkenden stellvertretenden Bürgermeister, in dessen Verantwortungsbereich auch die Versorgung mit Lebensmitteln fällt. 1 Schnitt zu seinem Büro in dem im Smolny-Institut angesiedelten Rathaus, während Putin eine Reihe von Zahlen herunterrattert – wie viele Tonnen Getreide im Rahmen der humanitären Hilfe aus Deutschland, England und Frankreich erwartet würden. Es gebe keinen Anlass zur Sorge, sagt er. Fast zehn Minuten lang legt er dar, welche Maßnahmen sein Komitee ergriffen habe, um die Notversorgung mit Lebensmitteln sicherzustellen. Dazu zählt auch ein wegweisendes Abkommen über Viehfutter im Wert von zwanzig Millionen Pfund, geschlossen bei einem Treffen zwischen dem Bürgermeister der Stadt, Anatoli Sobtschak, und dem britischen Premierminister John Major. Ohne diese großzügige Geste der Briten hätten der junge Viehbestand in der Region nicht überlebt, sagt er.
Sein Detailwissen ist beeindruckend, ebenso wie sein Verständnis der enormen Probleme, denen die Wirtschaft der Stadt gegenübersteht. Er spricht ganz selbstverständlich darüber, wie wichtig die Schaffung kleiner und mittelständischer Betriebe als Rückgrat der neuen Marktwirtschaft sei. Seine Worte lauten: »Die Unternehmer sollten die Basis für das Florieren unserer Gesellschaft im Allgemeinen bilden.«
Putin spricht sehr konkret über die Schwierigkeiten, die immensen sowjetischen Rüstungsfabriken in der Region zu zivilen Produktionsstätten umzubauen, um sie am Leben zu halten. Weitläufige Anlagen wie das Kirow-Werk, eine riesige Geschütz- und Panzerproduktion im Süden der Stadt, bildeten seit der Zarenzeit die größten Arbeitgeber der Region. Als die endlosen Militäraufträge, die die sowjetische Wirtschaft befeuert und später in den Bankrott getrieben hatten, plötzlich ausblieben, standen die Maschinen auf einmal still. Man müsse westliche Partner ins Boot holen und die Werke in die globale Wirtschaft integrieren, sagt der junge Vertreter der Stadtverwaltung.
Mit abruptem Nachdruck kommt er auf das Leid zu sprechen, das der Kommunismus durch die künstliche Abgrenzung der Sowjetunion von den freien Marktbeziehungen zwischen den übrigen Industrieländern bewirkt habe. Die Überzeugungen Marx’ und Lenins »haben unserem Land enorme Verluste eingebracht«, sagt er. »Auch in meinem Leben gab es eine Zeit, in der ich die Theorien des Marxismus und des Leninismus studiert habe und sie interessant und, wie viele von uns, schlüssig fand. Doch als ich älter wurde, erkannte ich die Wahrheit – diese Theorien sind nichts als hinderliche Märchen.« Die bolschewistischen Revolutionäre von 1917 seien verantwortlich für die »Tragödie, die wir heute erleben – die Tragödie des Zusammenbruchs unseres Staates«, erklärt er dem Interviewer geradeheraus. »Sie teilten das Land in Republiken auf, die es zuvor nicht gab, und zerstörten dann, was die Bevölkerung zivilisierter Länder verbindet: die Marktbeziehungen.«
Putin ist erst seit wenigen Monaten stellvertretender Bürgermeister von Sankt Petersburg, legt aber bereits einen professionellen, sorgsam arrangierten Auftritt hin. Er sitzt lässig mit gespreizten Beinen auf einem umgedrehten Stuhl, doch alles andere strahlt Präzision und Vorbereitung aus. Der fünfzigminütige Film zeigt ihn dabei, wie er Judogegner über die Schulter auf die Matte befördert, sich in fließendem Deutsch mit einem Geschäftsmann auf Besuch in der Stadt unterhält und sich telefonisch mit Sobtschak über die jüngsten Hilfsabkommen mit ausländischen Regierungen austauscht. Seine minutiöse Vorbereitung erstreckt sich sogar auf den Mann, den er explizit für die Interviewführung und die Regie des Films angefordert hat: einen Dokumentarfilmer, der in der Sowjetunion für die Serie Test für Erwachsene bekannt und beliebt war, in der er aus nächster Nähe das Leben einer Gruppe von Kindern verfolgte. Igor Schadchan ist ein Jude, der kürzlich nach Sankt Petersburg zurückgekehrt ist, nachdem er eine Reihe von Dokumentationen über die Schrecken der sowjetischen Gulags hoch oben im Norden des Landes gedreht hat, jemand, der beim Gedanken an die antisemitischen Beschimpfungen der Sowjetzeit noch immer zusammenzuckt und, wie er selbst zugibt, weiterhin ängstlich den Kopf einzieht, wenn er das ehemalige Hauptquartier des KGB am Liteini-Prospekt passiert.
Trotzdem hat Putin ihn ausgewählt, um ihm bei einer ganz besonderen Enthüllung zu helfen: Er soll der Welt eröffnen, dass Putin selbst Mitglied des gefürchteten und gehassten KGB war. Wir befinden uns immer noch in der ersten Welle der Demokratisierung, als ein solches Geständnis auch Putins Chef Sobtschak schaden konnte, einem glänzenden Redner, der gerade wegen seiner scharfen Kritik an der Geheimniskrämerei des alten Regimes und am Machtmissbrauch durch den KGB zum Bürgermeister aufgestiegen war.
Schadchan überlegt bis heute, ob Putins Entscheidung für ihn Teil eines genau kalkulierten Plans zur Wiederherstellung seines Rufes war. »Ich frage mich immer, warum er mich auswählte. Er verstand, dass ich der Richtige für sein Vorhaben war, von seiner KGB-Vergangenheit zu erzählen. Er wollte zeigen, dass es auch progressive KGBler gab.« Putins Entscheidung erwies sich als richtig. »Ein Kritiker hat einmal zu mir gesagt, dass ich mein Filmobjekt immer menschlich wirken lasse, egal wer es ist«, erinnert sich Schadchan. »Und so war es auch bei ihm. Ich wollte wissen, wer er war und was er sah. Ich hatte die sowjetischen Autoritäten immer kritisiert. Sie hatten mir hart zugesetzt. Aber er war mir sympathisch. Wir wurden Freunde. Ich hatte den Eindruck, dass er das Land voranbringen würde, dass er tatsächlich etwas bewirken würde. Er zog mich wirklich auf seine Seite.« 2
Im Verlauf des Films schafft Putin es immer wieder gekonnt, die Vorzüge des KGB zu preisen. In seinem Umfeld, beharrt er angesichts der heiklen Frage, ob er seine Position missbraucht und Schmiergelder angenommen habe, sei so etwas als »Vaterlandsverrat« angesehen und mit der vollen Härte des Gesetzes bestraft worden. Was die Frage anging, ob er ein tschinownik, ein »Staatsbeamter« gewesen sei, so müsse dieser Ausdruck nicht unbedingt negativ behaftet sein. Er habe seinem Land als militärischer tschinownik gedient, und jetzt sei er ein Zivilbeamter, der sich – wie schon zuvor – »jenseits des politischen Wettbewerbs« für sein Land einsetze.
Zum Ende der Dokumentation scheint Schadchan Putin vollends zu Füßen zu liegen. Der Film endet mit einer symbolischen Verneigung vor einer glorifizierten KGB-Vergangenheit: Man sieht Putin, wie er an der vereisten Newa entlangfährt, auf dem Kopf eine Fellmütze gegen die Kälte, ein Mann des Volkes hinter dem Steuer eines weißen Schiguli, des zu jener Zeit allgegenwärtigen Autos. Während er mit kühlem und aufmerksamem Blick über die Stadt wacht, endet der Film zu den Klängen der Titelmelodie einer beliebten Sowjetfernsehserie – Siebzehn Momente des Frühlings –, deren Held, ein Geheimagent des KGB, tief in die Führungsebene der nazideutschen Regierung vordrang. Diese Musik hatte Schadchan ausgewählt. »Er war ein typischer Mann seiner Profession. Ich wollte zeigen, wie es dazu kam, dass er immer noch in diesem Metier tätig war.«
Dabei hatte Putin sich im Interview große Mühe gegeben, den Anschein zu erwecken, er habe den KGB schon im Februar 1990 verlassen, direkt nach seiner Rückkehr nach Leningrad, wie Sankt Petersburg damals noch hieß. Er erzählte Schadchan, er sei »aus verschiedenen Gründen« ausgeschieden, nicht aus politischen, und deutete an, dass der Austritt schon im Mai jenes Jahres vor dem Beginn seiner Zusammenarbeit mit Sobtschak, der damals Juraprofessor an der Staatlichen Universität Leningrad und die große Hoffnung der neuen Demokratiebewegung der Stadt war, stattgefunden habe. Putin war nach fünf Dienstjahren in Dresden, damals DDR, wo er als Verbindungsoffizier zwischen dem KGB und der Stasi gearbeitet hatte, in die Hauptstadt des Zarenreiches zurückgekehrt. Später hieß es, er habe einem Kollegen gestanden, dass er befürchte, nach seiner Rückkehr bestenfalls als Taxifahrer arbeiten zu können. 3 Er wollte wohl unbedingt den Anschein erwecken, dass er alle Verbindungen zu seinen alten Chefs durchtrennt, dass die im raschen Wandel befindliche russische Gesellschaftsordnung ihm den Boden unter den Füßen weggezogen hätte.
Was Putin Schadchan erzählte, war nur der Auftakt zu einer Reihe von Unwahrheiten und Verschleierungen rund um seine KGB-Laufbahn. In dem implodierenden Reich, in das er aus Dresden heimkehrte, war nichts so, wie es schien. In der KGB-Villa hoch über der Elbe mit Blick auf das unverändert elegante Dresden hatte Putin bereits das Ende der sowjetischen Herrschaft über die DDR miterlebt, den Zusammenbruch des sogenannten sozialistischen Traums. Um ihn herum war der durch den Warschauer Pakt zusammengehaltene Machtblock zerfallen, weil sich die Bevölkerung gegen die kommunistische Regierung auflehnte. Putin hatte – zunächst aus der Ferne – zugesehen, wie sich die Auswirkungen in der ganzen Sowjetunion bemerkbar machten und plötzlich überall im Land durch den Fall der Berliner Mauer inspirierte nationale Bewegungen entstanden, was den kommunistischen Präsidenten Michail Gorbatschow zu ständig mehr Kompromissen mit einer neuen Generation demokratischer Regierungschefs zwang. Als Putin sich von Schadchan interviewen ließ, war einem dieser Regierungschefs, Boris Jelzin, die Niederschlagung eines Putschversuchs im August 1991 gelungen. Einige Hardliner hatten die politischen und wirtschaftlichen Freiheiten zurückdrehen wollen, waren aber krachend gescheitert. Daraufhin verbot Jelzin die Kommunistische Partei der Sowjetunion. Es war, als wäre das alte Regime plötzlich einfach verschwunden.
Doch was folgte, war nur eine teilweise Wachablösung, und die Geschehnisse rund um den KGB sind das beste Beispiel dafür. Jelzin hatte die oberste Führungsriege des KGB entmachtet und dann einen Erlass unterschrieben, durch den der Geheimdienst in vier verschiedene Inlandsabteilungen aufgespalten wurde. Doch das Ergebnis war eine vielköpfige Hydra, denn weite Teile der Mitarbeiter zogen sich wie Putin einfach in den Hintergrund zurück und führten ihre Arbeit von dort aus fort, während der mächtige Auslandsgeheimdienst bestehen blieb. Es war ein System, in dem die Regeln des normalen Lebens schon lange nicht mehr galten, ein Schattenreich voller Halbwahrheiten und Sinnestäuschungen, wo sich sämtliche Überbleibsel der alten Elite unter der Oberfläche weiterhin an dem festklammerten, was ihnen noch an Kontrolle verblieb.
Putin selbst erzählte im Lauf der Zeit verschiedene Versionen davon, wann und unter welchen Umständen er aus dem KGB ausschied. Glaubt man einem ehemaligen hochrangigen KGB-Mitglied, das ihm nahestand, stimmt allerdings keine davon. In den Gesprächen mit den Autoren seiner offiziellen Biografie sagte Putin, dass er sich einige Monate nachdem er begonnen hatte, mit Sobtschak an der Universität zusammenzuarbeiten, aus dem KGB verabschiedet habe, sein Kündigungsschreiben aber irgendwie in der Post verloren gegangen sei. Stattdessen, behauptete er, habe Sobtschak persönlich inmitten der Wirren des Putsches im August 1991 bei Wladimir Krjutschkow angerufen, dem damaligen KGB-Chef, um sich Putins Austritt bestätigen zu lassen. Diese Geschichte wurde zur offiziellen Version, klingt jedoch erfunden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sobtschak Krjutschkow inmitten eines Putsches erreicht hat, um die Bestätigung für das Ausscheiden eines Mitarbeiters einzuholen, ist wohl bestenfalls gering. Stattdessen habe Putin, so der enge Verbündete, noch mindestens ein Jahr lang nach dem gescheiterten Augustputsch ein Gehalt von der Sicherheitsbehörde bezogen. Als er dann kündigte, war seine Position in der Regierung der zweitgrößten Stadt Russlands bereits gesichert. Er war tief in die neue demokratische Führungsriege des Landes vorgedrungen und fungierte als Verbindungsmann zu den Strafverfolgungsbehörden, auch zur Nachfolgeorganisation des KGB, dem Föderalen Sicherheitsdienst FSB. Sein Auftreten als stellvertretender Bürgermeister war bereits damals routiniert und selbstbewusst, wie das Schadchan-Interview deutlich zeigt.
Die Geschichte, wie und wann Putin wirklich aus dem KGB ausschied und wie es kam, dass er dann für Sobtschak arbeitete, ist die Geschichte eines KGB-Kaders, der sich während der demokratischen Transformation des Landes zu wandeln begann und sich an die neue Führungselite anpasste. Sie erzählt, wie sich ein Teil des KGB, vor allem des Auslandsarms, im Tumult der sowjetischen Perestroika-Reformen insgeheim schon weit im Voraus auf einen Wandel einstellte. Putin scheint während seiner Zeit in Dresden ein Teil dieser Bewegung gewesen zu sein. Später, nach der deutschen Wiedervereinigung, verdächtigten ihn die Sicherheitsbehörden, an dem Sondereinsatz »Operation Lutsch« (»Operation Sonnenstrahl«), beteiligt gewesen zu sein, der seit mindestens 1988 Vorbereitungen auf einen möglichen Zusammenbruch des DDR-Regimes traf. 4 Das Ziel der Operation war, ein Netzwerk aus Agenten zu rekrutieren, die noch lange nach dem Zusammenbruch für die Russen tätig bleiben sollten.
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DRESDEN – Als Putin 1985 in Dresden eintraf, stand die DDR bereits kurz vor dem Abgrund. Das Land, dem der Staatsbankrott drohte, existierte nur noch, weil die BRD die Bürgschaft für einen Milliardenkredit übernommen hatte, 5 und die Proteste wurden immer lauter. Putin war bei seiner Ankunft zweiunddreißig Jahre alt und hatte anscheinend gerade eine Ausbildung am Rotbanner-Institut absolviert, der KGB-Eliteschule für Auslandsspione. In Dresden verrichtete er seine Arbeit in einer Jugendstilvilla mit eindrucksvollem Treppenaufgang und einem Balkon mit Blick auf hell gestrichene Häuser einer ruhigen Wohnhausstraße. Die Villa, die zwischen Laubbäumen und den gepflegten Einfamilienhäusern der Stasi-Elite aufragte, lag ganz in der Nähe der riesigen grauen Bezirksverwaltung der Staatssicherheit, wo Dutzende politischer Gefangener in fensterlosen Zellen einsaßen. Hans Modrow, der örtliche Vorsitzende der kommunistischen Regierungspartei SED, galt als Reformer, aber gegen Dissidenten griff er hart durch. Die allgegenwärtige Not, der durch die Planwirtschaft entstandene Mangel und die Brutalität der staatlichen Vollzugsbehörden hatten im gesamten Ostblock für einen Anstieg der Protestbereitschaft gesorgt. Daraufhin hatten die US-Geheimdienste ihre Chance gewittert und mit Unterstützung des Vatikans begonnen, heimlich Druck- und Kommunikationstechnik sowie Bargeld an die Solidarność-Bewegung in Polen zu liefern, wo der Widerstand gegen die Sowjets immer am stärksten gewesen war.
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Wladimir Putin hatte schon seit Langem davon geträumt, für den Auslandsgeheimdienst zu arbeiten. Sein Vater war während des Zweiten Weltkriegs beim NKWD gewesen, der sowjetischen Geheimpolizei. Er hatte weit hinter der Feindeslinie versucht, deutsche Stellungen zu sabotieren, war nur knapp einer Gefangennahme entkommen und erlitt Verwundungen, an denen er fast gestorben wäre. Aufgrund der Heldentaten seines Vaters war Putin schon in jungen Jahren davon besessen, Deutsch zu lernen, und als Jugendlicher war sein Wunsch, zum KGB zu gehen, so groß, dass er sich schon vor dem Schulabschluss am Leningrader Standort meldete und seine Dienste anbot. Dort bekam er allerdings zu hören, dass er zunächst ein Studium absolvieren oder beim Militär dienen müsse. Als er es mit Anfang dreißig endlich ans elitäre Rotbanner-Institut für Auslandsagenten geschafft hatte, schien die Flucht aus dem tristen Elend seiner frühen Jahre gesichert.
Putin hatte in seiner Kindheit Ratten durch das Treppenhaus seines Sozialwohnungskomplexes gejagt und war mit den anderen Kindern durch die Straßen gezogen. Er hatte gelernt, seine Vorliebe für Prügeleien in die meisterhafte Disziplin des Judo zu überführen, der Kampfsportart, bei der man den Gegner geschickt aus dem Gleichgewicht zu bringen versucht, indem man den Angriff mitgeht. Er hatte sich strikt an die Vorgaben des örtlichen KGB-Büros gehalten, was er studieren sollte, um sich für die Aufnahme in den Sicherheitsdienst zu qualifizieren, und hatte sich an der Leningrader Universität für Jura eingeschrieben. Nach dem Studienabschluss 1975 setzte ihn der Leningrader KGB eine Zeit lang in der Abteilung für Spionageabwehr ein, zunächst in verdeckter Mission. Doch als Putin schließlich seinen ersten offiziellen Posten im Ausland erhielt, in Dresden, kam ihm der Standort klein und unbedeutend vor, kein Vergleich zum glanzvollen Ostberlin, wo etwa tausend KGB-Mitglieder alles daran setzten, die »imperialistische Macht« des Feindes zu untergraben. 6
Als Putin nach Dresden kam, waren dort nur sechs KGB-Agenten stationiert. Er teilte sich ein Büro mit einem älteren Kollegen, Wladimir Usolzew, der ihn »Wolodja« nannte, »kleiner Wladimir«, und brachte seine beiden kleinen Töchter jeden Morgen von dem unauffälligen Mietshaus, in dem er mit seiner Frau Ljudmila und den anderen KGB-Mitarbeitern lebte, in den deutschen Kindergarten. Es schien ein eintöniges und provinzielles Leben zu sein, fernab der abenteuerlichen Dramen in Ostberlin mit seiner direkten Grenze zum Westteil der Stadt. Putin trieb Mannschaftssport und hielt Smalltalk mit seinen Stasi-Kollegen, die die sowjetischen Gäste ihre »Freunde« nannten. Mit Oberstleutnant Horst Jehmlich, dem leutseligen Sonderberater des Dresdner Stasi-Chefs, der dafür zuständig war, diesem den Rücken freizuhalten, der jeden in der Stadt kannte und sichere Rückzugsorte und Geheimwohnungen für Agenten und Informanten sowie Lebensmittel und andere Waren für die sowjetischen »Freunde« organisierte, unterhielt sich Putin über die deutsche Kultur und Sprache. »Er interessierte sich sehr für deutsche Redewendungen. Die wollte er unbedingt lernen«, erinnerte sich Jehmlich. Auf ihn machte Putin den Eindruck eines bescheidenen und umsichtigen Kameraden: »Er drängte sich nie in den Vordergrund. Er stand nie in der ersten Reihe«, sagte Jehmlich. Außerdem sei Putin ein pflichtbewusster Vater und Ehemann gewesen: »Er war immer sehr liebevoll.« 7
Doch das Verhältnis zwischen den sowjetischen Agenten und ihren Stasi-Kollegen war gelegentlich angespannt, und Dresden war viel mehr als nur das ostdeutsche Nest, das es zu sein schien. Zum einen war die Stadt das Zentrum des Schmuggelimperiums, das lange Zeit die Wirtschaft der DDR am Leben hielt. Als Sitz von Robotron, des größten Elektronikherstellers Ostdeutschlands, der Großrechner, Privatcomputer und andere Geräte produzierte, spielte sie eine zentrale Rolle beim Kampf der Sowjets und der DDR, sich illegal Zugang zu Blaupausen und westlichen Hightechkomponenten zu verschaffen. Das machte Dresden zu einem entscheidenden Zahnrad in den erbitterten – und vergeblichen – Bemühungen des Ostblocks, militärisch mit der immer fortschrittlicheren Technik des Westens mitzuhalten. In den Siebzigern hatte Robotron erfolgreich den IBM-Computer des Westens geklont und enge Verbindungen zu Siemens aufgebaut. 8 »Ein Großteil des ostdeutschen Technologieschmuggels lief über Dresden ab«, erklärte Franz Sedelmayer, ein westdeutscher Sicherheitsberater, der später in Sankt Petersburg mit Putin zusammenarbeitete und in den Achtzigerjahren in das Familienunternehmen in München einstieg, das Verteidigungsgüter an die NATO und in den Nahen Osten lieferte. 9 »Dresden war das Zentrum dieses Schwarzhandels.«
Außerdem war die Stadt ein Zentrum der Kommerziellen Koordinierung, einer Abteilung des ostdeutschen Ministeriums für Außenhandel, die auf den Schmuggel von Embargotechnologien aus dem Westen spezialisiert war. »Sie exportierten Antiquitäten und importierten Hightech. Sie exportierten Waffen und importierten Hightech«, sagte Sedelmayer. »Dresden war für die Mikroelektronikindustrie immer wichtig«, meinte auch Horst Jehmlich. 10 Dazu habe auch die Spionageeinheit unter der Leitung des legendären ostdeutschen Geheimdienstchefs Markus Wolf »viel beigetragen«, fügte er hinzu. Doch was genau dort geschah, darüber bewahrt er Stillschweigen.
Wie wichtig der Schmuggel von Embargoware für die Stadt war, zeigt die Tatsache, dass Herbert Köhler, der bei der Dresdner Stasi für die Auslandsaufklärung zuständig war, gleichzeitig auch Leiter der Informations- und Technologieabteilung war. 11 Seit Deutschland im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg in West und Ost aufgespalten worden war, war ein Großteil des östlichen Blocks auf Schwarzmärkte und Schmuggelware angewiesen, um zu überleben. Die Kassen der Sowjetunion waren nach den Verheerungen des Krieges leer, und so entstand in Ostberlin, Zürich und Wien ein Abkommen zwischen dem organisierten Verbrechen und den sowjetischen Sicherheitsbehörden, das dazu diente, diese durch den verbotenen Handel mit Zigaretten, Alkohol, Diamanten und seltenen Metallen mit frischem Geld zu versorgen. Anfangs hatte der Schwarzmarkthandel als vorübergehende Notwendigkeit gegolten, den die kommunistischen Anführer auch vor sich selbst als Schlag gegen die Grundfesten des Kapitalismus rechtfertigten. Doch als sich der Westen 1950 gegen den sowjetisch kontrollierten Block verbündete und ein Embargo auf alle Hightechgüter erließ, die sich zu militärischen Zwecken nutzen ließen, wurde der Schmuggel zum Dauerzustand. Die freien Wahlmöglichkeiten im Kapitalismus und das Gewinnstreben des Westens lösten einen Boom in der technischen Entwicklung dort aus. Im Vergleich dazu hinkte die sozialistische Planwirtschaft weit hinterher. Ihre Betriebe strebten nur die Erfüllung der jährlichen Produktionsvorgaben an, und die Arbeiter und Wissenschaftler beschafften sich selbst die alltäglichsten Gebrauchsgegenstände über inoffizielle Verbindungen auf dem grauen Markt. Für den hinter dem Eisernen Vorhang isolierten Ostblock war der Schmuggel die einzige Möglichkeit, mit der schnellen technologischen Entwicklung des kapitalistischen Westens mitzuhalten. 12
Daraufhin richtete das ostdeutsche Außenhandelsministerium die erwähnte Kommerzielle Koordinierung ein und übertrug deren Leitung dem redseligen Alexander Schalck-Golodkowski. Der Auftrag der »KoKo« bestand darin, durch illegale Geschäfte harte Devisen zu erwirtschaften, damit die Stasi vom Embargo betroffene Technologien erwerben konnte. Die KoKo war anfangs dem Auslandsgeheimdienst von Markus Wolf unterstellt, wurde später aber unabhängig. 13 Es entstanden eine Reihe von Tarnfirmen in Westdeutschland, Österreich, der Schweiz und Liechtenstein, mit verlässlichen Agenten an der Spitze, von denen manche über mehrere Identitäten verfügten und die durch Schmuggelgeschäfte und illegale Waffenverkäufe in den Nahen Osten und nach Afrika die dringend benötigten Devisen ins Land holten. 14 Der große Bruder im Osten behielt diese Aktivitäten die ganze Zeit über genau im Blick. Der KGB hatte Zugang zu allen vom Embargo betroffenen Konstruktionsplänen und Gütern, die die Stasi in ihren Besitz brachte. 15 Oft beschwerten sich die Deutschen, dass der Informationsfluss eine Einbahnstraße sei.
Als Putin in Dresden eintraf, entwickelte sich Westdeutschland gerade zunehmend zu einem Herstellungsland von Hightechprodukten. Der KGB litt immer noch unter einem schweren Schlag, den er Anfang der Achtzigerjahre erlebt hatte, als Wladimir Wetrow, ein Mitarbeiter der »Direktion T«, die auf die Beschaffung wissenschaftlicher und technologischer Erkenntnisse aus dem Westen spezialisiert war, in eben diesen übergelaufen war. Wetrow hatte die Namen aller zweihundertfünfzig KGB-Mitarbeiter in Botschaften auf der ganzen Welt verraten, die am Technologieschmuggel der »Gruppe X« beteiligt waren, und dem Westen Tausende von Dokumenten mit Informationen über die sowjetische Industriespionage ausgehändigt. In der Folge wurden siebenundvierzig Agenten aus Frankreich ausgewiesen, während die USA ein umfassendes Programm ins Leben riefen, um die illegalen Beschaffungsnetzwerke der Sowjets zu sabotieren.
Der KGB verstärkte seine Bemühungen in Deutschland und rekrutierte unter anderem Agenten in Unternehmen wie Siemens, Bayer, Messerschmidt und Thyssen. 16 Putin war eindeutig in die Vorgänge verwickelt, er erstellte Listen mit Forschern und Unternehmern, die beim Schmuggel westlicher Technologien in den Ostblock behilflich sein konnten. Robotrons Position als größter Elektronikhersteller der DDR zog viele Geschäftsleute aus dem Westen an. »Ich weiß, dass Putin und sein Team mit dem Westen zusammenarbeiteten, sie verfügten dort über Kontakte. Aber die meisten Agenten rekrutierten sie hier«, sagte Putins Stasi-Kollege Jehmlich. »Sie nahmen Kontakt zu Studenten auf, lange bevor diese in den Westen gingen. Sie versuchten, die richtigen auszusieben und zu ermitteln, in welcher Weise sie für sie interessant sein könnten.« 17
Jehmlich war freilich nur in einen Bruchteil der Aktivitäten seiner KGB-»Freunde« eingeweiht, agierten diese doch oft hinter dem Rücken ihrer Stasi-Genossen, wenn sie Agenten anwarben, zum Teil auch innerhalb der Stasi selbst. So gab Jehmlich etwa an, nie gehört zu haben, dass Putin bei heiklen Missionen einen Decknamen nutzte. Doch viele Jahre später erzählte Putin einigen Schülern, dass er bei seinen Einsätzen für den Auslandsgeheimdienst damals »mehrere falsche Identitäten« gehabt habe. 18 Ein Bekannter aus jenen Tagen sagte, dass Putin sich »Platow« genannt habe – den Namen hatte er schon in der KGB-Ausbildung erhalten. 19 Bei anderen Gelegenheiten trat er angeblich unter dem Pseudonym »Adamow« auf, das er im Rahmen seiner Tätigkeit als Leiter des Hauses der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft in Leipzig angenommen hatte. 20
Zu den Stasi-Leuten, mit denen Putin eng zusammenarbeitete, gehörte ein kleiner Deutscher mit rundem Gesicht, Matthias Warnig, der später eine wichtige Rolle im Putin-Regime übernehmen sollte. Warnig war Teil einer KGB-Zelle in Dresden, die Putin »unter dem Deckmantel einer Unternehmensberatung« gegründet hatte, wie ein ehemaliger, von Putin rekrutierter Stasi-Mitarbeiter später sagte. 21 In jener Zeit galt Warnig als Held, der in den Achtzigerjahren mindestens zwanzig Agenten angeworben haben soll, um dem Westen militärisch relevante Kenntnisse aus dem Luft- und Raumfahrtsektor zu entlocken. 22 Er hatte seit seiner eigenen Rekrutierung 1974 einen rasanten Aufstieg bei der Stasi hingelegt und war 1989 Leiter seiner Abteilung innerhalb des Sektors Wissenschaft und Technik. 23
Putin verbrachte die Abende gern in der kleinen, schummrigen Kneipe »Am Tor« in der Dresdner Altstadt, nur wenige Straßenbahnhaltestellen vom KGB-Gebäude entfernt, wo er sich auch mit einigen seiner Informanten traf, wie jemand, der damals mit ihm zusammenarbeitete, erzählte. 24 Eines der wichtigsten Jagdreviere, was Informationen anging, war das Bellevue am Ufer der Elbe. Als einziges Hotel der Stadt, das Ausländern offenstand, war es ein zentraler Ort, um auf Besuch weilende Wissenschaftler und Geschäftsleute aus dem Westen anzuwerben. Das Hotel gehörte der Tourismusabteilung der Stasi, und die prunkvollen Restaurants, gemütlichen Bars und eleganten Schlafzimmer waren mit versteckten Kameras und Wanzen ausgestattet. Die Geschäftsleute wurden von Prostituierten verführt, beim Fremdgehen gefilmt und dann dazu genötigt, mit dem Osten zusammenzuarbeiten. 25 »Natürlich war mir klar, dass wir zu diesen Zwecken Agentinnen einsetzten. Das macht jeder Geheimdienst. Manchmal können Frauen einfach weitaus mehr erreichen als Männer«, lachte Jehmlich. 26
Wir werden womöglich nie erfahren, ob Putin bei seiner Jagd auch weiter in den Westen vordrang. Den veröffentlichten Berichten seiner damaligen KGB-Genossen ist nicht zu trauen. Er selbst beharrt darauf, dass es nicht so war, und seine Kollegen erzählen lieber von den langen, ereignisarmen »touristischen« Reisen in benachbarte ostdeutsche Städte. Doch zu Putins Hauptaufgaben gehörte es, Informationen über die NATO zusammenzutragen, den »Hauptfeind« 27 , und Dresden war ein wichtiger Standort für die Rekrutierung von Quellen in München und Baden-Württemberg, wo in fünfhundert Kilometern Entfernung US-Militär und NATO-Truppen stationiert waren. 28 Viele Jahre später erzählte mir ein Bankier aus dem Westen die Geschichte seiner Tante Tatjana von Metternich, einer russischen Prinzessin, die in die deutsche Aristokratie eingeheiratet hatte und in der Nähe von Wiesbaden, wo sich die wichtigste Basis der US Army befand, in einem Schloss wohnte. Sie hatte ihrem Neffen berichtet, wie beeindruckt sie von einem jungen KGB-Mitarbeiter gewesen sei, Wladimir Putin, der sie zu Hause besucht habe und regelmäßig zur Beichte ging, trotz seines KGB-Hintergrunds. 29
Während Putin sich im Hintergrund hielt, geriet der Boden unter seinen Füßen ins Wanken. Teile der KGB-Führung erkannten immer deutlicher, dass der Sowjetunion im Kampf gegen den Westen die Kraft ausging, und begannen still und heimlich, sich auf eine neue Zeit vorzubereiten. Die sowjetischen Kassen waren leer, und im Tauziehen um westliche Technologien war der Ostblock trotz der intensiven Bemühungen des KGB und der Stasi stets im Hintertreffen – der Abstand wurde immer größer. Zu einer Zeit, in der der US-Präsident Ronald Reagan eine neue Rüstungsinitiative angekündigt hatte, das sogenannte »Star Wars«-System, das die Vereinigten Staaten gegen Angriffe durch Atomraketen schützen sollte, verstärkte die Sowjetunion ihre Anstrengungen, sich Zugang zu westlichen Technologien zu verschaffen, nur um noch klarer vor Augen geführt zu bekommen, wie sehr man mittlerweile hinterherhinkte.
Einige progressive KGB-Mitglieder arbeiteten schon seit Anfang der Achtzigerjahre an einer Art Transformation. Sie beschäftigten sich hinter den Mauern des Moskauer Instituts für Weltwirtschaft damit, wie sich gewisse Elemente der Marktwirtschaft in die sowjetische Wirtschaft integrieren ließen, um Wettbewerb zu schaffen, ohne die Kontrolle aus der Hand zu geben. Als Michail Gorbatschow 1985 das Amt des Generalsekretärs des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei übernahm, erhielten diese Ideen neuen Auftrieb. Er brachte unter den Schlagwörtern »Glasnost« und »Perestroika« Reformen auf den Weg, die darauf abzielten, die Kontrolle des Staates über das politische und wirtschaftliche System schrittweise zurückzufahren. Überall im Ostblock gab es Proteste gegen die Unterdrückung durch die kommunistischen Regierungen, und Gorbatschow drängte seine Kollegen des Warschauer Paktes dazu, ähnliche Reformen umzusetzen, da dies ihre einzige Chance sei, die Welle der Ablehnung und des Widerstandes zu überstehen. Eine kleine Gruppe progressiver KGB-Agenten erkannte jedoch, dass es trotzdem zu einem Kollaps kommen könnte, und traf entsprechende Vorbereitungen.
Als hätte er die Zeichen der Zeit gelesen, beendete Markus Wolf, der von der Stasi verehrte Chefspion, 1986 seine Herrschaft über den gefürchteten DDR-Auslandsgeheimdienst, die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), in der er mehr als dreißig Jahre lang skrupellos sein Amt ausgeführt hatte. Wolf war dafür bekannt gewesen, menschliche Schwächen unbarmherzig auszunutzen, um Agenten zu erpressen und sie zur Zusammenarbeit zu nötigen. Unter seiner Leitung hatte die HVA Kontakte bis tief in die westdeutsche Regierung hinein geknüpft und eine Vielzahl von Leuten, von denen man glaubte, sie arbeiteten für die CIA, auf ihre Seite gezogen. Doch nun gab er all das plötzlich aus irgendwelchen Gründen auf.
Offiziell wollte er seinem Bruder Konrad dabei helfen, seine Memoiren über die gemeinsame Kindheit in Moskau zu schreiben. Doch hinter den Kulissen bereitete auch er sich auf den Umbruch vor. Er arbeitete nun eng mit der progressiven Perestroika-Fraktion im KGB zusammen und hielt geheime Treffen in seiner Luxuswohnung in Berlin ab, bei denen über eine schrittweise Liberalisierung des politischen Systems gesprochen wurde. 30 Die Pläne, die dort zur Diskussion standen, ähnelten den Glasnost-Reformen, die Gorbatschow in Moskau in die Wege geleitet hatte, wo nun immer mehr politische Bewegungen zugelassen und die Einschränkungen der Medien gelockert wurden. Doch obwohl es vordergründig um Demokratie und Reformen ging, sollten die Sicherheitsbehörden hinter den Kulissen weiterhin die Kontrolle behalten. Später stellte sich heraus, dass Wolf insgeheim die ganze Zeit über weiter Geld von der Stasi bezog. 31
Mitte der Achtzigerjahre leitete der KGB, der sich der Gefahr eines Zusammenbruchs des Kommunismus immer bewusster wurde, still und heimlich die »Operation Lutsch« ein, um sich auf einen möglichen bevorstehenden Systemwechsel vorzubereiten. Wolf war darüber vollständig informiert, anders als sein Nachfolger an der Spitze der HVA. 32 Im August 1988 entsandte der KGB einen hochrangigen Mitarbeiter, Boris Laptow, in die eindrucksvolle sowjetische Botschaft in Ostberlin, um die Entwicklungen dort im Auge zu behalten. 33 Offiziell bestand Laptows Auftrag darin, parallel zur formalen KGB-Vertretung eine Gruppe zusammenzustellen, deren Auftrag darin bestand, sich in die ostdeutsche Oppositionsgruppen einzuschleusen. »Wir sollten Informationen über die Oppositionsbewegung sammeln, wir sollten aber auch die ganze Entwicklung bremsen und eine deutsche Wiedervereinigung hinauszögern«, sagte er später. 34 Doch als die antikommunistischen Proteste zunahmen und die Zwecklosigkeit von Laptows Vorhabens immer deutlicher wurde, verkehrte sich sein Auftrag plötzlich fast ins Gegenteil: Jetzt sollte sich die Gruppe darauf konzentrieren, ein neues Netzwerk von DDR-Politikern aus der zweiten und dritten Reihe zu rekrutieren. Es ging um Agenten, die selbst in einem wiedervereinigten Deutschland weiter undercover für die Sowjets arbeiten könnten, weil sie nicht den Makel einer Führungsrolle vor dem Zusammenbruch trugen. 35
Es gibt Hinweise darauf, dass Putin dabei eine Rolle spielte. Er war in jener Zeit Parteisekretär, 36 und dieses Amt dürfte ihn regelmäßig mit dem Dresdner SED-Chef Hans Modrow in Kontakt gebracht haben. Der KGB scheint gehofft zu haben, Modrow als potenziellen Nachfolger des langjährigen DDR-Staatschefs Erich Honecker in Position bringen zu können, offenbar sogar in dem Glauben, er könnte das Land mithilfe gemäßigter, Perestroika-ähnlicher Reformen regieren. 37 Wladimir Krjutschkow, der Chef der KGB-Auslandsabteilung, stattete Modrow 1986 in Dresden einen Besuch ab. 38
Doch Honecker weigerte sich bis zum bitteren Ende abzutreten, was den KGB dazu zwang, deutlich tiefer zu graben bei der Suche nach Agenten, die nach dem Kollaps des Ostblocks für ihn tätig bleiben könnten. Krjutschkow beharrte stets darauf, Putin in dieser Zeit nie getroffen zu haben, und bestritt – ebenso wie Markus Wolf –, dass Putin in irgendeiner Weise an der Operation Lutsch beteiligt gewesen war. 39 Doch das westdeutsche Bundesamt für Verfassungsschutz ging vom Gegenteil aus. Es vernahm Horst Jehmlich später stundenlang zu Putins Treiben. Jehmlich vermutete, dass Putin ihn hintergangen hatte: »Sie versuchten, Leute aus der zweiten und der dritten Reihe unserer Organisation anzuwerben. Sie stießen in alle staatlichen Organe vor, kontaktierten aber keinen einzigen Leiter oder General. All das geschah hinter unserem Rücken.« 40
Auch in anderen Teilen der Stasi fing man an, heimlich Vorbereitungen zu treffen. 1986 erließ der Stasi-Chef Erich Mielke die Weisung, dass eine Eliteeinheit, die »Offiziere im besonderen Einsatz«, auch dann im Amt bleiben sollte, wenn die Regierungszeit der SED ein plötzliches Ende fände. 41 Die wichtigste Phase zur Zukunftssicherung begann, als die Stasi anfing, Geld über ein Netzwerk von Firmen in den Westen zu schmuggeln, um dort geheime Vermögen anzuhäufen, sodass die Tätigkeiten nach dem Zusammenbruch fortgeführt werden könnten. Ein hochrangiger deutscher Beamter schätzte, dass ab 1986 mehrere Milliarden Westmark über ein Netz aus Tarnfirmen aus der DDR geschleust wurden. 42
Putins Dresden war ein Dreh- und Angelpunkt dieser Vorbereitungen. Herbert Köhler, der Chef der Dresdner HVA, war eng in die Gründung einiger solcher Tarnfirmen, der sogenannten »operativen Firmen«, involviert, die ihre Verbindungen zur Stasi verbergen und Schwarzgeld sammeln sollten, um das Überleben des Stasi-Netzwerks nach dem Kollaps zu ermöglichen. 43 Köhler arbeitete eng mit einem österreichischen Geschäftsmann namens Martin Schlaff zusammen, der Anfang der Achtzigerjahre von der Stasi angeworben worden war. Schlaff war dafür zuständig, vom Embargo betroffene Materialien für eine Festplattenfabrik in Thüringen zu beschaffen. Zwischen Ende 1986 und Ende 1988 erhielten seine Firmen für das streng geheime Projekt mehr als 130 Millionen Mark von der DDR-Regierung – das Projekt war eines der teuersten, das die Stasi je durchführte. Doch die Anlage wurde nie fertiggebaut. Viele der Bauteile trafen nie ein, 44 und Hunderte Millionen Mark, die für die Fabrik vorgesehen waren oder aus anderen illegalen Vereinbarungen stammten, versickerten in Schlaffs Tarnfirmen in Liechtenstein, der Schweiz und Singapur. 45
Diese Transaktionen spielten sich zu einer Zeit ab, in der Putin der Hauptverbindungsmann zwischen dem KGB und der Dresdner Stasi, vor allem Köhlers HVA, war. 46 Es ist unklar, ob er daran beteiligt war. Doch viele Jahre später trat Schlaffs Verbindung zu Putin zutage, als der österreichische Geschäftsmann im Zusammenhang mit einem Netzwerk von europäischen Firmen auftauchte, die eine zentrale Rolle bei Einflussoperationen von Putins Regime spielten. 47 Schon in den Achtzigerjahren war Schlaff mindestens einmal nach Moskau gereist, um dort Gespräche mit sowjetischen Außenhandelsunternehmen zu führen. 48
Was genau Putin während seiner Jahre in Dresden tat, ist bis heute größtenteils ungeklärt, zum Teil weil der KGB beim rechtzeitigen Vernichten und Abtransportieren von Dokumenten deutlich effektiver war als die Stasi. »Bei den Russen haben wir Probleme«, sagte Sven Scharl, der die Stasi-Archive in Dresden erforschte. 49 »Sie haben fast alles vernichtet.« Von den Unterlagen der Stasi über Putins Aktivitäten dort sind nur noch Fragmente erhalten. Seine Akte ist dünn und abgegriffen. In ihr befindet sich die Anordnung des Stasi-Chefs Erich Mielke vom 8. Februar 1988, Major Wladimir Wladimirowitsch Putin mit der »Verdienstmedaille der Nationalen Volksarmee« in Bronze auszuzeichnen, Briefe des Dresdner Stasi-Chefs Horst Böhm, der dem Genossen Putin zum Geburtstag gratuliert, ein Sitzplan für ein Essen anlässlich des einundsiebzigsten Geburtstags der Tscheka, wie die sowjetische Geheimpolizei ursprünglich hieß, am 24. Januar 1989 und ein Foto eines Besuchs von mehr als vierzig Stasi-, KGB- und Militärvertretern im Museum der ersten Gardepanzerarmee. (Putin lugt fast unerkennbar aus der grauen Menge hervor.) Außerdem enthält die Akte die erst kürzlich entdeckten Fotos eines flegelhaft und gelangweilt wirkenden Putin in einem hellgrauen Sakko und hellen Wildlederschuhen, der mit Blumen und einem Glas in der Hand an einer Zeremonie der Stasi-Führungsriege teilnimmt.
Der einzige Hinweis auf einen operativen Einsatz Putins findet sich in einem Brief an Böhm, in dem er den Dresdner Stasi-Chef bittet, ihm bei der Wiederherstellung eines Telefonanschlusses für einen Informanten bei der Polizei behilflich zu sein, der »uns unterstützt«. Der Brief enthält kaum Details, doch die Tatsache, dass Putin sich direkt an Böhm wandte, deutet auf seine gehobene Position hin. 50 Tatsächlich bestätigte Jehmlich später, dass der KGB-Standortleiter Wladimir Schirokow Putin zum Hauptverbindungsmann des KGB zur Stasi gemacht hatte. Unter den jüngsten Funden befand sich noch ein weiteres verräterisches Dokument: Putins Stasi-Ausweis, der ihm wohl Zutritt zu den Stasi-Gebäuden gewährte und es ihm erleichterte, Agenten zu rekrutieren, da er so nicht jedes Mal seine Zugehörigkeit zum KGB offenlegen musste.
Viele Jahre später, als Putin Präsident wurde, legten Markus Wolf und Putins ehemalige KGB-Kollegen großen Wert darauf zu betonen, dass er während seiner Zeit in Dresden ein Niemand gewesen sei. Putin sei ziemlich unbedeutend gewesen, sagte Wolf einst zu einem deutschen Magazin, und selbst Putzfrauen hätten die gleiche Verdienstmedaille bekommen wie er. 51 Dem KGB-Kollegen, mit dem Putin sich nach seiner Ankunft in Dresden ein Büro teilte, Wladimir Usolzew, wurde aus unbekannten Gründen erlaubt, ein Buch über diese Zeit zu schreiben, in dem er bewusst die Alltäglichkeit der Arbeit betonte, ohne auch nur ein Detail über das operative Geschäft zu verraten. Obwohl er zugab, dass Putin und er mit »Illegalen« gearbeitet hätten, wie die verdeckten Agenten genannt wurden, hätten sie doch siebzig Prozent ihrer Zeit damit verbracht, »sinnlose Berichte« zu schreiben. 52 Putin, behauptete Usolzew, habe in den gesamten fünf Jahren in Dresden nur zwei Agenten anwerben können und irgendwann aufgeben müssen, weil er erkannte, dass es reine Zeitverschwendung war. Die Stadt sei so provinziell gewesen, dass »allein unsere Stationierung dort klarmachte, dass uns keine Zukunft bevorstand«, schrieb Usolzew. 53 Putin selbst behauptete, er habe in Dresden so viel Zeit mit Biertrinken verbracht, dass er zwölf Kilo zulegte. 54 Die Fotos aus der Zeit lassen allerdings keine derartige Gewichtszunahme erkennen. Das russische Staatsfernsehen verkündete später, Putin sei nie in irgendwelche illegalen Aktivitäten involviert gewesen.
Ein Bericht aus erster Hand legt jedoch nahe, dass das Herunterspielen von Putins Tätigkeit in Dresden nur der Tarnung einer anderen Mission galt – einer, die jenseits des gesetzlich Erlaubten angesiedelt war. Laut dieser Quelle war Putin gerade deshalb in Dresden stationiert, weil die Stadt in der Provinz lag, fernab der neugierigen Augen Ostberlins, wo die Franzosen, Amerikaner und Westdeutschen alles genau im Blick hatten. Ein ehemaliges Mitglied der linksradikalen Rote Armee Fraktion (RAF), das angab, Putin in Dresden getroffen zu haben, behauptete, er habe Mitglieder der Gruppe, die in den Siebziger- und Achtzigerjahren in ganz Westdeutschland Angst und Schrecken verbreitete, unterstützt: »In Dresden gab es nichts, absolut nichts, außer die radikalen Linken. Niemand schaute auf Dresden, weder die Amerikaner noch die Westdeutschen. Dort gab es einfach nichts. Nur eines: die Treffen mit den Genossen.« 55
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Im Systemkampf zwischen Ost und West hatten die sowjetischen Sicherheitsbehörden lange das angewandt, was sie als »aktive Maßnahmen« bezeichneten, um den Gegner zu erschüttern und zu destabilisieren. Seit den Sechzigerjahren, als die Sowjetunion erkannt hatte, dass sie sich zwar im Kalten Krieg befand, in der technischen Entwicklung aber zu weit zurücklag, um eine militärische Auseinandersetzung zu gewinnen, hatte sie sich auf Desinformationskampagnen verlegt, auf die mediale Verbreitung falscher Tatsachen, um die westlichen Regierungen zu diskreditieren, auf Anschläge auf politische Gegner und auf die Unterstützung von Frontorganisationen, die kriegerische Auseinandersetzungen in der Dritten Welt schürten und im Westen für Zweifel und Unfrieden sorgten. Zu diesen Maßnahmen zählte auch die Kooperation mit terroristischen Organisationen. Im Nahen Osten war der KGB Allianzen mit zahlreichen marxistisch orientierten Terrorgruppen eingegangen, von denen die bekannteste die PFLP war, die Volksfront zur Befreiung Palästinas, die sich von der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO abgespalten und Ende der Sechziger- und in den Siebzigerjahren eine Reihe von Flugzeugentführungen und Bombenanschlägen durchgeführt hatte. Streng geheime Unterlagen aus den Archiven des sowjetischen Politbüros zeigen, wie tief einige dieser Verbindungen reichten. Sie belegen, dass der damalige KGB-Chef Juri Andropow dreimal die Bitte des PFLP-Anführers Wadi Haddad um sowjetische Waffen erfüllte und ihn als einen »vertrauenswürdigen Partner« des KGB bezeichnete. 56
In Ostdeutschland forderte der KGB die Stasi aktiv dazu auf, ihn bei seinen »politischen Aktivitäten« in der Dritten Welt zu unterstützen. 57 Genau genommen war die Beihilfe zu internationalem Terrorismus irgendwann eine der wichtigsten Aufgaben, die die Stasi für den KGB erfüllte. 58 1969 betrieb die Stasi ein geheimes Ausbildungslager für die Mitglieder von Jassir Arafats PLO vor den Türen Ostberlins. 59 Markus Wolfs Auslandsgeheimdienst arbeitete intensiv mit terroristischen Gruppierungen in der gesamten arabischen Welt zusammen, unter anderem mit dem berüchtigten PFLP-Aktivisten Ilich Ramírez Sánchez, auch bekannt als »Carlos, der Schakal«. 60 Die militärischen Ausbilder der Stasi bauten eine ganze Reihe terroristischer Ausbildungslager im Nahen Osten auf. 61 Und als ein Mitarbeiter der Stasi-Spionageabwehr 1986 voller Entsetzen über das Chaos, das sich nun auch auf deutschem Boden ausbreitete, versuchte, die Anschlagspläne einer Gruppe Libyer in Westberlin zu durchkreuzen, wies ihn der Stasi-Chef Erich Mielke an, sich herauszuhalten. »Amerika ist der Erzfeind«, sagte Mielke zu ihm. »Wir sollten uns darauf konzentrieren, amerikanische Spione aufzuspüren, und unsere libyschen Freunde in Ruhe lassen.« 62 Einige Wochen später explodierte eine Bombe in der bei amerikanischen Soldaten beliebten Westberliner Diskothek La Belle, was zu drei toten Soldaten, einem toten Zivilisten und Hunderten weiteren Verletzten führte. Später kam heraus, dass der KGB von den Aktivitäten der Attentäter gewusst hatte und genau darüber informiert war, wie sie die Waffen in die Stadt geschmuggelt hatten. 63 Im Kampf gegen die amerikanischen »Imperialisten« waren anscheinend alle Methoden erlaubt.
Oleg Kalugin, ein ehemaliger KGB-General, der zu den US-Amerikanern überlief, nannte diese Aktionen später »das Herz und die Seele des sowjetischen Geheimdienstes«. 64 Der ehemalige Chef des rumänischen Geheimdienstes, Ion Mihai Pacepa, der ranghöchste Geheimdienstmitarbeiter des Ostblocks, der die Seiten wechselte, äußerte sich als Erster offen über die Zusammenarbeit des KGB mit terroristischen Vereinigungen. Pacepa schrieb, dass der ehemalige Chef der KGB-Auslandsabteilung, General Alexander Sacharowski, ihm oft erzählt habe: »In der heutigen Welt, in der die militärische Macht aufgrund der Atomwaffen keine Rolle mehr spielt, sollte der Terrorismus unser wichtigstes Instrument sein.« 65 Pacepa sagte auch aus, dass der KGB-Chef Juri Andropow den Plan verfolgt habe, in der arabischen Welt antiisraelische und antiamerikanische Tendenzen zu schüren. Gleichzeitig habe man auf Inlandsterrorismus im Westen gesetzt. 66
Seit die Rote Armee Fraktion – zu Beginn auch unter dem Namen »Baader-Meinhof-Gruppe« bekannt, nach ihren Mitbegründern Andreas Baader und Ulrike Meinhof – Anfang der Siebzigerjahre eine Reihe von Bombenanschlägen, Attentaten, Entführungen und Banküberfällen verübt hatte, befand sich Westdeutschland durchgehend in Alarmbereitschaft. Die Terroristen hatten prominente westdeutsche Geschäftsleute und Bankiers umgebracht, darunter 1977 den Chef der Dresdner Bank, und Sprengladungen in US-Militärbasen gezündet, was Dutzende tote und verletzte Soldaten zur Folge gehabt hatte – alles mit dem Ziel, den »Imperialismus und Monopolkapitalismus« in der Bundesrepublik zu stürzen. Doch als der Polizei ab Ende der Siebzigerjahre eine Reihe von Verhaftungen gelang, bot die Stasi den Mitgliedern der Gruppe einen Unterschlupf im Osten an. 67 »Sie nahmen nicht nur einen, sondern zehn von ihnen auf. Die wohnten dann in unauffälligen Gebäuden irgendwo in Dresden, Leipzig und Ostberlin«, sagte der deutsche Sicherheitsberater Franz Sedelmayer. 68 Die Stasi stattete sie mit falschen Identitäten aus und betrieb Ausbildungslager. 69 Vier Jahre lang, von 1983 bis 1987, lebte eine von ihnen, Inge Viett, unter einem falschen Namen in einem Dresdner Vorort, bis eine ihrer Nachbarinnen nach Westberlin reiste und ihr Gesicht auf einem Fahndungsplakat entdeckte. Viett, deren Spitzname »RAF-Oma« lautete, zählte zu den meistgesuchten Terroristinnen der Bundesrepublik und war mutmaßlich am Mordanschlag auf den NATO-General Frederick Kroesen, den Kommandanten der US-Streitkräfte in Europa, beteiligt gewesen. 70
Nach dem Fall der Mauer gingen die westdeutschen Behörden anfangs davon aus, dass die Stasi den RAF-Mitgliedern nur ein Versteck und falsche Identitäten bereitgestellt hätte. Doch als die Staatsanwaltschaft die Sache eingehender untersuchte, fand sie Hinweise auf eine deutlich intensivere Zusammenarbeit. Die Ermittlungen führten zur Verhaftung und Anklage fünf ehemaliger Mitglieder der Stasi-Spionageabwehr wegen Beihilfe zum Bombenanschlag auf die US-Basis in Ramstein 1981 und zum Mordversuch an General Kroesen. 71 Auch gegen Stasi-Chef Erich Mielke gab es eine entsprechende Anklage. Ein ehemaliges RAF-Mitglied sagte damals aus, die Organisation sei regelmäßig von der Stasi dazu eingesetzt worden, Terroristen in der arabischen Welt Waffen zukommen zu lassen. 72 Ein weiteres ehemaliges Mitglied berichtete, in den Achtzigerjahren als Kontaktperson des berüchtigten Carlos, genannt der Schakal, gedient zu haben, 73 der eine Zeit lang unter dem Schutz der Stasi in Ostberlin lebte und es sich in den luxuriösesten Hotels und Casinos der Stadt gut gehen ließ. 74 Inge Viett gestand später, vor dem Anschlag auf General Kroesen 1981 ein Ausbildungslager in Ostdeutschland absolviert zu haben. 75
Doch inmitten der Wirren der deutschen Wiedervereinigung fehlte der politische Wille, die Untaten der DDR aufzuklären und die Stasi-Männer vor Gericht zu stellen. Der Vorwurf einer Zusammenarbeit mit der Roten Armee Fraktion galt nach fünf Jahren als verjährt, und so wurden die Anklagen gegen die Männer fallengelassen. 76 Die Erinnerung an ihre Vergehen verblasste, und die Verbindungen des KGB zur RAF wurden nicht einmal untersucht. Dabei hatten die Sowjets die Aktivitäten der Stasi genau überwacht, mit Verbindungsoffizieren auf allen Ebenen. Ganz oben war der Klammergriff des KGB so ausgeprägt, dass laut einem ehemaligen RAF-Mitglied galt: »Mielke konnte nicht einmal furzen, ohne zuerst in Moskau um Erlaubnis zu fragen.« 77 »Ohne Absprache mit den Sowjets konnte die DDR gar nichts tun«, meinte auch ein Überläufer aus der Stasi-Führungsebene. 78
Das war das Umfeld, in dem Putin tätig war – und die Geschichte, die das ehemalige RAF-Mitglied über Dresden erzählt, passt gut dazu. Ihm zufolge entwickelte sich die Stadt in den Jahren, die Putin dort verbrachte, zu einem Treffpunkt der Rote Armee Fraktion.
Dresden sei ausgewählt worden, gerade weil »dort sonst niemand war«, wie dieses ehemalige RAF-Mitglied sagte. 79 »In Berlin waren die Amerikaner, die Franzosen und die Briten, einfach alle. Für unsere Zwecke brauchten wir die Provinz, nicht die Hauptstadt.« Ein weiterer Grund, weshalb die Treffen hier stattfanden, war, dass Markus Wolf und Erich Mielke nicht mit diesen Aktivitäten in Verbindung gebracht werden wollten: »Wolf war sehr darauf bedacht, sich herauszuhalten. Das Allerletzte, was Männer wie Wolf oder Mielke wollten, war, bei der Unterstützung einer terroristischen Organisation erwischt zu werden. (…) Wir trafen uns rund ein halbes Dutzend Mal dort [in Dresden].« Die RAF-Mitglieder kamen per Zug in die DDR, wurden am Bahnhof von Stasi-Agenten in sowjetischen ZIL-Limousinen abgeholt und zu einem Haus in Dresden gefahren, wo Putin und ein weiterer KGB-Kollege dazustießen. »Wir erhielten nie direkte Anweisungen. Es hieß immer nur: ›Wir haben gehört, dass ihr dieses und jenes plant – wie wollt ihr es anstellen?‹ Dann machten sie Vorschläge. Sie empfahlen uns alternative Ziele und fragten, was wir brauchten. Wir brauchten immer Waffen und Geld.« Für die RAF war es schwierig, in Westdeutschland an Waffen zu kommen, also überreichten sie Putin und seinen Kollegen eine Liste. Irgendwie landete diese Liste dann bei einem Agenten im Westen, und die angeforderten Waffen wurden an einem geheimen Ort hinterlegt, wo die RAF-Mitglieder sie abholen konnten.
Entgegen den Aussagen, dass Putin in Dresden nur eine untergeordnete Rolle gespielt habe, behauptete das ehemalige RAF-Mitglied, er sei bei diesen Treffen als einer der Anführer aufgetreten, und ein Stasi-General habe seinen Befehlen gehorcht.
Als die Rote Armee Fraktion die Bundesrepublik mit einer Reihe hinterhältiger Bombenanschläge in Angst und Schrecken versetzte, seien ihre Aktivitäten zu einem Kernelement der KGB-Strategie geworden, den Westen zu erschüttern und zu destabilisieren, behauptet das einstige Mitglied der Terrorvereinigung. Und als dann das Ende der sowjetischen Macht und der DDR abzusehen war, wurden sie möglicherweise eingesetzt, um KGB-Interessen zu schützen.
Ein Anschlag, auf den das zutreffen könnte, erfolgte nur wenige Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer. Am 30. November 1989 machte sich Alfred Herrhausen, der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, morgens um halb neun wie jeden Tag von seinem Haus in Bad Homburg aus auf den Weg zur Arbeit nach Frankfurt. Der erste Wagen des Dreierkonvois war bereits unterwegs, doch als das Auto, in dem Herrhausen saß, rasch hinterherfuhr, durchbrach eine mit sieben Kilogramm Sprengstoff gefüllte Bombe die Panzerung der Limousine. Wenige Minuten später war Herrhausen tot. Der Zünder, der die Explosion ausgelöst hatte, war aktiviert worden, als der Wagen durch eine Infrarotlichtschranke gefahren war, die quer über die Straße verlief. 80 Der Anschlag war mit militärischer Präzision ausgeführt worden, und die dafür verwendeten technischen Mittel waren von höchster Qualität. »Es muss ein staatlich unterstützter Anschlag gewesen sein«, befand ein westlicher Geheimdienstexperte. 81 Später stellte sich heraus, dass Stasi-Mitarbeiter an Ausbildungslagern beteiligt gewesen waren, in denen RAF-Mitglieder den Umgang mit Sprengstoffen und Panzerabwehrraketen und die Zündung von Bomben per Lichtschranke – wie beim Anschlag auf Herrhausen – trainiert hatten. 82
Herrhausen war eine westdeutsche Wirtschaftsgröße und ein enger Berater von Kanzler Helmut Kohl gewesen. Der Anschlag ereignete sich, als die Wiedervereinigung gerade in greifbare Nähe rückte. In dem Fall würde die Deutsche Bank massiv von der Privatisierung ostdeutscher Staatsbetriebe profitieren können – genauso wie die Dresdner Bank, wo Putins Freund, der Stasi-Mann Matthias Warnig, kurze Zeit später eine Stelle antrat und die mit der Deutschen Bank um die Beute konkurrierte. Laut dem ehemaligen RAF-Mitglied verfolgte der Anschlag auf Herrhausen sowjetische Interessen: »Ich weiß, dass das Ziel aus Dresden vorgegeben wurde, nicht von der RAF.« 83
Für diesen einstigen Gefolgsmann der Rote Armee Fraktion liegen jene Tage weit in der Vergangenheit, doch das ändert nichts daran, dass er es sehr bedauert, damals nur eine Marionette im sowjetischen Kampf um Einfluss gewesen zu sein. »Für die Sowjetunion waren wir nur nützliche Idioten«, sagte er mit einem schiefen Grinsen. »Dort hat alles angefangen. Sie haben uns benutzt, um den Westen zu erschüttern, zu destabilisieren und Chaos anzurichten.«
Fragt man Horst Jehmlich nach der Unterstützung der RAF durch die Stasi und den KGB, fällt ein Schatten auf das noch immer wache Gesicht der ehemaligen rechten Hand des Dresdner Stasi-Chefs. Wir sitzen am Esstisch der sonnendurchfluteten Wohnung, in der Jehmlich seit DDR-Zeiten lebt, ganz in der Nähe der ehemaligen Stasi-Bezirksverwaltung und der KGB-Villa. Auf dem Tisch liegen Spitzendeckchen, darauf steht das gute Kaffeeservice. Die RAF-Mitglieder seien nur in die DDR geholt worden, »um sie vom Terrorismus abzuhalten«, beharrt er. »Die Stasi wollte Terrorismus verhindern und sie davon abbringen, weitere terroristische Taten zu begehen. Sie wollte ihnen eine Chance geben umzulernen.«
Doch auf die Frage, ob es in Wahrheit der KGB gewesen sei, der das Sagen hatte, ob es Putin war, mit dem sich die RAF-Mitglieder in Dresden trafen, und ob der Befehl für den Anschlag auf Herrhausen auch von dort gekommen sein könnte, verfinstert sich Jehmlichs Gesicht noch weiter. »Darüber weiß ich nichts. Wenn es streng geheim war, war ich nicht eingeweiht. Ich weiß nicht, ob der russische Geheimdienst etwas damit zu tun hatte. Wenn ja, dann hat der KGB verhindern wollen, dass irgendjemand etwas darüber herausfindet. Sie werden es als Problem der Deutschen von sich gewiesen haben. Sie haben es geschafft, deutlich mehr Unterlagen zu vernichten als wir.« 84
Die Geschichte des ehemaligen RAF-Mitglieds lässt sich im Grunde nicht verifizieren. Die meisten seiner einstigen Gefährten sind entweder tot oder im Gefängnis. Andere, die damals angeblich bei den Treffen dabei waren, sind untergetaucht. Doch ein enger Verbündeter Putins vom KGB deutete an, dass all diese Behauptungen äußerst heikel seien, und beharrte darauf, dass es keinerlei Beweise für Verbindungen zwischen dem KGB und der RAF – oder einer anderen europäischen terroristischen Vereinigung – gäbe. »Und Sie sollten auch nicht versuchen, welche zu finden!«, fügte er scharf hinzu. 85 Doch gleichzeitig warf das, was er über das Ende von Putins KGB-Laufbahn erzählte, eine interessante Frage auf. Laut diesem ehemaligen Geheimdienstkollegen fehlten Putin bei seinem Ausscheiden aus dem Dienst nur noch sechs Monate, um Anspruch auf eine KGB-Pension zu haben, obwohl er mit neununddreißig noch weit vom offiziellen Pensionsalter – für seinen Rang als Oberstleutnant waren das fünfzig Jahre – entfernt war. Doch der KGB gestand Mitarbeitern, die im Dienst spezielle Risiken eingegangen waren oder dem Vaterland eine besondere Ehre erwiesen hatten, Sonderkonditionen zu. Wer in den USA stationiert war, bekam pro Dienstjahr anderthalb Jahre angerechnet. Für Agenten, die für den KGB ins Gefängnis gingen, zählten die entsprechenden Jahre dreifach. War Putin dem Pensionsanspruch nur deshalb schon so nah, weil seine Dienstjahre doppelt zählten – vielleicht da die Zusammenarbeit mit der RAF so hohe Risiken barg?
Viele Jahre später lieferte Klaus Zuchold, eine von Putins Quellen in der Stasi, ein paar Details dazu, in welche Aktivitäten Putin damals noch involviert gewesen war. Zuchold, der zum Westen übergelaufen war, erzählte dem deutschen Journalistenverbund Correctiv, dass Putin einst versucht habe, eine Studie über tödliche Gifte, die kaum Spuren hinterlassen, in die Finger zu bekommen, und den Verfasser dieser Studie durch das Unterschieben pornografischen Materials kompromittieren wollte. 86 Es ist nicht klar, ob das jemals von Erfolg gekrönt war. Zuchold behauptete auch, dass zu Putins Aufgaben die Zusammenarbeit mit dem notorischen Neonazi Reinhold Sonntag gehört habe, der 1987 in die Bundesrepublik ausgewiesen wurde, nach dem Fall der Mauer aber nach Dresden zurückkehrte und dort am Aufstieg der Rechtsradikalen mitwirkte. 87 Als ich versuchte, Zuchold zu kontaktieren, um ihn nach Putins angeblicher Kooperation mit der RAF zu fragen, war er schon lange abgetaucht und reagierte nicht mehr auf Interviewanfragen. Laut einer Person mit engen Verbindungen zum westdeutschen Geheimdienst stand er unter dem besonderen Schutz des Bundesamtes für Verfassungsschutz.
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Während die Zusammenarbeit mit den RAF-Terroristen Putin als eine Art Trainingslauf für aktive Maßnahmen gegen den imperialistischen Westen gedient haben mag, sollte er die Erfahrungen nach dem Fall der Berliner Mauer noch Jahrzehnte mit sich herumtragen. Obwohl sich immer deutlicher abzeichnete, dass der Ostblock möglicherweise vor dem Kollaps stand, dass die Proteste ihn zerreißen und die Auswirkungen sich bis tief in die Sowjetunion hinein bemerkbar machen könnten, kämpften Putin und die anderen KGB-Mitarbeiter in Dresden darum, sich inmitten des fortschreitenden Zusammenbruchs ihre Netzwerke zu bewahren.
Und dann war es auf einmal vorbei. Plötzlich war niemand mehr da, der das Kommando hatte. Die jahrzehntelangen Bemühungen und die heimlichen Spionagespielchen hatten ein Ende. Die Grenze war offen, ausgelöst durch eine Eruption der Unzufriedenheit, die sich über Jahre hinweg angestaut hatte. Obwohl es noch einen Monat dauerte, bis die Proteste auch in Dresden ankamen, waren Putin und seine Kollegen nur teilweise darauf vorbereitet, als es so weit war. Während die Menge trotz bitterer Kälte zwei Tage lang vor der Stasi-Bezirksverwaltung stand, verbarrikadierten Putin und die anderen KGB-Leute sich in ihrer Villa. »Wir haben Tag und Nacht Sachen ins Feuer geworfen«, sagte Putin später. »Alle unsere Verbindungen und Kontakte und alle Agenturnetze existieren nicht mehr. Ich selbst habe eine riesige Masse von Dokumenten verbrannt. Wir haben so viel verbrannt, dass der Ofen fast explodiert wäre.« 88
Gegen Abend lösten sich ein paar Dutzend Demonstranten aus der Menge und steuerten auf die KGB-Villa zu. Auf Hilfe aus der nahe gelegenen sowjetischen Kaserne konnten Putin und seine Kollegen kaum zählen. Als Putin dort anrief und um Verstärkung bat, um das Gebäude zu sichern, dauerte es Stunden, bis die Truppen eintrafen. Also meldete sich Putin beim sowjetischen Militärkommando in Dresden, doch der diensthabende Offizier zuckte nur mit den Schultern: »Ohne Befehl aus Moskau können wir nichts tun. Und Moskau schweigt.« 89 Das wirkte auf Putin wie ein Verrat all dessen, worauf sie hingearbeitet hatten: Der Satz »Moskau schweigt« ging ihm lange nicht aus dem Kopf. Die Außenposten des Sowjetreiches wurden einer nach dem anderen aufgegeben, die geopolitische Macht der Union brach wie ein Kartenhaus in sich zusammen. »Aber dieses ›Moskau schweigt‹ – ich hatte damals ein Gefühl, als ob das Land nicht mehr existierte. Mir war klar geworden, dass auch die Sowjetunion krankte. Und zwar an einer tödlichen, unheilbaren Krankheit: der Paralyse. Der Paralyse der Macht«, sagte Putin später. 90 »Ehrlich gesagt tat es mir nur leid um die verlorene Position der Sowjetunion in Europa, obwohl mir mein Verstand sagte, dass eine Position, die nur auf Mauern basiert, nicht ewig bestehen kann. Es wäre zu wünschen gewesen, dass auf diese Ereignisse ein Wechsel folgte. Aber es war nichts Neues vorgesehen. Und das ist das Ärgerliche.« 91
Doch es war nicht alles verloren. Obwohl das Ausmaß der Proteste und der Zeitpunkt des Zusammenbruchs den KGB offensichtlich überrumpelten, hatten sich Teile des Geheimdienstes zusammen mit der Stasi auf diesen Tag vorbereitet. Einige KGB-Mitglieder hatten Pläne für einen allmählichen Übergang parat, der ihnen ein gewisses Maß an Einfluss und Kontrolle hinter den Kulissen sichern sollte.
Irgendwie brachten die KGB-Leute in Dresden ihre ostdeutschen Kollegen dazu, ihnen den Großteil der Stasi-Unterlagen über die Zusammenarbeit mit den Sowjets auszuhändigen, bevor die Demonstranten die Bezirksverwaltung der Staatsicherheit stürmten. Putins Kollege aus den frühen Dresdner Zeiten, Wladimir Usolzew, berichtete, dass ein Stasi-Mitarbeiter sämtliche Akten an Putin überreichte. »Wenige Stunden später war nur noch ein Häufchen Asche übrig«, sagte er. 92 Stapelweise wurden Dokumente in die nahe gelegene sowjetische Militärbasis transportiert und dort in ein Loch geworfen, wo sie mithilfe von Napalm vernichtet werden sollten, später aber doch nur mit Benzin übergossen und angezündet wurden. 93 Weitere zwölf Lkw-Ladungen verschwanden Richtung Moskau. »Die wertvollsten Objekte wurden nach Moskau gebracht«, sagte Putin später.
Während der folgenden Monate, in denen die KGB-Agenten den Rückzug aus Dresden vorbereiteten, standen sie unter dem besonderen Schutz des legendären Juri Drosdow, der beim KGB für das weltweite Netzwerk aus »Illegalen«, also Undercoveragenten, zuständig war. Der Dresdner Standortleiter, Wladimir Schirokow, erzählte, wie Drosdow von sechs Uhr morgens bis Mitternacht Leibwachen für ihn abstellte. Irgendwann brachten Drosdows Leute Schirokow dann mitten in der Nacht zusammen mit seiner Familie über die polnische Grenze in Sicherheit. 94 Später erzählte einer von Putins Kollegen der Journalistin Masha Gessen, dass Putin sich vor der Heimreise in Berlin mit Drosdow getroffen habe. 95
Die Dresdner KGB-»Freunde« verschwanden einfach spurlos von der Bildfläche und überließen es ihren Stasi-Kollegen, sich dem Volkszorn zu stellen. Diesem Druck hielt Horst Böhm, der örtliche Stasi-Chef, offensichtlich nicht stand. Im Februar des folgenden Jahres nahm er sich im Hausarrest wohl das Leben. »Er sah keinen anderen Ausweg«, sagte Jehmlich. »Um sein Haus zu schützen, drehte er alle Sicherungen heraus und vergiftete sich dann mit Gas.« 96
Zwei weitere Stasi-Bezirksleiter aus benachbarten Bezirken begingen Berichten zufolge ebenfalls Selbstmord. Was genau sie fürchteten, werden wir wohl nie erfahren, da sie starben, bevor sie vernommen werden konnten. Doch was den KGB anging, blieben gewisse Elemente von dessen Arbeit trotz des erzwungenen Rückzugs erhalten. Teile der Netzwerke aus »Illegalen« blieben im Verborgenen bestehen und von allen Untersuchungen verschont. 97 Viele Jahre später erzählte Putin voller Stolz, dass seine Arbeit in Dresden größtenteils darin bestanden habe, illegale »Schläfer« zu betreuen. »Das sind ganz besondere Menschen«, sagte er. »Nicht jeder ist fähig, sein Leben aufzugeben und Freunde, Familie und sein Land für viele, viele Jahre zu verlassen, um sich dem Dienst am Vaterland hinzugeben. Das schaffen nur Auserwählte.« 98
Nachdem Hans Modrow mit Rückendeckung der Sowjets 99 im Dezember vorübergehend die Regierungsgeschäfte der DDR übernommen hatte, gestattete er der HVA, dem Auslandsnachrichtendienst der Stasi, sich ohne großes Aufheben einfach aufzulösen. 100 Dabei verschwanden Vermögenswerte in unbekannter Höhe, während Hunderte Millionen Mark durch die Liechtensteiner und Schweizer Tarnfirmen von Martin Schlaff abflossen. Inmitten des Jubels über die Wiedervereinigung gingen die Stimmen der Stasi-Überläufer im Westen mehr oder weniger unter. Doch einige von ihnen verschafften sich Gehör. »Unter bestimmten Umständen könnten Teile des Netzwerks reaktiviert werden«, sagte einer von ihnen. »Niemand im Westen hat eine Garantie dafür, dass der KGB nicht einige der Agenten erneut einsetzt.« 101
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Als Putin im Februar 1990 aus Dresden nach Russland zurückkehrte, wirkten die Erschütterungen durch den Fall der Berliner Mauer immer noch in der ganzen Sowjetunion nach. Überall gewannen nationale Bewegungen an Einfluss und drohten das Land zu zerreißen. Michail Gorbatschow war in die Defensive geraten und verlor gegenüber den aufstrebenden demokratischen Anführern immer mehr an Boden. Der Kommunistischen Partei der Sowjetunion entglitt langsam ihr Machtmonopol, die Zweifel an ihrer Legitimität nahmen zu. Im März 1989, fast ein Jahr vor Putins Rückkehr nach Russland, hatte Gorbatschow eingewilligt, den neu erschaffenen Volksdeputiertenkongress in einer offenen Wahl zu besetzen – zum ersten Mal in der Geschichte der Sowjetunion. Dabei gewann eine bunt gewürfelte Truppe rund um Andrej Sacharow, Atomphysiker und Stimme der Moral unter den Dissidenten, und Boris Jelzin, damals ein ungestümer Rebell auf dem Weg zum politischen Star, der wegen seiner unaufhörlichen Kritik an den kommunistischen Autoritäten aus dem Politbüro ausgeschlossen worden war, einige Sitze und lieferte sich erstmalig Debatten mit der Kommunistischen Partei. Die sieben Jahrzehnte andauernde kommunistische Herrschaft steuerte im Eiltempo auf ihr Ende zu.
Inmitten der Tumulte versuchte Putin sich anzupassen. Doch statt seinen Lebensunterhalt als Taxifahrer bestreiten zu müssen oder den traditionellen Weg eines heimgekehrten Auslandsagenten zu beschreiten und einen Posten im »Zentrum« anzunehmen, wie das Moskauer KGB-Hauptquartier genannt wurde, wählte Putin einen anderen Weg. Er war von seinem ehemaligen Mentor und Chef in Dresden, Oberst Lasar Matwejew, angewiesen worden, seine Zeit nicht in Moskau zu vertändeln, sondern in seine Heimatstadt Leningrad zurückzukehren. 102 Dort fand er sich in einer Stadt in Aufruhr wieder, da die Stadtratswahlen, die aufgrund von Gorbatschows Reformen ebenfalls zum ersten Mal frei durchgeführt wurden, einen Machtkampf zwischen einer Gruppe aufstrebender Demokraten und der Kommunistischen Partei ausgelöst hatten. Zum ersten Mal hatten die Demokraten eine Chance, die kommunistische Mehrheit zu brechen. Statt die alte Garde gegen den Aufstieg der neuen Kräfte zu verteidigen, versuchte Putin sich der lokalen demokratischen Bewegung anzudienen.
Ohne lange abzuwarten, trat er an eine der kompromisslosesten Anführerinnen der Bewegung heran, Galina Starowoitowa, eine beherzte und furchtlose Vertreterin des neugewählten Volksdeputiertenkongresses. Starowoitowa war eine bekannte Menschenrechtsaktivistin, die ihre Ansichten über das Versagen der sowjetischen Autoritäten klar und offen zum Ausdruck brachte. Nach einer ihrer klangvollen Reden im Vorfeld der Stadtratswahlen ging Putin, ein helläugiger und damals unauffälliger Mann, auf sie zu und teilte ihr mit, wie sehr ihre Worte ihn beeindruckt hätten. Dann fragte er, ob er ihr in irgendeiner Weise behilflich sein könne – er bot sich sogar als Fahrer an. Doch Starowoitowa machte dieser unerbetene Vorschlag offenbar misstrauisch, sie lehnte entschieden ab. 103
So übernahm Putin zunächst eine Stelle als Assistent des Rektors der Leningrader Universität, wo er in jungen Jahren Jura studiert hatte und in den KGB eingetreten war. In dieser Funktion war er für die internationalen Beziehungen zuständig, er sollte die ausländischen Studenten und zu Gast weilenden Würdenträger im Auge behalten. Nach seiner Tätigkeit in Dresden wirkte das auf den ersten Blick wie eine enorme Degradierung, eine Rückkehr zu der höchst stumpfsinnigen Aufgabe, den KGB über die Aktivitäten von Ausländern informiert zu halten. Doch es dauerte nur wenige Wochen, bis Putin darüber einen Posten in der Führungsebene der demokratischen Bewegung ergatterte.
Anatoli Sobtschak war der charismatische Juraprofessor der Uni. Der großgewachsene, gebildete und gutaussehende Mann überzeugte die Studierenden schon seit Langem mit seinen gemäßigten regierungskritischen Ansichten und war einer der mitreißendsten Redner der neuen demokratischen Bewegung, der die Partei und den KGB immer wieder aufs Neue herausforderte. Er gehörte der Gruppe von Unabhängigen und Reformern an, die seit der Wahl im März 1990 die Mehrheit im Stadtrat stellten, und wurde im Mai zu dessen Vorsitzenden ernannt. Fast zur selben Zeit stieg Putin zu seiner rechten Hand auf.
Putin sollte Sobtschaks Problemlöser werden, sein Verbindungsmann zu den Sicherheitsbehörden, sein Schatten, der im Hintergrund über ihn wachte. Das hatte der KGB von Anfang an so arrangiert. »Putin wurde dort platziert. Er hatte eine Funktion zu erfüllen«, sagte Franz Sedelmayer, der deutsche Sicherheitsberater, der später mit Putin zusammenarbeitete. »Der KGB teilte Sobtschak mit: ›Hier ist unser Mann. Er kümmert sich um dich.‹« Die Anstellung an der Universität habe nur der Verschleierung gedient, meinte Sedelmayer, der glaubte, dass auch Sobtschak bereits lange inoffiziell mit dem KGB zusammengearbeitet habe: »Die beste Tarnung für diese Leute waren Juraabschlüsse.« 104
Trotz seines Ansehens bei den Demokraten und seiner beißenden Reden über den Machtmissbrauch durch den KGB verstand Sobtschak nur zu gut, dass seine politische Macht ohne die Unterstützung von zumindest Teilen der alten Garde begrenzt wäre. Er war eitel, geckenhaft und in erster Linie an seinem persönlichen Aufstieg interessiert. Deshalb hatte er neben Putin auch einen hochrangigen Vertreter des Leningrader Establishments mit ins Boot geholt und den Konteradmiral der Nordseeflotte, den Kommunisten Wjatscheslaw Schtscherbakow, zu seinem ersten Stellvertreter im Stadtrat ernannt. Sobtschaks Mitstreiter aus der demokratischen Bewegung, die ihn zu ihrem Anführer gemacht hatten, waren entsetzt. Aber Sobtschak kletterte durch seine Kompromissbereitschaft immer höher hinauf. Im Juni 1991 wählte die Stadt einen Bürgermeister, und der favorisierte Sobtschak entschied die Wahl mit Leichtigkeit für sich.
Als es im August zum Aufstand durch eine Gruppe kommunistischer Hardliner kam, vertraute Sobtschak zum Teil auch auf die alte Garde, vor allem auf Putin und seine KGB-Verbindungen, um die Stadt – und sich als Person – ohne Blutvergießen durch den Putschversuch zu manövrieren. Die Verschwörer, die Gorbatschows zunehmendes Entgegenkommen den nach Veränderungen gierenden Demokraten gegenüber als Bedrohung empfanden, hatten den Notstand ausgerufen und verkündet, die Führung über die Sowjetunion übernommen zu haben. Um zu verhindern, dass Gorbatschow einen neuen Unionsvertrag aufsetzte, der den Regierungen der verbliebenen Sowjetrepubliken die Kontrolle über ihre wirtschaftlichen Ressourcen zugestand, hatten die Putschisten Gorbatschow in seinem Sommerhaus auf Foros am Schwarzen Meer festgesetzt.
Doch in Sankt Petersburg, wie Leningrad nun wieder hieß, lehnte sich die demokratische Stadtverwaltung gegen den Putsch auf, ebenso wie in Moskau. Während sich einige Mitglieder des Stadtrats um die Verteidigung der Zentrale der Demokraten im heruntergekommenen Marienpalast kümmerten, sicherten sich Putin und Sobtschak die Unterstützung des örtlichen Polizeichefs und von sechzig Mitgliedern einer Sondereinheit. Gemeinsam überzeugten sie den Chef des lokalen Fernsehsenders, Sobtschak am ersten Abend nach dem Coup einen Liveauftritt zu gewähren. 105 Die Rede, die Sobtschak an diesem Abend hielt und in der er die Putschisten als Verbrecher brandmarkte, elektrisierte die Bewohner der Stadt, sodass sie am nächsten Tag zu Hunderttausenden auf die Straße gingen und sich im Schatten des Winterpalasts der Romanows versammelten, um gegen den Putsch zu demonstrieren. Sobtschak trieb die Menge mit eindringlichen Aufrufen zu Einheit und Widerstand an, doch die wichtigste und schwierigste Mission überließ er seinen Stellvertretern Putin und Schtscherbakow.
Nach dem Fernsehauftritt verkroch sich Sobtschak in seinem Büro im Marienpalast, während Putin und Schtscherbakow den KGB-Chef der Stadt und den regionalen Militärkommandanten dazu bringen mussten, die Panzer der Hardlinertruppen, die auf die Stadt zurollten, rechtzeitig aufzuhalten. 106 Als Sobtschak sich am folgenden Tag an die auf dem Palastplatz versammelte Menge wand, befanden sich Putin und Schtscherbakow weiterhin in den Verhandlungen. Und obwohl die Panzer schließlich noch am selben Tag direkt an der Stadtgrenze zum Stehen kamen, verschwand Putin mit Sobtschak und einer Phalanx von Sondereinsatzkräften in einem Bunker tief unter der größten Rüstungsfabrik der Stadt, dem Kirow-Werk, um die Gespräche mit dem KGB-Chef und dem Militärkommandanten an einem sicheren Ort über ein verschlüsseltes Kommunikationssystem fortzuführen. 107
Als Putin und Sobtschak am nächsten Morgen den Bunker verließen, war der Putsch vorbei. Der Griff der Hardliner nach der Macht war vereitelt. In Moskau hatten die Eliteeinheiten des KGB den Befehl verweigert, auf das Weiße Haus zu schießen, wo Boris Jelzin, mittlerweile gewählter Regierungschef der russischen Republik, Zehntausende Unterstützer gegen die Forderung der Putschisten versammelt hatte, die durch Gorbatschows Reformen erlangten Freiheiten zurückzunehmen. Die Überreste der Kommunistischen Partei hatten jeglichen Machtanspruch verspielt, und die Anführer der neuen Demokratie in Russland waren bereit, Verantwortung zu übernehmen. Was auch immer Putins Motive gewesen sein mögen – er hatte seinen Teil dazu beigetragen, dass sie nun in dieser Position waren.
Dabei hatte Putin die ganze Zeit über nur die Ansichten seiner Gegenüber gespiegelt, wie er es in der KGB-Ausbildung gelernt hatte: Erst die seines neuen, angeblich demokratischen Vorgesetzten, und dann die der alten Garde, als er mit ihr zu tun hatte. »Er wechselte seinen Standpunkt so schnell, dass man nie sagen konnte, wer er wirklich war«, meinte Sedelmayer. 108