Kapitel 8

Fünf Aspekte resilienter Selbstführung

IN DIESEM KAPITEL

  • Bewusste und unbewusste Stressreaktionen
  • Was hält gesund? Statt: Was macht uns krank?
  • Das persönliche Kohärenzgefühl stärken
  • Fünf Einflussfaktoren auf die eigene Resilienz

Als Lehrkraft sind Sie Führungskraft. Das Fundament einer effektiven Führung ist eine resiliente Selbstführung. Das bedeutet, um Ihren Führungsaufgaben nachzukommen, bedarf es für die vielfältigen Herausforderungen und Entscheidungen ein inneres Gegengewicht aus Schutzfaktoren und Ressourcen. Mit der Ausrichtung und dem Vertrauen auf gesundheitsstärkende Maßnahmen kann sich Ihr Denken, Fühlen und Handeln nach und nach resilienter entfalten.

Stress und seine Auswirkungen

Stress ist lebensimmanent. Stress erfordert eine Anpassungsreaktion, die verhindert, dass eine dauerhafte Überforderung oder Überlastung erlebt wird. Da Stressauslöser das autonome Nervensystem aktivieren, ist es wichtig, zunächst die Reiz-Reaktions-Muster von Stressverhalten allgemein zu kennen. Stress gehört zum Leben und zum Überleben.

In früheren Zeiten waren drei Stressreaktionen überlebenswichtig: Kampf, Flucht oder Erstarren (Totstellreflex). Diese Stressreaktionen sind noch heute in unserem Gehirn gespeichert und werden dementsprechend automatisch aktiviert, denn im Überlebensmodus ist es nicht zielführend, zuerst einmal aufs Bauchgefühl zu hören, darüber zu schlafen oder eine kognitive Pro-und-Kontra-Liste für mögliche Reaktionen zu erstellen. Es muss schnell gehen, daher werden Teile des Gehirns in den snooze-Modus heruntergefahren und andere Hirnareale fahren auf Hochtouren und aktivieren Atmung, Herzschlag, Blutdruck und Muskeltonus für die Bewältigung der Bedrohung.

Die Stressreaktion im Körper wird von verschiedenen Stresshormonen reguliert, die zusammenarbeiten, um auf die stressige Situation vorzubereiten. Zu den wichtigsten Hormonen, die an der Stressreaktion beteiligt sind, gehören:

  • Adrenalin
  • Noradrenalin
  • Cortisol
  • Kortikosteron
  • Endorphine

Diese Hormone erhöhen die Wachsamkeit, die Energieproduktion und sie steigern die körperliche und geistige Bereitschaft zur Bewältigung von Stress. Eine chronische Freisetzung dieser Hormone aufgrund anhaltenden Stresses kann gesundheitliche Probleme verursachen. Ein ausgewogenes Stressmanagement und die Anwendung von Stressbewältigungstechniken sind daher entscheidend, um die Auswirkungen der Stressreaktion auf den Körper zu minimieren.

Der gesunde Umgang mit Stress beinhaltet eine bewusste Reaktion auf Stressauslöser (Stressoren). Dazu muss ich um meine Stressoren wissen. Hilfreich ist es weiterhin, die körpereigenen Gegenspieler der erwähnten Stresshormone zu kennen, um gezielt auf diese einzuwirken.

Zu den körpereigenen Substanzen (Botenstoffe und Neurotransmitter), die Stress entgegenwirken und das Wohlbefinden steigern, zählen:

  • Endorphine
  • Serotonin
  • Dopamin
  • Oxytocin
  • Melatonin
  • GABA (Gamma-Aminobuttersäure)

Sie spielen eine wichtige Rolle dabei, den Körper in den Zustand von Entspannung zu versetzen. Aktivitäten wie Sport, Meditation, soziale Interaktion und ausreichend Schlaf fördern die Freisetzung dieser körpereigenen Substanzen.

An der Stressreaktion sind im Wesentlichen drei Einheiten beteiligt: präfrontaler Cortex, limbisches System und Hirnstamm (Kleinhirn) (siehe Abbildung 8.1).

Schematische Darstellung des Gehirns und Reaktion auf Kampf oder Flucht Entscheidung. Der präfrontale Kortex ist für kognitive Funktionen zuständig, das limbische System, die Amygdala und der Hypothalamus für emotionale Reaktionen. Der präfrontale Kortex bewertet die Situation und entscheidet im Notfall, ob Kampf oder Flucht angesagt ist.

Abbildung 8.1: Stressreaktionen im Gehirn

Das Salutogenese-Konzept

Der Soziologe Aaron Antonovsky entwickelte in den 1970er-Jahren das Salutogenese-Konzept. Sein Blick als Soziologe wurde durch seine Erfahrungen als Holocaust-Überlebender erweitert. Sein Interesse galt der Leitfrage, warum einige Menschen trotz widriger bis traumatischer Erfahrungen ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden aufrechterhalten konnten, während dies anderen nicht gelang. Mit seinem Salutogenese-Modell richtete er bewusst die Aufmerksamkeit auf das Verständnis von Gesundheit und Wohlbefinden und forschte dahin gehend. Er suchte nach bestimmbaren Faktoren für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Gesundheit. Er revolutionierte mit seinem Fokus die wissenschaftliche Perspektive und vollzog einen Paradigmenwechsel, denn die bis dahin vorherrschende Ausrichtung galt der Pathogenese, die sich mit der Entstehung von Krankheit befasst.

Durch seine Arbeit wollte Antonovsky ein besseres Verständnis für individuelle Resilienz gewinnen sowie Ansätze zur Förderung von Gesundheit und Wohlbefinden entwickeln.

Antonovsky führte intensive Forschungen durch, um die Mechanismen zu identifizieren, die Menschen dazu befähigen, die Herausforderungen des Lebens zu bewältigen. Im Rahmen dieser Forschung entwickelte er die zentralen Konzepte des Kohärenzgefühls und der generalisierten Widerstandsfähigkeit.

Sein Salutogenese-Konzept beinhaltet drei Komponenten, in deren Zentrum das Kohärenzgefühl (Sense of Coherence) verortet wird (siehe Abbildung 8.2). Es wird mit einem »stimmigen« Lebensgefühl gleichgesetzt. Das Kohärenzgefühl ist kein Gefühl im eigentlichen Sinne, sondern es steht in Wechselwirkung mit seinen drei umgebenden Bedingungen: Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit.

  • Verstehbarkeit: Menschen betrachten Situationen im Zusammenhang und als dem Leben »zugehörig«. Ihre Lebensereignisse nehmen sie als verständlich wahr, weil sie durchschaubar und nachvollziehbar sind.
  • Handhabbarkeit: Menschen können Anforderungen des Lebens begegnen, da sie um ihre Ressourcen und Fähigkeiten wissen.
  • Bedeutsamkeit: Menschen erkennen ihr Leben mit all seinen Facetten als wertvoll an und gewinnen Situationen einen Sinn ab.
Kreisdiagramm mit drei Zusammenhangsfaktoren "Verstehbarkeit", "Handhabbarkeit" und "Bedeutsamkeit". Im Zentrum "Kohärenz-Gefühl". Diese stellt das Salutogenese-Modell dar.

Abbildung 8.2: Das Salutogenese-Modell

Schaffen Sie ein Kohärenzgefühl für sich und für Ihre Schüler, indem Sie diese drei Faktoren berücksichtigen. Stärkend sind folgende inneren Überzeugungen:

  • Verstehbarkeit bietet Orientierung: »Ich erlebe Herausforderungen als vorhersehbar und durchschaubar.«
  • Handhabbarkeit stärkt die Selbstwirksamkeit: »Ich habe Zuversicht und Vertrauen in die Machbarkeit meiner Aufgaben.«
  • Bedeutsamkeit erzeugt persönliche Relevanz: »Ich ordne Probleme und Herausforderungen als bedeutsam ein.«

Resilienz

Resilienz ist die Fähigkeit, konstruktiv mit Krisen umzugehen und sich dabei und danach als selbstwirksam zu erleben. Diese Fähigkeit bezieht sich auf unser Denken, Fühlen und Handeln. Sie wird häufig als das »psychische Immunsystem« bezeichnet.

Die Resilienz von Lehrkräften beeinflusst die Qualität ihrer Arbeit in Schule und Unterricht wesentlich. Dies wirkt sich auf folgende Bereiche aus:

  • Vorbildfunktion: Resiliente Lehrer sind in der Lage, besser mit Stress und Herausforderungen umzugehen, dadurch vermitteln sie den Schülern wichtige Fähigkeiten zur Bewältigung eigener Schwierigkeiten.
  • Bessere Lehrer-Schüler-Beziehungen: Resiliente Lehrer können besser auf die Bedürfnisse und Emotionen der Schüler eingehen.
  • Bewältigung der Arbeitsbelastung: Resiliente Lehrer können effektiver mit den beruflichen Belastungen umgehen und bleiben dabei in Balance.
  • Stressreduktion: Resiliente Lehrer verfügen über Strategien, um mit Stress umzugehen, und können dadurch einem Ausbrennen vorbeugen.
  • Flexibilität und Anpassungsfähigkeit: Resiliente Lehrer können sich besser an unerwartete Veränderungen im Schulbetrieb anpassen.
  • Kreativität und Innovation: Resiliente Lehrer sind häufig offener gegenüber neuen Methoden, Ansätzen und Technologien. Sie sind eher bereit, Innovationen im Sinne einer Verbesserung von Unterricht auszuprobieren.

»Das Geheimnis der Resilienz ist die Schwingungsfähigkeit zwischen den Polen des Lebens, zwischen Problem und Lösung, zwischen Stress und Ressourcen, zwischen Plus und Minus.« (Dr. Isa Grüber)

Das LOBBY-Prinzip – Resilienz »to go«

Selbstführung bedeutet, sich mit der eigenen Innenwelt und der Außenwelt zu beschäftigen. Im Inneren finden unsere Gedanken und Gefühle ihren Raum, in der Außenwelt zeigen sich diese durch Aktion und Reaktion. Als Lehrkraft sind Sie (nicht nur) im Unterricht gefordert, schnelle und gute Entscheidungen zu treffen. Sie sind permanent im Kontakt und müssen innerlich abwägen und äußerlich souverän agieren.

Gute Selbstführung ist bewusstes und erfolgreiches Navigieren zwischen inneren Einstellungen und äußerem Handeln. Die mentalen und emotionalen Ressourcen werden sinnvoll aus einer inneren Haltung heraus gelenkt. Dadurch wird das Erleben im Außen aktiv gesteuert und das eigene Handeln zur bewussten Entscheidung. Selbstführung wird vor allem in herausfordernden Situationen bedeutsam. Damit die Qualitäten guter Selbstführung dann zur Verfügung stehen, müssen sie trainiert werden.

Das LOBBY-Prinzip steht für fünf Aspekte einer resilienten Selbstführung (siehe Abbildung 8.3). Als Resilienz »to go« bilden sie ein wirksames Fundament, das Sie im Alltag unterstützt und quasi an den fünf Fingern einer Hand abzählbar ist.

Schematische Darstellung des LOBBY-Prinzips mit Buchstaben und Icons für Leidenschaft, Orientierung, Bedeutung, Beziehung und inneres "Why". Unten steht "Resilienz  ' to go ' ".

Abbildung 8.3: Das LOBBY-Prinzip – Fünf Aspekte resilienter Selbstführung

L – Leidenschaft für Lösungen

An erster Stelle steht die Lösungsorientierung als wirkliche Leidenschaft. Wer systemisch denkt, wird zunehmend den Blick auf Lösungen und Ressourcen verinnerlichen. Dazu dürfen sich das Mindset (grundlegende Einstellung und Überzeugungen einer Person über ihre Fähigkeiten und Potenziale) und die verknüpften Glaubenssätze erweitern.

Was machen lösungsorientierte Menschen anders?

Lösungsdenken ist ressourcenorientiert: Resiliente Menschen denken ressourcenorientiert und sie handeln aus dieser verinnerlichten Perspektive heraus. Ihr Denken, Fühlen und Handeln ist auf Selbstwirksamkeit, auf die eigenen Kompetenzen ausgerichtet.

Leitfragen für diese Ausrichtung lauten zum Beispiel:

  • Was hilft mir, gesund zu bleiben?
  • Was an dieser Krise stärkt mich langfristig?
  • Wie kann ich ein Problem als Herausforderung annehmen?

Diese Einstellung verändert den eigenen Handlungsradius. Es wird möglich, aktiv aus der »Problemtrance« (Steve de Shazer) in die Zone der Veränderung zu treten. Eine Situation, die ich als grundsätzlich bewältigbar einschätze, stärkt mich. Die eigene Handlungskompetenz rückt in den Vordergrund, statt des Eindrucks, ausgeliefert zu sein und sich ohnmächtig zu fühlen.

Unsere Einstellung ist veränderbar. Die Herausforderung besteht im Training lösungsorientierter Gedanken als (Re-)Aktionsmuster. Unser Gehirn ist darauf spezialisiert, logische Erklärungen zu finden. Nehmen wir ein bestimmtes Gefühl wahr, so wird im Gehirn nach einer passenden »Schablone« gesucht, mit der das Gefühl logisch erklärt werden kann. Solche Schablonen sind in jedem Menschen abgelegt, denn das Gehirn entwickelt sich in Abhängigkeit zu seiner Umwelt. Wir alle sind also zum Teil geprägt von übernommenen Informationen vertrauter Menschen, die uns die Welt erklär(t)en und uns ihre Reaktionen darauf vorleb(t)en. Trotz seiner unfassbaren Komplexität bedient sich das Gehirn energiesparender Gewohnheiten, indem es diese bereits gespeicherte Strukturen in die Wiedervorlage holt und dadurch aktualisiert.

Beobachten Sie einmal an sich, wie Sie durch Ihren beruflichen Alltag gehen. Erleben Sie Herausforderungen eher als Bedrohung oder als Einladung, um Lösungen zu finden?

Die Japaner haben ein schönes Bild für den Umgang mit Krisen. Ihr Prinzip heißt »Kintsugi« (Kin für Gold und tsugi für reparieren, zusammenfügen). Ursprünglich aus der Teezeremonie stammend, ist es heute ein Sinnbild für das Integrieren von erlebten Brüchen, indem gemachte Erlebnisse reflektiert und die Erfahrungen daraus bewusst ins Leben integriert und als zugehörig betrachtet werden. Daraus ergibt sich eine veränderte Perspektive auf das Erleben selbst sowie auf künftige Herausforderungen. In diesem Sinne ist das »Reparieren« für mich ein Sinnbild für eine würdigende Bewältigung und Lösungsorientierung.

O – Orientierung

Orientierung spielt eine zentrale Rolle für das allgemeine Wohlbefinden und die psychische Gesundheit. Orientierung zählt zu den psycho-sozialen Grundbedürfnissen nach Klaus Grawe. Sie bezieht sich auf die grundlegende Wahrnehmung von Umgebung, Identität und Zielen.

Sind Sie schon einmal unterwegs gewesen und mussten dringend auf einen gewissen Ort und nirgends ist ein Schild? Oder Sie sind zu einem Termin geladen und haben keine Ahnung, wo der Raum ist und die Zeit ist eh schon knapp? Oder Sie wissen, da kommt eine große Aufgabe auf Sie zu, die konkrete Zielführung und die Gestaltung sind aber noch gar nicht klar?

Keine Orientierung zu haben, wirkt sich stressverstärkend aus, weil wir Sicherheit und Kontrolle einbüßen. Die körpereigene biochemische Stressreaktion feuert ein paar nette »Botenstoff-Cocktails« und versetzt den Organismus in erhöhte Alarmbereitschaft. Gut gemeint, jedoch situativ nicht hilfreich. Zu viele Stresshormone (allen voran Adrenalin und Cortisol) im Blut verhindern den Zugriff auf Lösungen, da der präfrontale Cortex (Stirnhirn), der eigentlich dafür zuständige Bereich im Gehirn, blockiert ist. (Siehe dazu den Abschnitt Stress und seine Auswirkungen.)

Für das eigene Sicherheitserleben sind folgende Fragen hilfreich:

  • Wer oder was gibt mir Halt?
  • An wem orientiere ich mich?
  • Welche Zwischenschritte liegen auf dem Weg zu meinem Ziel?

Zur Bewältigung von Krisen und Herausforderungen benötigen wir Orientierung. Krise kommt aus dem Griechischen crisis und heißt Entscheidung. Entscheidungen ermöglichen uns Orientierung. Auch wenn in Schulen Entscheidungsmöglichkeiten strukturell eingeschränkt sind oder derart wahrgenommen werden, gibt es wichtige Entscheidungsräume für Lehrkräfte. Ihr Entscheidungsverhalten als Lehrkraft hat Einfluss auf Ihre Selbstführung und damit auf die Führung anderer.

B – Bedeutung

Wahrnehmung führt zu subjektiver Realitätsbildung. Eine Person formt ihr Erleben konstruktiv zur eigenen Wirklichkeit. Dabei ist diese Wirklichkeitskonstruktion abhängig von der Aufmerksamkeit und den selektiven Filtern einer Person (siehe dazu auch den Abschnitt Von der Wahrnehmung zur Wirklichkeit: Die Welt des Konstruktivismus in Kapitel 4).

Jeder Mensch gibt dem eigenen Erleben eine subjektive Bedeutung. Die Art und Weise dieser Bedeutungsgebung beeinflusst das Selbstwirksamkeitserleben und damit unser Denken, Fühlen und Handeln.

Zwei Lehrer können in derselben Schule und in derselben Klasse arbeiten und doch völlig Unterschiedliches wahrnehmen und dementsprechend unterschiedlich empfinden.

Unser Erleben ist durch unsere Aufmerksamkeit aktiv gestaltbar und dadurch ein zentraler Selbstwirksamkeitsaspekt. WIR konstruieren UNSERE Wirklichkeit.

Die Art und Weise, WIE wir etwas Bedeutung geben, hat Einfluss darauf, wie (innere) Konflikte entstehen. Gedanken wie

  • »Die Situation stresst mich.«
  • »Ich habe eine Krise.«

erzeugen eher ein Ohnmachts-Erleben der Umstände; die Situation selbst wird zum Stressor und damit zum Täter (Gunther Schmid). Dadurch bleibt der Zugang zu den eigenen Kompetenzen und Ressourcen behindert.

Hilfreich ist es, sich bezogen auf Herausforderungen stattdessen folgende Zielfrage zu stellen: »Wie verarbeite ich diese Krise/Situation, dass sie michnichtstresst?«

Nicht der Stress selbst ist der »Feind«, sondern der Umgang damit. Unser Gehirn speichert Erlebnisse als Netzwerke. Wird eine Wahrnehmung vielfach wiederholt und immer wieder aufgerufen, verstärkt sich das neuronale Netzwerk. Das gleicht dem Bild einer mehrspurigen Autobahn. Neue Gedanken dagegen sind vergleichsweise wie Trampelpfade. Erst die wiederholte Bahnung der Spur führt zu deren solidem Ausbau.

Veränderung heißt, etwas anders tun. Und davor muss ich etwas anders denken! Fokussieren Sie Ihre Aufmerksamkeit aus diesem Grund bewusst auf Bedeutsames: Finden Sie neue, stärkende Gedanken, die sich lohnen, kultiviert zu werden. Ihr Gehirn wird sich in diesem Sinne neu vernetzen, nach dem Motto »You fire, you wire« – unsere Gedanken aktivieren neuronale Impulse, die sich zu neuronalen Verknüpfungen formen.

Unterstützend zur Anbahnung anderer Gedanken können folgende Fragen sein:

  • Welche Bedeutung gebe ich den (aktuellen) Umständen?
  • Wie gehe ich mit meinen Stressoren um? Wie (re)agiere ich?
  • Welche Gedanken bewirken eine positive Veränderung?

B – Beziehung

Der Mensch ist ein Beziehungswesen. Auch dieser Aspekt ist verknüpft mit einem psycho-sozialen Bedürfnis nach Klaus Grawe: Das Bedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit in uns. (Die Bedeutung der Bedürfnis-Theorie für Ihr pädagogisches Denken und Handeln erfahren Sie in Kapitel 12 Bedürfnisse und Entwicklungsaufgaben und ihre Bedeutung für Führung.)

Verschiedene psychologische Wissenschaftler haben sich mit den Grundbedürfnissen befasst. Maslow entwickelte für seine Theorie die Bedürfnispyramide, in der er physiologische und psychologische Bedürfnisse unterscheidet. Grawe entwickelte die Konsistenztheorie (siehe Kapitel 12) und bündelt darin vier psycho-soziale Bedürfnisse. Selbst in der Kommunikation findet die Bedeutung von Bedürfnissen ihren Raum. Marshall B. Rosenberg erklärt in seiner Gewaltfreien Kommunikation die unerfüllten Bedürfnisse als Grundlage für ein bestimmtes Gefühl und bindet diese gezielt in sein Kommunikationsmodell ein. Verkürzt heißt das, hinter jedem unangenehmen Gefühl steht ein unerfülltes Bedürfnis.

Die Art und Weise, wie ich die Beziehung zu mir selbst gestalte, beeinflusst die Beziehung zu anderen. Eine gute Selbstbeziehung setzt voraus, auch die physiologischen Grundbedürfnisse nach Maslow im Blick behalten. In Zeiten von Herausforderungen kürzen wir schnell an unseren körperlichen Grundbedürfnissen. Zumindest ist das bei mir so.

Kennen Sie das? Unter Zeitdruck verkneife ich mir im Schulalltag den Toilettengang, ich vergesse zu trinken, ich habe allenfalls ein Bäckergeld dabei, weil ich mir keine (gesunde) Brotzeit eingepackt habe. Daheim reduziere ich mein Bewegungsprogramm, weil meine Prioritäten aus der Balance geraten. Viel fürsorglicher sind wir dagegen mit unserem technischen Gerät. Hand aufs Herz: Wer von Ihnen hat heute schon geprüft, wie viel Akkuladung das Handy noch hat und ob sie reicht für den Tag? Wir haben ständig den digitalen Akkustand im Blick, laden zwischendurch auf und schalten sogar um in den Stromsparmodus. Was würde das bedeuten, wenn wir diese Fürsorge auf uns selbst anwenden? Wie schaffen wir es, gut für uns zu sorgen, in Zeiten der Krise?

Hilfreiche Fragen für die Stärkung der (Selbst-)Beziehung:

  • Wie bin ich in Kontakt mit mir und meinen Bedürfnissen?
  • Habe ich tragfähige Beziehungen? Woran mache ich das fest?
  • Wie bin ich mit anderen verbunden? Wodurch spüre ich diese Verbundenheit?

Y – Inneres Why

Ich bin ein »Fan« von Simon Sinek, einem britisch-amerikanischen Autor, Motivationssprecher und Unternehmensberater. Seine TEDx-Rede mit dem Titel How Great Leaders Inspire Action wurde zu einem der meistgesehenen TED-Talks. Dadurch wurde sein Konzept des Golden Circle (siehe Abbildung 8.4) international einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Sinek betont darin die Bedeutung des Warum hinter dem Handeln von Unternehmen und Organisationen.

Sein Konzept befasst sich mit drei grundlegenden Fragerichtungen, dem Warum, Was und Wie einer Organisation. In seinem Buch Start with why! (ins Deutsche etwas »unglücklich« übersetzt mit Frag immer erst: Warum!) betont Sinek, dass erfolgreiche Unternehmen und Organisationen von innen nach außen denken sollten, indem sie sich zuerst mit ihrem Warum auseinandersetzen. Er unterstreicht die Bedeutung, Menschen zu inspirieren, um emotionale Verbindungen herzustellen und letztlich dadurch Mitarbeiter und Kunden zu binden.

Konzentrische Kreise mit Pfeilen zeigen Fragen an: Warum/Wozu?, Wie?, Was?

Abbildung 8.4: The Golden Circle nach Simon Sinek

  • Warum: Zweck oder Mission
  • Wie: Art und Weise, wie gehandelt wird
  • Was: Produkte oder Dienstleistungen, die angeboten werden

Auch wenn Sinek als Unternehmensberater vorrangig in der Wirtschaft tätig ist, lässt sich sein Konzept auf Schule und Unterricht übertragen.

Sinek startet mit dem WARUM, der eigenen Mission. Dadurch wird das, was jemand tut, bedeutsamer. WARUM beginnt mit der Emotion. Diese Emotion wird aktiviert durch die Auseinandersetzung mit der Sinnhaftigkeit und der Bedeutung und in der Folge der Begründung des Handelns. Diese Ausrichtung aktiviert direkt das limbische System im Gehirn und dadurch motivationale Prozesse.

In unserer Kultur beginnen wir meist mit dem WAS in Form von »Ich bin …« oder dem WIE mit der Benennung der Tätigkeit.

  • WAS: »Ich bin Lehrerin.«
  • WIE: »Ich unterrichte

Dadurch steht das »Ich bin …«, »Ich mache …« im Vordergrund und wir sind laut Sinek auf der operativen und strategischen Ebene. Gleichzeitig geht bei unserem Gegenüber meist eine Schublade auf, und die eigenen Vorstellungen und Vorerfahrungen über den Beruf oder die Tätigkeit überlagern das Bild. Im Falle des Lehrerberufs ist dies besonders häufig der Fall, da ja jeder selbst in der Schule war und sich quasi auskennt.

Wenn wir stattdessen mit dem inneren Why beginnen und das eigene Handeln aus dieser Perspektive beschreiben, konzentrieren wir uns auf den Sinn.

Wenn ich mein Verständnis von »Lehrer sein« nach diesem Modell formuliere und mit dem WHY beginne, liest sich das so:

»Ich unterstütze und begleite junge Menschen auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben: Ich bin an ihrer Seite und interessiere mich für ihre Geschichte und für ihre Wünsche und schenke ihnen Zuversicht, sodass sie die Zuversicht in sich selbst und in ihrem Leben erfahren und an andere weitergeben. Nebenbei unterrichte ich.«

Selbstwirksamkeit braucht Sinn und Stimmigkeit. Wenn das, was ich tue, stimmig ist, bin ich resilienter, weil ich in Kontakt mit meinen Kompetenzen bin. Wie ist das bei Ihnen? Beantworten Sie dazu folgende Fragen:

  • Was ist mein inneres Wozu?
  • Wodurch erhält mein Tun einen Sinn?
  • Was gibt meinem Wirken Bedeutung?

Kennen Sie Ihr inneres Why? Wie formulieren Sie Ihr Berufsverständnis auf der Basis dieses Modells? Was steht für Sie hinter dem Begriff »Lehrer«? Formulieren Sie doch einmal Ihr Why anhand des Golden Circle und richten Sie Ihren beruflichen Kompass danach aus. Sie werden staunen, wie sich Ihr Selbstverständnis dadurch verändern kann.