Kapitel 8
IN DIESEM KAPITEL
Als Lehrkraft sind Sie Führungskraft. Das Fundament einer effektiven Führung ist eine resiliente Selbstführung. Das bedeutet, um Ihren Führungsaufgaben nachzukommen, bedarf es für die vielfältigen Herausforderungen und Entscheidungen ein inneres Gegengewicht aus Schutzfaktoren und Ressourcen. Mit der Ausrichtung und dem Vertrauen auf gesundheitsstärkende Maßnahmen kann sich Ihr Denken, Fühlen und Handeln nach und nach resilienter entfalten.
Stress ist lebensimmanent. Stress erfordert eine Anpassungsreaktion, die verhindert, dass eine dauerhafte Überforderung oder Überlastung erlebt wird. Da Stressauslöser das autonome Nervensystem aktivieren, ist es wichtig, zunächst die Reiz-Reaktions-Muster von Stressverhalten allgemein zu kennen. Stress gehört zum Leben und zum Überleben.
In früheren Zeiten waren drei Stressreaktionen überlebenswichtig: Kampf, Flucht oder Erstarren (Totstellreflex). Diese Stressreaktionen sind noch heute in unserem Gehirn gespeichert und werden dementsprechend automatisch aktiviert, denn im Überlebensmodus ist es nicht zielführend, zuerst einmal aufs Bauchgefühl zu hören, darüber zu schlafen oder eine kognitive Pro-und-Kontra-Liste für mögliche Reaktionen zu erstellen. Es muss schnell gehen, daher werden Teile des Gehirns in den snooze-Modus heruntergefahren und andere Hirnareale fahren auf Hochtouren und aktivieren Atmung, Herzschlag, Blutdruck und Muskeltonus für die Bewältigung der Bedrohung.
Die Stressreaktion im Körper wird von verschiedenen Stresshormonen reguliert, die zusammenarbeiten, um auf die stressige Situation vorzubereiten. Zu den wichtigsten Hormonen, die an der Stressreaktion beteiligt sind, gehören:
Diese Hormone erhöhen die Wachsamkeit, die Energieproduktion und sie steigern die körperliche und geistige Bereitschaft zur Bewältigung von Stress. Eine chronische Freisetzung dieser Hormone aufgrund anhaltenden Stresses kann gesundheitliche Probleme verursachen. Ein ausgewogenes Stressmanagement und die Anwendung von Stressbewältigungstechniken sind daher entscheidend, um die Auswirkungen der Stressreaktion auf den Körper zu minimieren.
Der gesunde Umgang mit Stress beinhaltet eine bewusste Reaktion auf Stressauslöser (Stressoren). Dazu muss ich um meine Stressoren wissen. Hilfreich ist es weiterhin, die körpereigenen Gegenspieler der erwähnten Stresshormone zu kennen, um gezielt auf diese einzuwirken.
Zu den körpereigenen Substanzen (Botenstoffe und Neurotransmitter), die Stress entgegenwirken und das Wohlbefinden steigern, zählen:
Sie spielen eine wichtige Rolle dabei, den Körper in den Zustand von Entspannung zu versetzen. Aktivitäten wie Sport, Meditation, soziale Interaktion und ausreichend Schlaf fördern die Freisetzung dieser körpereigenen Substanzen.
An der Stressreaktion sind im Wesentlichen drei Einheiten beteiligt: präfrontaler Cortex, limbisches System und Hirnstamm (Kleinhirn) (siehe Abbildung 8.1).
Der Soziologe Aaron Antonovsky entwickelte in den 1970er-Jahren das Salutogenese-Konzept. Sein Blick als Soziologe wurde durch seine Erfahrungen als Holocaust-Überlebender erweitert. Sein Interesse galt der Leitfrage, warum einige Menschen trotz widriger bis traumatischer Erfahrungen ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden aufrechterhalten konnten, während dies anderen nicht gelang. Mit seinem Salutogenese-Modell richtete er bewusst die Aufmerksamkeit auf das Verständnis von Gesundheit und Wohlbefinden und forschte dahin gehend. Er suchte nach bestimmbaren Faktoren für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Gesundheit. Er revolutionierte mit seinem Fokus die wissenschaftliche Perspektive und vollzog einen Paradigmenwechsel, denn die bis dahin vorherrschende Ausrichtung galt der Pathogenese, die sich mit der Entstehung von Krankheit befasst.
Antonovsky führte intensive Forschungen durch, um die Mechanismen zu identifizieren, die Menschen dazu befähigen, die Herausforderungen des Lebens zu bewältigen. Im Rahmen dieser Forschung entwickelte er die zentralen Konzepte des Kohärenzgefühls und der generalisierten Widerstandsfähigkeit.
Sein Salutogenese-Konzept beinhaltet drei Komponenten, in deren Zentrum das Kohärenzgefühl (Sense of Coherence) verortet wird (siehe Abbildung 8.2). Es wird mit einem »stimmigen« Lebensgefühl gleichgesetzt. Das Kohärenzgefühl ist kein Gefühl im eigentlichen Sinne, sondern es steht in Wechselwirkung mit seinen drei umgebenden Bedingungen: Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit.
Schaffen Sie ein Kohärenzgefühl für sich und für Ihre Schüler, indem Sie diese drei Faktoren berücksichtigen. Stärkend sind folgende inneren Überzeugungen:
Resilienz ist die Fähigkeit, konstruktiv mit Krisen umzugehen und sich dabei und danach als selbstwirksam zu erleben. Diese Fähigkeit bezieht sich auf unser Denken, Fühlen und Handeln. Sie wird häufig als das »psychische Immunsystem« bezeichnet.
Die Resilienz von Lehrkräften beeinflusst die Qualität ihrer Arbeit in Schule und Unterricht wesentlich. Dies wirkt sich auf folgende Bereiche aus:
»Das Geheimnis der Resilienz ist die Schwingungsfähigkeit zwischen den Polen des Lebens, zwischen Problem und Lösung, zwischen Stress und Ressourcen, zwischen Plus und Minus.« (Dr. Isa Grüber)
Selbstführung bedeutet, sich mit der eigenen Innenwelt und der Außenwelt zu beschäftigen. Im Inneren finden unsere Gedanken und Gefühle ihren Raum, in der Außenwelt zeigen sich diese durch Aktion und Reaktion. Als Lehrkraft sind Sie (nicht nur) im Unterricht gefordert, schnelle und gute Entscheidungen zu treffen. Sie sind permanent im Kontakt und müssen innerlich abwägen und äußerlich souverän agieren.
Das LOBBY-Prinzip steht für fünf Aspekte einer resilienten Selbstführung (siehe Abbildung 8.3). Als Resilienz »to go« bilden sie ein wirksames Fundament, das Sie im Alltag unterstützt und quasi an den fünf Fingern einer Hand abzählbar ist.
An erster Stelle steht die Lösungsorientierung als wirkliche Leidenschaft. Wer systemisch denkt, wird zunehmend den Blick auf Lösungen und Ressourcen verinnerlichen. Dazu dürfen sich das Mindset (grundlegende Einstellung und Überzeugungen einer Person über ihre Fähigkeiten und Potenziale) und die verknüpften Glaubenssätze erweitern.
Was machen lösungsorientierte Menschen anders?
Lösungsdenken ist ressourcenorientiert: Resiliente Menschen denken ressourcenorientiert und sie handeln aus dieser verinnerlichten Perspektive heraus. Ihr Denken, Fühlen und Handeln ist auf Selbstwirksamkeit, auf die eigenen Kompetenzen ausgerichtet.
Leitfragen für diese Ausrichtung lauten zum Beispiel:
Diese Einstellung verändert den eigenen Handlungsradius. Es wird möglich, aktiv aus der »Problemtrance« (Steve de Shazer) in die Zone der Veränderung zu treten. Eine Situation, die ich als grundsätzlich bewältigbar einschätze, stärkt mich. Die eigene Handlungskompetenz rückt in den Vordergrund, statt des Eindrucks, ausgeliefert zu sein und sich ohnmächtig zu fühlen.
Unsere Einstellung ist veränderbar. Die Herausforderung besteht im Training lösungsorientierter Gedanken als (Re-)Aktionsmuster. Unser Gehirn ist darauf spezialisiert, logische Erklärungen zu finden. Nehmen wir ein bestimmtes Gefühl wahr, so wird im Gehirn nach einer passenden »Schablone« gesucht, mit der das Gefühl logisch erklärt werden kann. Solche Schablonen sind in jedem Menschen abgelegt, denn das Gehirn entwickelt sich in Abhängigkeit zu seiner Umwelt. Wir alle sind also zum Teil geprägt von übernommenen Informationen vertrauter Menschen, die uns die Welt erklär(t)en und uns ihre Reaktionen darauf vorleb(t)en. Trotz seiner unfassbaren Komplexität bedient sich das Gehirn energiesparender Gewohnheiten, indem es diese bereits gespeicherte Strukturen in die Wiedervorlage holt und dadurch aktualisiert.
Beobachten Sie einmal an sich, wie Sie durch Ihren beruflichen Alltag gehen. Erleben Sie Herausforderungen eher als Bedrohung oder als Einladung, um Lösungen zu finden?
Orientierung spielt eine zentrale Rolle für das allgemeine Wohlbefinden und die psychische Gesundheit. Orientierung zählt zu den psycho-sozialen Grundbedürfnissen nach Klaus Grawe. Sie bezieht sich auf die grundlegende Wahrnehmung von Umgebung, Identität und Zielen.
Keine Orientierung zu haben, wirkt sich stressverstärkend aus, weil wir Sicherheit und Kontrolle einbüßen. Die körpereigene biochemische Stressreaktion feuert ein paar nette »Botenstoff-Cocktails« und versetzt den Organismus in erhöhte Alarmbereitschaft. Gut gemeint, jedoch situativ nicht hilfreich. Zu viele Stresshormone (allen voran Adrenalin und Cortisol) im Blut verhindern den Zugriff auf Lösungen, da der präfrontale Cortex (Stirnhirn), der eigentlich dafür zuständige Bereich im Gehirn, blockiert ist. (Siehe dazu den Abschnitt Stress und seine Auswirkungen.)
Für das eigene Sicherheitserleben sind folgende Fragen hilfreich:
Wahrnehmung führt zu subjektiver Realitätsbildung. Eine Person formt ihr Erleben konstruktiv zur eigenen Wirklichkeit. Dabei ist diese Wirklichkeitskonstruktion abhängig von der Aufmerksamkeit und den selektiven Filtern einer Person (siehe dazu auch den Abschnitt Von der Wahrnehmung zur Wirklichkeit: Die Welt des Konstruktivismus in Kapitel 4).
Jeder Mensch gibt dem eigenen Erleben eine subjektive Bedeutung. Die Art und Weise dieser Bedeutungsgebung beeinflusst das Selbstwirksamkeitserleben und damit unser Denken, Fühlen und Handeln.
Unser Erleben ist durch unsere Aufmerksamkeit aktiv gestaltbar und dadurch ein zentraler Selbstwirksamkeitsaspekt. WIR konstruieren UNSERE Wirklichkeit.
Die Art und Weise, WIE wir etwas Bedeutung geben, hat Einfluss darauf, wie (innere) Konflikte entstehen. Gedanken wie
erzeugen eher ein Ohnmachts-Erleben der Umstände; die Situation selbst wird zum Stressor und damit zum Täter (Gunther Schmid). Dadurch bleibt der Zugang zu den eigenen Kompetenzen und Ressourcen behindert.
Hilfreich ist es, sich bezogen auf Herausforderungen stattdessen folgende Zielfrage zu stellen: »Wie verarbeite ich diese Krise/Situation, dass sie michnichtstresst?«
Nicht der Stress selbst ist der »Feind«, sondern der Umgang damit. Unser Gehirn speichert Erlebnisse als Netzwerke. Wird eine Wahrnehmung vielfach wiederholt und immer wieder aufgerufen, verstärkt sich das neuronale Netzwerk. Das gleicht dem Bild einer mehrspurigen Autobahn. Neue Gedanken dagegen sind vergleichsweise wie Trampelpfade. Erst die wiederholte Bahnung der Spur führt zu deren solidem Ausbau.
Veränderung heißt, etwas anders tun. Und davor muss ich etwas anders denken! Fokussieren Sie Ihre Aufmerksamkeit aus diesem Grund bewusst auf Bedeutsames: Finden Sie neue, stärkende Gedanken, die sich lohnen, kultiviert zu werden. Ihr Gehirn wird sich in diesem Sinne neu vernetzen, nach dem Motto »You fire, you wire« – unsere Gedanken aktivieren neuronale Impulse, die sich zu neuronalen Verknüpfungen formen.
Unterstützend zur Anbahnung anderer Gedanken können folgende Fragen sein:
Der Mensch ist ein Beziehungswesen. Auch dieser Aspekt ist verknüpft mit einem psycho-sozialen Bedürfnis nach Klaus Grawe: Das Bedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit in uns. (Die Bedeutung der Bedürfnis-Theorie für Ihr pädagogisches Denken und Handeln erfahren Sie in Kapitel 12 Bedürfnisse und Entwicklungsaufgaben und ihre Bedeutung für Führung.)
Verschiedene psychologische Wissenschaftler haben sich mit den Grundbedürfnissen befasst. Maslow entwickelte für seine Theorie die Bedürfnispyramide, in der er physiologische und psychologische Bedürfnisse unterscheidet. Grawe entwickelte die Konsistenztheorie (siehe Kapitel 12) und bündelt darin vier psycho-soziale Bedürfnisse. Selbst in der Kommunikation findet die Bedeutung von Bedürfnissen ihren Raum. Marshall B. Rosenberg erklärt in seiner Gewaltfreien Kommunikation die unerfüllten Bedürfnisse als Grundlage für ein bestimmtes Gefühl und bindet diese gezielt in sein Kommunikationsmodell ein. Verkürzt heißt das, hinter jedem unangenehmen Gefühl steht ein unerfülltes Bedürfnis.
Die Art und Weise, wie ich die Beziehung zu mir selbst gestalte, beeinflusst die Beziehung zu anderen. Eine gute Selbstbeziehung setzt voraus, auch die physiologischen Grundbedürfnisse nach Maslow im Blick behalten. In Zeiten von Herausforderungen kürzen wir schnell an unseren körperlichen Grundbedürfnissen. Zumindest ist das bei mir so.
Hilfreiche Fragen für die Stärkung der (Selbst-)Beziehung:
Ich bin ein »Fan« von Simon Sinek, einem britisch-amerikanischen Autor, Motivationssprecher und Unternehmensberater. Seine TEDx-Rede mit dem Titel How Great Leaders Inspire Action wurde zu einem der meistgesehenen TED-Talks. Dadurch wurde sein Konzept des Golden Circle (siehe Abbildung 8.4) international einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Sinek betont darin die Bedeutung des Warum hinter dem Handeln von Unternehmen und Organisationen.
Sein Konzept befasst sich mit drei grundlegenden Fragerichtungen, dem Warum, Was und Wie einer Organisation. In seinem Buch Start with why! (ins Deutsche etwas »unglücklich« übersetzt mit Frag immer erst: Warum!) betont Sinek, dass erfolgreiche Unternehmen und Organisationen von innen nach außen denken sollten, indem sie sich zuerst mit ihrem Warum auseinandersetzen. Er unterstreicht die Bedeutung, Menschen zu inspirieren, um emotionale Verbindungen herzustellen und letztlich dadurch Mitarbeiter und Kunden zu binden.
Auch wenn Sinek als Unternehmensberater vorrangig in der Wirtschaft tätig ist, lässt sich sein Konzept auf Schule und Unterricht übertragen.
Sinek startet mit dem WARUM, der eigenen Mission. Dadurch wird das, was jemand tut, bedeutsamer. WARUM beginnt mit der Emotion. Diese Emotion wird aktiviert durch die Auseinandersetzung mit der Sinnhaftigkeit und der Bedeutung und in der Folge der Begründung des Handelns. Diese Ausrichtung aktiviert direkt das limbische System im Gehirn und dadurch motivationale Prozesse.
In unserer Kultur beginnen wir meist mit dem WAS in Form von »Ich bin …« oder dem WIE mit der Benennung der Tätigkeit.
Dadurch steht das »Ich bin …«, »Ich mache …« im Vordergrund und wir sind laut Sinek auf der operativen und strategischen Ebene. Gleichzeitig geht bei unserem Gegenüber meist eine Schublade auf, und die eigenen Vorstellungen und Vorerfahrungen über den Beruf oder die Tätigkeit überlagern das Bild. Im Falle des Lehrerberufs ist dies besonders häufig der Fall, da ja jeder selbst in der Schule war und sich quasi auskennt.
Wenn wir stattdessen mit dem inneren Why beginnen und das eigene Handeln aus dieser Perspektive beschreiben, konzentrieren wir uns auf den Sinn.
»Ich unterstütze und begleite junge Menschen auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben: Ich bin an ihrer Seite und interessiere mich für ihre Geschichte und für ihre Wünsche und schenke ihnen Zuversicht, sodass sie die Zuversicht in sich selbst und in ihrem Leben erfahren und an andere weitergeben. Nebenbei unterrichte ich.«
Selbstwirksamkeit braucht Sinn und Stimmigkeit. Wenn das, was ich tue, stimmig ist, bin ich resilienter, weil ich in Kontakt mit meinen Kompetenzen bin. Wie ist das bei Ihnen? Beantworten Sie dazu folgende Fragen: