Kapitel 4

Der systemische Ansatz in der Pädagogik

IN DIESEM KAPITEL

  • Der systemische Ansatz für Schule und Unterricht
  • Wahrnehmung konstruiert Wirklichkeit
  • Lösungs- und ressourcenorientiert denken und handeln
  • Möglichkeiten entdecken und Veränderungen ermöglichen

Der systemische Ansatz betrachtet Verhalten in seiner Wechselwirkung zwischen den einzelnen Akteuren. Im Kontext von Schule betrachtet eine systemisch denkende Lehrkraft ihre Schüler als Teil ihrer sozialen Systeme. Problematisches Verhalten wird vor diesem Hintergrund stets kontextbezogen und kontextgebunden verstanden. Als problematisch wahrgenommenes Verhalten wird als erlernte Strategie und Muster aus anderen Kontexten (Familie) verstanden und eingeordnet. Mit den systemischen Perspektiven rückt der Fokus auf Ressourcen, und damit verbundene Lösungskompetenzen werden bewusst aktiviert.

Systemische Perspektiven für Schule und Unterricht

Das systemische Denken und Handeln hat in den letzten Jahren zunehmend an Ansehen gewonnen und ist in der Ausbildung von Berufsfeldern der sozialen Arbeit (zum Beispiel Sozialpädagogik, Soziale Arbeit) fest verortet. Auch in Beratung, Coaching und Supervision hat der systemische Ansatz seinen festen Platz.

2018 wurde die Systemische Therapie in Deutschland als viertes Richtlinienverfahren der Psychotherapie anerkannt. (Die anderen drei sind die analytische Psychotherapie, die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und die Verhaltenstherapie. Richtlinienverfahren sind wissenschaftlich anerkannt.) Damit ist die hohe Wirksamkeit dieses Ansatzes bestätigt.

Systemisches Denken und Handeln etablieren sich auch in den Handlungsfeldern von Pädagogik und damit im Kontext von Schule und Unterricht immer mehr. Die Umsetzung des systemischen Ansatzes finden Sie in unterschiedlichen Fachbereichen:

  • Systemische Therapie
  • Systemische Beratung
  • Systemisches Coaching
  • Systemische Supervision
  • Systemische Soziale Arbeit
  • Systemische Organisationsentwicklung
  • Systemische Pädagogik

Die Entwicklung des systemischen Denkens und Handelns – ein Exkurs

Um die Haltung und die Grundannahmen der systemischen Pädagogik einordnen und nachvollziehen zu können, soll Ihnen die folgende Beschreibung der Entwicklung des systemischen Ansatzes zu einem schlüssigen Bild verhelfen.

Die ersten Schritte einer veränderten Sichtweise

Der systemische Ansatz entwickelte sich in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts und erweiterte das Spektrum der vorherrschenden, eher analytisch orientierten Modelle der Psychotherapie. Als einer der Gründerväter gilt Gregory Bateson. Sein Wissen in unterschiedlichen Fachgebieten (unter anderem Anthropologie, Sozialwissenschaft, Philosophie, Kybernetik) vereinte er in seiner systemisch-kybernetischen Denkweise. Die systemische Denkweise fragt nach dem Wozu. Sie richtet den Fokus auf die Funktion und den Sinn von Verhalten innerhalb eines Kontextes / menschlichen Bezugssystems. (Während man mit der Frage Warum Verhalten nicht hinreichend erklären kann und den Blick eher auf linear-kausale Erklärungen lenkt.) Die kybernetische Denkweise betrachtet menschliches Verhalten als Kreislauf. Sie befasst sich damit, wie sich (soziale) Systeme selbst steuern, wie sie Informationen verarbeiten und wie sie durch Feedbackschleifen lernen und sich anpassen können (= Rückkopplungsprozess zwischen Ist-Zustand, Anpassung und Soll-Zustand). Bateson hatte maßgeblichen Einfluss auf die Entstehung der Systemischen Therapie und der Familientherapie.

Die Systemische Familientherapie

Im bisherigen therapeutischen Verständnis standen der Einzelne und die Analyse seines Erlebens im Zentrum der Aufmerksamkeit. Nun wurde der Einzelne als Teil eines sozialen Systems anerkannt und Familienangehörige in therapeutische Prozesse mit einbezogen, wenn es zum Beispiel um die Behandlung einer Störung beim Kind ging. So entwickelten sich familientherapeutische Konzepte mit systemischem Fokus. Namhafte Vertreterinnen und Vertreter dieser Zeit waren unter anderen Nathan Ackerman sowie Virginia Satir. Satir war durch ihre Arbeit mit Familienskulpturen und die Begründung des psychologischen Forschungsinstituts MRI (Mental Research Institute) in Palo Alto, Kalifornien, Wegbereiterin für weitere systemische Entwicklungen, die später auch auf das ursprünglich therapeutische Konzept des Neurolinguistischen Programmierens (NLP) Einfluss hatten. Dadurch erklärt sich die hohe Deckungsgleichheit von NLP zum systemischen Ansatz bezüglich der Grundannahmen und der Haltung.

Die konstruktivistische Ergänzung durch Watzlawick

Am Mental Research Institute arbeitete in den 60er-Jahren auch der österreichische Philosoph, Psychotherapeut und Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick. Er stand in engem Austausch mit den führenden Köpfen dort, brachte sich beratend ein und nahm mit seinen Theorien zu Kommunikation, Wahrnehmung und seinem radikalen Konstruktivismus Einfluss auf die Entwicklungen der Psychotherapie und Familientherapie. Watzlawick zufolge gibt es keine absolute Wirklichkeit. Individuelle Erfahrungen und Interpretationen formen das, was wir wahrnehmen (beobachten), zu einer subjektiven Wirklichkeit. Der radikale Konstruktivismus betont die aktive Rolle des Beobachters bei der Interpretation von Informationen. Diese Interpretation schafft Bedeutung. Er unterscheidet in Beobachtung 1. Ordnung (direkte Wahrnehmung eines Phänomens) und Beobachtung 2. Ordnung (Interpretation und Bedeutungsgebung des wahrgenommenen Phänomens).

Die Mailänder Schule

In den 70er-Jahren etablierte sich die strukturelle systemische Familientherapie, die Verhaltensauffälligkeiten, Störungen und Symptome als Reaktion auf Beziehungen und Verhaltensmuster innerhalb eines Familiensystems einordnete und nicht mehr mit isoliertem Blick auf das Kind verstand. Vielmehr wurde das Kind beziehungsweise dessen Verhalten als Symptomträger (innerhalb) eines Systems gesehen. Damit weitete sich der Blick immer mehr hin zu Wechselwirkungen und Dynamiken zwischen den Beteiligten innerhalb eines Systems. Ein Therapeutenteam um Mara Selvini-Palazzoli machte sich als Mailänder Schule einen Namen. Die Methode des zirkulären Fragens geht auf diese zurück und ist bis heute eine zentrale Intervention des systemischen Ansatzes.

Zirkuläre Fragen (auch triadische Fragen) sind eine Basisintervention im systemischen Denken und Handeln. Sie dienen vorrangig der Erzeugung von Information statt der Ermittlung von Information. Dazu binden Sie unterschiedliche Perspektiven von Beteiligten eines Systems ein und sprechen den Befragten als Beobachter an: »Woran würde Ihr Kollege merken, dass Sie mit dem systemischen Ansatz im Unterricht wirksam werden?«, »Wer würde als Erstes merken, dass Sie in Ihrer Klassenführung gelassener sind?«

Der Lösungsfokussierte Ansatz

Der US-amerikanische Psychotherapeut Steve de Shazer und seine Frau Insoo Kim Berg formulierten mit ihrem Team in den 80er-Jahren am Brief Family Therapy Center (Milwaukee, USA) die sogenannte Lösungsfokussierte Kurzzeittherapie und Beratung. Der Fokus liegt hier auf Lösungen und Ressourcen. Die konsequente Ausrichtung auf die Gegenwart und Zukunft (des Klienten) unterscheidet diesen Ansatz von vergangenheits- und ursachenorientiertem Vorgehen. Der Blick auf das Familiensystem und das Problem rückt dabei in den Hintergrund.

»Problemtalk creates problems, solutiontalk creates solutions.« (Steve de Shazer)

Das Reden über Probleme erzeugt eine sogenannte »Problemtrance«, innerhalb derer Lösungen nur schwer zugänglich sind und bleiben. In diesem Zitat wird deutlich, dass nach de Shazer eine Problemsicht den Blick und damit das zieldienliche Handeln einengen bis blockieren kann, während das Sprechen über Lösungen solche ermöglicht. Auch geht er davon aus, dass Problem und Lösung nicht zwangsläufig zueinander gehören und daher Lösungen isoliert vom Problem betrachtet werden können.

Kennzeichnend für diesen Ansatz ist die Suche nach Ausnahmen und Unterschieden im Problem (Wann ist es nicht so? Wann ist es anders?) und die Arbeit mit der Wunderfrage. Diese Frage zielt auf die Ressourcenaktivierung ab und erzeugt starke Wunschbilder der Zukunft sowie von möglichen Lösungen und deren positiven Auswirkungen. (Mehr zu systemischen Frageformen finden Sie in Teil V Kommunikation kultivieren, Kapitel 17.)

Die Wunderfrage: »Angenommen, nachdem Sie dieses Kapitel zu Ende gelesen haben, gehen Sie anschließend noch Ihren üblichen Tagesroutinen nach und am Abend erzählen Sie vielleicht noch jemandem, welche Erkenntnisse oder auch Fragestellungen Sie daraus mitnehmen, und irgendwann am Abend legen Sie sich dann zu Bett. Und in der Nacht, während Sie schlafen, geschieht ein Wunder und Ihr Problem ist gelöst – und weil das so schnell und über Nacht geht, kann man schon von einem Wunder sprechen. Und nun stellen Sie sich vor, Sie wachen am nächsten Morgen auf und das Wunder ist vollbracht. Woran würden Sie das als Erstes bemerken? Was wäre dann anders? Wie würden Sie sich fühlen? Was würden Sie denken? Was würden Sie dann tun? Beschreiben Sie die Auswirkungen des Wunders so ausführlich wie möglich. Wer würde noch bemerken, dass das Problem gelöst ist? Wodurch? Wann? Und wie wäre die Reaktion dieser Person? …«

Der systemische Ansatz etabliert sich in Deutschland

In den 80er-Jahren formte sich an der Universität Heidelberg eine Gruppe Mitarbeiter um den deutschen Psychiater, Psychoanalytiker und Systemischen Familientherapeuten Helm Stierlin. Stierlin hatte zuvor, 1974, ein Institut für Familientherapie gegründet. Das gemeinsame Ziel der Gruppe war es, das systemische Denken und Handeln weiterzuentwickeln, zu vermitteln und es in unterschiedlichen psycho-sozialen Kontexten zu verankern. Maßgeblich involviert waren unter anderen Gunthard Weber, Gunther Schmidt, Fritz B. Simon, Hans Rudi Fischer, Jochen Schweitzer und weitere externe Mitarbeiter. Im stetigen und engen Austausch mit der Gruppe aus Palo Alto sowie der Mailänder Schule erfolgte 1984 die Gründung der Internationalen Gesellschaft für systemische Therapie (IGST) sowie des Heidelberger Instituts für systemische Forschung.

2002 erfolgte unter Mitwirkung der Heidelberger Gruppe die Gründung des Helm-Stierlin-Instituts (hsi) in Heidelberg. Neben systemischer Einzel-, Paar- und Familientherapie erweiterten sich die Arbeitsfelder um systemische Supervision, Mediation und Coaching und Organisationsentwicklung. Diese Kompetenzfelder werden heute durch systemische Pädagogik und Jugendhilfe ergänzt.

Systemische Perspektiven in unterschiedlichen Disziplinen

Neben der Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie haben sich auch andere Fachgebiete mit dem Systembegriff befasst. Systeme als autonome Einheiten anzusehen, etablierte der chilenische (Neuro-)Biologe und Philosoph Humberto R. Maturana. Maturana traf die Unterscheidung in lebende und nicht-lebende Systeme. Auf ihn und den Neurowissenschaftler Francisco Varela geht der Begriff der Autopoiesis (auch Autopoiese) zurück. Unter Autopoiesis wird die Fähigkeit zur Selbsterschaffung und Selbsterhaltung lebender Organismen in Systemen verstanden. Das Wort selbst stammt aus dem Griechischen und bedeutet »Selbstschöpfung« oder »Selbstproduktion«. Maturanas Forschungsarbeit zur Autopoiese beeinflusste auch den bekannten deutschen Soziologen Niklas Luhmann, der wiederum die soziologische Systemtheorie zentral prägte. Diese Systemtheorie beschreibt und erklärt unterschiedlich komplexe Phänomene mit grundlegenden Aspekten und Prinzipien von Systemen.

Der Begriff System kommt aus dem altgriechischen σ&uacgr;στημα (systema) mit der Bedeutung aus mehreren Einzelteilen zusammengesetztes Ganzes. Die Art der Interaktionen und Beziehungen zwischen diesen Einzelteilen (= physische oder abstrakte Elemente) eines Systems bestimmt, wie es funktioniert und welche Ergebnisse es erzielt. Die amerikanische Umweltforscherin Donella H. Meadows definiert den Begriff wie folgt: »Ein System besteht aus Elementen, den Verbindungen zwischen ihnen und einem Zweck oder einer Funktion.«

Sie werden im Verlauf des Kapitels bemerkt haben, wie viele unterschiedliche Fachgebiete mit dem Systembegriff arbeiten. Es gibt daher auch nicht DIE EINE Definition für den Begriff System, jedoch so etwas wie einen gemeinsamen Nenner.

Gemeinsam ist allen Fachgebieten das Verständnis, dass ein System durch unterschiedliche Elemente erst zum System wird. Es unterliegt einer gewissen Ordnung und (Beziehungs-)Logik, da diese Elemente unterschiedliche Aufgaben und Funktionen erfüllen. Ein System grenzt sich durch die immanente Zusammengehörigkeit und Vernetzung nach außen hin ab. Nur durch die BEZIEHUNG ZUEINANDER wird das System zum System und unterscheidet sich dadurch von einer bloßen Anhäufung oder Menge (zum Beispiel werden die einzelnen Buchstaben des Alphabets erst durch die Sprache, die bewusste Kombination der Buchstaben zu Worten, zu einem System).

Es gibt eine Vielzahl an unterschiedlichen Systemen (sozial, technisch, soziotechnisch, natürlich, künstlich und viele mehr): Bildungssystem, Schulsystem, Familiensystem, Finanzsystem, Gesundheitssystem, Herz-Kreislauf-System, Planetensystem, Staatssystem, Rechtssystem, Verkehrssystem, Betriebssystem, Ökosystem, Wirtschaftssystem, Kommunikationssystem …

Systemische Pädagogik

»Menschliches Verhalten kann nur im Zusammenspiel von Beziehungen verstanden werden.« (Wolfgang Mutzek)

Der systemische Blick auf das Kind

Das Kind wird nicht isoliert in seinem Verhalten gesehen, sondern es wird als Teil seiner unterschiedlichen Systeme anerkannt, in denen es bestimmte Aufgaben und Funktionen übernimmt beziehungsweise innehat. Auf den schulischen Kontext angewendet heißt das, gezielt Informationen über die Dynamiken und Wechselwirkungen des Kindes innerhalb seiner Systeme (Klasse, Lerngruppe, Peergruppe, Familie …) zu sammeln und zu beobachten. Diese Beobachtungen bilden dann die Grundlage für Hypothesen (wertschätzende Vorannahmen). (Das Bilden und Formulieren von Hypothesen gehört zu den Basisinterventionen im systemischen Denken und Handeln und bildet ein zentrales Element der systemischen Schleife. Mehr dazu siehe Teil IV Beziehungen gestalten, Kapitel 13 Der systemisch-konstruktive Blick auf Störungen.)

Die systemische Pädagogik als eigene Disziplin ist verhältnismäßig jung und es gibt auch hier keine einheitliche Definition. Wodurch sie sich jedoch auszeichnet: Sie integriert die Perspektiven und Interventionen des systemischen Ansatzes in ihre pädagogischen Handlungsfelder Erziehung, Umgang mit Störungen, Kooperation mit Eltern etc. Durch diese Erweiterung weitet sie den Blick auch auf das soziale Umfeld sowie weitere exogene (außen liegende) Systeme (zum Beispiel Zugehörigkeiten zu Vereinen und anderen Gruppen) des einzelnen Kindes oder Schülers.

Lehrkräfte und Pädagogen laufen Gefahr, dass sie die Verantwortung für das Verhalten und dessen Veränderung beim Kind und Schüler zu sehr bei sich sehen beziehungsweise auf sich beziehen. Eine Erweiterung der pädagogischen Haltung um systemische Grundannahmen richtet sich darauf aus, die Eigenverantwortung für Handeln und Verhaltensveränderung des Gegenübers zu sehen und zu stärken. So verringert sich das eigene Erleben von Scheitern, wenn ein Kind eben nicht auf bestimmte Weise reagiert. Auch werden Sie es als Lehrkraft weniger persönlich nehmen, da Sie um die mitunter komplexen Wechselwirkungen und Dynamiken sozialer Systeme wissen.

Der systemische Blick richtet die Aufmerksamkeit bewusst auf die Interaktion und Kommunikation zwischen Personen und Gruppen und auf den Zusammenhang, in dem ein Problem entsteht beziehungsweise wie dieses aufrechterhalten wird.

Grundannahmen systemischer Pädagogik

Systemisches Denken und Handeln unterliegt bestimmten Grundannahmen.

  • Wahrnehmung ist Wahrgebung
    • Gunther Schmidt hat als Gegenbegriff zur Wahrnehmung den Kunstbegriff der Wahrgebung erfunden. Damit betont er den aktiven Prozess von Konstruktionsleistungen. Jeder Mensch gibt dem, was er wahrnimmt, eine Bedeutung. Diese Bedeutungsgebung ist subjektiv.
  • Jedes Verhalten ergibt Sinn für den, der sich verhält

    Verhalten ist erlernt und eine Anpassungsleistung an die Umgebung: Welchen Sinn könnte es für die Person haben, sich genau so zu verhalten? Wozu tut sie das?

  • Verhalten ist kontextabhängig

    Wie sich Menschen verhalten, ist in einem bestimmten Kontext sinnhaft (gewesen). Dieses Verhalten kann in einem anderen Kontext als Problem wahrgenommen werden. In der Familie verschafft sich ein Kind durch Schreien Aufmerksamkeit. In der Schule wird es dafür bestraft. In welchen Kontext könnte das Verhalten sinnvoll (gewesen) sein?

  • Probleme sind mögliche Lösungsversuche

    Was beispielsweise Lehrkräfte im Kontext von Unterricht als Problem wahrnehmen, kann sich im Innern des Schülers als Versuch einer Lösung (auch Scheinlösung) darstellen. Ein Schüler, der unruhig auf dem Stuhl schaukelt, löst dadurch möglicherweise für sich gerade eine innere Anspannung.

  • Nicht das Problem ist das Problem, sondern der Umgang damit

    Wer ein Problem als »falsch« einstuft, wendet nur EINE Übersetzungsmöglichkeit an. Ein Problem wird durch diese eingeschränkte Sichtweise möglicherweise verstärkt oder aufrechterhalten.

  • Kein Problem tritt immer auf

    Welche Ausnahmen und Unterschiede gibt es: Wann ist es (ein bestimmtes Verhalten) nicht so? Wann ist es anders?

(Mehr zu systemischen Interventionen im Umgang mit Störungen erfahren Sie in Teil IV Beziehungen gestalten, Kapitel 13 Der systemisch-konstruktive Blick auf Störungen.)

Von der Wahrnehmung zur Wirklichkeit: Die Welt des Konstruktivismus

»Der Mensch findet zuletzt in den Dingen nichts wieder, als was er selbst in sie hineingesteckt hat.« (Friedrich Nietzsche)

Die Neuropsychologie erklärt die subjektive Wahrnehmung als Anpassungsleistung an die Umwelt. Jeder Mensch nimmt die eigene Umwelt individuell gefiltert wahr. Wahrgenommene Reize wiederum werden je nach Kontext unterschiedlich interpretiert und bewertet (Stangl, 2021). Diese Filter beeinflussen somit, neben dem WAS wir wahrnehmen auch WIE wir das Wahrgenommene einordnen und bewerten. Das heißt, unsere Wahrnehmung wird zur subjektiven und damit selektiven Repräsentation von Wirklichkeit.

Nach konstruktivistischer Auffassung konstruieren Menschen ihr Verständnis von der Welt durch persönliche Erfahrungen, Beobachtungen und Reflexionen. Im Classroom Management ist das Wissen um Wahrnehmung und Wahrgebung relevant, wenn es darum geht, wie Sie (störendes) Verhalten einordnen, und in der Folge, welche Entscheidungen dies in Ihnen als Lehrkraft auslöst, auf das Verhalten zu reagieren.

Die Wahrnehmungsfilter können unsere Sicht auf die Realität verzerren und dazu führen, dass wir Informationen auf eine Weise interpretieren, die mit unseren bestehenden sozialen Denkmustern übereinstimmt. Die Gefahr ist dabei, Nuancen oder andere Perspektiven zu übersehen. So kann es auch sein, dass vorschnelle »Schubladen« aufgehen, in denen das Wahrgenommene eingeordnet und bewertet wird.

Wenn Sie Abbildung 4.1 betrachten, wird Ihr Gehirn unmittelbar den Begriff Pfeife ins Bewusstsein bringen. Das menschliche Gehirn filtert und ordnet das Wahrgenommene vor dem Hintergrund von Vorwissen und Vorerfahrungen. Der Maler Magritte spielt in seinem Bild mit der Wirklichkeit, indem er dem Betrachter sagt: »Das ist keine Pfeife.« (Ceci n’est pas une pipe). Er macht so darauf aufmerksam, dass es sich bei dem Bild lediglich um ein Abbild einer Pfeife handelt.

Stilisierte Pfeife mit Satz "Ceci n ' est pas une pipe" darunter.

Abbildung 4.1: Wahrnehmung und Wahrgebung (Quelle: sweetberry-stock.adobe.com)

Auf Schule und Unterricht bezogen, ist es sinnvoll, immer wieder die eigenen Filter zu reflektieren, wenn Schüler oder Eltern (oder Kollegen und Vorgesetzte) vorschnell in der So-ist-es-Schublade landen. Systemisch wird die erweiterte Wahrnehmung zum Beispiel angeregt über die Fragen: »Wie könnte es noch sein?, Was, wenn es ganz anderes wäre?« Diese Fragen ermöglichen die Bildung von Hypothesen (wertschätzende Vorannahmen und Vermutungen).

Menschliches Erleben wird durch Konstruktionsprozesse geformt und dabei durch unsere Sinneskanäle (visuell (Augen), auditiv (Ohren), kinästhetisch (Haut), olfaktorisch (Nase), gustatorisch (Zunge)) sowie von kognitiven, neuronalen und sozialen Prozessen beeinflusst.

  • Kognitive Filter der Wahrnehmung sind mentale Mechanismen, die unsere Wahrnehmung und Interpretation von Informationen beeinflussen. Sie basieren auf individuellen Erfahrungen, inneren Überzeugungen und Erwartungen. Kognitive Filter beeinflussen, was wir überhaupt beachten und wie wir diese Informationen verstehen und einordnen, also welche Bedeutung wir ihnen zuschreiben.
  • Neuronale Filter der Wahrnehmung beeinflussen, wie unser Gehirn sensorische Informationen verarbeitet und interpretiert. Diese Filter sind durch neuronale Verbindungen geprägt, die aufgrund von Erfahrungen, Aufmerksamkeit und biologischen Faktoren gebildet werden. Sie helfen, relevante Informationen hervorzuheben und irrelevante zu unterdrücken. Damit konzentriert sich unsere Wahrnehmung auf das Wesentliche.
  • Soziale Filter der Wahrnehmung beziehen sich auf die Art und Weise, wie wir Informationen über andere Menschen und soziale Situationen aufnehmen und interpretieren. Diese Filter werden durch unsere sozialen Erfahrungen, kulturellen Hintergründe, Vorurteile und persönlichen Überzeugungen geprägt. Sie beeinflussen, wie wir Menschen einschätzen, ihre Handlungen verstehen und wie wir auf soziale Interaktionen reagieren. Soziale Filter können auch durch übernommene Glaubenssätze aus dem Herkunftssystem (Familie) oder kollektive Glaubenssätze einer ganzen Gruppe wirken.

(Mehr zu diesem Thema finden Sie in Teil III Selbstführung, Kapitel 7 Wie bin in eingestellt? Mindset und Glaubenssätze in der Pädagogik sowie Teil IV Beziehungen gestalten, Kapitel 13 Der systemisch-konstruktive Blick auf Störungen.)

Die eigene schulische Wirklichkeit ist gleichwohl ein subjektiver Konstruktionsprozess. Wie erleben Sie Ihre schulische Wirklichkeit? Was nehmen Sie wahr? Was nicht (mehr)? Wie wirkt sich das auf Ihr Erleben aus? Welche »Schubladen« sind schnell verfügbar und häufig in Gebrauch?

Lösungs- und ressourcenorientiert denken und handeln

Der systemische Ansatz ist lösungs- und ressourcenorientiert. Wer sich auf Lösungen und Ressourcen ausrichtet, verändert gewohnte Denkmuster und wird in der Folge anders agieren. So einfach das klingt, bedeutet das, neuronale Vernetzungen im Gehirn anders zu bahnen beziehungsweise anders zu nutzen.

Stellen Sie sich eine Wiese mit hohem Gras vor und Sie gehen als erste Person durch diese Wiese hindurch. Das Gras wird sich unter Ihren Füßen neigen, und wenn Sie unmittelbar zurückblicken, werden Sie Ihre Schritte sehen können. Was, wenn Sie diesen Weg nur ein einziges Mal gehen? Das Gras wird sich wieder aufrichten und es scheint, als wäre niemand hier durchmarschiert. So ähnlich verhält es sich auch im menschlichen Gehirn. Was, wenn Sie den einmal beschrittenen Wiesenweg immer wieder gehen? Dann werden Ihre Schritte den Weg ausbauen, es entsteht zunächst ein Trampelpfad und irgendwann wird er mühelos zur alternativen Spur für Sie. So ähnlich verhält es sich auch in unserem Gehirn. Wir denken täglich zwischen 50.000 bis 80.000 Gedanken. Neurowissenschaftlichen Theorien zufolge sind davon etwa 95 bis 98% gleicher Art und wiederum ein Großteil davon (bis zu 60%) sind negativ geprägt. Ressourcenorientiert heißt das: Wir haben täglich die Möglichkeit auf 2% bis 5% neue – und im besten Fall positive – Gedanken! Das erfordert Training, denn so komplex unser Gehirn ist, so energiesparend ist es zugleich. Es wählt gewohnte Wege und denkt in gewohnten Bahnen. Je länger diese Wege bereits gespurt wurden, desto eher gleichen die Denkmuster gut ausgebauten, mehrspurigen Straßen. Parallel dazu aus einem mentalen Trampelpfad eine ausgebaute Hauptstraße zu machen, braucht zwei wesentliche Faktoren: regelmäßige Wiederholung und Relevanz (die neuen Gedanken müssen bedeutsam sein).

Angenommen, Sie wollen Ihren Bizeps sichtbar stärken. Dann gehen Sie wohl nicht davon aus, dass Sie mit einem Mal Hanteltraining etwas nachhaltig bewirken werden. Warum sollte das mit Ihren Denkmustern anders sein? Auch Ihr Gehirn reagiert auf Wiederholung. Ein Gedanke, den Sie nur ein einziges Mal denken, hinterlässt in aller Regel keine nachhaltigen Spuren. (Es sei denn, er ist mit einer hohen emotionalen »Ladung« gekoppelt: So müssen Sie vermutlich in der Schweiz nur ein einziges Mal geblitzt werden, um eine anhaltende Verhaltensänderung in Form von angepasstem Fahren für die Zukunft zu etablieren.)

In der systemischen Gesprächsführung zeigt sich der lösungs- und ressourcenorientierte Fokus in der Art zu kommunizieren. Frageformen mit der Ausrichtung auf Lösungen und Ressourcen verhelfen zu einer veränderten Gesprächskultur, weil dadurch die Analyse eines Problems in den Hintergrund rückt. Das Vertrauen in vorhandene Ressourcen beim Gegenüber und damit in die Fähigkeit zur Lösung bildet einen wesentlichen Aspekt der systemischen Grundhaltung. (Mehr zu Gesprächsführung und systemischen Frageformen siehe Teil V Kommunikation kultivieren, Kapitel 17.)

Ein weiteres Anwendungsfeld für Lösungs- und Ressourcenorientierung bildet die Wahrnehmung und die Deutung von Verhalten allgemein und von störendem Verhalten im Speziellen. Mit der Basisintervention Reframing (Umdeuten von Verhalten und Eigenschaften) gelingt der Blick auf mögliche Ressourcen, dies geschieht durch die Umdeutung von Verhaltensweisen beziehungsweise Eigenschaften. (Mehr zum Umgang mit Störungen siehe Teil IV Beziehungen gestalten, Kapitel 13, sowie Teil VI Herausforderungen meistern – Störungen und Konflikte managen, Kapitel 18.)

Raus aus der Gewohnheitswirklichkeit, rein in den Möglichkeitsraum

»Wer tut, was er immer getan hat, wird bekommen, was er immer bekommen hat.«

Auch wenn das menschliche Gehirn in seiner Komplexität bis heute nicht komplett erforscht ist, so ist beobachtbar, dass seine Denkstrukturen der Spur der Gewohnheit folgen. »Wir wählen, was wir kennen«, stimmt also auch für die Gedanken. Die Gewohnheitswirklichkeit bildet unser gewohntes Denken ab.

Abbildung 4.2 zeigt Ihnen eine Kippfigur (den sogenannten »Necker-Würfel«). Verdecken Sie die reche Abbildung und betrachten Sie den linken Würfel: Wo sehen Sie die vordere Seite zuerst? Eher unten rechts oder oben links? Blicken Sie auf den linken Würfel und lassen Sie Ihr Gehirn das Gesehene »kippen«. Gewöhnen Sie Ihr Gehirn an die beiden Sichtweisen. Sie werden feststellen, dass Ihnen der Wechsel der Wahrnehmung immer schneller gelingt, je öfter Sie üben. (Wenn es nicht auf Anhieb klappt, können Sie über die rechte Abbildung üben.)

Vier Würfel in schwarz-weiß, zwei groß, zwei klein, mit Linien gezeichnet und in 3D-Perspektive.

Abbildung 4.2: Der Necker-Würfel (Quellen: meredesign – stock.adobe.com (links), Peter Hermes Furian – stock.adobe.com (recht))

Obwohl sich das Bild nicht ändert, ändert sich die Wahrnehmung und damit eine neue Sichtweise.

Es ist unbestritten überlebenswichtig, dass wir blitzschnell und oft unbewusst einschätzen können, was um uns herum gerade läuft und ob irgendwo Gefahr lauert. Im Rahmen von Klassenführung behindern diese Denkgewohnheiten teilweise immens die Interaktion zwischen Lehrkraft und Schülern. Belastende Situationen und herausforderndes Verhalten werden nicht selten als unveränderbar wahrgenommen und Schüler mit gewissen Eigenschaften personifiziert. Veränderungen entstehen, wenn gewohnte Denkstrukturen erweitert werden und andere Perspektiven zu einem neuen Verständnis verhelfen können. Der Möglichkeitsraum öffnet sich, wenn sich der Blick auf Lösungen weitet. In der Folge entspannt sich der Umgang mit einer Situation und miteinander.

Im Begleitungskontext von Beratung, Coaching, Supervision ist es meine Aufgabe, genau hinzuhören, WAS mir mein Gegenüber WIE erzählt. Die Art und Weise der Sprache bildet dessen Denken und Fühlen ab. Wie beschreibt derjenige seine Situation, sich selbst, seine Erlebnisse? Wie erklärt sich jemand das eigene Erleben? Und wie bewertet die Person das letztlich?

Sie als Lehrkraft sprechen auch über Ihr Erleben. Welche Situationen erzählen Sie anderen? Wem erzählen Sie diese? Mit welcher Absicht? Welche Geschichte hören Sie von anderen? Wie geht es Ihnen dabei und danach?

Wir formen unsere eigene Wirklichkeit

Häufig kommt es vor, dass in den Pausen ein »Austausch« über einzelne Schüler oder pauschal über ganze Klassen erfolgt. Ich habe viele Pausen erlebt, aber wenig aufbauende Geschichten gehört (und zugegeben: womöglich in früheren Zeiten auch selbst manches Mal meinen Frust abgelassen …).

Der Konstruktivismus ist eine Erkenntnistheorie. In diesem Sinne sind Lernende aktiv an der Konstruktion ihres Wissens und ihres Weltverständnisses beteiligt. Wenn wir immer die gleichen Geschichten erzählen und hören, formt sich eine Gewohnheitswirklichkeit heraus: Diese wahrgenommene Wirklichkeit wird als fester Zustand akzeptiert und innerhalb dessen finden die passenden Narrative ihren Platz und bestätigen immer wieder das vorherrschende Bild.

Im Laufe meiner eigenen Professionalisierung und vor allem durch meinen systemischen Blick habe ich mir angewöhnt, in den Pausen positive Erlebnisse mit meinen Kollegen zu teilen. So bin ich auf die Klassenlehrkräfte oder auch Fachkollegen meiner eigenen Klasse zugegangen und habe ganz bewusst kleine Geschichten vom Gelingen geteilt. »Heute war der Unterricht für mich toll, weil Schülerin X sich so richtig eingelassen hat«, »Ich habe den Eindruck, ich habe heute Schüler Y erreicht«, »Die Klasse war heute so fröhlich, weil sie sich auf den Ausflug freut«, »Toll, dass Schülerin X ihre Aufgaben daheim erledigt hatte«, »Wie schön, dass es innerhalb der Gruppe so starke Freundschaften gibt« ...

Schule ist ein Ort der Begegnung. Es gibt unzählige Möglichkeiten, Positives wahrzunehmen und zu teilen! Ich muss es NUR wahrnehmen WOLLEN und meine Aufmerksamkeit darauf richten, darin offenbaren sich neue Möglichkeiten. Schüler, Eltern, Kollegen, Schulleiter etc. sind nicht nur so oder so. Als Systemiker sprechen wir ohnehin nicht in dieser Sprache. Wir beschreiben das Verhalten, statt das Sein des Menschen zu bewerten. Selbst wenn ein Schüler sich herausfordernd bis inakzeptabel verhält, gibt es dafür stimmige Gründe (Erinnern Sie sich an die Grundannahme: Jedes Verhalten ergibt Sinn für den, der handelt! Teil II Führung verstehen, Kapitel 4 Grundannahmen systemischer Pädagogik). Statt Schüler X ist faul, Schüler X zeigt sich faul. Dadurch wird er nicht mit seinem Verhalten identifiziert, denn in einem anderen Kontext kann er sich ganz anders zeigen.

Wie sprechen Sie über Ihre Schüler, Kollegen, die Schulleitung, die Eltern? Was sprechen Sie über sie als Zuschreibung aus? Angenommen, Sie achten ab jetzt mehr auf das, was die Person tut: Was tut die Person, dass ich sie zum Beispiel als faul wahrnehme? Diese Frage führt Sie auf die konkrete Handlungsebene, weg von statischen Diagnosen. Beschreiben Sie, ehe Sie Erklärungen finden und das Verhalten bewerten. Welche Möglichkeiten ergeben sich dadurch für Ihr eigenes Denken, Fühlen und Handeln? (Wie Sprache Wirklichkeit repräsentiert und gestaltet, führe ich in Teil V Kommunikation kultivieren, Kapitel 16 aus.)

Wer etwas verändern möchte, macht sich auf in den Raum der Möglichkeiten. Sie richten Ihren Blick folglich mehr auf das zukünftige Ziel, den gewünschten Zustand hin aus. Damit dies gelingt, gibt es die einfache Strategie, sich am Stattdessen zu orientieren: Wenn DAS NICHT, was STATTDESSEN?

8 Systemische »Stattdessen«

Die systemischen »Stattdessen« sind Einladungen zum Perspektiv- und Musterwechsel. Sie bilden wirksame Interventionen, die leicht daherkommen. Sie brauchen jedoch, wie jede neue Vokabel, ihre Wiederholungseinheit, um verinnerlicht das gewohnte Denken und Handeln zu ergänzen beziehungsweise zu ersetzen.

  • WOZU statt warum
  • ZIRKULÄR statt linear-kausal
  • HIN ZU statt weg von
  • SOWOHL ALS AUCH statt entweder oder
  • NOCH NICHT statt nicht
  • BEOBACHTEN statt bewerten
  • ANSPRECHEN statt anklagen
  • JEMAND ZEIGT SICH … statt jemand ist …

Wozu statt warum

Im Biologiestudium mussten wir im Praxissemester Unterrichtsstunden halten und ich erinnere mich noch genau an eine Rückmeldung meines Professors nach einer meiner Stunden. Ich hatte eine Stunde über ein Organ gehalten und eine meiner Schüler-Fragen begann mit einem »Warum«. Wahrscheinlich laienhaft in etwa so: »Warum wird Blut durch das Herz gepumpt?« Die Rückmeldung meines Professors lautete, man solle keine »Warum«-Fragen stellen, stattdessen »Wozu«-Fragen. In der Biologie passiere nichts ohne Grund. Ganz ehrlich, als Studentin war mir der Unterschied nicht gleich klar. Er wollte darauf hinaus, dass das »Wozu« nach der Funktion, wenn man so möchte nach dem Sinn und Zweck, fragt. Während einfach ausgedrückt ein »Warum« mit einem »Darum« abgehandelt werden kann. Im systemischen Denken und Handeln ist mir dieses STATTDESSEN wieder begegnet und gut zwei Jahrzehnte nach meinem Studium begriff ich den Gedanken dahinter in der Tiefe und in neuem Kontext.

»Warum« orientiert sich rückwärtsgewandt in die Vergangenheit, fragt nach ursächlichen Begründungen und meist faktischen Verknüpfungen. Der Blick auf Störungen zum Beispiel bleibt mit einem Warum tendenziell problemfokussiert. Das ist nicht generell schlecht, doch nur teilweise hilfreich. Die Reflexion einer Sache oder Situation mit einem Blick auf wozu und damit auf Sinn und Zweck führt zu einer anderen Gewichtung derselben. Im besten Fall kann man auf lange Sicht dem vermeintlich Schlechten etwas Gutes abgewinnen.

Bezogen auf Schule und Unterricht lohnt sich daher die Frage: »Wozu tut Schüler X, die Mutter von X, Kollege Y … dies oder lässt das?« So ausgerichtet finden Sie in einen anderen inneren Modus und bleiben in Ihrer professionellen Selbstführung.

Zirkulär statt linear-kausal

Im systemischen Denken und Handeln ist die Zirkularität ein zentraler Begriff, der ursprünglich der Kybernetik zugeordnet wird. Für eine Erklärung nutzt man häufig das Bild vom Kreisverkehr gegenüber der Ampelregelung. Ersterer organisiert ein Verkehrssystem zirkulär, das heißt, die Verkehrsteilnehmer organisieren sich selbst (zum Beispiel im Kreisverkehr), Letztere dagegen folgt einer klaren linearen Kausalität: Wenn die Ampel rot leuchtet, dann halten, wenn grün, dann fahren.

Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen bedienen sich oft auch einer solchen Logik: Wenn Schülerin X eine saftige Strafarbeit erhält, dann wird sie ihr Verhalten ändern. Wenn der Vater von Schüler X mehr daheim wäre, dann wäre dieser auch wieder aufmerksamer im Unterricht. Solche linear-kausalen Denkweisen sind nachvollziehbar, greifen aber oft zu kurz und lösen eine Erwartungshaltung aus, mit einer wiederum eigenen Dynamik auf Sie als Lehrkraft …

Zirkularität bezeichnet eine Haltung oder Sichtweise, die Dinge in ihrer Wechselwirkung aufeinander zu betrachten. Eine Situation wird als Wechselwirkung zwischen den Beteiligten oder den Ereignissen gesehen. Verhaltensweisen (eine Handlung) sind einerseits die Folge vorhergehender Prozesse und andererseits Ursache für weitere Aktionen (Schwing und Fryszer, 2015).

Das Verständnis von Dynamiken und Wechselwirkungen innerhalb der Teile eines Systems berücksichtigt, dass nicht die eine (Re-)Aktion zu einem vorhersagbaren Ergebnis an einer bestimmten Stelle (lokal) führt, nach dem Muster Wenn-dann … Vielmehr rechnet man damit, dass Einwirkungen sich an unterschiedlichen Stellen im System auswirken können – nur eben nicht kausal und lokal bestimmbar. Auch der Aspekt, dass Systeme dazu neigen, sich selbst zu organisieren (=Autopoiese) und im Gleichgewicht zu halten (= Homöostase) findet hier seine Berücksichtigung. In der Gesprächsführung gibt es die sogenannten zirkulären Fragen, indem Perspektiven weiterer Systembeteiligter miteingebunden werden. Dies dient der (De-)Konstruktion von Informationen. Für Schule und Unterricht ist dieses Wissen hilfreich zum Beispiel im Umgang mit Unterrichtsstörungen. Es gibt nicht DIE EINE Maßnahme, die bei jedem zum gleichen Erfolg führt. Vielmehr bedingen sich viele Aspekte, die das Störsystem aufrechterhalten und die aber gleichzeitig Chance auf Veränderungen ermöglichen.

»Hin zu« statt »weg von«

Menschen, die etwas an einer Situation verändern möchten, erzählen oft viel und lange, was sie stört und was sie nicht mehr haben oder erleben möchten. Sie befinden sich dann im »Weg-von«-Modus. Stattdessen ist es hilfreich, in den »Hin-zu«-Modus zu wechseln: Was möchten Sie denn stattdessen? Dieser einfache Wechsel der Ausrichtung bewirkt den Kontakt zum Ziel und neurobiologisch gelangen Sie in einen zieldienlicheren Modus durch die Aktivierung von förderlichen Botenstoffen, die als bestärkender Attraktor für die Veränderung wirken. Wenn Sie aktuell mit einer Situation in Ihrem beruflichen Setting unzufrieden sind, fragen Sie sich doch künftig: Wohin zieht es mich? Wenn so nicht, wie dann?

»Sowohl als auch« statt »entweder oder«

Die Grundhaltung, nicht nur schwarz oder weiß zu denken, erleichtert viele Begegnungen. Ein Ringen um richtig oder falsch und um Recht haben bleibt dadurch aus, stattdessen lässt man sowohl die eine Sichtweise zu als auch die andere. Auch Zuschreibungen gegenüber anderen ermöglichen eine ganzheitlichere Sicht, wenn die jeweilige Person nicht mit ihrer Eigenschaft identifiziert wird. Kein Symptom tritt immer auf (noch so eine Grundannahme im systemischen Denken und Handeln). Kennen Sie das auch: Sie haben tolle Begegnungen mit Ihren Schülern in der Pause und im Unterricht erkennen Sie den ein oder anderen nicht wieder?

»Noch nicht« statt »nicht«

Ein Klassiker in der Zuschreibung von Fähigkeiten ist der pauschale Ausdruck »nicht«. »Schülerin Y kann das nicht.« Solche Aussagen halten sowohl Sie und den Schüler in einem statischen Zustand. Die Ergänzung derselben Aussage durch ein noch nicht macht den Unterschied. »Schülerin Y kann dasnochnicht.« Hier wird der Raum für Möglichkeiten und Veränderungen integriert und das wiederum verändert Ihr weiteres Denken und Handeln lösungsorientiert: Was bräuchte Schülerin Y denn, dass sie es künftig besser kann? (Dies ist eine von Manfred Priors Mini-Max-Interventionen (Prior, 2016).)

Beobachten statt bewerten

Konflikte entstehen häufig durch die Vermischung der narrativen Ebenen Beschreiben, Erklären und Bewerten (Bentner und Jung, 2022). Als Lehrer laufen wir Gefahr, aus der Beobachtung direkt eine Bewertung zu machen. Wer offenbleiben will für den Möglichkeitsraum, geht bewusst in die Beobachterrolle. Stellen Sie sich vor, Sie schauen auf eine Szene wie durch eine Kamera: Was tut jemand? Wie zeigt sich das? Wie reagiert eine andere Person darauf? Was kann ich hören? Diese Distanzierungsmethode in Sprache zu übersetzen, heißt, eine Einladung zu beschreiben, und baut einen Filter vor die eigenen (voreiligen) Bewertungen. Ebenso hinderlich für Lösungen ist ein (rückwärtsgerichtetes) Erklären von Sachverhalten in Konfliktsituationen. Die dabei aufgestellten Erklärungsversuche (Hypothesen) richten sich tendenziell auf die Klärung der Schuldfrage. Fragen Sie stattdessen nach der guten Absicht hinter dem Verhalten und blicken Sie mit der systemischen Brille auf störendes Verhalten, indem Sie es als »Lösungsversuch mit den falschen Mitteln« (ebd.) ansehen. Die Trennung der narrativen Ebenen und die Ausrichtung nach vorne hilft sowohl der Sache als auch Ihnen, denn Sie schützen sich selbst auch vor emotionalen Verstrickungen, wenn Sie vorschnell zu Ihren Schlüssen kommen.

Ansprechen statt anklagen

»Zu verstehen« ist nicht gleichbedeutend mit »damit einverstanden zu sein«. Als Lehrer ist es Ihre Aufgabe, Schüler in ihrer Entwicklung zu begleiten und zu fördern. Das heißt, Sie wirken auch erzieherisch. Und Erziehung bedeutet, Grenzen zu setzen und Entwicklung zu begleiten. Entwicklung ist ein Prozess des Wachsens, Lernens und Erfahrens. Dazu gehört es ganz natürlich, Fehler als zur Entwicklung zugehörig zu betrachten. Sie sind das Ergebnis von Erprobungen. Fühlen Sie sich durch Fehlverhalten nicht persönlich angegriffen, sondern gehen Sie professionell und korrigierend in den Kontakt. Die Art und Weise, WIE Sie jemand mit zum Beispiel misslichem Verhalten konfrontieren, wird die Kooperation mitbeeinflussen. Sprechen Sie klar an, welches Verhalten Sie beobachten und was dieses Verhalten bewirkt (bei Ihnen, beim Umfeld, beim Schüler selbst) und dass dieses Verhalten nicht geduldet wird. Die Trennung von Sache und Person ist hilfreich: Je klarer Ihnen das gelingt, desto eher fühlt sich der andere nicht in seiner Person angegriffen.

»Jemand zeigt sich« statt »jemand ist«

Im systemischen Denken und Handeln ist die Rede von »harten« und »weichen« Wirklichkeitsbeschreibungen. Eine solche harte Wirklichkeitsbeschreibung verwendet das Verb sein: »X ist schlampig.« Um das Verhalten in einer weichen Wirklichkeitsbeschreibung zu formulieren, verwendet man stattdessen »zeigt sich«: »X zeigt sich schlampig.« Das trennt die Person vom Verhalten und wird dadurch weniger diagnostisch beziehungsweise statisch. Im weiteren Schritt kann ich mir als Lehrer die Frage stellen: Was tut X denn, dass ich sie als schlampig wahrnehme? In der Beschreibung des Verhaltens ergeben sich Ansätze für mögliche Lösungen. Was müsste X anders tun, damit sich das ändert?

Durch die systemischen Stattdessen richtet sich der Fokus mehr auf künftige Lösungen statt auf bisherige Probleme. Sie öffnen den Blick auf das Vertrauen in Ressourcen, statt auf das Stigma der Defizite einzuengen.