Kapitel 13
IN DIESEM KAPITEL
Wer mit der systemischen Brille auf Störungen blickt, richtet den Fokus auf die Funktion, die störendes Verhalten für die Beteiligten innehat. Sie lesen richtig: DIE Beteiligten und nicht der einzelne Störende. Beteiligte sind der oder die Störende selbst und diejenigen, die zu dessen oder deren System gehören (die Stammklasse, die gemischte Klasse im Fachunterricht, der Familienverbund).
Zu den wesentlichen Interventionen im systemischen Denken und Handeln gehört das vorläufige Erklären von Verhalten durch das Bilden von Hypothesen, das sind Erklärungsversuche über Ursache-Wirkungs-Dynamiken. Das sogenannte Reframing bildet eine weitere Basisintervention. Hier wird störendes Verhalten auf Ressourcen hin umgedeutet, um einen anderen Blick auf das bestehende Problem zu gewinnen sowie Lösungen zu finden.
Die Grenzen pädagogischer Arbeit werden deutlich, wenn eine Störung mit Krankheitswert vorliegt. Das störende Verhalten kann dann häufig nicht im gewünschten Maße selbst reguliert werden.
Unterricht ist voller Konfliktpotenziale und tatsächlicher Interessenkonflikte zwischen Schülern und Lehrkraft. Der Umgang mit Herausforderungen gehört zu den täglichen Aufgaben einer Lehrkraft. Wer mit auffälligem Verhalten konfrontiert ist, braucht ein hohes Maß an Professionalität, um eine Arbeitsbeziehung zu erhalten, in der Entwicklung und Lernen möglich sind und bleiben, und das für alle Beteiligte. Hierfür braucht es die Akzeptanz, dass der professionelle Umgang mit Störungen Teil des pädagogischen Auftrags ist, unabhängig von Schulart und Klassenstufe. Oder wie Rainer Winkel (deutscher Schulpädagoge, † 2021) es formulierte: Zu jedem Handeln-Müssen gehört ein Verstehen-Wollen.
Damit dieses Verstehen ermöglicht wird, gibt es unterschiedliche Zugänge. Grundsätzlich können Sie sich Störungen als Botschaften vorstellen, die Sie auf unterschiedliche Weise entschlüsseln können. Erklärtes Ziel sollte sein, die Beziehung zum Gegenüber zu erhalten. (In Kapitel 6 Erziehungsverständnis und Führungsaufgaben beschreibe ich ausführlich die Themen: Haltung, Grundannahmen der systemischen Pädagogik und unter anderem den Erziehungsansatz »Neue Autorität« und deren Bedeutung für die tägliche Arbeit in Schule und Unterricht.)
Jedes Handeln orientiert sich an einer Haltung. In Kapitel 5 befasse ich mich ausführlich mit der Bedeutung von Haltung für das eigene (professionelle) Tun und Lassen. Sie bildet die Basis für die Art und Weise, wie wir einander begegnen und miteinander interagieren.
Damit der zuvor erwähnte Anspruch auf das Verstehen von Störungen gelingt, gibt es unterschiedliche Perspektiven, mit denen Sie auf Störungen blicken können (siehe Abbildung 13.1). Diese Sichtweisen ermöglichen Ihnen ein erstes Filtern und beeinflussen Ihre Reaktion und Maßnahme auf das gezeigte Verhalten.
Jede Sichtweise auf Störungen ermöglicht eine eigene Annäherung an das Verstehen und hilft dabei, die Botschaft hinter auffälligem Verhalten zu entschlüsseln.
Der systemische Blick weitet den Blick nicht nur für die Sinnhaftigkeit von Verhalten, sondern auch auf die Wechselwirkungen und Muster innerhalb komplexer Systeme. Komplex bedeutet in diesem Fall, dass die Beteiligten eine Ursache-Wirkungs-Dynamik auf das Verhalten ausüben. Somit richtet sich der Blick weg vom Einzelnen hin zu den Dynamiken zwischen den Beteiligten (s)eines Systems und damit auch auf mögliche Einflussfaktoren, die eine Störung (ein Symptom) aufrechterhalten oder sogar verstärken.
Der systemische Blick integriert folgende Aspekte bei der Erklärung von auffälligem Verhalten:
Kinder und Jugendliche befinden sich in der Entwicklung. Ihnen stehen je nach Alter und Reifegrad unterschiedliche Strategien zur Verfügung, um eigene Bedürfnisse wahrzunehmen und zu befriedigen. Störendes Verhalten kann als Scheinlösung oder als Lösungsversuch verstanden werden.
Vielleicht erlaubt mir meine pädagogische Herkunft (Studienschwerpunkt Hauptschule) mehr Zugeständnisse. Auch ich bin in meiner aktiven Zeit als Lehrkraft nicht nur einmal an den Punkt gekommen, dass ich mir nicht mehr zu helfen wusste, außer laut zu werden. Im Grunde jedoch bin ich davon überzeugt, dass Heranwachsende für sich stimmige Lösungen und Strategien entwickelt haben, die im Kontext von Schule und Unterricht jedoch zu Konflikten und Reibungen führen. Und hierfür brauchen sie professionelle Korrekturerfahrungen, die auf einer Haltung von klaren Grenzen bei gleichzeitig verlässlichem Beziehungsangebot basieren.
Systemische Impulse und Interventionen wollen helfen, festgefahrene Situationen als lösbar wahrzunehmen und neue Sichtweisen auf alte Probleme zu gewinnen.
Ein Modell für die Schritte vom Problem zur Lösung stellt die systemische Interventions-Schleife dar (auch Lösungsschleife oder nur systemische Schleife genannt). Abbildung 13.2 zeigt, wie die fünf Schritte dieser Schleife aufeinander aufbauen und prozesshaft angelegt sind, das heißt, sie gehen schleifenförmig ineinander über: Am vermeintlichen Ende, der Umsetzung einer Lösungsidee (Intervention) auf ein Problem folgt die Überprüfung der Wirksamkeit dieser Lösungsidee. Bringt das, was ich da tue, den Erfolg, die Lösung, die ich anstrebe?
Diese Überprüfung läuft völlig automatisch, indem das Gegenüber auf die Intervention reagiert. Da sich das Verhalten einer anderen Person jedoch nicht kausal planen lässt, kann es auch sein, dass die durchaus gut überlegte Intervention noch nicht zum gewünschten Ergebnis, zur Lösung des Problems führt.
Um ein Verständnis für die Wirksamkeit zu entwickeln, wiederholt die Schleife daher wieder den Ausgangspunkt (Schritt 1), das Sammeln von Informationen. Das bedeutet, dass die Schleife mehrmals durchlaufen wird bis zur Findung einer nachhaltigen Lösung. Dies ist kein Zeichen für »schlechte« Interventionen, sondern zeigt einmal mehr, wie komplex menschliches Verhalten ist.
In Beratung und Coaching dient die Schleife als zentrales Instrument für eine Prozessbegleitung. Für den Umgang mit Störungen zeigen sich die fünf Schritte ebenfalls hilfreich. Was am Anfang womöglich als langwierig erscheint, geht schnell in ein verinnerlichtes Modell über, wenn Sie sich erst einmal darauf einlassen.
Die einzelnen Schritte bauen aufeinander auf, die zeitliche Abfolge lässt sich gut an Ihr tägliches Tun anpassen. So ist es möglich und sinnvoll, die einzelnen Schritte getrennt voneinander zu vollziehen. Während der erste, vierte und letzte Schritt, Informationen sammeln, Intervenieren und die Wirksamkeit überprüfen, direkt im Unterricht (oder je nach Thema in der Schule) stattfinden, werden die Schritte 2 und 3, Hypothesen bilden und Lösungsideen finden, ausgelagert. Mit zeitlicher und räumlicher Distanz zur Situation gelingen diese Schritte besser.
Reframing (vom englischen Verb (to) frame, (umrahmen, einrahmen) ist eine Methode, um ein gezeigtes, oft herausforderndes Verhalten bewusst in einen anderen »Rahmen« zu setzen. Dieser neue Rahmen stellt eine Neubewertung von wahrgenommenen Verhaltensweisen, Eigenschaften oder Mustern dar. Dadurch wird die (bisherige) Perspektive oder Interpretation von Verhalten und Situationen verändert. Etwa so, als wenn Sie ein bekanntes Bild, das Ihnen vielleicht nicht gefällt, in einen neuen Rahmen setzen und dadurch das Bild eine ganz andere Wirkung auf Sie bekommt. Diese Umdeutung öffnet Handlungsräume für konstruktive Lösungen und Veränderungen.
Reframing basiert auf folgenden Grundannahmen:
Für herausforderndes und störendes Verhalten von Schülern gibt es vor diesem Hintergrund einen Paradigmenwechsel: Nicht der Schüler verhält sich falsch, sein Verhalten wird losgelöst vom Kontext erst zur möglichen Störung.
Ein positiver Effekt des Reframings oder Umdeutens ist es, einen Wechsel im Erleben zu ermöglichen und dadurch aus einer tendenziell negativen, abwertenden Emotion herauszufinden. Wer mit störendem Verhalten konfrontiert ist, läuft Gefahr, sich Handlungs-ohnmächtig zu fühlen. Die äußeren Umstände (die andere Person, das Verhalten anderer) werden dann negativ bewertet und als Stressor ausgemacht. Das Motto: »Ich fühle mich A, wenn du B tust«, macht B zum Auslöser und Verursacher und das wirkt sich emotional aus. (Mehr zu den Zusammenhängen zwischen Nervensystem und Erleben finden Sie im Abschnitt Stress und seine Auswirkungen in Kapitel 8.)
Menschliche Denkmuster ordnen das Wahrgenommene ein und führen zu bestimmten Interpretationen, Bewertungen und Zuschreibungen. Herausforderndes Verhalten wird häufig als »falsches« Verhalten eingestuft und kann einhergehen mit einer Abwertung der Person, die sich so verhält. Auch das Abwerten selbst löst eine emotionale Reaktion in uns aus: meist Ärger, Enttäuschung oder Zorn. Wenn wir stattdessen das Verhalten reframen, also umdeuten, gelingt es, selbst emotional in Balance zu bleiben und damit auch professionell handlungsfähig(er). Reframing ist damit ein wichtiger Baustein in der mentalen und emotionalen Selbststeuerung und wird dadurch zu einer zentralen Alltagskompetenz.
Durch das Reframing-Training gelang ihr ein anderer Blickwinkel auf das Verhalten und vor allem die Trennung von Verhalten und Person. Nicht die Schülerin war herausfordernd, sondern deren Verhalten. Die Umdeutung sah derart aus, dass sie in Betracht zog, dass diese Schülerin den Kontakt zu ihr suchte, um sich eine extra Portion Aufmerksamkeit zu holen, die sie woanders aktuell vermisste. (Erinnern Sie sich: In welchem Kontext macht das Verhalten Sinn?) Mit diesem veränderten Blick konnte sie der Schülerin im Unterricht fortan anders begegnen, weil ihre negative Emotion und Abwertung abfiel und sie stattdessen das dahinterliegende Bedürfnis würdigen konnte. Sie schenkte der Schülerin hier und da Aufmerksamkeit und Ansehen und das veränderte schließlich das Verhalten der Schülerin: Sie musste nicht mehr so viel nachfragen, um in Kontakt zu kommen.
Dazu wird der Fokus gezielt auf diese Frage hin ausgerichtet: Welche Fähigkeit steckt auch (im Sinne von außerdem) in dem gezeigten Verhalten? Um weitere Fähigkeiten zu entdecken, muss man neue Interpretationen von Verhaltensweisen und Eigenschaften bewusst zulassen und, ähnlich wie beim Hypothesen-Bilden, den Blick weiten und bislang gewohnte Denkmuster und voreilige Zuschreibungen in den Hintergrund rücken.
Das kann dann so aussehen: Eine Person, die sich faul zeigt,
- teilt sich die eigenen Energiereserven ein.
- nimmt sich zurück, wenn die eigenen Interessen nicht berührt sind.
- schützt sich eventuell vor möglichem Misserfolg.
- ist in Kontakt mit den eigenen Bedürfnissen (hier eventuell Unlustvermeidung).
Das führt zu weiteren Deutungen für die Eigenschaft und das Verhalten. Also statt faul zum Beispiel …
- … energieschonend
- … bedächtig
- … entspannt
Die Eigenschaft bleibt zwar dieselbe, die Umdeutung erweitert jedoch den Blick auf eine Bandbreite an weiteren Möglichkeiten. Durch diese Umdeutung entstehen konstruktivere Zugänge für eine Reaktion auf das gezeigte Verhalten. Negative Emotionen, Abwertungen bis hin zu persönlichen Kränkungen (weil die Schülerin keine Hausaufgaben macht) werden abgefedert. Meist entspannt sich die Situation durch einen entspannteren Umgang mit der Eigenschaft. Die Person, in unserem Beispiel die faule Schülerin, erfährt keine persönliche Abwertung, weil eine klare Trennung zwischen Verhalten und Person sowie Verhalten und Funktion stattfindet. Diese Haltung ist spürbar für das Gegenüber. Dadurch wird eine Kooperation für eine Veränderung dieses Verhaltens bei der Person selbst eher möglich.
Die Suche nach den innewohnenden Fähigkeiten erleichtert mögliche Lösungen. Daher ist die zweite zentrale Frage im Reframing: Wie kann diese Fähigkeit als Ressource für eine Lösung genutzt werden?
Die Trennung von Verhalten und Person wirkt deeskalierend. Dadurch, dass zwar das störende Verhalten als unangemessen bewertet wird, die Person selbst jedoch nicht abgewertet wird, ist die Chance auf Bereitschaft für Veränderung beim Gegenüber und damit zur Zusammenarbeit erhöht. Unbenommen bleibt, verstehen heißt nicht einverstanden sein. Auch im systemischen Denken und Handeln wird unerwünschtes Verhalten klar benannt und auf Störungen eingewirkt. Durch die Haltung und die Grundannahmen werden Störungen allerdings nicht als isoliertes und monokausales Phänomen einer Einzelperson oder gar direkt als Provokation gegen mich als Lehrkraft eingeordnet. (Siehe dazu auch Kapitel 4 Der systemische Ansatz in der Pädagogik.)
Die Trennung von Verhalten und Funktion ermöglicht den Blick auf den Sinn des Verhaltens. WIE sich jemand verhält, erklärt noch nicht die Funktion des Verhaltens im sozialen System der Person. Verhaltenssymptome bilden die beobachtbare Oberfläche einer Verhaltensweise, die Funktion, der Sinn im Kontext liegt darunter und kann oft nicht auf den ersten Blick erkannt werden.
Wer die Anzahl seiner Handlungsmöglichkeiten vergrößern möchte, legt den Fokus auf die Konstruktion von Lösungen, statt sich vordergründig mit dem Problem zu beschäftigen. Reframing wird dabei zur wichtigen Methode für das eigene Erleben. Mit dem Wissen und der Akzeptanz, dass es keine monokausalen Zuschreibungen für Verhalten gibt, eröffnet sich die Chance auf einen Wechsel im eigenen Erleben. Veränderung wird durch den Fokus auf Ressourcen und Fähigkeiten umgesetzt. Das wirkt sich »nebenbei« positiv auf die Beziehung zwischen Lehrkraft, Schüler und Lerngruppe aus.
- in welchem Zusammenhang (Kontext) ein bestimmtes Verhalten sinnvoll ist.
- welche Fähigkeit im bisherigen Verhalten als Ressource für eine mögliche Lösung gefunden werden kann.
- was schließlich stattdessen gelernt werden muss, damit das Problem gelöst wird.
In Elterngesprächen unterstützt ein Reframing das Verständnis fürs eigene Kind und wirkt sich dadurch Beziehungs-entlastend für alle Beteiligten aus. Einer Mutter, die im Gespräch ihr Kind als »absolut unzuverlässig« betitelt, könnten Sie die Frage stellen: »Wie erklären Sie sich, dass Ihr Kind hin und wieder eigene Wege geht?«, »In welchen Situationen erleben Sie das vermehrt?«, »Wann engagiert sich Ihr Kind und zeigt sich verlässlich? Und was ist dann anders?« Das Gespräch erfährt dadurch einen Dreh, indem die störende Eigenschaft direkt sprachlich »reframt« (inhaltlich neu gerahmt) wird und man gemeinsam nach möglichen Kontexten schaut. Auch die Suche nach Ausnahmen und Unterschieden wird hier schon gebahnt, indem aus absolut respektive immer hin und wieder wird. Durch diese Intervention kann auch die Mutter einen anderen Blick auf ihr Kind gewinnen, die Beziehungsebene bleibt stabiler und konstruktive Lösungsversuche gelingen besser, weil die Emotion gedrosselt wird.
(Mehr zum Thema Reframing in Gesprächen finden Sie in Kapitel 15 Meine Klasse, ihre Eltern und ich sowie in Kapitel 17 Wirksame Interventionen in der Gesprächsführung. Dort beschreibe ich die systemische Basisintervention Frageformen.)
Es gibt unterschiedliche Arten des Reframings:
Bedeutsam in der Schule und für den Umgang mit Störungen ist das inhaltliche Reframing. Dieses lässt sich wiederum wie folgt unterscheiden:
Hypothesen bilden gehört wie das Reframing (siehe vorheriger Abschnitt) zum Handwerkszeug im systemischen Denken und Handeln. Während Reframing beabsichtigt, das eigene Erleben zu verändern, dienen Hypothesen dazu, konstruktive Lösungen für (komplexe) Situationen zu entwickeln und Verhalten als komplexes Agieren innerhalb eines sozialen Kontextes zu verstehen. Doch zunächst: Was sind Hypothesen eigentlich?
Statt also schnell einzuordnen und vermeintlich zu wissen, was los ist oder wie der Schüler (die Eltern, die Kollegin, der Chef …) tickt, geht es hier um eine bewusste Distanzierung von einer solchen Zuschreibung, die Gefahr läuft, statisch zu sein. Damit ist gemeint, dass einmal gemachte Zuschreibungen als anhaltende Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale formuliert werden. Das erschwert, wirksame Lösungen zu finden, bei der die Beziehung zum Gegenüber keinen Bruch erfährt.
Vermutlich würde es Ihnen auch nicht gefallen, wenn Ihre Umwelt solche Zuschreibungen über Sie ausspricht. Angenommen, Sie lassen sich mit einer Korrektur einmal länger Zeit als sonst und das Bild über Sie wäre fortan, Sie sind die Lehrkraft, die immer ewig braucht für die Korrektur. Sie würden sich vermutlich nicht gesehen fühlen oder es als unfair empfinden, wenn der Kontext nicht betrachtet würde.
Mich hat das damals erschüttert. Wann haben Schüler die Chance auf einen Neustart, wenn ihnen die Möglichkeiten für eine andere Wahrnehmung nicht mehr gewährt werden? Eine gut gemeinte Absicht des Kollegen, mich zu unterstützen, hat Auswirkungen auf den Verlauf der Begegnung. Sie können sich bestimmt vorstellen, dass Sie eine solche Information nicht mehr ausblenden können und damit schon einen ersten Priming-Effekt haben. (Mehr zum Thema Erwartungshaltungen, Ziele und Priming-Effekte in Kapitel 14 Vom Wert der Motivation.)
Hypothesen dienen im Kontext Schule und im Classroom Management der Lösungsfindung für Probleme und herausforderndes Verhalten. Sie wirken als Wahrnehmungsfokus, bei gleichzeitigem Öffnen der Perspektiven für möglichst viele, teilweise auch absurd wirkende Möglichkeiten der Erklärung für Verhalten im jeweiligen sozialen Kontext.
Schon Goethe sagte: »Wer ein Problem lösen möchte, muss sich vom Problem lösen.« Es geht also darum, mit einer gewissen Distanz auf eine vorherrschende Herausforderung zu blicken.
Um gute, sinnstiftende Hypothesen zu bilden, braucht es tatsächlich Übung. Unser Gehirn ist gewohnt, in bestimmten Mustern und Überzeugungen zu denken und das, was wir wahrnehmen, dementsprechend einzuordnen. Meist geschieht dies innerhalb von wenigen Sekunden. Den Blick für andere Möglichkeiten zu weiten, ist damit zunächst eine Irritation für die gewohnte Art der Wahrnehmung und kann mitunter am Anfang etwas anstrengend sein. Ich möchte Sie beruhigen: Wenn Sie diese Möglichkeit des Andersdenkens einmal für sich als Gewinn entdeckt haben, werden Sie dies vermutlich sogar zu Ihrer neuen Gewohnheit machen und mehr und mehr wie selbstverständlich Ihren Blick weiten. Zusätzlich werden Sie immer mehr dafür sensibilisiert sein, wie schnell andere mit ihrem Urteil (vor)schnell zu ihren Schlüssen kommen.
Im Abschnitt Von der Wahrnehmung zur Wirklichkeit – die Welt des Konstruktivismus in Kapitel 4 habe ich das Thema Wahrnehmung unter dem Aspekt unterschiedlicher Wahrnehmungsfilter beschrieben.
Es geht in systemischen Prozessen nicht darum, die eine richtige Hypothese zu finden. Vielmehr soll eine Vielfalt von Hypothesen auch eine Vielfalt von Perspektiven und Möglichkeiten auftun und zu neuen oder anderen Sichtweisen und dadurch zu neuen Lösungsideen oder zu Lösungsalternativen führen.
Die Basis guter Hypothesen ist gute Wahrnehmung. Doch was macht gute Wahrnehmung aus? Bevor ich darauf näher eingehe, möchte ich einen Blick darauf werfen, wie Wahrnehmung entsteht.
»Was wir wahrnehmen, ist die beste Vermutung des Gehirns über die Sinneseindrücke, die es erhält.« (Hermann von Helmholtz, deutscher Mediziner, Physiker und Physiologe, 1821–1894)
Helmholtz sprach dem Gehirn die Fähigkeit der Vorhersage zu. Das menschliche Gehirn ist aktiv an der Interpretation der wahrgenommenen Informationen beteiligt, die es über die Sinne empfängt. Ein Wahrnehmungserlebnis ist nicht die exakte Wiedergabe einer Realität, sondern das Konstrukt persönlicher Sinneswahrnehmungen. Noch bevor wir etwas wahrnehmen, hat unser Gehirn bereits Vermutungen aufgestellt. Die Signale der Sinnesorgane (sehen, hören, schmecken, riechen, fühlen) dienen dem Gehirn als vorläufiges Ergebnis für die beste Vermutung hinsichtlich der Ursachen dieser Signale. Bereits einfachste Wahrnehmungen basieren auf Vermutungen.
An optischen Täuschungen kann veranschaulicht und unmittelbar erfahrbar gemacht werden, wie uns Vermutungen und Vorwissen als Orientierung dienen, um uns in der Welt zurechtzufinden und mit ihr in Beziehung zu treten. Dies birgt gewisse Stolpersteine in sich, wenn Vermutungen als Tatsachen deklariert werden und wenig bis gar nicht mehr korrekturfähig sind.
Übertragen auf Schule und Unterricht bedeutet das, es ist hinderlich, vorschnelle Zuschreibungen über Ihre Schüler vorzunehmen. Bedenken Sie, dass sich Ihre Schülerschaft als Teil eines komplexen Systems versteht, in dem Verhalten jeweils von Kontext und individuellen Motiven und Bedürfnissen, aber auch Prägungen beeinflusst ist. Dadurch wird bereits ersichtlich, dass ein bloßes Funktionieren (zum Beispiel das Einhalten von Regeln) nicht automatisch stattfindet, da zahlreiche Faktoren (wir selbst eingeschlossen) einwirken. Und das jeden Tag aufs Neue. Wer zu schnell in die Falle tappt, eine Situation eindeutig einzuschätzen, behindert Beziehung.
Hypothesen geben Ihnen einen Schlüssel an die Hand, herausforderndes Verhalten konstruktiv (im Sinne von lösungs- und ressourcenorientiert) zu hinterfragen. Dazu gibt es sechs hilfreiche Ausrichtungen:
Im Verlauf des pädagogischen Begleit- und Entwicklungsprozesses wird eine formulierte Hypothese überprüft. Dies geschieht, indem man auf der Basis gebildeter Hypothesen Lösungsideen (Interventionen) entwickelt und sich dann für eine davon als Reaktion auf das Verhalten entscheidet. Diese Intervention führt zu einer Reaktion beim Gegenüber. Durch die Beobachtung dieser Verhaltensreaktion zeigt sich, ob die Hypothese in eine gute Lösungsrichtung führt. (Mehr dazu im Abschnitt Die systemische Interventions-Schleife.)
Variante: Diese Übung eignet sich prima als Tandem-Übung. Person 1 beschreibt eine Situation, Person 2 bildet Hypothesen zu dieser Situation, abschließend bewertet Person 1 die Situation unter Berücksichtigung der gebildeten Hypothesen. Wie leicht fällt es Ihnen, auf der Beschreiben-Ebene zu beginnen? Welchen Unterschied macht es, durch die Übung ein Hemmnis für zu schnelle Bewertung einzubauen? Wie gelingt es Ihnen, möglichst viele und unterschiedliche Hypothesen zu bilden?
(Mehr zum Thema Hypothesenbildung in Gesprächen finden Sie in Kapitel 15 Meine Klasse, ihre Eltern und ich sowie in Kapitel 17 Wirksame Interventionen in der Gesprächsführung. Dort beschreibe ich auch die systemischen Frageformen.)
Psychische Störungsbilder umfassen eine Vielzahl von Zuständen, die das Denken, Fühlen, Verhalten, die Kommunikation und die sozialen Interaktionen einer Person beeinträchtigen. Beispiele für psychische Störungen sind Depressionen, Angststörungen, Zwangsstörungen, Störungen des Sozialverhaltens, Autismusspektrumsstörungen oder auch Essstörungen. Jedes Störungsbild hat spezifische Merkmale und Kriterien, die von diagnostischen Handbüchern wie der ICD-10 festgelegt werden.
Die Störungen können unterschiedliche Ursachen haben, einschließlich genetischer, biologischer, psychologischer und Umweltfaktoren. Die Behandlung kann unter Umständen medikamentös, psychotherapeutisch oder eine Kombination aus beidem sein, abhängig von der Art und Schwere der Störung. Kinder und Jugendliche, die unter diesen Störungen leiden, haben nur begrenzt Einfluss auf ihre Selbststeuerung und Selbstregulation. Daher ist es notwendig, mit pädagogisch-professionellem Verständnis für Unterstützung zu sorgen.
Diese Schüler kennen Sie vermutlich auch: Sie sind ständig unruhig, impulsiv, verfügen über eine sehr kurze Aufmerksamkeitsspanne und ihre Ausdauer ist dadurch auffallend eingeschränkt. Sie springen von einem Gedanken zum nächsten und erzählen sprunghaft. Manche strotzen nur so vor Energie und man hat den Eindruck, man muss sie vor sich selbst schützen, wenn sie losrennen. Sie neigen tatsächlich auch zu Unfällen. In der Literatur vereinen Figuren wie Pippi Langstrumpf, der Zappelphilipp, aber auch Hans-Guck-in-die-Luft charmant diese Eigenschaften. In den Klassenzimmern ist die Interaktion mit diesen Schülern weniger vom Charme dominiert als vielmehr von der Herausforderung, sie zu integrieren und irgendwie »in den Griff« zu bekommen.
Diese Kinder machen früh die Erfahrung, dass ihr Umfeld mit ihrem Verhalten und dadurch mit ihnen überfordert ist. Ständige Appelle, denen sie nicht einfach nachkommen können, prägen die Beziehungen zu Bezugspersonen und später zu Gleichaltrigen. Kinder distanzieren sich zum Teil von ihnen, wegen ihrer mangelnden Rücksichtnahme oder auch weil sie irgendwie immer auffallen. In der Schule wiederholen sich diese negativen Erfahrungen durch die Reaktionen vieler Lehrkräfte. Die Störung geht daher häufig einher mit einem verminderten Selbstwert.
Wie wird man als Lehrkraft diesen Schülern gerecht? Was erreicht diese Schüler? Und was nicht?
Schüler mit gestörter Aufmerksamkeitssteuerung profitieren von regelmäßigem Zuspruch. Das hört sich nicht nur herausfordernd an, das ist es auch tatsächlich. Viele Ermahnungen zielen darauf ab, diese Kinder zur Ruhe und in die Arbeit zu bringen. Ist es dann endlich einmal ruhig, dann sind die Lehrkräfte so erleichtert, dass sie den wichtigen (!) Moment des Bestätigens versäumen.
Die Bestätigung des erwünschten Verhaltens ist von zentraler Bedeutung, denn diese Schüler erleben täglich mehrere Hundert Appelle (mit dementsprechender emotionaler Ladung), sich anders zu verhalten. Der Subtext kann vom Schüler so übersetzt werden: »Du bist nicht okay.« Da ist es nachvollziehbar, dass das nicht unbedingt zu einem starken Selbstwertgefühl führt. Gewöhnen Sie sich daher an, jedes erwünschte Verhalten kurz zu bestätigen. Diese positive Wahrnehmung stärkt auch die Arbeitsbeziehung.
Schüler mit ADHS sind in ihren exekutiven Funktionen eingeschränkt, die Steuerung der Aufmerksamkeit ist gestört. Durch willentliche Anstrengung allein können diese Schüler ihr Verhalten nicht oder nur bedingt steuern.
Auch ist die Versorgung mit dem Neurotransmitter Dopamin eingeschränkt. Es steht nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung, sodass Motivation und Antrieb vermindert sind. Sie lesen richtig: Zu wenig Dopamin bedeutet, dass das Gehirn unterstimuliert ist. Diesen Zustand kompensieren Schüler mit ADHS mit vermehrter Stimulation (bewusst und unbewusst), was sich als Hyperaktivität auswirken kann.
Die exekutiven Funktionen haben ihren Sitz im Stirnhirn (auch Frontalhirn oder präfrontaler Cortex). Mehr zu diesem Thema finden Sie in Kapitel 12 Selbstregulation.