Kapitel 6
IN DIESEM KAPITEL
Da Schule neben ihrem Bildungsauftrag auch Erziehungsaufgaben innehat, ist die Auseinandersetzung mit Erziehungsstilen für das eigene professionelle Denken und Handeln geboten. Erziehungsstile sind auch immer Ausdruck einer Haltung. Auf der Grundlage von Haltung gestaltet sich Beziehungs-, Kommunikations- und damit Führungskultur. Erziehungsstile beeinflussen durch ihre Methoden und Grundsätze maßgeblich, WIE Kinder erzogen werden, wie sie sich entwickeln und wie sie sich in der Gesellschaft zurechtfinden.
Ein Erziehungsstil definiert, wie Erziehende ihre Verantwortung wahrnehmen, Regeln setzen, Unterstützung bieten und mit Herausforderungen umgehen.
Das Erziehungsverständnis, das ich als Lehrer im Unterricht umsetze, bestimmt meinen Unterrichtsstil und mein Führungshandeln. Es ist dadurch von großer Bedeutung, sich mit dem eigenen Erziehungsverständnis auseinanderzusetzen.
Mit Bezug zu Schule und Unterricht werden häufig diese grundlegenden Erziehungsstile aufgeführt und unterschieden:
In diesem Kapitel werden die Merkmale der verschiedenen Erziehungsstile beschrieben und wie sie sich auf die Entwicklung und das Verhalten von Kindern auswirken können.
Von autoritär bis permissiv – die Vielfalt der Erziehungsstile spiegelt die verschiedenen Ansätze und Überzeugungen wider, die Erziehende in Bezug auf die Erziehung ihrer Kinder haben können. Sie unterscheiden sich durch ihr jeweiliges Maß von Zuwendung und Kontrolle (siehe Abbildung 6.1).
Abbildung 6.1: Erziehungsstile
Die Bindung und positive Beziehungsgestaltung zum Kind gelten als bedeutsame Voraussetzung für dessen gesunde soziale und emotionale Entwicklung. In der Familie und anderen Erziehungskontexten bleibt es selten bei der Reinform eines Stils. Herrscht ein positives Klima mit einer grundlegenden Wertschätzung und Anerkennung der Bedürfnisse aller, können auch situativ dominante Verhaltenstendenzen ausgeglichen werden, kurz: Die Beziehung hält das aus.
Der autoritäre Stil zeichnet sich durch ein klares Autoritätsverständnis aufseiten von Erziehenden aus. Dies legitimiert hohe Erwartungen, starke Kontrolle und strenge Regeln in Bezug auf das Kind. Die hohe Erwartungshaltung an sich, aber auch an die Erfüllung der gesetzten Regeln lässt kaum Fehlertoleranz zu. Die gesetzten Standards werden meist einseitig kommuniziert und quasi »befohlen«. Entscheidungen und Regeln werden oft nicht erklärt oder gerechtfertigt. Erziehende nehmen eine dominante und kontrollierende Rolle ein. Auch ist wenig bis gar kein Raum für Kinder, eigene Meinungen zu äußern oder Fragen zu stellen.
Der autoritäre Erziehungsstil erwartet Gehorsam, setzt auf Disziplin und lässt wenig Raum für Individualität. Der Fokus liegt oft auf Konformität und Uniformität. Abweichungen von den Erwartungen werden in der Regel nicht toleriert. Die Nichteinhaltung von Regeln zieht Bestrafung nach sich, um unerwünschtes Verhalten zu korrigieren.
Der vernachlässigende (oder gleichgültige) Erziehungsstil zeichnet sich durch eine geringe bis ausbleibende Zuwendung aufseiten der Erziehenden aus. Fehlende Fürsorge, geringe emotionale Unterstützung und wenig Aufmerksamkeit sind zentrale Merkmale. Die Formulierung und Überprüfung der Einhaltung klarer Regeln oder sonstige Ansprache bleibt aus. Die Vernachlässigung zeigt sich sowohl physisch als auch emotional.
Erziehende, die diesen Stil anwenden, zeigen sich oft emotional distanziert mit wenig Interesse am Wohlbefinden und an den Bedürfnissen sowie an Aktivitäten des Kindes bis hin zur Nicht-Beachtung seiner Wünsche. Die Erziehenden bieten nur begrenzte Unterstützung oder Anleitung. Das begünstigt ein Gefühl von Unsicherheit beim Kind. Der vernachlässigende Erziehungsstil kann langfristig negative Auswirkungen auf die emotionale Entwicklung, das Selbstwertgefühl und die Bindungs- und Beziehungsfähigkeit des Kindes haben.
Erziehende mit permissivem Erziehungsstil betrachten Regeln, Grenzen und Disziplin eher als unnötig. Dem Kind werden häufig viel Freiheit und Autonomie gewährt, und es erfährt wenig Lenkung und Eingreifen von außen. Dies spiegelt die geringe Erwartung aufseiten der Erziehenden. Sie greifen selten in die Entscheidungen des Kindes ein. Als Folge hat das Kind eine hohe Entscheidungsfreiheit und kann viel selbst bestimmen.
Die mangelnde Erwartungshaltung ist nicht mit einem Desinteresse am Kind zu verwechseln. Permissive Erziehende verstehen sich eher als Freund und keinesfalls als Autoritätsperson. Eine enge und vertrauensvolle Beziehung ist ihnen wichtig und dementsprechend agieren sie. Konflikte werden als bedrohlich eingestuft und aus diesem Grund werden Auseinandersetzungen eher vermieden, um die Harmonie zu wahren. Unerwünschtes Verhalten wird deshalb nicht angesprochen.
Aufgrund der lockeren Haltung der Erziehenden erhalten Kinder möglicherweise nicht genügend Anleitung oder Unterstützung in Bezug auf ihre Bildung und Entwicklung. Entwicklungsmöglichkeiten beim Kind werden in der Folge »verspielt«.
Der autoritative Ansatz ist gekennzeichnet durch ein hohes Maß an emotionaler Wärme und Zuwendung bei gleichzeitig hohen Ansprüchen und starker Kontrolle von festgelegten Grenzen (siehe Abbildung 6.2). Autoritative Erziehung zeichnet sich durch eine Balance aus Zuwendung, Unterstützung und klaren Regeln aus. Grenzen zu setzen ist ein wichtiges Merkmal dieses Ansatzes. Gleichzeitig finden Bedürfnisse und Ansichten des Kindes Gehör und es ist Raum für dessen autonomes Denken und Handeln.
Bereits in den späten 1930er-Jahren fanden Merkmale eines solchen Erziehungsansatzes positive Beachtung und wurden als demokratischer Erziehungsstil benannt. Dies geschah erstmals in der Forschung des deutschen Psychologen Kurt Lewins. Er befasste sich damit, wie sich unterschiedliches Erziehungsverhalten auf das Verhalten und die Leistung von Kindern und Jugendlichen auswirkt. Dabei berücksichtigte er sowohl elterliches Verhalten als auch Verhalten von (sozial-)pädagogischen Fachkräften. Auf dieser Basis entwickelte er später sein Modell zu den Führungsstilen.
In den 1960er- und 1970er-Jahren machte sich die US-amerikanische Entwicklungs-Psychologin Diana Baumrind mit ihren Forschungen zu den elterlichen Erziehungsstilen und deren Auswirkungen aufs Kind einen Namen. Sie prägte erstmals den Begriff »autoritative Erziehung«. (Aufgrund ihrer Forschung unterschied sie neben dem autoritativen Ansatz zwei weitere Erziehungsstile: den autoritären sowie den permissiven Erziehungsstil, später wurde ihr Konzept um einen weiteren Erziehungsstil ergänzt, den vernachlässigenden.)
Abbildung 6.2: Autoritative Erziehung
Baumrind favorisierte im Vergleich den autoritativen Ansatz, da dieser positive Ergebnisse in Bezug auf die soziale und emotionale Entwicklung von Kindern vorwies. Ihre Forschung zeigte, dass Kinder, die autoritativ erzogen wurden, in der Regel selbstbewusst, sozial kompetent, verantwortungsbewusst und unabhängig waren.
Diese Forschungsergebnisse hatten Einfluss auf Pädagogen und Psychologen, die Baumrinds Ideen aufgriffen und aus dem ursprünglichen Bereich von Familie in andere Erziehungskontexten wie Schule und andere soziale Einrichtungen übertrugen.
In Schule und Unterricht haben Lehrer klare Erwartungen an Schüler. Gleichzeitig ist es ihre Aufgabe, bestmögliche Unterstützung anzubieten. Der autoritative Ansatz verbindet diese beiden Aspekte durch seine Methoden und Grundsätze. Er zielt darauf ab, eine positive Lernumgebung zu schaffen, in der Wissen erworben und soziale und emotionale Fähigkeiten bei den Schülern entwickelt werden können. Er fördert Autonomie und bietet gleichzeitig Struktur und Anleitung.
Autoritativ erzogene Kinder verfügen über das höchste Maß an geistigen und sozialen Kompetenzen und zeigen am wenigsten Problemverhalten. Mit Eintritt ins Jugendalter zeigen sie vergleichsweise mehr Selbstwertgefühl und eine höhere Selbstwirksamkeitserwartung. Sie verhalten sich verantwortungsbewusster, sind selbstständiger, kreativer, wissbegieriger und hilfsbereiter und zeigen bessere Schulleistungen (Fuhrer, 2007).
Damit setzt sich der autoritative Ansatz im Vergleich durch. Selbstkontrolle und Selbststeuerung werden als Basiskompetenzen für ein gelingendes Leben angesehen.
Ein autoritatives Führungsverständnis …
Lehrer ist ein Beziehungsberuf. Das persönliche Verständnis von Erziehungsansätzen und deren Umsetzung in das eigene Führungshandeln bilden die Basis für die Beziehungsgestaltung.
Die folgenden Fallen können die Beziehung aufseiten der Lehrperson erschweren oder sogar blockieren.
Ohnmachtsfalle: »Macht doch, was ihr wollt.« Diese Einstellung ist ein Hinweis, dass die Beziehung bereits aus dem Kontakt ist. Die Lehrkraft überlässt die Lernenden sich selbst. Ein dauerhaftes Ausbleiben von klaren Erwartungen und kein Einfordern von Grenzen führen dazu, dass sich die Beteiligten immer mehr entfremden. Die Lernenden werden die fehlende Führung innerhalb der Gruppe ausgleichen, das heißt, jemand anders geht in Führung, die Lehrkraft schafft sich dadurch ihre eigene »Konkurrenz«.
Ein Blick in die eigene Erziehungs-Biografie ist für die Lehrkraft unerlässlich. Die Reflexion der eigenen Prägung und die Auseinandersetzung mit dem professionellen Selbstverständnis schärfen den Blick und das Verständnis für den eigenen Erziehungs- und Führungsstil.
Erziehungsverständnis und daraus resultierendes Führungshandeln liegen in Schule und Unterricht nah beieinander. Das Führungshandeln der Lehrkraft bezieht sich auf die pädagogischen Ziele und die jeweilige erzieherische Situation im Unterricht.
Es gibt nicht den einen richtigen Führungsstil für alle. Der Blick auf Lernziele, Situation der Klasse, Voraussetzungen der Schüler in Kombination mit dem eigenen professionellen Führungsverständnis ist mitentscheidend für den passenden Führungsstil.
Ein Führungsansatz, der die situative Anpassung des Führungsverhaltens proklamiert, ist der situative Führungsstil nach Kenneth Blanchard und Paul Hersey. Dieser Ansatz aus den 1970er-Jahren geht davon aus, dass es keinen universell besten Führungsstil gibt, sondern das Führungshandeln je nach tatsächlichen Umständen und Bedingungen variiert werden sollte.
Die beiden Hauptdimensionen des situativen Führungsstils bilden
Diese passen sich an den Reifegrad des Mitarbeiters an. Auf der Basis dieser beiden Dimensionen definieren Hersey und Blanchard vier Führungsstile. Je nach Reifegrad der Mitarbeiter bezogen auf Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie Motivation und Selbstvertrauen werden diese unterschiedlich geführt.
Das Modell unterscheidet vier aufgabenbezogene Reifegrade:
Unter Berücksichtigung des jeweiligen Reifegrads sollten Führungskräfte in der Lage sein, ihren Führungsstil anzupassen. Das setzt Flexibilität und Anpassungsfähigkeit des eigenen Führungshandelns voraus.
Es werden vier Führungsstile abgeleitet, die in unterschiedlichem Maße Autonomie fördern und fordern:
Vielleicht sind Ihnen beim Lesen der unterschiedlichen Reifegrade und Entwicklungsstufen bereits einzelne Schüler durch den Kopf gegangen und Sie haben innerlich bereits »gescannt«, wer sich da wo verorten lässt.
In jeder Lerngruppe finden Sie ein hohes Maß an heterogenen Voraussetzungen, das ist Ihr beruflicher Alltag. Die Dimensionen Fähigkeiten und Motivation lassen sich unmittelbar auf Ihre Schüler übertragen. Dementsprechend finden die abgeleiteten Führungsstile auch ihre Berechtigung im Kontext von Schule und Unterricht.
Wer entsprechend seinen Möglichkeiten gesehen wird, macht die Erfahrung von Passung. Das Modell lässt sich daher auch als Angebot zur Potenzialentfaltung verstehen. In dem Maße, in dem Schüler entsprechend ihren Voraussetzungen und ihrer Motivation angesprochen und unterstützt werden, können sie ihr Selbstvertrauen aufbauen und stärken sowie sich selbst als wichtig und wirksam erfahren.
Diese Passung aus Unterstützungsangebot und eigenen Fähigkeiten trägt auch zu Kohärenz bei, da die benötigte Energie für Aufgabe und Bewältigung in gesundem Maße in Balance ist. Eine Über- oder Unterforderung und daraus resultierende Frustration wird durch die hohe Aufmerksamkeit bei der Lehrkraft frühzeitig sichtbar und kann dementsprechend »korrigiert« werden.
»Und bist du nicht willig, so brauch ich … Geduld.« (Haim Omer)
Der israelische Psychologe und Autor Prof. Dr. Haim Omer (Tel Aviv) entwickelte bereits in den 1990er-Jahren federführend das Konzept Neue Autorität. Sein Begriff der Neuen Autorität ist als Reaktion auf eine veränderte Gesellschaft zu verstehen, in der das bisherige Verständnis von Autorität (»alte oder traditionelle Autorität«) nicht mehr greift, um Erziehungs- und Führungsaufgaben erfolgreich umzusetzen.
Das Erziehungsverständnis der autoritären Erziehung brachte ab den 1960er-Jahren Gegenbewegungen ins Rollen. So formte sich eine antiautoritäre Erziehung, die Autorität als verzichtbar einstufte und die egalitäre Beziehung zwischen Eltern und Kind beabsichtigte. Später formte sich die Bewegung des »Laissez-faire« (Lasst sie machen!), in der elterliche Interventionen minimal stattfanden, die Autorität jedoch noch immer stark infrage stellte. Beiden Ansätzen fehlt es an klaren Regeln und Grenzen. Dieser Mangel an Struktur und Unterstützung in Form verbindlicher Beziehung wirkt sich nachweislich negativ auf die Entwicklung des Kindes aus. Hinzu kommt, dass beim antiautoritären Ansatz die Kinder eine kritische Haltung gegenüber etablierten Autoritäten und gesellschaftlichen Normen entwickeln. Dies erhöht die Gefahr, dass sie sich erschwert in die (sozialen) Strukturen einfinden und Grenzen in der Gesellschaft nur bedingt akzeptieren.
Omers Erziehung durch Beziehung zeigt sich als eine zeitgemäße Alternative, um Autoritätsproblemen gewaltfrei und ohne herkömmliche Machtstrukturen zu begegnen. Die wesentlichen Aspekte neuer und traditioneller Autorität sind in Tabelle 6.1 zum Vergleich aufgeführt.
In seiner langjährigen Tätigkeit als Psychologe und in der Begleitung von Familien wendete Omer das Konzept der Neuen Autorität zunächst beim Eltern-Coaching an. Omer kristallisierte in den vielen Situationen EIN verbindendes »Element« heraus, das allen Eltern in ihrer Not mit gewalttätigen Kindern gemeinsam war: ihr Ohnmachtsgefühl gegenüber dem eigenen Kind. Dieses Ohnmachtsgefühl kennen auch Lehrkräfte im Umgang mit ihren beruflichen Herausforderungen und besonders im Umgang mit Störungen.
Neue Autorität |
Alte, traditionelle Autorität |
---|---|
Präsenz und Beziehung Selbstkontrolle Vernetzung Beharrlichkeit Aufschub und Deeskalation Widerstand und Wiedergutmachung Fehlbarkeit Multiperspektivischer Blick auf den Menschen Trennung von Verhalten und Person Öffentlichkeit und Transparenz |
Hierarchie Macht Distanz Einzelkämpfertum Unmittelbare Bestrafung Unfehlbarkeit »Dämonisierung« (Tunnelblick) Handeln im Verborgenen Kontrolle |
Wachsame Sorge |
Gehorsam |
Tabelle 6.1: Neue Autorität und traditionelle Autorität
Die Neue Autorität bietet mit ihren 7 Säulen (siehe Abbildung 6.3) ein konkretes und klares Handlungskonzept, das sich dem systemischen Denken und Handeln verschreibt. Daher werden die Wechselwirkungen zwischen den Beteiligten (Lehrer – Schüler – Eltern – Mitschüler – Schule – …) in den Blick genommen und Verhalten in seinem Kontext gedeutet. Das bedeutet eine bewusste Abkehr von linear-kausalen Reaktionsketten im Umgang mit herausforderndem Verhalten. Durch das kontextgebundene Einordnen des Verhaltens »verblasst« das Denken in richtig und falsch. Auch die Suche nach Ursachen und damit einhergehende Schuldzuweisungen sind nicht mehr zielführend. Eine sichere Bindung bleibt gewährleistet, was langfristig die Beziehung der Beteiligten stabilisiert. (Kapitel 4 befasst sich ausführlich mit Systemischem Denken und Handeln.)
Insbesondere betont Omer die Bedeutung von Selbstkontrolle bei den Führungsverantwortlichen (Lehrer, Eltern …). Er sieht in der Fähigkeit zur Selbstkontrolle eine Schlüsselkompetenz für erzieherisches Wirken.
Die zentrale Säule ist zuvorderst eine Haltung von persönlicher Präsenz und wachsamer Sorge.
Das Fundament bilden die vier Werte Sicherheit, Beziehung, Anerkennung und (Potenzial-)Entwicklung.
Abbildung 6.3: Die 7 Säulen der Neuen Autorität
Die einzelnen Säulen bilden jeweils einen Schwerpunkt im Handlungskonzept. In Bezug zu den Erkenntnissen der Bindungstheorie setzt die Neue Autorität die zentralen Voraussetzungen für eine stabile, sichere Bindung um: Zum einen erfährt das Kind respektive der Schüler eine absolut verlässliche Beziehung, die ihm zur Basis der Selbstentwicklung dient, zum anderen erhält das Kind, der Schüler aktive Zuwendung, Schutz und Fürsorge durch alle Phasen dieser Entwicklung hindurch.
Wachstum bedeutet Entwicklung. Und Entwicklung braucht Raum. In sozialen Kontexten treffen Menschen unterschiedlicher Entwicklungsstufen aufeinander. Auch wird es regelmäßig zu Bedürfniskonflikten kommen. Das liegt in der Natur der Sache. Diese Ausgangslage zur Bedingungsgrundlage zu machen, ist eine wichtige Entscheidung für das eigene Professionsverständnis und gestaltet Ihre Haltung als Lehrkraft. Die Verantwortung für die Qualität der Beziehung liegt in Ihren professionellen Händen. Wer weiß, dass es zu seinen Aufgaben gehört, Konflikte zu begleiten, dem hilft dieses Verständnis, gelassener damit umzugehen. Anstehende Handlungen können selbstwirksam(er) umgesetzt werden.
Durch die wachsame Sorge konkretisiert sich diese berufsimmanente Aufgabe und ergänzt den formellen Bildungsauftrag des Lehrers. Diese erste Säule versteht sich als Quelle der Autorität. »Ich bin da und ich bleibe da«, lautet die Botschaft. Kinder, Schüler, Lernende, denen in dieser Haltung begegnet wird, erfahren ein hohes Maß an Verlässlichkeit und Sicherheit, was sich positiv auf das Lernen auswirkt.
Die wachsame Sorge zeigt sich durch unterschiedliche Intensitäten von Aufmerksamkeit, dadurch bestärkt und ergänzt sie die Präsenz der Lehrkraft. Gleichzeitig unterstützt dieses dosierte Maß an Aufmerksamkeit ein frühes Wahrnehmen von Verhaltensauffälligkeiten. Angepasst an die entsprechende (Konflikt-)Lage werden weitere Schritte und Handlungen eingeleitet, die dem Kind, dem Schüler beziehungserhaltend Grenzen setzen.
Kinder erhalten je nach aktueller Lage Rückmeldung oder Ansprache und können dadurch ihr Selbstbild entwickeln. Gleichzeitig erfahren sie durch ihre Bezugspersonen positive Handlungsmodelle, die ihnen in ihrer Entwicklung als Vorbild dienen.
Die Kombination aus Präsenz und wachsamer Sorge wirkt durch kontinuierliche und fokussierte Aufmerksamkeit sowohl präventiv, proaktiv als auch reaktiv.
In Konfliktsituationen erhitzen sich leicht die Gemüter. Direkt zu reagieren, im Bestreben, die Lage zu kontrollieren, ist verständlich, jedoch nicht zielführend. Um gar nicht erst in Eskalationsspiralen einzusteigen, braucht es Bewusstsein und ein »Gespür« für die eigenen Reaktionsmuster. Selbstkontrolle ermöglicht es, die Muster zu durchbrechen, indem die Lehrkraft als Führungsverantwortliche zunächst bei sich bleibt und sich von Provokationen und Konflikt»einladungen« abgrenzt.
Das Verhalten anderer ist nicht kontrollierbar, das ist eine Illusion. Wohl aber kann ich als Lehrer mein eigenes Verhalten kontrollieren, mich selbst steuern und damit meiner Führungsverantwortung im Sinne der Neuen Autorität nachkommen. In diesem Verständnis gibt es keine Sieger oder Verlierer, somit muss ich als Lehrer auch nicht den Schüler besiegen. Solche Versuche in Form von Zurechtweisungen, Vorwürfen, persönlicher Enttäuschung führen oft zu weiteren Gegenreaktionen beim Schüler, vor allem, wenn diese Disziplinierungsmaßnahmen vor dem Publikum der Mitschüler stattfinden.
Hilfreich und wirksam zeigt sich hier das Prinzip des Aufschubs: »Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist.« Geben Sie ein klares Signal, dass Sie mit dem Verhalten nicht einverstanden sind. Bleiben Sie dabei im Kontakt mit dem Schüler, das heißt, trennen Sie zwischen Verhalten und Person und benennen Sie klar die Grenzüberschreitung ohne persönliche Herabwürdigung. Machen Sie deutlich, dass Sie auf das Verhalten zurückkommen. Dies kann am Ende der Stunde sein, am Ende des Tages oder auch am nächsten Tag. Sie müssen nicht unmittelbar eine konkrete Maßnahme aussprechen, lediglich die Reaktion ankündigen. Achten Sie jedoch darauf, dass die Spanne nicht über mehrere Tage geht, sonst »verpufft« die Verbindung zum auslösenden Ereignis. Hier greift das Prinzip von Verzögerung und Beharrlichkeit. Es entlastet Sie von dem unerfüllbaren Selbstanspruch, auf alles sofort eine passende Reaktion zu haben. Durch den Aufschub können Sie mit zeitlicher und emotionaler Distanz die Situation reflektieren und überlegt auf eine gute Lösung hin agieren.
Trotz der Gewissheit, dass Lehrer mit ihren täglichen Anforderungen nicht allein sind, ist das Berufsbild von einem gewissen Einzelkämpfertum geprägt. Das schwächt Ihre Position. Denn im Gegensatz dazu begegnen Ihnen Ihre Schüler meist in sozialen Netzwerken und damit einer Gemeinschaft.
Die Neue Autorität baut auf gegenseitige Unterstützungsnetzwerke und Bündnisse zwischen den erziehenden Parteien. Hierbei kommen mitunter auch Personen aus exogenen Systemen ins Spiel, die ansonsten schulisch kaum eine Rolle spielen, wie beispielsweise Trainer aus dem Verein oder andere Führungsverantwortliche aus dem Freizeitbereich. Diese können zum Beispiel gezielt zu Gesprächen eingeladen werden. Die Unterstützung soll sowohl dem Schüler dienen als auch den Erziehenden. Ein multiperspektivischer Blick wird möglich und das Ressourcenspektrum des Schülers breiter, durch die Erweiterung auf außerschulische Bereiche.
Durch das gemeinsame Auftreten der Lehrer einer Schule und das gezielte Agieren als Erziehungsbündnis verstärken Sie Ihre Präsenz. Die kollektive Botschaft lautet: »Wir sind nicht allein, wir treten gemeinsam und entschlossen auf.«
Dadurch lösen Sie als Lehrer eine gewisse Anonymität des Schülers auf, denn nicht nur Sie als betroffener Lehrer fordern ein anderes Verhalten ein, sondern auch Kollegen und weitere Bündnispartner werden informiert und diese wiederum treten rückenstärkend auf und lassen den Schüler wissen, dass die gesetzten Grenzen dem Wohle der Gemeinschaft dienen und der Schüler dahin gehend unterstützt wird, sein Verhalten zu korrigieren. Die Grenzüberschreitung wird als Kollektiv wahrgenommen und dementsprechend kommuniziert. Das afrikanische Sprichwort »Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen« wird hier gern angeführt.
Formen des Protests und Widerstandsmaßnahmen wirken bei wiederholtem problematischen Verhalten des Schülers. Sie signalisieren klar, dass das Verhalten nicht geduldet wird und gemeinschaftlich entgegengewirkt wird. Die Botschaft lautet: »Ich gebe dir nicht nach und gebe dich nicht auf.«
Als Maßnahme dieser Säule wird zum Beispiel das sogenannte »sit-in« aufgeführt. Im gemeinsamen Gespräch mit dem Schüler nehmen die Erziehenden Raum ein (dies kann auch im heimischen Umfeld des Schülers sein) und zeigen ihren Protest in Form von gemeinsamer räumlicher Präsenz oder durch die Kraft des gemeinsamen Schweigens für eine bestimmte Zeit. Die nachgehende und aufsuchende Maßnahme soll dem Schüler, dem Kind den Widerstand spürbar verdeutlichen.
»Wir bleiben in Beziehung.« So lautet die Botschaft hier. Selbst wenn aktuell noch eine Konfliktklärung im Gange ist, Widerstand und Protest signalisiert werden, wenn noch Maßnahmen der Grenzsetzung ausstehen, erfährt der Schüler Versöhnungsangebote und bleibt in Kontakt. Die Beziehung bleibt verlässlich, auch wenn eine Krise durchlebt wird. Als Lehrer begleiten Sie den Schüler, das Kind professionell durch diesen Prozess. Sie ermöglichen ihm dadurch ein Lernen am Modell. Durch Ihr Handeln auf der Basis der Neuen Autorität erfährt der Schüler, dass sein Fehlverhalten keine Ausgrenzung und persönliche Ablehnung nach sich zieht. Eine positive Fehlerkultur, die Sicht von Fehlern als Teil eines Entwicklungsprozesses lässt dem Schüler Raum, sich in seiner Persönlichkeit zu entwickeln. In dem Wissen um verlässliche Hilfe und Interesse am Kind kann es in die Gesellschaft und dessen soziale Strukturen und Regeln hineinwachsen.
Es gibt Grenzüberschreitungen, die erfordern »harte« Maßnahmen bis hin zu einem Schulausschluss. Doch auch hier bleibt die Beziehung zum Schüler erhalten. Trotz zeitweiser Ausgrenzung aus dem schulischen Feld bleibt der Schüler nicht komplett sich selbst überlassen. Die Zeit des Ausschlusses wird vorab kommuniziert, die entsprechenden Erwartungen an den Schüler ebenso. Gleichzeitig signalisiert die Lehrkraft eine »Präsenz auf Distanz« und gibt dem Schüler Klarheit über ihre Rolle während dieser Phase. So kann es sein, dass der Schüler täglich seine Aufgaben persönlich bei ihr abholt und ein kurzes Update stattfindet. Es kann auch sein, dass der Schüler seine Aufgabenpakete in größeren Abständen vorzeigt. Dann ist es sinnvoll, als Lehrer telefonisch oder per Mail in Kontakt zu bleiben, auch mit den Erziehenden. Hier steht nicht ein langer Austausch im Vordergrund, sondern vielmehr das konstante Beziehungsangebot. Dadurch ist dem Schüler ein Anschluss in die Gruppe möglich, ohne seinen Rang neu etablieren zu müssen, was unter Umständen neue Konflikte mit sich bringen würde.
In der Neuen Autorität bleiben Aktionen im Verborgenen aus. Solche Machtdemonstrationen verunsichern und lassen die Beziehung leiden. Die Botschaft »Wir sprechen offen über unser Handeln und informieren alle Beteiligte« wird gelebt. Der Weg in die Öffentlichkeit hat außerdem zur Folge, dass die Gefahr der Konfliktverschärfung verringert wird und diese im besten Fall ausbleibt.
Der Begriff »Öffentlichkeit« bezieht sich hier auf den Kreis der Beteiligten und das Umfeld des Schülers (Erziehende, weitere Kollegen, Schulleitung). Die Transparenz bezieht sich darauf, dass alle Beteiligten wissen, an welcher Stelle der Konfliktklärung man steht. Der Schüler wird aufgeklärt, wann und wodurch eine Situation abgeschlossen ist.
Offenheit und Transparenz stärken den Respekt für das Lehrerhandeln, auch auf Elternseite.
Die Neue Autorität arbeitet nicht mit Begriffen wie »Strafe« oder »Sanktion« oder »Konsequenz«. Ihr Handlungscredo lautet: »Wer schadet, muss ent-schädigen.« Und dies ist ein gemeinschaftlicher und kommunikativer Prozess. Der Schüler wird in seiner Verantwortung für Wiedergutmachung begleitet. Das stellt das Gleichgewicht zur geschädigten Person wieder her. Das Opfer ist hier genauso im Fokus, statt wie allzu häufig einseitig der Täter.
Wenn es für alle gut ist, ist die Wiedergutmachung erfolgreich. Der Blick auf alle Beteiligten und auf die Verhältnismäßigkeit zur Sache unterstützen den Prozess. Dadurch wird Maßnahmen, die »über das Ziel hinausschießen«, vorgebeugt.
Durch das Ineinandergreifen der einzelnen Säulen ist die Umsetzung der Handlungskonzepte der Neuen Autorität ein durchlässiger Prozess. Wiedergutmachung wird erst dann erfolgen, wenn zuvor transparent kommuniziert wurde. Sie wird nie als Strafe eingesetzt, sondern dem Schüler ist klar, dass er hier eine Wachstumschance erhält. Er weiß um den Wert der Wiedergutmachung auch für sich selbst. Die Umsetzung führt zu seiner »Resozialisierung«.
Wichtig ist, dass die Geste der Wiedergutmachung eine Anerkennung darstellt. Diese gleicht das getane Unrecht aus. Die Anerkennung zeigt sich auch darin, dass das Thema als erledigt gilt (so lange, bis es erneut Thema wird). Das soll Kinder und Schüler auch vor Stigmatisierungen schützen.