Kapitel 14

Vom Wert der Motivation

IN DIESEM KAPITEL

  • Motivation beeinflusst Lernen und Verhalten
  • Die Selbstbestimmungstheorie
  • Formen von Motivation
  • Wie Motivation, Wahrnehmung und Erwartungshaltungen zusammenhängen

Die Motivation spielt eine entscheidende Rolle im organisierten Rahmen schulischen Lernens. Eine motivierende Lernumgebung fördert nicht nur das Interesse der Schüler, sondern steigert auch die Effektivität des Unterrichts. Lehrer, die ihre Schüler inspirieren und motivieren können, schaffen eine positive Lernatmosphäre, die den Bildungserfolg nachhaltig beeinflusst. Die Fähigkeit der Lehrkräfte, ihre Schüler zu motivieren, ist also von grundlegender Bedeutung für eine erfolgreiche Bildung.

Was wir als Lehrkraft von Schülern erwarten, entspricht nicht immer dem, was die Schüler auch zu leisten bereit sind. Eine Einflussgröße ist hier die Motivation. Diese hat unterschiedliche Facetten. Der Grad der Motiviertheit Ihrer Schüler ist eng verknüpft mit dem Konzept der Selbstbestimmung. Wenn Sie die Ausprägung der Motiviertheit einschätzen können, können Sie dementsprechend auch handeln.

Wie Sie als Lehrkraft auf die Motivation Ihrer Schüler einwirken, ist verknüpft mit der Art und Weise Ihrer Wahrnehmung der Person und Ihrer Erwartungshaltung an deren Lernen und Verhalten. Wahrnehmung wiederum ist ein komplexer Prozess, der »störanfällig« ist zum Beispiel durch Priming- und Framing-Effekte.

Die Verbundenheit und Identifikation mit schulischen Aufgaben und Lernprozessen steht in Wechselwirkung zur aktiven Beteiligung Ihrer Schüler.

Motivation und Selbstbestimmung

Die Selbstbestimmungstheorie wurde in den 1970er-Jahren von den beiden amerikanischen Psychologen Richard Ryan und Edward Deci entwickelt. Die Theorie sollte erklären, was Menschen in ihrem Verhalten antreibt, was sie motiviert. Im Unterschied zur behavioristischen Lerntheorie fanden in ihrer Theorie auch intrapsychische Prozesse Berücksichtigung.

Bislang war das Konzept der Konditionierung hinreichend für das Verständnis von Lernen und Motivation. So geht man im Behaviorismus davon aus, dass Belohnung und Bestrafung entsprechend auf Verhalten einwirken. Die Motivation, ein bestimmtes Verhalten zu zeigen, steigt, wenn das Verhalten belohnt wird. Umgekehrt reduziert sich die Motivation für bestimmtes Verhalten, wenn dafür Bestrafung zu erwarten ist. Motivation gilt in diesem Kontext als reine Reaktion auf äußere Einwirkung. Wer mit Schulnoten Motivation beeinflussen möchte, handelt nach diesem Verständnis: Gute Noten (Belohnung) sollen erwünschtes Verhalten bestärken, schlechte Noten (Bestrafung) sollen unerwünschtes Verhalten unterbinden. Insgesamt greift das jedoch zu kurz.

Die Selbstbestimmungstheorie versucht, die Steuerung des menschlichen Verhaltens zu erklären. Sie argumentiert, dass wir das tun, was wir tun, weil wir von drei grundlegenden Bedürfnissen motiviert werden, die unser Verhalten antreiben:

  • Autonomie bezieht sich auf die Freiheit, eigene Entscheidungen treffen zu können und nicht gezwungen zu werden, etwas zu tun, was wir nicht wollen (Freiwilligkeit). Durch die Schulpflicht ist Unterricht von Haus aus ein Zwangskontext. Schüler müssen in die Schule kommen und müssen am Unterricht teilnehmen.
  • Kompetenz bezieht sich auf das Erleben eigener Fähigkeiten, die dazu dienen, Aufgaben bewältigen zu können.
  • Soziale Eingebundenheit bezieht sich darauf, sich zugehörig zu fühlen und bedeutungsvolle Beziehungen zu haben.

Durch diese Einbindung der inneren Antriebe einer Person ergänzte sich das bisherige Motivationsverständnis und so unterschied man neben extrinsischer Motivation (von außen einwirkend) nun auch intrinsische Motivation (aus dem Inneren heraus wirkend), die jedoch als unabhängig voneinander betrachtet wurden. Auch galt nach wie vor der extrinsischen Motivation die meiste Bedeutung.

Ryan und Deci setzen sich in ihren Forschungen stark mit beiden Aspekten der Motivation auseinander und schlussfolgerten ein verändertes und erweitertes Verständnis von Motivation. Das Ausmaß der Motivation wird durch bestimmte internale (innere) und externale (äußere) Faktoren direkt oder indirekt beeinflusst. Das heißt, es gibt ein Spektrum der Motivationsstärke, das von nicht motiviert bis stark motiviert reicht.

Als motiviert gelten Menschen dann, wenn ihr Verhalten einer bestimmten Intention unterliegt. Unter Intention versteht man ein absichtsvolles, zukunftsgerichtetes Verhalten, das ein bestimmtes Ziel oder einen bestimmten Zweck verfolgt. Dazu gehört auch die Bereitschaft, für dieses Ziel oder diesen Zweck entsprechenden Einsatz und Engagement zu zeigen. Fehlt die Intention als handlungssteuerndes Merkmal, werden Verhaltensweisen nicht als motiviert bezeichnet. Hierzu gehören Verhaltensweisen, die kein erkennbares Ziel verfolgen oder einem unkontrollierten Handlungsimpuls entspringen. Sie lassen sich zwar psychologisch erklären, fallen aber nicht in die Kategorie motiviert.

Die Spannbreite von Motivation reicht von nicht selbstbestimmt bis selbstbestimmt. Und unterteilt sich in die drei Bereiche Amotivation, extrinsische Motivation und intrinsische Motivation.

Motivierte Handlungen lassen sich nach dem Grad ihrer Selbstbestimmung unterscheiden. Dabei spielen das Ausmaß von Autonomie, Kompetenz und sozialer Eingebundenheit eine große Rolle. Handlungen, die frei gewählt werden können, gelten als selbstbestimmt und wirken dadurch attraktiver und folglich positiv auf die Motivation. Handlungen dagegen, die keinen Freiraum zur Gestaltung lassen, werden als aufgezwungen erlebt und hemmen die Motivation.

Schule als Ort des organisierten Lernens kann sich die Erkenntnis der Theorie zunutze machen. So können die motivationalen Grundbedürfnisse im Unterricht zum Beispiel in der Auswahl von Arbeitsmaterial (Autonomie), im Formulieren der Aufgaben (Kompetenz) und bei der Art der Bearbeitung der Aufgaben (Soziale Eingebundenheit) berücksichtigt werden. Wahlaufgaben sowie ein Spektrum an unterschiedlichen Anforderungsgraden haben einen positiven Einfluss auf die Motivation der Schüler. Auch die Art der Sozialform (Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit) wirkt sich auf die Motivation der Schüler aus.

Das Spektrum zwischen Amotivation und intrinsischer Motivation

Entlang dieser Spannbreite gibt es laut Selbstbestimmungstheorie sechs verschiedene Motivationsstärken, die hier beispielhaft aufgeführt werden. Nehmen wir an, sechs Schüler stehen alle vor derselben Aufgabe: Sie alle müssen für eine wichtige Prüfung lernen. Die sechs Schüler repräsentieren dabei jeweils eine dieser sechs unterschiedlichen motivationalen Ausprägungen. Wie unterscheiden sie sich im Hinblick auf die Selbstbestimmung und damit auf die Motivation?

  • Amotivation: Ein Schüler versteht das Thema nicht und fühlt sich daher dem Lernstoff unverbunden. Sein Bedürfnis nach Kompetenz bleibt unerfüllt und untergräbt seine Autonomie. Folglich gelingt es ihm nicht, die Lernsituation zu kontrollieren. Schließlich beeinflusst dies, wie er über Lernen (und Schule) denkt, was dazu führen kann, dass er die Schule als sinnlos einordnet. Dieser Schüler erlebt Amotivation.
  • Extrinsische Motivation – externale Regulierung: Eine Schülerin lernt gerne, weil sie für gute Leistungen belohnt wird. Fällt der äußere Anreiz (Belohnung) weg, fühlt sie sich dem Thema und der Aufgabe unverbunden. Die Schülerin ist in diesem Fall in ihrem Lernen nicht autonom, weil sie Belohnungen braucht, die ihr Verhalten von außen regulieren. Solche externen Regulierungen werden häufig in guter Absicht bereits in der Familie eingeführt.
  • Extrinsische Motivation – Regulierung durch Introjektion: Ein Schüler ist sehr wettbewerbsorientiert. Er vergleicht sich sehr stark mit anderen und möchte der Beste sein oder zu den Besten gehören oder wenigstens gleich gut sein wie die anderen. Wenn er nicht unter den Besten ist, werden seine Bedürfnisse nach Kompetenz und Autonomie nicht befriedigt. Er hat ein schlechtes Gewissen, wenn er nicht so gut wie andere sein kann. Sein Lernen ist daher auch extern reguliert.
  • Extrinsische Motivation – Regulierung durch Identifikation: Eine Schülerin lernt gerne und sieht sich selbst als gute Schülerin. Gute Noten sind ihr wichtig, weil sie ihr Selbstbild bestätigen. Auch wenn sie sich mit Thema und Aufgabe nicht verbunden fühlt, lernt sie dennoch gut, weil sie ihr Verhalten dadurch reguliert, dass sie sich mit der Idee identifiziert, eine gute Schülerin zu sein. Sie wird in ihrem Lernen von einem Ideal geleitet.
  • Extrinsische Motivation – integrierte Regulierung: Ein Schüler findet das Lernen wichtig, weil es ihm ermöglicht, kompetenter zu sein. Da es seiner Persönlichkeitsentwicklung dient, versucht er, Dinge zu verstehen, auch wenn sie langweilig sind. Er fühlt sich verbunden und kompetent. Jedoch treibt ihn an, einer Idee gerecht zu werden. Sein Verhalten wird von dieser Idee reguliert. Er ist daher noch nicht vollständig autonom.
  • Intrinsische Motivation: Eine Schülerin lernt Dinge, weil sie neugierig ist und das Lernen genießt. Sie kann sich vollständig mit dem Material verbinden und verliert darüber oft sogar das Zeitgefühl. Das Lernen gibt ihr ein tiefes Gefühl der Befriedigung. Sie erlebt vollständige Autonomie und entwickelt aufgrund ihrer intrinsischen Interessen die höchsten Formen von Kompetenz.

Egal, wo sich Schüler entlang dieses Spektrums befinden, die Formen der Selbstbestimmung sind nicht generell stabil. Wechselnde Interessen und widersprüchliche Wünsche führen dazu, dass sich die Motivation unterschiedlich zeigt.

Um die Selbstbestimmung der Schüler zu unterstützen, ist es hilfreich, in Kontakt zu gehen. Schüler sind auf Rückmeldung ihrer Lehrkräfte angewiesen. Wenn Feedback die Entwicklungsprozesse wirkungsvoll unterstützen und begleiten soll, bedarf es diesbezüglich Strukturen. Mehr zum Thema Feedback finden Sie in Kapitel 16 Feedback und Feedforward.

Im Wechselspiel zwischen Belohnung und intrinsischer Motivation bestätigte Deci den motivierenden Faktor von Außenreizen und Belohnung. Gleichzeitig untergraben diese jedoch die intrinsische Motivation. Es gibt zahlreiche Experimente und Forschungsergebnisse, die sich mit extrinsischer Belohnung und ihrer Auswirkung auf die Motivation beschäftigen.

In einem ihrer Experimente fanden Deci und Ryan heraus, dass extrinsische Belohnung die intrinsische Motivation negativ beeinträchtigen kann. So wurden Kinder in einer Studie gebeten, Puzzles zu lösen. Ein Teil der Kinder erhielt für ihre Bemühungen eine Belohnung, die anderen nicht. Nachdem die Kinder die Aufgabe gelöst hatten, ließ man sie anschließend noch eine Weile sich selbst beschäftigen und stellte ihnen unter anderem auch Puzzles zur Verfügung. Die Kinder, die zuvor ohne Belohnung puzzelten, zeigten eine größere Motivation, erneut zu puzzeln. Die zuvor belohnten Kinder hingegen zeigten kaum oder kein Interesse.

Nachdem die extrinsische Belohnung wegfiel, nahm die intrinsische Motivation bei den belohnten Kindern also ab im Vergleich zu denen, die zuvor keine extrinsische Belohnung erhielten. Man spricht in diesem Zusammenhang vom »Korrumpierungseffekt«: Extrinsische Anreize können die natürliche intrinsische Motivation verringern. (Andere Studien bestätigten diesen Effekt. So gab es den Versuch auch mit Malen gegen Belohnung, oder sportliche Leistung gegen Noten oder Blutspenden gegen Geld.)

Wie erklärt sich dieser Effekt? Deci und Ryan zufolge wird die menschliche Motivation grundlegend von den motivationalen Grundbedürfnissen (siehe vorne) beeinflusst. Das Bedürfnis nach Autonomie (im Sinne von Freiwilligkeit) spielt hier eine tragende Rolle. Diese Freiwilligkeit wird untergraben, wenn wir wissen, dass unser Verhalten belohnt oder bestraft wird. Wir fühlen uns extern motiviert und dadurch fremdbestimmt. Das Grundbedürfnis nach Autonomie ist verletzt und das Gefühl der Selbstbestimmung wird folglich gemindert.

Wie kann Ihnen die Selbstbestimmungstheorie im Unterricht hilfreich sein? In welcher Form gehen Sie auf Ihre Schüler ein? Wodurch sind Sie selbst motiviert? Wie sehr wirken Sie auf die Motivation Ihrer Schüler ein? Welche Formen von Rückmeldung erhalten Ihre Schüler, nach ihrem Grad der Motiviertheit? Was denken Sie über extrinsische Belohnungen?

Priming-Effekte und ihre Auswirkungen

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass die neuen E-Fahrzeuge meistens schwarz sind? Wahrscheinlich gehen Sie jetzt direkt innerlich in Ihrer Erinnerung die letzten E-Autos durch, die Ihnen begegnet sind, oder, falls Sie ein eigenes E-Auto fahren, überprüfen Sie gerade meine Aussage. Wenn Sie das nächste Mal ein schwarzes E-Auto sehen, werden Sie sich daran erinnern, was Sie hier gelesen haben und meine Aussage dadurch indirekt bestätigen. Und schon sind Sie geprimt. Ihre Aufmerksamkeit wurde beeinflusst durch bestimmte Informationen meinerseits. Das hat Einfluss auf Ihr Denken, Ihre Wahrnehmung oder Ihr Verhalten gegenüber nachfolgenden Reizen.

Der Priming-Effekt zeigt, wie vorherige Reize oder Informationen unsere kognitiven Prozesse beeinflussen können. Es verdeutlicht die Zusammenhänge zwischen vorheriger Exposition und nachfolgender kognitiver oder Verhaltensantwort.

Es gibt verschiedene Arten von Priming-Effekten:

  • semantisches Priming (die Bedeutung von Wörtern beeinflusst das Verhalten)
  • soziales Priming (soziale Kontexte beeinflussen Verhalten)
  • affektives Priming (emotionale Reize beeinflussen Emotionen)

Framing-Effekte und ihre Auswirkungen

Ganz ähnlich wie die zuvor beschriebenen Priming-Effekte beeinflussen auch Framing-Effekte menschliches Denken und Handeln. Sie wirken ein auf die Art der Wahrnehmung sowie auf die Bewertung eines Sachverhalts basierend auf der Art und Weise, wie Informationen präsentiert (gerahmt) werden. Das bedeutet, dass die Formulierung oder Präsentation eines bestimmten Kontexts Einfluss darauf hat, wie Menschen Informationen interpretieren und ihre Entscheidungen treffen.

Angenommen, eine medizinische Studie gibt an, dass bei einer bestimmten Behandlung 90% der Patienten überleben. Hierbei handelt es sich um einen positiven Rahmen (frame). Alternativ könnte derselbe Sachverhalt als negativer Rahmen präsentiert werden, indem darauf hingewiesen wird, dass 10% der Patienten sterben. Obwohl die statistischen Informationen identisch sind, kann der positive Rahmen dazu führen, die Akzeptanz der Behandlung zu erhöhen, während der negative Rahmen Bedenken hervorrufen und zu anderen Entscheidungen führen kann.

Die Art und Weise, WIE eine Situation präsentiert wird, wirkt sich unmittelbar auf unser Denken und Handeln aus. Wird in einer Konferenz ausgiebig über die Zunahme schwieriger Schüler gesprochen, dann wird die Art und Weise, WIE darüber gesprochen wird, in Folge beeinflussen, wie sich die Lehrkräfte erleben, welche Entscheidungen sie treffen und wie sie sich im Weiteren verhalten werden.

Werden die schwierigen Schüler und die damit verbundenen Umstände im negativen Rahmen präsentiert und sprachlich als Gefahr und bedrohlich dargestellt, kann dies tendenziell zu einem inneren Modus von bekämpfen führen. In einer anderen Version könnte hingegen die Situation in einem sprachlich positiven Rahmen präsentiert werden. Wenn die Diskussion sich auf wirksame Einflussfaktoren zum Umgang mit schwierigen Schülern fokussiert, können präventive Konzepte entwickelt werden und Lehrkräfte vor einem Ohnmachtserleben schützen.

Ein positiver Rahmen, der auf Prävention ausgerichtet ist, führt zu einem höheren Selbstwirksamkeitserleben und zu Entscheidungen für Engagement in entsprechende vorbeugende Maßnahmen. Der negative Rahmen, der auf Gefahr ausgerichtet ist, führt eher zu einem niedrigeren Selbstwirksamkeitserleben und zu Entscheidungen zu reaktiven Maßnahmen. Dieser Framing-Effekt wurde in einer Studie von Daniel Kahnemann und Amos Tversky im Kontext von Risiken und Entscheidungen untersucht.

Framing-Effekte zeigen sich auch im Kontext von Kleidung. Das wird am Beispiel Jogginghose deutlich. Das Kleidungsstück wird eher im Kontext Freizeit gesehen, selbst wenn Modedesigner Lagerfeld sich diesem Kleidungsstück widmete. Viele Schüler kommen in Jogginghose in die Schule. Kontroverse Diskussionen ums Thema geben die unterschiedlichen Sichtweisen zum Thema preis. Schüler finden meist nichts dabei und betonen eher den Wohlfühlcharakter, während die Erwachsenen und Lehrkräfte zwischen Untergang der Kultur, Sorge um Haltung und vielleicht heimlichem Neid pendeln.

Wer sich eine Jogginghose anzieht, zieht sich auch den immanenten Nebeneffekt an. Mit der Jogginghose werden tendenziell Entspannung und Abschalten assoziiert. Dieser Effekt scheint sich auf Einstellung, Konzentration und Haltung gesamt auszuwirken. In Argumenten für ein Jogginghosenverbot an Schulen wird genau daran angeknüpft. Die Schüler sollen sich bewusst sein, dass sie an einem Lern- und Arbeitsort sind und nicht in der Freizeit. Sie sollen sich dementsprechend kleiden.

Dass sich der Effekt einer Jogginghose zwar verallgemeinern lässt, ist leicht nachzuvollziehen, eine absolute Gültigkeit kann man dem Argument jedoch meiner Meinung nach nicht zusprechen. Auch könnte ein Wahrnehmungsfehler dazu beitragen, dass das Thema so negativ betrachtet wird. Der Halo-Effekt zum Beispiel besagt, dass wir von einem auffälligen Merkmal auf weitere persönliche Eigenschaften schließen ohne klare Belege dafür: »Wer in Jogginghose kommt, nimmt die Schule nicht ernst«, stellt eine solche kognitive Verzerrung und Stereotypisierung dar. (Mehr zum Thema Wahrnehmungsfehler siehe weiter hinten in diesem Kapitel.)

Gleichzeitig stimmt es wohl, dass eine gewisse äußere Ordnung in Verbindung zu innerer Ordnung steht. Dazu gab es den Versuch, das Verhalten von Schülern auf Studienfahrt in Abhängigkeit zur Unterkunft zu beobachten. Wie unterscheidet sich dieses, wenn Schüler in einer »abgeratzten« Unterkunft hausen (müssen), im Unterschied dazu, wenn sie in einem guten Hotel nächtigen (dürfen). Der Versuch zeigte, dass die äußere Umgebung Einfluss auf das Verhalten hatte. In dem Hotel benahmen sich die Schüler tatsächlich an das Verhalten der anderen Hotelgäste angepasster. Der Versuch legt die Hypothese nahe, dass sich die Schüler als Hotelgäste mehr gewürdigt fühlten, was zu einer Wertschätzung des Umfelds und der Räumlichkeiten führte. Vandalismus blieb nämlich aus. Wer von Ihnen schon einmal mit einer Schulklasse in einer typischen Schulunterkunft beherbergt war, weiß, wozu Schüler in der Lage sind …

Stolpersteine der Wahrnehmung in der Pädagogik

Beobachtung findet im Unterricht und im schulischen Alltag ständig statt. Lehrkräfte beobachten, wie Schüler an ihren Aufgaben arbeiten, wie sie miteinander arbeiten, und sie verschaffen sich insgesamt einen Eindruck über das Lernen und Verhalten ihrer Schüler. Beobachtungen sind stets subjektiv und es gibt gewisse Herausforderungen, die Sie als Lehrkraft kennen sollten.

Unsere Wahrnehmung wird durch unsere Sinneseindrücke konstruiert (siehe auch den Abschnitt Von der Wahrnehmung zur Wirklichkeit: Die Welt des Konstruktivismus in Kapitel 4). Dieser Prozess ist jedoch fehleranfällig durch kognitive Verzerrungen. Kognitive Verzerrungen haben Einfluss auf entstehende Eindrücke und daraus resultierende Bewertungen. Es ist wichtig, diese Filter und Fehlerquellen zu kennen. Die Reflexion über eigene Wahrnehmungstendenzen ist bedeutsam für Lehrkräfte, um Bewertungen abzuleiten, die für die Schüler, aber auch für einen selbst nachvollziehbar und begründet sind.

Zu den Wahrnehmungsfehlern, die im schulisch-pädagogischen Kontext relevant sind, zählen die folgenden:

  • Bestätigungsfehler (Confirmation Bias): Menschen neigen dazu, Informationen zu bevorzugen oder zu suchen, die ihre bestehenden Überzeugungen oder Erwartungen bestätigen. Informationen hingegen, die diesen widersprechen, werden vernachlässigt oder abgelehnt. Eigene Meinungen werden dadurch verstärkt.
  • Fehler zur zentralen Tendenz (Central Tendency Bias): Der Fehler zur zentralen Tendenz ist eine kognitive Verzerrung, bei der Menschen dazu neigen, bei der Einschätzung von Ereignissen oder Merkmalen diese in der Nähe des Durchschnitts oder Mittelwerts anzusiedeln. Extremwerte werden tendenziell vernachlässigt und Annahmen im Hinblick auf eine mittlere oder durchschnittliche Position getroffen. Dies ist beispielsweise der Fall bei der Ermittlung einer Antwort über Skalierungen (häufig auf Feedbackbögen). Reicht eine Skala beispielsweise von 1 bis 5, fällt die Entscheidung oft auf die Zahl 3 (= die Mitte der Skala). Eine Feedbackskala sollte daher immer eine klare(re) Positionierung einfordern.
  • Halo-Effekt (Überstrahlungs-Effekt): Der Halo-Effekt ist eine kognitive Verzerrung, bei der unsere Gesamteinschätzung einer Person (eines Produkts oder einer Gruppe) von einer einzelnen (positiven wie negativen) Eigenschaft beeinflusst wird. Es handelt sich um eine Form des Eindruck-Managements, bei dem eine herausragende Qualität den Gesamteindruck dominiert und andere Aspekte in den Hintergrund drängt. Der Begriff »Halo« bezeichnet diese herausragende Eigenschaft, die den Gesamteindruck überstrahlt. Ein Schüler, der seine Schulmaterialien und Hefteinträge schlampig führt, wird insgesamt als schwach eingestuft und umgekehrt wird ein Schüler mit schöner und ordentlicher Schrift und Heftführung als fleißig wahrgenommen.
  • Hawthorne-Effekt: Der Hawthorne-Effekt bezieht sich auf die Veränderung des Verhaltens von Menschen aufgrund ihrer bewussten Wahrnehmung, dass sie beobachtet werden. Diese Verhaltensänderung tritt auf, wenn Individuen sich bewusst sind, dass sie Teil einer Studie, eines Experiments oder einer Untersuchung sind. (Der Effekt wurde erstmals in den 1920er-Jahren in der Western-Electric-Hawthorne-Works-Fabrik in Chicago während einer Produktivitätsstudie beobachtet.)
  • Milde-Effekt (Leniency Bias): Der Milde-Effekt tritt auf, wenn eine Person dazu neigt, Bewertungen großzügig oder positiv abzugeben, unabhängig von der tatsächlichen Leistung oder den vorliegenden Informationen. Dies kann dazu führen, dass Personen oder Leistungen besser bewertet werden, als es objektiv gerechtfertigt wäre.
  • Strenge-Effekt (Severity Bias): Im Gegensatz zum Milde-Effekt tritt der Strenge-Effekt auf, wenn eine Person dazu neigt, Bewertungen restriktiv oder negativ abzugeben, unabhängig von der tatsächlichen Leistung oder den vorliegenden Informationen. Dies kann zu einem härteren Urteil führen, als es objektiv gerechtfertigt wäre.
  • Kontrastfehler: Der Kontrastfehler ist eine kognitive Verzerrung, bei der eine Person eine Bewertung oder Einschätzung aufgrund von Vergleichen mit vorherigen Personen oder Situationen verändert.
  • Primär-Effekt: Der Primäreffekt ist eine kognitive Verzerrung, bei der die ersten Informationen, die eine Person über jemanden oder etwas erfährt, einen stärkeren Einfluss auf ihre Gesamteinschätzung haben als spätere Informationen. Dieser erste Eindruck oder die ersten erhaltenen Informationen wird stärker gewichtet als später eingehende Informationen.
  • Rezenz-Effekt: Im Unterschied zum Primär-Effekt hat hier die letzte Information über eine Person oder einen Sachverhalt einen stärkeren Einfluss auf die Gesamteinschätzung als frühere.
  • Pygmalion-Effekt: Der Pygmalion-Effekt steht für die Idee, dass die Erwartungen bezüglich des Verhaltens einer Person (Gruppe) deren tatsächliches Verhalten beeinflussen können. Mit anderen Worten: Erwartungen, die eine Person an ihr Gegenüber hat, können dazu führen, dass sich die vorhergesagten Verhaltensweisen tatsächlich manifestieren.

Ein Beispiel dafür, inwieweit menschliche Wahrnehmung und Priming-Effekte sich auswirken, ist das Experiment um Joshua Bell. Der weltberühmte Violinist spielte inkognito in der Metro von Washington D.C. Die Menschen liefen an dem vermeintlichen Straßenmusiker einfach vorbei. Sie waren nicht darauf vorbereitet (geprimt), ein hochkarätiges Violinkonzert in der Metro zu erleben. Der Mangel an Erwartung oder Priming beeinflusste ihre Wahrnehmung und viele erkannten daher nicht die außergewöhnliche Qualität der Musik oder den berühmten Musiker. Auch waren sie kaum bereit, etwas zu spenden.

Das Experiment zielte zwar darauf ab, den Wert von Musik und Kunst im Alltag zu testen, liefert jedoch Erkenntnisse über menschliche Wahrnehmung: Der Wert von Musik wird in offiziellen und bezahlten Konzerten höher geschätzt, da hier der Kontext aus Erwartungen und Wahrnehmung anders ist. (Das Experiment wurde übrigens mit versteckter Kamera gefilmt und das Video ist noch heute im Netz zu finden.)

Wie ist das bei Ihnen im Kontext von Schule und Unterricht? Welche Erwartungen bringen Sie mit in die Begegnung mit Ihren Schülern oder deren Eltern? Wo wurden Sie schon einmal überrascht und in Ihren Erwartungen widerlegt? Wo limitieren tendenziell negative Erwartungen Ihre Entscheidungen? Wie können Sie sich mehr dafür sensibilisieren, mögliche kognitive Verzerrungen zu reflektieren? Erwarten Sie Gutes, es könnte sich bestätigen.

Sprache spiegelt Wahrnehmung

Im Abschnitt vorne habe ich bereits über Priming- und Framing-Effekte und deren Auswirkungen geschrieben. Wie eine Person über eine Situation denkt und fühlt und welche Verhaltensweisen demensprechend aktiviert werden, kann durch semantisches Framing beeinflusst werden. (Ein Beispiel hierfür finden Sie im Abschnitt Framing-Effekte und ihre Auswirkungen weiter vorne.)

Unsere Wahrnehmung vermittelt uns einen Eindruck von unserer Umwelt und prägt diesen zugleich. Über unsere Sinne nehmen wir Informationen auf und konstruieren daraus eine subjektive Wirklichkeit. Wirklichkeit wird auch durch die Art, WIE etwas formuliert wird, beeinflusst und gestaltet. Manuel Barthelmess spricht hier von der Beeigenschaftung (Barthelmess, 2016). Diese Beeigenschaftung kann an bestimmten sprachlichen Markern erkannt werden. Sein Modell bildet vier Stufen von Beeigenschaftung ab.

  • Stufe 1 (Verbaler Modus): Schilderung ohne Bewertung

    Die Schülerin kann ihre gestellten Aufgaben nur mit Rückfragen bearbeiten.

  • Stufe 2 (Adverbialer Modus): Schilderung mit Interpretation

    Die Schülerin schafft ihre Aufgaben nie selbstständig.

  • Stufe 3 (Adjektivischer Modus): Eine Eigenschaft im Verhalten wird auf die Person selbst übertragen

    Die hilflose Schülerin.

  • Stufe 4 (Substantivischer Modus): Persönlichkeitseigenschaften werden von der Person losgelöst und durch Substantive ersetzt.

    Die Unfähigkeit der Schülerin.

Die Formulierung der Beobachtung (Wahrnehmung) wirkt sich auf mein Bild von der Schülerin sowie auf die Reaktion auf die Schülerin (und Situation) aus. Unter Umständen gehe ich als Lehrkraft weniger motivierend auf die Schülerin ein, wenn ich sie auf Stufe 3 oder 4 verorte. Es gilt außerdem zu klären, unter welchen Umständen die Schülerin ihre Aufgaben selbstständig bearbeiten könnte. Möglicherweise liegt es nicht (nur) an den Fähigkeiten der Schülerin, sondern auch an weiteren Kontextbedingungen (Sitzplatz, Lautstärke, Arbeitsanweisung, Fach, Lehrkraft …).

In Kapitel 15 gehe ich im Abschnitt Systemische Kommunikation genauer auf dieses Modell ein und wie es sich in der Gesprächsführung als hilfreich erweist.

Der IKEA-Effekt in der Pädagogik

Vermutlich gibt es wenige Personen in Deutschland, die nicht irgendein Möbelstück des schwedischen Möbelherstellers in ihrem Zuhause stehen haben. Meistens können die Besitzer ihr Möbelstück sogar namentlich benennen. Doch nicht nur das unterscheidet diese Möbel von anderen. In welchem Zusammenhang steht dieses Unternehmen mit Pädagogik? Ganz einfach: Es gibt Untersuchungen, die bestätigen, dass wir die Wertigkeit eines selbst aufgebauten Möbelstücks höher einschätzen als die eines gekauften Objekts, das einfach hingestellt wurde. Wer schon einmal solch einen Bausatz selbst zusammengebaut hat, kennt diesen Effekt vermutlich. Bei mir bleibt übrigens gewöhnlich mindestens ein Kleinteil übrig und dennoch steht das Produkt am Ende.

Dieser Effekt wird als IKEA-Effekt bezeichnet. Dabei handelt es sich um ein psychologisches Phänomen, das ursprünglich aus der Wirtschaftsforschung stammt, aber auch in der Pädagogik Anwendung findet.

Der IKEA-Effekt steht für die Neigung von Menschen, Produkten oder Projekten einen höheren Wert beizumessen, an deren Erstellung sie selbst beteiligt waren.

Der Begriff leitet sich vom Möbelhersteller IKEA ab, bei dem Kunden die Möbel selbst zusammenbauen. Dieser Prozess des aktiven Mitwirkens führt dazu, dass Menschen einen größeren emotionalen Bezug und eine höhere Wertschätzung für das Endprodukt entwickeln.

In der Pädagogik bedeutet der IKEA-Effekt, dass Lernende einen stärkeren emotionalen Bezug zu Inhalten und Prozessen entwickeln, wenn sie aktiv beteiligt sind. Werden Schüler an der Gestaltung von Projekten, Lernmaterialien oder anderen Lernaktivitäten beteiligt, fühlen sie sich eher mit dem Lernprozess und dem späteren Lernprodukt verbunden. Dies wirkt sich auch positiv auf die Motivation aus. Lehrkräfte können diesen IKEA-Effekt nutzen, indem sie Lernende in Entscheidungen und Gestaltungsprozesse einbeziehen. Das kann mit der Auswahl von Projekten über die Mitgestaltung von Unterrichtsmaterialien bis hin zur Planung von Lernzielen reichen. Aktive Beteiligung fördert nicht nur das Engagement, sondern trägt auch dazu bei, dass Lerninhalte besser verstanden und langfristig behalten werden.

Hier eine Auswahl an Möglichkeiten hierfür:

  • Aktive Teilnahme
  • Mitgestaltung des Klassenraums
  • Projektbeteiligung
  • Kooperative Klassenaktivitäten und Projekte
  • Selbst gesteuertes Lernen
  • Individuelle Gestaltungsmöglichkeiten

Indem Lehrkräfte den IKEA-Effekt berücksichtigen und die aktive Teilnahme der Schüler am Lernprozess fördern, können sie nicht nur das Engagement und die Motivation steigern, sondern auch die schulischen Leistungen und die persönliche Identifikation mit dem Lernstoff und Lernen allgemein stärken. All das unterstützt eine positive Lernumgebung und ist eine wichtige Säule präventiver Maßnahmen im Classroom-Management.