(K)ein Drama? Ein Junge heiratet ein Mädchen

Aus Teenagern werden Mann und Frau

Mann, war ich ein gut aussehender Teenager – ein bisschen moppelig, aber ein cooler Typ. Ich war kommunikativ, laut und sehr lustig. Ich machte gerne Witze in diversen Dialekten und imitierte meine Lehrer*innen oder Bundeskanzler Helmut Kohl. Letzteren konnte ich besonders gut. Ich machte ein Doppelkinn, verzog das Gesicht zu einer Birne und ließ meine Stimme Kohl-typisch blubbern. Ich liebte MTV. Wenn ich es irgendwo schauen konnte, war ich im Himmel. Obwohl ich kein Wort der Songs verstand, feierte ich die Videos. Jedes Mal, wenn ich Englisch hörte, war das für mich die weite Welt. Englisch war cool. Mit meinen Cousins und Cousinen tanzten wir zur Musik von MC Hammer, Whitney Houston, Michael Jackson oder Madonna. Bei aller Fröhlichkeit war ich aber auch oft allein. Es konnte in meiner Großfamilie sehr einsam sein. Dann hockte ich irgendwo, litt still vor mich hin und kaute wie besessen an den Fingernägeln. Manchmal schnitt ich mir mit Scherben an den Unterarmen herum. Ich wollte mich nur für einen Moment anders erleben und die Welt da draußen vergessen. Es war meine Art, die vielen seelischen Schmerzen zu verdrängen, die ich täglich spürte. Ich schnitt nie zu tief, denn ich war eitel. Ich wollte keine bleibenden Spuren davontragen – meistens gelang mir das. Heute verdecken meine Tätowierungen alle Stellen, an denen ich mich unabsichtlich doch zeichnete.

Draußen hing ich viel mit Gleichaltrigen herum – mit People of Color und weißen Deutschen. Was uns einte: Wir alle kamen aus armen Verhältnissen. Ansonsten las ich viel. BRAVO. Ich konnte die Donnerstage kaum erwarten, und dann las ich eine Woche lang jede einzelne Zeile der Jugendzeitschrift. Nichts ließ ich aus, und ich gab alles, um mir regelmäßig für zwei Mark ein Exemplar zu kaufen. Zu Hause versteckte ich die Hefte vor meinen Eltern. Meine Mutter durfte in ihrer anerzogenen Prüderie nicht mitbekommen, mit welcher Lektüre ich mir die Zeit vertrieb, und mein Vater wäre angesichts der nackten Männer misstrauisch geworden. Es war die Rubrik »Liebe, Sex und Zärtlichkeit«, die mich aufklärte, und neugierig erfuhr ich von den ersten Malen anderer Jugendlicher. Ich fand es ehrlich, dass hier nicht alle Geschichten romantisch, plüschig und glücklich verliefen. Da ging es um Liebeskummer, krumme Geschlechtsteile oder richtig einen blasen. Voller Vorfreude blätterte ich bis zu den Nacktseiten, um endlich einen Penis zu sehen. Um mehr davon zu bekommen, schlich ich mich ab und an in den Kiosk, wo ich meiner Mutter Zigaretten kaufte. So war das damals, Kinder besorgten Kippen für die Eltern. Und da lagen sie dann, die bunten Sexheftchen: Praline, Coupé, Junge Illustrierte – frech und aktuell. Insbesondere die Junge Illustrierte war für mich wie ein Verkehrsunfall – ich musste da hingucken. Auf der einen Seite waren abgeschlachtete Ziegenköpfe zu sehen und daneben Brüste. Weiße, große Brüste und daneben Schwänze. Aber das Allerbeste war die Playgirl. Oh, mein Gott, meine erste, richtige Wichsvorlage. Ich war fast 14, als ich mir eine davon klaute. Ich zitterte am ganzen Körper, als ich mit meiner silbrig-matten Bomberjacke in der hintersten Kioskecke stand und die Zeitschrift wie in Trance eilig in meine Hose schob. Ich konnte nicht anders. Dirk Shafer war auf dem Cover – muskulös, haarig und ausgestattet mit einem großen Glied. Um kein Misstrauen zu erwecken, kaufte ich mir zur Tarnung wieder die BRAVO. Mein Herz klopfte wie wild, weil ich ein Dieb war und weil ich mir gleich stundenlang auf Dirk Shafer einen runterholen würde. Zu Hause verzog ich mich auf den Dachboden, wo ein paar Tauben hausten, und wichste. Wieder, wieder und wieder. Ich wollte Dirk. Ich wollte Männer.

Das war die Situation, in der ich mich mit 14 befand: Ein Junge, der seinen Körper erforschte und selbstbestimmt seine eigene Sexualität entdeckte. Aber meine Eltern hatten Pläne für mich, und Dirk kam darin nicht vor. Ich wusste, was von mir erwartet wurde. Als Einzelkind wollte ich meine Eltern stolz machen. Meine wichtigste Aufgabe als Sohn: Ich sollte die nächste Generation der Familie sichern. Eines Abends lag ich in meinem Zimmer und hatte wie so oft Migräne, als mein Vater sich unvermittelt neben mich ans Bett setzte. Das war viel Nähe für unsere Verhältnisse, und ich wusste sofort, dass er irgendetwas von mir wollte. Mein Vater zeigte mir ein Foto von einem Mädchen – meiner künftigen Ehefrau. Ich sollte sie heiraten, doch ich dachte nur: Fuck, was werden die in der Schule sagen? Ich hätte es aber nie gewagt, meine Gedanken laut auszusprechen. Also sagte ich meinem Vater nur, dass ich das Mädchen mochte und hübsch fand. Eine gute Antwort. Meine neue Rolle im Leben war definiert: Ehemann.

Ich fühlte mich zwar schon sehr erwachsen, aber ich war ein Kind, das ein anderes Kind heiraten sollte. Niemand bedrohte oder schlug uns, zwang uns einen Ring an den Finger oder verschleppte uns ins Ausland, aber der unausgesprochene Druck war immens. Niemand fragte uns, zu üblich war das Prozedere der Verheiratung in meiner Familie, aber wir hätten uns vermutlich auch nicht gegen den Willen unserer Eltern gestellt. Meine Eltern taten also, was sie kannten, und wir Kinder folgten. Wenn ich von diesem Kapitel in meinem Leben spreche, taucht immer wieder das Wort »Zwangsheirat« auf. Ich selbst benutze es eigentlich nur selten, weil es mir irgendwie widerstrebt. Es stimmt zwar, ich hatte keine Wahl – aber gezwungen fühlte ich mich damals so gar nicht. Ich fügte mich einfach in das für mich bestimmte Schicksal – und auf eine befremdliche Art fühlte es sich sogar organisch an. Tatsächlich sind Zwangsverheiratungen – noch dazu in einem so jungen Alter – allerdings ein wichtiges Thema. Weltweit werden jeden Tag etwa 39 000 minderjährige Mädchen verheiratet, ein Drittel davon ist jünger als 15 Jahre. So heißt es in einem Bericht des Europarates von 2018.16 Schon 2015 wurde dazu im Auftrag des Europäischen Parlaments die Studie »Forced marriage from gender perspective« veröffentlicht.17 In den Untersuchungen wird vor allem die Perspektive von jungen Mädchen eingenommen. Das macht Sinn, denn statistisch gesehen, sind sie deutlich häufiger betroffen als Jungen oder junge Männer. Auch in Deutschland suchen deutlich mehr Mädchen in Beratungsstellen Hilfe oder zeigen Zwangsehen an. Kein Wunder also, dass man Mädchen bei diesem Thema für besonders gefährdet, diskriminiert und schutzbedürftig hält. Meine Erfahrung als Mann oder Junge kommt in solchen Statistiken eher nicht vor. 2020 wurden in Deutschland 77 Verheiratungen bei der Polizei angezeigt.18 Die tatsächliche Zahl ist vermutlich höher. In besagter »Forced marriage«-Studie geht es jedenfalls nicht nur um zivilrechtliche Ehen, sondern insbesondere um jene, die informell, religiös und rituell geschlossen werden. Standesbeamt*innen braucht es dafür nicht, in meinem Fall war alles mit einer dreitägigen Party erledigt. Den »Zwangsheiraten« innerhalb der Rom*nja-Gemeinschaft in Deutschland, Spanien, Großbritannien, Dänemark und der Slowakei widmen die Forscher*innen übrigens ein eigenes Kapitel. Verheiratungen bedeuten für die jungen Menschen fehlende Selbstbestimmung. Sie entscheiden nicht, über ihre Familienplanung, ihre Schulbildung oder Berufswahl, ihre Sexualität oder die Unversehrtheit ihres Geistes und Körpers. All das hat das Zeug dazu, psychisch und physisch krank zu machen. Verheiratungen können Leben zerstören. Dennoch sehe ich EU-Untersuchungen – aber auch Diskurse und Medienberichte in Deutschland zu dem Thema – kritisch. Sie tragen nämlich sehr häufig dazu bei, rassistische Positionen aufrechtzuerhalten. Dann etwa, wenn Lehrer*innen pubertierende Schüler*innen auf ihrem Bildungsweg mit der Begründung ausbremsen: »Du brauchst das nicht, du heiratest doch eh früh und bekommst Kinder.« Auch Zwangs- oder Frühverheiratung einzig und allein einer patriarchalen »Roma-Kultur« zuzuschreiben, ist problematisch. Sinti*zze und Rom*nja werden in diesem Kontext fast ausschließlich als Opfer – oder im Umkehrschluss als Täter*innen – der eigenen Familien dargestellt. In den Medien werden große Hochzeiten als skurrile Events ausgeschlachtet, um die Fremd- und Andersartigkeit von Sinti*zze und Rom*nja zu untermauern. Dabei wird völlig vergessen: Ja, es gibt Menschen in meiner Community, die früh heiraten, aber das gilt längst nicht für alle. Rom*nja sind eine sehr heterogene Gruppe mit unterschiedlichen Lebensweisen und Traditionen. Und nein, wir heiraten nicht alle, wie es schrille, fake Reality-TV-Formate mit Tonnen von Tüll und Kirmes-Deko vermuten lassen. Viele Paare lieben und trauen sich fernab von Klischees und Zwang.

In meiner Familie allerdings war es nichts Ungewöhnliches, jung die Ehe einzugehen. Meine Eltern, Tanten, Onkel – alle hatten es vor mir genauso getan. Ich hatte Glück und kannte meine Braut, denn als kleine Kinder hatten wir oft miteinander gespielt. Ich mochte sie, fand sie sehr hübsch, und nun sollte unsere Heirat ein festes Band zwischen unseren beiden Familien knüpfen. Eigentlich machten wir es wie das englische Königshaus: Das Verheiraten von sehr jungen Menschen bedeutete Frieden und mehr Macht. Und wie in Monarchien war und ist auch bei Rom*nja das Verhandlungsgeschick der beteiligten Eltern das Allerwichtigste. Es gibt weder eine romantische Verlobungsfeier noch eine Trauungszeremonie oder Standesbeamt*innen. Alles, was es braucht, ist ein Vater, der für seinen Sohn um die Hand eines Mädchens anhält. Es folgt ein Gespräch der Familienoberhäupter, in dem es um den Brautpreis geht. Es ist ein Handel um Geld, sehr viel Geld sogar. Der Brautpreis kann so ähnlich wie eine Mitgift verstanden werden, wie es sie in vielen Kulturen gibt. Das mag veraltet und überkommen klingen, aber ich bin mir sicher, dass solche Bräuche sich so lange halten werden, wie Sinti*zze und Rom*nja sich nicht auf die Sozialsysteme der Staaten, in denen sie leben, verlassen können. Zu oft wurden sie vertrieben und standen vor dem Nichts.

Die Überlegung meines Vaters sah also so aus: Wer sorgt im Alter für mich? Ach ja, meine Kinder. Wer kann mich später pflegen? Mein Sohn und die Schwiegertochter. Wer bezahlt mir eine Wohnung oder Essen, wenn ich nicht arbeiten kann und es höchstens Essensgutscheine gibt? Meine Kinder. Heiraten und Familie, das bedeutete Sicherheit in allen Lebenslagen. Wenn Menschen kategorisch der Zugang zu Bildung, Arbeit, gesundheitlicher Fürsorge oder Sozialleistungen verwehrt wird, schaffen sie eben eigene Überlebensstrategien. So etablieren sich allerdings in vielen Gemeinschaften auch Überzeugungen und Lebensweisen, unter denen einige ihrer Mitglieder leiden: Oft sind das Kinder, Frauen, queere Personen oder Menschen mit Behinderungen.

Mein Vater regelte also alles mit meinen Schwiegereltern. Ein paar Wochen später kamen ein paar hundert Gäst*innen zu unserer Hochzeit in Belgien. Eine kleine, ausgewählte Gruppe, denn längst nicht alle meiner Großfamilie hatten die nötigen Papiere, um die Grenzen zu passieren. Die, die konnten, reisten aber aus ganz Europa an. Am ersten Tag ging es vor allem um die Gäst*innen. Eine Flasche Schnaps wurde mit Blumen in ein buntes Tuch gewickelt und alle wurden zum Anstoßen vor ihren Häusern und Wohnwagen eingesammelt. Die Männer und Frauen genehmigten sich einen Schluck von dem Vecchia Romagna, beteten in ihrem jeweiligen Glauben und formulierten einen passenden Wunsch zur Hochzeit. Dann ging es weiter zu dem Festsaal eines Restaurants, in dem wir feierten. Es gab eine Bühne und laute Live-Musik. Die Hochzeitmusikant*innen zogen mit einem Korb umher und sammelten Geldscheine für ihren Auftritt ein. Musiker*innen machen bei einer Roma-Hochzeit das ganz dicke Geschäft, deshalb hatte mein Vater sich eigentlich immer gewünscht, dass ich ein Instrument lerne. Die Lieder wurden gespielt, alle tanzten, sangen und waren in ausgelassener Feierstimmung. Alle außer mir und meiner Braut.

Ich trug einen Smoking, der zu locker an meinem Körper hing. So sah ich etwas verloren aus. Das passte zu meiner neuen Aufgabe, die ebenfalls eine Nummer zu groß für mich war. Meine Braut war mindestens genauso nervös wie ich. Sie trug ein schneeweißes Kleid mit langer Schleppe und sah aus wie ein Engel. Drei Tage würden wir alle feiern. Ich fühlte mich, als hätte man mir einen riesigen unsichtbaren Stein auf den Kopf gelegt. Jeder Schritt fiel mir schwer, und ich konnte kaum atmen.

Am zweiten Tag der Hochzeit ging es mit Bussen zu einem Hotel. Einige Angehörige waren bei uns, und besonders wichtig waren zwei Frauen, die nicht zu unseren Familien gehörten. Zeuginnen, die später bestätigen würden, dass wir den Beischlaf auch wirklich vollzogen hatten. Der Druck war so riesig, dass ich mich vor lauter Panik am liebsten übergeben hätte. In meinem Kopf schwirrten die Gedanken wild umher: Was, wenn ich als Mann versagte? Was, wenn ich es mit dem Sex nicht hinbekam? Was, wenn meine Frau gelogen hatte und eigentlich gar keine Jungfrau mehr war? Was, wenn wir beide – zwei pubertierende Kinder – die Erwartungen unserer Familien nicht erfüllen würden? Es waren unendlich viele Horrorszenarien, die ich in meinem Kopf durchspielte. Ich dachte an das Geld, das mein Vater für die Hochzeit ausgegeben hatte. Ich konnte hören, wie die anderen Jungs mich auslachen würden, wenn etwas schiefging. Ich sorgte mich um die Ehre meiner Familie. Es stand alles auf dem Spiel, alles hing an mir.

Im Hotel wurde meine Frau aufs Zimmer begleitet, und ich wartete mit einigen Männern aus meiner Familie in der Lobby. Sie klopften mir aufmunternd auf die Schultern und gaben mir Ratschläge. Ich solle sie bloß nicht bedrängen und alles ruhig angehen lassen, sagten sie mir. Als ich oben im Zimmer ankam, saß meine Frau in ein weißes Laken gehüllt auf dem Bett. Sie hatte Angst und schämte sich, kein einziges Mal konnte sie mir in die Augen sehen. Also ging ich ins Bad und wusch mir gründlich die Hände. Dann ging ich zurück zu ihr, zog mich aus und legte mich nackt zu ihr unter das Laken. Sie weinte und weinte. Ich redete mit ihr, versuchte sie zu beruhigen. »Bitte mach dir keine Sorgen, ich habe das schon mal gemacht«, log ich sie an. Ich versprach ihr, aufzupassen. Worauf genau, das wusste ich nicht.

Nach einer Weile versuchten wir, miteinander zu schlafen, obwohl wir überhaupt keine Ahnung hatten, wie das gehen sollte. Ein 14-jähriger Junge und ein 13-jähriges Mädchen versuchten, erwachsen zu sein und Sex zu haben. Nach einer gefühlten Ewigkeit klappte es. Heute weiß ich natürlich, dass es völliger Unsinn ist, dass alle Jungfrauen beim ersten Mal bluten. Meine Frau aber tat es, und für uns war es wie eine Erlösung. Die Blutsflecken waren schließlich der Beweis dafür, dass sie vorher noch nie mit einem Mann geschlafen hatte. Das Blut bewies außerdem, dass wir es wirklich getan hatten. Die Ehe war vollzogen, wir waren Mann und Frau. Der blutige Unterrock wurde eingepackt, und wir kehrten als Ehepaar zurück zu dem Fest, das noch immer in vollem Gange war. Ab diesem Moment konnten wir das Theater um uns sogar irgendwie genießen. Der Druck war weg, wir fühlten uns freier. Wir hatten funktioniert und unsere Sache gut gemacht, wir waren brave Kinder gewesen.

Am nächsten Tag feierten wir die Rose – meine Braut. Alles drehte sich um sie, es ging um ihre Reinheit und ihre Weiblichkeit. Stolz stand sie da und wurde in ihrer Anmut bewundert. Wenn ich genauer darüber nachdenke, war all das eine Belohnung für ihre Anständigkeit, aber wohl auch eine Wiedergutmachung für den zweiten Tag, an dem sie so viel Schmerz ertragen und ihre Jungfräulichkeit verloren hatte. In ihren Armen hielt die Braut einen Korb, der eingehüllt war in ein Tuch mit bunten Rosen darauf. Darin lagen unzählige, langstielige rote Rosen. Nun reichte meine Frau allen Gäst*innen eine der Blumen. Im Tausch dafür bekam sie Geld, Gold und Geschenke zugesteckt. Älteren Frauen und Männern küsste sie zum Dank respektvoll die Hand. Sie selbst bekam liebevolle Küsse auf die Stirn. Es war eine typische Hochzeit: Menschen lachten, weinten, tranken und polierten sich anschließend ordentlich die Fresse. Keine Feier ohne Prügelei, das ist doch klar.

Gemeinsam mit meinen Eltern reisten wir zurück nach Deutschland. In der Schule in Nürnberg holte mich die Realität wieder ein. Umgeben von meinen Klassenkamerad*innen verstand ich erst richtig, was in Belgien geschehen war. Nichts von alledem war normal. Niemand von den anderen kannte jemanden, der in meinem Alter schon verheiratet war. Auch meine Lehrer*innen waren geschockt, das erkannte ich an ihren nachdenklichen Gesichtern und ihren skeptischen Blicken. Was in meiner Familie Tradition war, hatte eben nichts mit weißer deutscher Lebensrealität zu tun. Für das, was ich erlebte, fehlte meinen Mitmenschen wohl jede Vorstellungsgabe. Für mich jedenfalls begann mit 14 ein in meiner Familie ganz normales Eheleben. Meine Frau zog zu uns, und wir lebten mit meinen Eltern unter einem Dach. Wir waren nicht verliebt oder empfanden eine große Leidenschaft füreinander, aber im Laufe der folgenden Jahre würde es immer wieder ein Gefühl von Verliebtsein und Verbundenheit zwischen uns geben.

Ich war nun ein Ehemann und fühlte mich in meiner Männlichkeit bestätigt. Ich hatte einen ausgeprägten Trieb, also tat ich, was man von mir erwartete: Ich schlief mit meiner Frau. Jeden Tag, denn ich wollte es allen beweisen, vor allem meinem Vater. Je potenter ich mich gab, desto mehr genügte ich den Ansprüchen meiner Familie und ihren tradierten Männlichkeitsbildern. Als Junge reagierte ich mich an meiner Frau ab, auch im Bett. Ich konnte ihr sexuell nicht der aufmerksame, liebevolle und zärtliche Partner sein, den sie verdiente. Ich war komplett verwirrt und ahmte die Fickerei nach, die ich von den Porno-Videokassetten meines Vaters kannte, und träumte auf der anderen Seite noch immer heimlich von Dirk Shafer. Ich hätte es mir natürlich niemals eingestanden, aber ich war natürlich schwul. Doch unsere echten Bedürfnisse zählten nicht – weder die meiner Frau noch meine.

In meinem Kopf herrschte totales Chaos und trotzdem fühlten sich die Dinge nicht falsch an. Ich war es gewohnt, mich anzupassen und Geheimnisse zu haben. So fühlte es sich nicht falsch an, auf Männerbilder zu onanieren und gleichzeitig jeden Tag mit meiner Frau zu schlafen. Ich wusste ja, wofür ich das tat. Ich sollte Kinder machen, dafür lebte ich. Tatsächlich wollte ich nichts so sehr wie eigenen Nachwuchs. Ich wünschte mir, Vater zu werden, für Kinder zu sorgen und meiner Verantwortung als künftiges Familienoberhaupt gerecht zu werden. Außerdem stellte ich es mir schön vor, die Dinge anders – und vielleicht besser – zu machen als meine eigenen Eltern. Erst heute, als erwachsener Mann, kann ich ansatzweise erahnen, welchen seelischen Schaden meine Frau und ich unter all diesem Druck davongetragen haben. Uns fehlten emotionale Fürsorge, Freiheiten, Selbstbestimmtheit und noch viel mehr. Irgendwie schafften wir es trotzdem sehr oft, nett und freundschaftlich miteinander umzugehen. Vor einiger Zeit sagte meine Frau mir allerdings einmal: »Gianni, was wir als Kinder ertragen mussten, war ekelhaft!« Ich traute mich in dem Moment nicht, weiter nachzuhaken, weil ich nicht wusste, ob es bei uns beiden alte Wunden aufreißen würde. Aber sie hat recht. Verheiratet zu werden, hatte etwas Zerstörerisches. Trotzdem haben wir es überlebt und sitzen manchmal wie zwei alte Leute da und sagen: »Scheiß drauf!«

Ich war ungefähr 15, als meine Familie nach Frankfurt-Sachsenhausen zog. Damals machte ich meine ersten Erfahrungen mit Männern. Aber ich konnte und durfte mich nicht darauf konzentrieren. Ich hatte schließlich eheliche Pflichten und musste die personellen Ressourcen der Familie aufstocken. Baby-Time. Ich weiß noch genau, wie ich zu Hause auf der Couch herumgammelte, als das Telefon klingelte. Meine Frau war dran und erzählte, dass sie mit einer Freundin in der Innenstadt unterwegs war. Sie stand mitten in der belebten Fußgängerzone auf der Zeil in einer Telefonzelle. Sie fragte mich, ob ich was von McDonald’s haben wolle. Ich sagte: »Logo, ein Big Mac-Menü und die 20er Chicken McNuggets!« Ich hatte Hunger. Sie kicherte und antwortete: »In Ordnung. Nimmst du auch noch einen positiven Schwangerschaftstest dazu?« Bitte was? Ich traute meinen Ohren nicht. Hatte sie das gerade wirklich gesagt? Sie konnte gar nicht aufhören zu lachen, und ich konnte förmlich sehen, wie sie am anderen Ende der Leitung aufgeregt von einem Bein aufs andere hüpfte. Sie erklärte mir, dass sie ihre Tage nicht bekommen hatte und deshalb in der Apotheke einen Schwangerschaftstest gekauft hatte. Mit ihrer Freundin hatte sie ihn gerade gemacht: Zwei blaue Streifen waren zu sehen gewesen. »Friss meine Scheiße, Gianni! Ich bin schwanger«, sagte sie und klang so glücklich. Ich sprang auf und schrie: »Ist das wirklich dein Ernst? Mach keine Späße mit mir!« Sie blieb dabei, wir hatten es endlich geschafft. Wir würden Eltern sein, Mutter und Vater – darauf hatten wir so lange hingefickt.

Die nächsten Monate waren voller Vorfreude. Meine Frau nahm stetig zu und sah aus wie eine strahlende, runde Göttin. Mit jedem Arztbesuch und jedem Einkauf von Babyzubehör fühlte ich mich erwachsener. Ich war jemand und fühlte mich ernst genommen, wenn ich dem Gynäkologen meiner Frau Fragen stellte oder mit meinem Vater auf Augenhöhe über die Zukunft sprach. Mein Vater hatte übrigens auch eine Überraschung parat. Eine außereheliche Affäre hatte Folgen gehabt: Die Frau war schwanger geworden. Das zweite Kind meines Vaters – meine Halbschwester – würde etwa einen Monat vor meinem Sohn zur Welt kommen.

Es ist meiner Schwester gegenüber sehr ungerecht – aber damals fühlte ich mich einfach nur verraten. Es war, als habe mein Vater mal wieder seine Bedürfnisse über meine gestellt. Er hatte keine Rücksicht auf meine Mutter genommen oder darauf, dass ich gerade alles tat, um seinen Forderungen gerecht zu werden. Später bemühte er sich auch nicht, damit meine Halbschwester und ich eine Beziehung zueinander aufbauten. Sie war ja auch viel jünger als ich – eben so alt wie mein Sohn. Und obwohl sie als Jugendliche für eine Weile zu meinen Eltern zog, wurde unsere Beziehung nie eng. Natürlich nicht, ich war damals mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Zum Beispiel damit, mein Schwulsein auszuleben und zu akzeptieren. Außerdem hatte ich für meine eigene Familie zu sorgen. Ich liebe meine Halbschwester, und wenn wir uns sehen, verstehen wir uns gut. Aber es blieb immer dabei: Ich fühle mich wie ein Einzelkind, denn ich bin das einzige Kind meiner Mutter, und damit lastete viel Verantwortung auf mir. Alle Erwartungen meiner Eltern fokussierten sich auf mich, ihren Stammhalter.

Aus meinem Biologiebuch für die Schule wusste ich ungefähr, was gerade im Bauch meiner Frau geschah und wie sich unser Baby entwickelte. Es gab ja noch kein Internet, deshalb kaufte ich mir zur Vorbereitung auch einige Eltern-Zeitschriften. Eine Sache faszinierte mich besonders: In einem Artikel las ich, dass Neugeborene mit einer sogenannten Käseschmiere zur Welt kamen. Das Wort hatte ich noch nie gehört, aber ich liebte es auf Anhieb. Ich war so neugierig und wollte unbedingt mein käsiges Kind sehen. Dann war es so weit, meine Frau bekam Wehen, und ich begleitete sie ins Krankenhaus. Als mein Sohn zur Welt kam, war es um mich geschehen. Er war die Krönung, das Beste, was mir je passiert war. Dieses Neugeborene lag in meinen Armen, und ich wusste, wofür ich lebte. »Ist das die Käseschmiere?«, fragte ich die Krankenschwester. Sie lächelte mich an und mit einem – mir sehr vertrauten – Balkan-Akzent antwortete sie mir: »Ja, sicher, junger Mann, das ist die Käseschmiere.« Ich bestaunte meinen Sohn, ich war so verliebt in ihn. Er war einfach perfekt. Er hatte schwarze Haare, war 52 Zentimeter lang und wog 3500 Gramm. Dieses Kind war meine Bestimmung. Jetzt war ich wirklich ein Mann. Ich war nicht mehr nur Sohn, ich war auch Vater. Ich hielt die Zukunft meiner Familie in den Armen: meinen großartigen Sohn, meine Altersvorsorge.

Die ersten Wochen waren krass, mein Sohn war ein Energiebündel. Er schrie viel und hielt uns junge Eltern auf Trab. Eigentlich war er ein ganz normales Baby, aber meine Frau und ich waren Kinder, die ein Kind bekommen hatten, und waren entsprechend gefordert. Während wir den Haushalt machten, schrien also auch wir manchmal so lange, bis meine Frau mich mit dem Staubsauger bedrohte. Aber wir beruhigten uns auch wieder sehr schnell. Tatsächlich erlebte unsere Beziehung seit der Geburt unseres Sohnes einen absoluten Höhepunkt. Wir bekamen das hin. Das lag natürlich auch daran, dass wir mit meinen Eltern lebten und uns immer auf ihre Unterstützung verlassen konnten. Wenn mein Sohn wieder einmal laut brüllte, nahm meine Mamo ihn an sich. Sie badete mein Kind in warmer Milch mit Honig, damit es sich beruhigte und schlafen konnte. Es war ihr großmütterliches Ritual, und während sie mit der Hand sachte die süße Milch über seinen kleinen Körper spülte, gab sie ihm all ihre guten Wünsche mit auf den Weg. Mein Sohn sollte zart, besonnen und liebevoll werden. Wenn ich das beobachtete, sah ich, wie viel Liebe und Zärtlichkeit in meiner Mutter steckten. Ich erkannte all die Wärme und Geborgenheit wieder, die sie mir als kleines Kind geschenkt hatte. Das Mehrgenerationenleben war für uns das Normalste der Welt. Dass die Älteren den Jüngeren beim Versorgen der Babys halfen, war schon in unserer Kindheit so gewesen. Ein ganzes Dorf – oder in unserem Fall eine Baracke – erzieht eben ein Kind.

Ich ließ keine Möglichkeit aus, um mit meinem Baby anzugeben. Einmal zog ich meinem Sohn seinen schönsten Strampler an und nahm ihn ganz selbstverständlich mit in die Berufsschule. Alle sollten sehen, was ich vollbracht hatte. Meine Mitschüler*innen und Lehrer*innen waren baff und entzückt zugleich. Da stand ich: Gianni, der Klassenclown, hielt behutsam ein kleines, schlafendes Baby.

Die Zeit raste an mir vorbei. Ich machte eine Ausbildung und mein Sohn wuchs munter vor sich hin. Meine Frau und ich träumten bereits von noch mehr Nachwuchs. Vier Kinder wünschten wir uns insgesamt, dies war unsere Vorstellung einer perfekten Familie. Wir beide hätten dann mit jeweils zwei Kindern auf dem Schoß dasitzen können.

Und der Wunsch schien sich tatsächlich zu erfüllen. Mein Sohn war noch kein Jahr alt, als meine Frau bemerkte, dass sie wieder schwanger war. Ein Schock, doch dann drehten wir fast durch vor Begeisterung: Zwillinge. Dem Ziel einer Großfamilie waren wir nun mit einem Mal sehr viel nähergekommen. Doch die Schwangerschaft verlief nicht ohne Komplikationen. Eines Morgens weckte meine Frau mich, weil sie Blutungen hatte. Schnell fuhren wir zu ihrem Gynäkologen, der leider feststellte, dass ein Fötus gestorben war. Da saß ich nun mit meiner 16-jährigen, schwangeren Frau, die gerade eines unserer Babys verloren hatte. Der Arzt hatte zu einer Ausschabung geraten und gemeint, dass dies leider ein Risiko für den übrig gebliebenen Zwilling berge. Deshalb sprach er mit uns auch über einen möglichen Schwangerschaftsabbruch. Das kam für uns aber nicht infrage. Wir hatten große Angst, aber irgendwie vertrauten wir dem Schicksal. Ich betete still, wünschte meinem zweiten Kind nur das Beste und dass es gut zu uns ins Leben fand. Es verging ein halbes Jahr, bis meine Frau wieder Wehen bekam. Mein ältester Schwager fuhr uns an einem Donnerstag im Februar mit seinem schwarzen Mercedes 190 E ins Krankenhaus. Die Geburtsstation war zu der Zeit eine einzige Baustelle. Wir konnten nicht in einen Kreißsaal, und meine Frau wartete in einem Zimmer, das die Bezeichnung eigentlich nicht verdiente. Der Raum war durch milchige Folie unterteilt und alles wirkte, als würden gleich die Handwerker hereinkommen. Meine Frau setzte sich auf einen Stuhl und hielt sich ihren großen, schmerzenden Bauch. Ich verließ den Raum ein letztes Mal, um den Wagen mit meinem Schwager von der Kurzparker*innen-Zone ins Parkhaus zu fahren. Als ich eine gute Viertelstunde später zurück war, lag meine Frau im Bett und meine Tochter bereits auf ihrer Brust. Wow! Natürlich hatte meine Frau in der Nacht bereits Wehen gehabt, aber mit einer solchen Blitzgeburt hatten wir nicht gerechnet. Ich war fassungslos.

Aufmerksam beäugte ich meine Tochter und hieß sie willkommen in dieser Welt. Die Kleine hatte ganz wenige blonde Haare, eine Haut so weiß wie Käse und strahlend blaue Augen. Ihre Wangen waren ganz rosig, und auf dem ersten Foto, dass eine Krankenschwester von uns dreien machte, lächelte das Baby. Ein Engel. Nach all den Sorgen, die wir uns während der Schwangerschaft gemacht hatten, fiel nun die ganze Anspannung von uns ab. Dieser alleingeborene Zwilling war eine Kämpferin. In mir und um mich war nichts als Liebe. Mein zweites Wunder war da und ruhte zufrieden in meinen Händen. Auf meine gerade einmal sechzehnjährige Frau war ich unendlich stolz, sie war so zart. Wenn sie nicht schwanger war, wog sie wegen einer Schilddrüsenüberfunktion gerade einmal 48 Kilo. Deshalb wirkte sie oft zerbrechlich, und dann rockte sie mal eben eine solch schwierige Schwangerschaft und eine Entbindung in Rekordzeit.

Als Eltern von zwei Kindern hatten wir die Erwartungen nun voll erfüllt. Meine Frau und ich waren zu Eins-plus-mit-Sternchen-Rom*nja avanciert. Ich wurde 18, hatte eine Ausbildung abgeschlossen und meinen Führerschein in der Tasche. Wir waren noch nicht mal 20 und hatten schon erreicht, was andere erst mit Mitte 30 oder 40 schaffen. Heute denke ich, vielleicht waren wir gar nicht so anders als weiße ältere Paare. Auch in ihren Ehen steckt oft wenig Romantik und Liebe. Stattdessen sehe ich bei ihnen ebenfalls finanzielle und emotionale Abhängigkeiten, Arrangements oder ungleiche Machtverhältnisse. Same, same, but different.

Meine Frau und ich hatten jedenfalls das Gefühl, dass eine phantastische Zukunft vor uns lag. Es funktionierte zwischen uns. Wir hatten genug Geld, Sicherheit und ein freundschaftliches Verhältnis. Meine Eltern entspannten sich, weil ich den Eindruck vermittelte, künftig für sie, meine Frau und die Kinder sorgen zu können. Meine Frau vertraute mir und meinen Fähigkeiten – außerdem mochte sie mich als Vater. Sie war in das Bild verliebt, das ich ihr vom Leben zeichnete, und suchte meine Nähe. Gleichzeitig stieß sie mich immer wieder weg. Es war schizophren, aber vermutlich spürte sie, dass die Fassade nicht echt war. Meine Frau merkte wie alle anderen, dass ich nicht der Mann war, der ich sein sollte. Manchmal vermutete sie, dass ich eine Geliebte traf. Oft stritten wir uns über alle möglichen Dinge. Es kam vor, dass wir uns lauthals anschrien oder Dinge zu Bruch gingen. Es war schrecklich. Wir waren beide wie Wasserkessel, in denen es die ganze Zeit brodelte, bis es irgendwann nicht mehr ging und wir explodierten.

Im Laufe unserer Ehe habe ich meiner Frau zweimal gesagt, dass ich schwul bin, und jedes Mal war es eine emotionale Katastrophe für uns beide. Als meine Kinder ungefähr neun und zehn waren, ging unsere Ehe für immer in die Brüche. Lange hatten wir nach unserer Trennung keine gute Beziehung. Das war wichtig, denn wir brauchten Distanz, um uns neu zu sortieren und uns in einem Leben ohneeinander zurechtzufinden. Vor allem für meine Ex-Frau war mein finales Outing ein Schock, denn wahrscheinlich hatte sie nie für möglich gehalten, dass ich mich wirklich von ihr trennen würde. Vermutlich litt sie unter der Situation noch viel mehr als ich, denn als Frau war sie schließlich mit einer noch härteren Lebensrealität konfrontiert. Romnja werden innerhalb der Mehrheitsgesellschaft, aber auch in der eigenen Community, besonders benachteiligt und stehen bei allem stets am Ende der Verteilungskette. Deswegen sind sie die Schützenswertesten in unserer Gemeinschaft, mögen sie persönlich auch noch so stark erscheinen. In meinen Augen ist es eine der wichtigsten Aufgaben, insbesondere für uns Roma, die Lebensrealitäten von Frauen viel mehr zu berücksichtigen. In einer marginalisierten Gruppe wie der unseren spielen geschlechtsspezifische Rollenbilder eine besonders große Rolle. Selbstbestimmung wird Frauen oft bis zur Unmöglichkeit erschwert. Für meine Ex-Frau war mein Outing vor diesem Hintergrund existenziell. Das, was ihr Stabilität und Sicherheit versprochen hatte – eine Ehe mit Kindern und einem Mann –, war am Ende. Mit meinem Outing stellte ich all ihre Werte, alles, was sie gelernt hatte, infrage. Ihr Traum von Familie, Haus und Hund war vorbei. Ihr Mann hatte sie für einen anderen Mann verlassen – mehr Scham ging nicht. Ihr Alltag mit unseren Kindern und meinen Eltern, die längst zu ihren Eltern geworden waren, ging weiter. Von dort wieder zueinander zu finden und auf eine versöhnliche Gesprächsebene zu gelangen, brauchte viele Anläufe, Geduld, Kraft und Durchhaltevermögen.

Heute lachen und weinen meine Ex-Frau und ich gemeinsam. Früh heiraten hat eben auch Vorteile: Du kannst dich früh scheiden lassen und hast noch etwas vom Leben. Als Ex-Eheleute schmieden wir nun Pläne für unsere Enkelkinder und stellen die Weichen für die nächsten Generationen. Sie werden groß mit dem Wissen, selbstbestimmt zu sein und lieben zu dürfen, wen sie wollen. Sie sind frei. In meiner Familie wird niemand mehr minderjährig heiraten oder zur Heirat gezwungen.

Meine Ehe hätte mich fast das Leben gekostet. Ich litt unter wiederkehrenden Depressionen, unter der Wut, der Gewalt und der Zerrissenheit des Doppellebens. Für uns und unsere Kinder waren das und der Streit um sie, das Geld und unser Zuhause pures Gift.

Noch heute möchte ich meiner Ex-Frau manchmal an den Kopf werfen, wie viel Schmerz und Leid sie uns angetan hat und dass sie mich in vielen meiner Probleme und Herausforderungen nicht sehen konnte. Zu oft hat auch sie von mir verlangt, was heteronormativ denkende Menschen erwarteten – von uns beiden. In ihrer eigenen Hilflosigkeit machte sie mich oft verbal herunter. Ich fühlte mich in diesen Momenten so entmännlicht, als hätte sie mir den Schwanz abgehackt, wenn sie mir wie mein Vater das Gefühl gab, ein Versager zu sein. Schutz und Geborgenheit gab sie mir nicht. Aber wie denn auch? Sie war ja erst 13, als wir zusammenkamen. Wir waren beide Kinder, die versuchten, eine Ehe zu imitieren. Wir wollten lernen, wie Familie funktioniert, und taten überhaupt verzweifelt alles, um dazuzugehören – zur Familie, zur Community. Aber das war kein Spiel für uns, wir mussten im Zeitraffer erwachsen werden und diesem Prozess unsere Persönlichkeitsentwicklung und alles andere unterordnen.

Nach all den Jahren würde ich meiner Ex-Frau gerne sagen, dass auch diese Kinderehe eine reelle Chance auf Liebe hatte. Ich habe wirklich immer aufrichtig versucht, sie zu lieben und zu ehren. Aber ich glaube auch, dass wir uns getrennt hätten, selbst wenn ich nicht schwul wäre.

Ich habe sie niemals mit einer anderen Frau hintergangen. Darum hat unsere Liebe, unsere Zweisamkeit etwas Einzigartiges und Heiliges für mich. Sie hat mir zwei wundervolle, kluge Kinder geschenkt, dafür bin ich ihr ewig dankbar. Ohne sie wäre ich kein Vater und kein Großvater. Sie ist noch immer der Dreh- und Angelpunkt in unserer Familie. Als ich mich outete, sagte ich ihr: »Du bist der Mensch, der mir so viel gegeben hat. Unsere Kinder, unsere Zukunft. Unsere Familie kann weiter bestehen. Bitte nimm meine Hand und komm mit mir. Ich zeige dir ein anderes Leben, in dem wir glücklicher sein dürfen. Ein Leben, in dem wir heilen und gesünder wachsen und gedeihen können.« Aber sie wollte nicht. Sie konnte nicht. Für sie war es viel schwerer, denn ich war unterwegs zu etwas Neuem, ich hatte eine Vision meiner selbst und wusste, wofür ich all das, was wir miteinander hatten, aufgab.

Wenn Rom*nja-Eltern ihre Kinder verheiraten (müssen) und wenn Kinder nicht rebellieren (können), dann bewegen sich alle Beteiligten in einem Spannungsfeld von Gewalt, Dominanz und Missbrauch. Aber es ist auch der Versuch, die Familie zu schützen und die Zukunft für weitere Generationen zu sichern. Auf eine sehr kranke Art zeigen Eltern damit ihre Fürsorge und eine tief empfundene Liebe. Liebe, die Angst macht und wehtut. Denn die romantische Vorstellung einer Liebe, die nichts fordert und abverlangt, muss man sich auch leisten können. Wenn Kinder realisieren, dass ihre Eltern nichts besitzen und keine Aussicht auf eine bessere Zukunft haben, werden sie bereit sein, sich zu opfern. Wenn wir als Gesellschaft in Deutschland, Europa oder weltweit wollen, dass Kinder nicht mehr heiraten müssen, müssen wir dafür sorgen, dass ihre Eltern nicht auf eine Mitgift angewiesen sind. Wir müssen dafür sorgen, dass Familien nicht gezwungen sind, in bitterarmen Kasten am Rande der Gesellschaft zu leben. Wir müssen dafür sorgen, dass sie Zugang zu allen Ressourcen haben – erst dann werden sie sich von Traditionen lösen, die uns alle krank machen.