Bäääm! Vom Bettler zum Bachelor

Das Bildungssystem als Sinnbild von strukturellem Rassismus

Meine Eltern sind semi-alphabetisiert, können also kaum lesen und schreiben. In der Schule unterstützen konnten sie mich nicht. Mein Dade erkannte trotzdem, dass die Menschen in Deutschland durch ihre Bildung und ihre guten Berufe viele Privilegien hatten, dass Bildung der Schlüssel zu wirtschaftlichem Erfolg und Aufstieg ist. Geld spielte für uns eine alles entscheidende Rolle. Und Bildung bedeutete Reichtum und Ansehen. Deshalb machte er mir immer klar: Schule ist wichtig.

Seine eigene Kindheit im ehemaligen Jugoslawien war geprägt von bitterer Armut. Er wusste, viele Arbeiten der Rom*nja waren gefährlich für Leib und Seele. Wenn die Männer hausieren gingen, mussten sie immer darauf gefasst sein, dass Hunde auf sie gehetzt wurden. Manche Hausbewohner*innen drohten ihnen mit Fäusten oder Waffen. Oder es kam zu Streit, wenn Menschen für eine verrichtete Arbeit nicht zahlen wollten und Rom*nja Betrug unterstellten. Oft mussten sie die körperlich härtesten Tätigkeiten übernehmen, für die sich sonst niemand fand. Die Frauen versuchten, immer zu zweit oder in Gruppen zu arbeiten, aus Angst vor Übergriffen. Hätte mein Vater es sich aussuchen können, wäre er wahrscheinlich Anwalt geworden. Eine Chance darauf hatte er in Serbien nicht gehabt und in Deutschland auch nicht. Aber hier wollte er wenigstens mir, seinem einzigen Sohn, einen besseren Start ins Leben ermöglichen. 

Lehrer*innen, Bildungsdezernent*innen oder -referent*innen sprechen oft scheinbar verzweifelt von »Bildungsferne« der Sinti*zze und Rom*nja. Und wollen dann wissen, was sie tun können, damit Eltern bereit sind, ihre Kinder in die Schule zu schicken und sich ins Bildungssystem zu »integrieren«. Schulschublade auf – alle bitte einsteigen – und zu. Wer die Verantwortung für schulische Probleme von Sinti*zze und Rom*nja allein unseren Communitys zuschieben will, vergisst oder ignoriert die deutsche Geschichte. Im Nationalsozialismus waren Schulen zentrale Orte der Exklusion und Diskriminierung. Z***forscher*innen klassifizierten Sinti*zze und Rom*nja als »fremdblütig« und bescheinigten ihnen eine erblich bedingte Erziehungs- und Bildungsunfähigkeit.19 Viele Kinder wurden deshalb in den 1930er Jahren aussortiert und aus den Schulen verbannt. In einigen Kommunen entschied man sich dafür, Sinti*zze und Rom*nja in Sonderklassen zu separieren. In den Schulen erlebten die Kinder unserer Gemeinschaft alle Formen von Demütigung und Diskriminierung, sie wurden bespuckt und geschlagen, durften nur in den hinteren Reihen sitzen, mussten sich mit den propagierten Rassenideologien der Nazis gemeint fühlen und wurden auf dem Schulhof in abgetrennte Bereiche gepfercht. Ab 1942 gab es – wie für jüdische Kinder – ein absolutes Schulverbot.20 Später deportierten die Nazis unsere Kinder und Erwachsenen in Konzentrationslager, quälten und töteten sie.

Die Erfahrungen während der NS-Zeit fügten sich bei Sinti*zze und Rom*nja in eine traumatische Reihe von Verdrängung, Verfolgung und Vernichtung. Nicht zur Schule zu dürfen, war für die betroffenen Kinder und Jugendlichen mehr als eine Lücke im Lebenslauf. Wer die Nazis überlebte, verknüpfte mit Schule künftig einen Teil des Terrorregimes. Schule, Bürokratie, Polizeiorgane, Gerichte, Ärzt*innen, Gadjé – sie alle standen im direkten Zusammenhang miteinander, denn gemeinsam hatten sie die Auslöschung von Sinti*zze und Rom*nja organisiert und durchgeführt. Nach 1945 hatten meine Vorfahr*innen so verständlicherweise kein Vertrauen mehr in die Institution Schule. Und es wurde vonseiten des Staates sehr wenig getan, daran etwas zu ändern. Nachvollziehbar, denn die Nazis waren ja nicht weg. Sie unterrichteten weiter, saßen in Büros, Polizeistationen oder in Gerichten. Und mit ihnen blieben die Vorstellungen von einem »fahrenden, wilden Volk«. So verschwanden die menschenverachtenden, rassistischen Ideen nicht, sondern die Vorurteile gegenüber Rom*nja und Sinti*zze fanden Platz in Romanen, Sachbüchern oder Lexika und schrieben sich dort förmlich ein in das kollektive Bewusstsein der Bevölkerung. Viele Sinti*zze und Rom*nja hielten sich in der Folge lange Zeit von deutschen Schulen fern. Stattdessen war die Familie wieder ihr wichtigster Rückzugsort und Schutzraum.21 Das hatte natürlich Folgen für die Bildung von Sinti*zze und Rom*nja in Deutschland. Viele lernten das Lesen und Schreiben nicht, sondern konzentrierten sich auf das, was für den Alltag wichtig war. Erste Untersuchungen Anfang der 1980er Jahre zeigten: 30 Prozent der erwachsenen Sinti*zze waren nie zur Schule gegangen. Nur zwei Prozent der Schulbesucher*innen aus der Community gingen auf weiterführende Schulen. Die Hälfte hatte keinen Abschluss, und 35 Prozent der Erwachsenen konnten nicht lesen.22 Inzwischen hat sich für Sinti*zze und Rom*nja durchaus etwas getan: Deutlich mehr haben eine bessere Schulbildung, studieren, sind im Berufsleben etabliert und haben gute Jobs. Fakt ist aber auch: Etwa 15 Prozent der jungen Menschen zwischen 18- und 25-Jahren haben noch immer gar keinen Schulabschluss. Bei den gleichaltrigen Deutschen sind es nur zehn Prozent.23

Nicht gesellschaftsfähig, lernbehindert, dumm, schwer erziehbar, nicht integrierbar – diese Label heften viele Protagonist*innen im Bildungsbereich Kindern und Jugendlichen aus der Gemeinschaft der Rom*nja- und Sinti*zze bis heute an. Dies ist ein Makel, aus dessen Schatten sich jedes Individuum nur alleine befreien kann – und oft scheitert. In der RomnoKher-Studie gaben 40 Prozent aller Befragten an, dass ihre Kinder von Lehrer*innen und Mitschüler*innen diskriminiert werden. Zwei Drittel fühlten sich selbst wegen ihrer Zugehörigkeit benachteiligt – auch im Bildungssystem.24

Natürlich sind Rom*nja und Sinti*zze nur eine Bevölkerungsgruppe, deren Bildungsaufstieg in Deutschland nach wie vor oft durch strukturellen Rassismus verhindert wird. Es zählt, wo du herkommst, wie du lebst und wie viel Geld deine Familie hat. Dein Vater hat dunkle Haut? Deine Mutter trägt Hijab oder lange bunte Röcke? Haben deine Eltern einen Akzent, sprechen sie Arabisch oder Türkisch? Dann hast du in diesem Land ein Problem.

Dazu gehört auch, dass die Fähigkeiten der Kinder ausschließlich auf der Basis ihrer Deutschkenntnisse beurteilt werden. Dass viele der Kinder zwei, drei oder mehr Sprachen sprechen, bevor sie eingeschult werden, berücksichtigt und respektiert das System nicht. Was vor allem zählt, ist die deutsche Muttersprachlichkeit. Europäische Sprachen wie Französisch oder Englisch werden in der Regel noch mit einem anerkennenden Kopfnicken zur Kenntnis genommen. Anerkennendes Gemurmel, wenn man Sprachen spricht, mit denen sich in der Wirtschaft punkten lässt. Läuft so richtig Brudi, wenn dann noch Chinesisch dazu kommt. Aber Romanes? Was soll man damit anfangen?

Als ich in die Schule kam, war die unausgesprochene Begrüßung harsch: Herzlich willkommen in deinem neuen Lebensabschnitt. Du bist nichts, du kannst nichts, du bist Dreck. Jetzt geh uns nicht auf die Nerven, sei leise und sitz still! Es war zu dieser Zeit Standard, Rom*nja in Sonderschulen zu schicken, und das war auch mein Start ins marode deutsche Bildungssystem. Doch dabei sollte es zum Glück nicht bleiben.

Denke ich an Schule, dann denke ich an Gewalt, meine Klassenlehrerin Frau Bernecker und meinen ewigen Butterkomplex. Alles begann, als die Mitarbeiter*innen der Nürnberger Caritas meinen Eltern erklärten, dass es nun Zeit sei, zu prüfen, ob ich fit genug für die Schule sei. Schuleingangsuntersuchung – von so etwas hatten meine Eltern noch nie gehört, aber meine Mutter begleitete mich zu dem Amt, in dem ich begutachtet werden sollte. Wir warteten auf dem langen, grauen Flur. Beamt*innen eilten an uns vorbei, ohne uns eines Blickes zu würdigen. Bürotüren knallten, und ich spielte mit Bauklötzen und Puzzeln, die auf einem Tisch verteilt waren. Als wir an der Reihe waren, wartete ein Mann auf uns, der einen Schnurrbart wie Jean Pütz hatte. Meine Mamo wurde irgendwann aufgefordert, den Raum zu verlassen. Ich blieb allein mit dem Jean-Pütz-Menschen und er klopfte meinen Rücken ab, ließ mich Übungen mit den Armen machen oder auf einem Bein hüpfen. Danach legte er Blätter vor mich, auf die ich irgendwelche Linien malte. Das war’s. Jean Pütz und alle anderen in dem Amt waren wirklich sehr freundlich und höflich zu uns. Das kannten wir so nicht von Behörden, und vielleicht hätte uns das schon stutzig machen sollen.

Ein paar Wochen später kam die Nachricht: Ich sollte auf die Sonderschule. Weder ich noch meine Familie wussten, was das bedeutete. »Ihr Sohn wird auf diese Schule gehen, das wird super werden. Das ist genau, was er braucht«, so in etwa erklärten es die Caritas-Mitarbeitenden meinen Eltern. Diese Geschichte habe ich seitdem so ähnlich von etlichen anderen Rom*nja- und Sinti*zzefamilien in Deutschland gehört. Die Sonderschule war der angemessene Ort für Z***kinder.

Dies sind die Strukturen, in denen viele Familien gefangen sind, die ihre Kinder manchmal tatsächlich nicht zur Schule schicken und nicht in deren Bildung investieren. Wer keine Chancen auf Partizipation spürt, besinnt sich auf das, was in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten irgendwie das Überleben sicherte. Wenn eine Großfamilie also früher das Kupferschmiede-Handwerk beherrschte, ist es heute nicht weit zum Auto- oder Schrotthandel. Dafür braucht es kein Abitur, sondern handwerkliches Geschick, und man muss Verkaufstalent haben, reden können. Viele verdienen ihren Lebensunterhalt mit Beschäftigungen, die ihre Körper auszehren und die Köpfe nicht nähren.

Ich aber sollte unbedingt Lesen und Schreiben lernen, denn meine Eltern wollten für mich nicht nur beruflichen Erfolg, sondern auch die Fähigkeiten, die Familie zu managen. Denn das tun Kinder, deren Eltern nicht oder nur schlecht Deutsch sprechen, nicht lesen können, krank sind oder denen diese Gesellschaft schlicht fremd ist. Es sind dann die Kinder, die sich mit Amtsbriefen herumschlagen und auf denen die ganze Verantwortung lastet, wenn Anträge falsch ausgefüllt oder schlimmer noch: zu spät abgegeben werden. Briefe von der Ausländerbehörde konnten das Schicksal unserer ganzen Familie besiegeln. Niemand von uns wollte zurück in die serbischen Ghettos, in denen Rom*nja noch schlimmer hausen mussten als hier. »Warum verstehst du das nicht, du gehst doch zur Schule«, hörte ich oft, und dann war ich wütend und verzweifelt. Warum musste ich die Aufgaben übernehmen, die eigentlich Angelegenheit meiner Eltern gewesen wären. Meine Eltern jedenfalls vertrauten darauf, dass ich all das für sie erledigen könnte, denn ich war ja »besonders«. Natürlich, denn ich trug ja schon mit drei Jahren Röcke.

Die Sonderschule war für mich ein Ort brutalster Gewalt – aber auch eine wundervolle Idylle. Die Schule in Nürnberg war sehr modern. Ich liebte die Atmosphäre dieses neuen Gebäudes. Es war barrierefrei, mit Rampen und einem Fahrstuhl, so dass auch Schüler*innen mit Rollstuhl sich dort selbstständig bewegen konnten. Wir hatten eine Bibliothek, die den Namen tatsächlich verdiente, und viel Platz für Sport und Rumgammeln. Die Architektur und das Konzept waren für damalige Verhältnisse extrem innovativ. Ich fühlte mich im besten Sinne besonders, hierhin zu gehen. Ich hatte viele Freund*innen und auch meine Mitschüler*innen aus anderen Klassen wussten, wer Gianni war. Ich ging alles in allem auf eine sehr gute Schule in einem sehr schlechten Bildungssystem.

Vor einiger Zeit hatte ich die Gelegenheit, eine meiner wirklich netten Lehrerinnen wiederzutreffen. Während wir mit ihrem Auto durch Nürnberg fuhren, redeten wir. In ihren Erzählungen erkannte ich mich wieder: Ein Junge, dem es schwerfiel, eine Schulstunde lang ruhig zu sitzen. Einer, der gerne Quatsch machte. Mein Motto war immer: All eyes on me! Ich wollte Aufmerksamkeit. Ich sang, sprang herum, tanzte und war ständig überdreht. Wir waren eine kleine Klasse, mit wenigen Kindern. Das war gut, denn so konnte meine Klassenlehrerin ganz entspannt mit mir umgehen. Dann hatte ich eben mal meine fünf Minuten – na und? Wenn ich fertig war, konnte das nächste Kind loslegen. Easy, wir waren da sehr tolerant miteinander. Oft schickte meine Lehrerin mich trotzdem in den Nebenraum, damit ich mich besser konzentrieren konnte und die anderen nicht vom Arbeiten abhielt.

Ich tauchte jeden Tag topgestylt in der Schule auf, redete gerne und war wissbegierig. Schreiben fiel mir immer schwer, das ist bis heute so. Wer jemals eine Mail von mir bekommen hat, weiß das. Lernen konnte ich trotzdem immer. Ich fragte viel und konnte mir sehr gut merken, was Menschen sagten. Bei einigen Themen war ich wie ein Schwamm. Politik interessierte mich sehr. In der Klasse war ich der Einzige, der die Namen von allen Bundespräsidenten und vielen anderen Politiker*innen kannte. Das war mein Ding. Um mich zu motivieren, ging mein Vater lieber trotzdem auf Nummer sicher: Wenn ich gute Noten nach Hause brachte, steckte er mir Geld zu. Ein echter Bildungserfolg für mich.

Als ich ungefähr neun war, wurde ich plötzlich krank. Mein linker Fuß und die Leiste taten mir weh und ich humpelte. Ein paar Wochen lang fiel niemandem etwas auf, doch irgendwann sprach mich meine Mutter darauf an, als sie mich beim Spielen beobachtete. Ich konnte ihr nicht sagen, woher ich die Schmerzen hatte. Ich war nicht gestürzt und hatte mich auch nicht anders verletzt. Deshalb schleppte meine Mamo mich besorgt ins Krankenhaus. Ein älterer Arzt musterte mich skeptisch und sah meine Mutter über den Rand seiner Brille hinweg an: »Kann es sein, dass ihr Sohn simuliert?«, fragte er sie. Meine Mutter verstand ohnehin höchstens die Hälfte von dem, was der Arzt erzählte. »S-i-m-u-l-i-e-r-en?« Auch ich kannte das Wort nicht und konnte es meiner Mutter nicht übersetzen. Als der Arzt mir genauer erklärte, was das bedeutete, war ich irritiert. Warum sollte ich mir eine Krankheit ausdenken? Ich zeigte ihm genau, wo ich Schmerzen hatte, und er malte an den entscheidenden Stellen mit schwarzem Filzstift Kreuze auf meine Haut. Ich hatte den Arzt offenbar überzeugt und wurde endlich geröntgt.

Erst einige Tage später wurden wir wieder ins Krankenhaus zur Besprechung der Röntgenaufnahmen gebeten. Der Arzt hing die Bilder auf, und ich konnte sehen, wie meine Eltern geschockt darauf blickten. In meiner linken Leiste war deutlich ein großer runder Fleck zu sehen, der dort definitiv nicht hingehörte. Das verstanden wir alle sofort. Meine Eltern vermuteten das Schlimmste. »Ist das Krebs?«, wollten sie wissen. War es zum Glück nicht, nur eine riesige Knochenzyste. Das fette Teil drückte so sehr auf die umliegenden Nerven in meinem Bein, dass ich nicht mehr richtig laufen konnte. Die Zyste lag in der Nähe der Hauptschlagader und war etwas größer als ein Golfball. Die Mediziner*innen machten meinen Eltern klar, dass mir nur eine Operation helfen könnte. Also wurde ich in eine Spezialklinik eingewiesen.

Der ganze Oberschenkel wurde aufgeschnitten, um die golfballgroße Zyste zu entfernen. Bei der Gelegenheit bemerkte der operierende Arzt auch noch, wie schief meine Hüfte stand. Alles in meinem Becken wurde gelockert, in die richtige Position gebracht und irgendwie verschraubt. Danach flickten sie mich wieder zusammen und gipsten mein linkes Bein komplett ein. Ich trug den Hüfthosengips würdelos. Zwischen die Beine montierte man nämlich noch eine Metallstange, damit ich mich wirklich nicht mehr rühren konnte. Drehen oder Hinsetzen war so unmöglich – es war der blanke Horror. Mit der Zeit wurden meine Beine mickrig dünn, meine Haut schälte sich unter dem Gips, was meine schwarze Beinbehaarung besonders zur Geltung brachte. Mein Bein juckte wie die Hölle und trieb mich in den Wahnsinn. So vegetierte ich fast ein halbes Jahr vor mich hin. Etliche Wochen davon verbrachte ich in der Klinik. Man wollte mich nicht nach Hause schicken, denn wir lebten damals in einer Obdachlosenunterkunft, wo ich nicht hätte versorgt werden können. Als ich doch entlassen wurde, lag ich rund um die Uhr auf der Couch in unserem Wohnzimmer und starrte abwechselnd an die Decke oder auf den Fernseher. Ich vermisste die Schule. Jeden Tag kam eine meiner Lieblingslehrerinnen, Frau Schönfeld, vorbei und brachte mir Aufgaben oder Lernsachen mit, damit ich den Anschluss nicht völlig verlor. Sie lernte mit mir oder beantwortete mir Fragen. Sie war ein Lichtblick in diesem langweiligen Alltag. Dank ihr fühlte ich mich nicht völlig vergessen, während ich versuchte, mich unter meinem heißen Gipshöschen zu kratzen und mir die schuppige Haut vom Leib zu reißen. Es war eine beschissene Episode meiner Schulzeit.

Der Lehrer der Parallelklasse hätte eigentlich keine einzige Zeile verdient, aber es waren auch Männer wie er, die den Mikrokosmos Schule damals maßgeblich prägten und Gewalt salonfähig machten. Der Typ mit den weißblonden Haaren und den ebenso hellen Wimpern war ein homophober Sexist, Rassist und in der ganzen Schule verhasst. Von mir sprach er meistens nur als »der Z***». Ich erfüllte all seine Feindbilder, deshalb reagierte er sich bei jeder Gelegenheit an mir ab. Bis heute kann ich nicht vergessen, wie er uns auf einer unserer Klassenfahrten begleitete. Unter den Augen all meinen Mitschüler*innen machte er mich fertig. Wir saßen im Speisesaal, vor uns die Graubrote mit Käse, Wurst und Sülze. Es schmeckte mir nicht, und ich bekam keinen Bissen mehr herunter. Also alberten wir herum und ich schnitzte Dreiecke und Sterne in meine Wurstbrote. Es war einfach ein Spaß, aber der Lehrer flippte aus. Er brüllte mich an, ich solle mich benehmen und essen, was man mir gab. Als ich mich weigerte, zischte er mich wütend an: »Du isst das jetzt alles auf, ansonsten schicke ich dich morgen früh direkt wieder nach Hause.« Als ich mich weigerte, setzte er sich neben mich und wiederholte seine Drohung. »Jeden einzelnen Bissen.« Mir wurde übel, aber ich würgte das Brot herunter. Er wartete und ließ mich nicht aus den Augen, bis nichts mehr auf meinem Teller war. Mein ganzer Körper war angespannt. Ich schwitzte und versuchte, den ekelhaften Geschmack in meinem Mund zu ignorieren. Gleichzeitig litt ich unter den beobachtenden Blicken meiner Mitschüler*innen vor mich hin. Der Stress war so groß, dass ich gleich nach dem Essen im Zimmer verschwand und mich ins Bett legte. Am nächsten Tag hatte ich den schlimmsten Migräneanfall aller Zeiten und kotzte in einer Tour. Ich bekam mit, wie sich meine Lehrerin später mit dem Dreckskerl stritt, weil er mich so behandelt hatte, doch ihre Kritik prallte an ihm ab. Ein solcher Lehrer hätte nie unterrichten dürfen, aber die Männerlobby in der Schule und sein Beamtenstatus machten ihn unantastbar.

Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals ein Pausenbrot von meinen Eltern bekam. Ich hatte überhaupt keine Butterbrotdose. Aber ich wusste mir zu helfen: Morgens schlich ich mich in ihr Zimmer und griff leise in die Hose meines Vaters. Ich fand darin ein paar Münzen, manchmal auch Scheine. Ich nahm mir, was ich brauchte, um mich bei einer Bäckerei oder bei dem Hausmeister*innen-Ehepaar am Schulkiosk zu versorgen. Die beiden waren echte Drachen und Weißbrotrassist*innen, die mir mit bösem Blick eine Semmel mit Bierschinken und eine Kakaomilch im Tetra Pak über die Kiosktheke schoben. Es war mein eigenes kleines Ritual, aber die mütterliche Fürsorge, verpackt in eine Brotdose, fehlte mir schon irgendwie. Trotzdem litt ich nicht oder fand es schlimm, kein echtes Schulfrühstück zu bekommen – andere Kinder kamen nüchtern in den Unterricht und bekamen ihre erste Mahlzeit oft erst am Mittag im Kinderhort der Sonderschule. Da ging es mir deutlich besser, und ab und zu teilte ich mein Brötchen mit den anderen. Es waren kleine, schöne Momente, in denen wir uns sehr miteinander verbunden fühlten.

Ich musste auf mütterliche Butterbrot-Magie aber nicht komplett verzichten: Wenn meine Mamo mich zu Hause verwöhnen wollte, schmierte sie mir durchaus eine Schnitte Vollkornbrot. Wir kauften immer das Billigste, das ganz unten im Supermarkt-Regal lag. Darauf strich meine Mutter einen Zentimeter dick Margarine. Um den Geschmack abzurunden, belegte sie das Brot mit je einer Scheibe Bierschinken und Käse. Für Butter reichte das Geld nicht, deshalb starrte ich lange Zeit voller Bewunderung auf die Stullen meiner Mitschüler*innen und fragte mich, wie wohl echte Butter schmeckte. Ich war vermutlich neun Jahre oder älter, als ich es herausfand – und ich war im Himmel. So entwickelte ich einen Butterkomplex, der bis heute anhält. Kein Einkauf vergeht, ohne dass ich ein oder zwei Päckchen der besten Butter nach Hause schleppe. Butter ist Wohlstand. Butter ist Liebe. Butter ist mein Lebenselixier.

Mitunter war ich ein ziemlich aggressives Schulkind. Mich bedrückte, wie Fremde mich behandelten, mich belastete aber auch die Gewalt zu Hause. Meine Eltern stritten sich oft, dann vernachlässigten sie mich oder überließen mich Verwandten. Deshalb war ich oft einsam, traurig und ängstlich. Hinzu kamen die ständige Sorge vor Nazi-Angriffen oder der Polizei und der unsichere Aufenthaltsstatus meiner Familie. So viele Sorgen und Schmerzen machten sich natürlich auch im Schulalltag bemerkbar. Mit einigen Kindern verstand ich mich sehr gut, andere hassten mich. Den meisten war wohl klar, dass ich »anders« war. Auch wenn ich es mir in Schulzeiten nie eingestanden hätte, mein Schwulsein rochen die anderen kilometerweit. Ich hatte Glück, weil ich groß und stark war. Wer mich also verprügeln wollte, traute sich nur in der Gruppe an mich heran. Ich konnte austeilen und mich verteidigen. Außerdem war ich frech und konnte mich aus vielen Situationen mit Worten befreien. Wer mich allerdings blöd von der Seite anquatschte oder beleidigte, musste damit rechnen, dass ich zurückschimpfte. Aber mein Riesenmaul konnte mich nicht immer retten. Wenn nichts mehr half, holte ich aus und knallte meinem Gegenüber einfach eine.

Ich war zehn oder elf Jahre alt, als sie mich erwischten. Ich erinnere mich noch genau an den Auslöser. Mein Nachbarsjunge, das Kind der Nazis aus dem Erdgeschoss, packte in der Schule über meine Familie aus. Er hatte mitbekommen, was kurze Zeit zuvor bei uns im Dachgeschoss losgewesen war. Um vier Uhr morgens hatten Polizisten die Tür zu unserer Wohnung eingetreten, weil meinem Vater Hehlerei vorgeworfen wurde. Das kannte ich schon. Meine Eltern und andere Rom*nja wurden immer wieder polizeilich erfasst und, wenn es zu bestimmten Verbrechen kam, regelmäßig überprüft, verhört oder verhaftet. Nun kauerte ich völlig verängstigt im Bett und starrte in die Läufe von Gewehren. Mein Vater versuchte panisch, über das Dach zu entwischen. Doch natürlich schnappten die Polizisten ihn, und alles, was ich aus meinem Dachfenster sehen konnte, war, wie sie meinen Dade in Handschellen, ohne Schuhe und nur in Unterhose abführten und ins Polizeiauto verfrachteten. Natürlich war das für unsere Nachbar*innen ein spektakuläres Unterhaltungsprogramm. Ihr Sohn erzählte also mehr als gerne in der Schule, was bei uns passiert war. Für ihn und seinen besten Freund war ich nun nicht mehr nur der »schwule Z***», ich war auch noch der Sohn eines Kriminellen. Sie jagten mich über den Hof des abgeriegelten Schulgeländes. Die beiden waren einige Jahre älter als ich und trieben mich bis in die Raucherecke. Das war die Chance von allen, die mich verachteten und die sich nie an mich herangewagt hatten. Ich konnte nicht fliehen: Mein Nachbar und sein Kumpel schlugen und traten auf mich ein. Um uns herum bildete sich eine größere Gruppe, die die Geschehnisse vor den Blicken der Aufsichtslehrer*innen abschirmten.

Ich wehrte mich wie ein Wahnsinniger, schlug und trat um mich. Aber die Hiebe der Teenager trafen mich überall, und dann holten sie ihre Schwänze heraus und pissten mich an. Ich schrie wie ein Schwein am Spieß. Es war die Stimme von Frau Bernecker, die mich rettete. Sie brüllte: »Was ist das für eine Sauerei?!« Sie riss die Jungs zurück. »Verschwindet! Alle! Sofort!« Sie holte mich da raus, brachte mich behutsam aufs Schulklo und wusch mich.

Zwei Wochen später kamen die beiden Angreifer zu mir und entschuldigten sich. Und ich, ich nahm die Entschuldigung an. Ich konnte verzeihen, damals schon. Loslassen, kein Drama, kein Trauma daraus machen, das war meine bewusste Entscheidung. Das war meine kindliche Superpower, die ich mir bis heute bewahrt habe.

Einzelne Lehrer*innen bekamen wohl mit, was mir passierte. Ich glaube nicht, dass sie es guthießen. Manche sprachen vielleicht auch miteinander im Lehrer*innenzimmer. Womöglich wusste auch die Schulleitung, was mir angetan wurde. Es änderte nichts. Halt gab mir in all den Jahren Frau Bernecker. Sie war wie eine Mutter für mich, wie eine Freundin. Sie liebte mich, und ich fühlte mich immer von ihr beschützt. Wo sie war, war die Welt in Ordnung. Ich mochte alles an ihr: ihre gepflegte Kleidung, ihre goldenen Zahnkronen und den lippenstiftroten VW Jetta. Das Auto hatte kein Radio, und jedes Mal, wenn ich ihr fachmännisch erklärte, dass das ja wohl eine Standardausstattung sei, erwiderte sie lächelnd: »Ach Gianni, das brauche ich nicht. Ich singe doch so gerne.« Kein Scheiß, niemand sang wie sie Marianne Rosenbergs »Er gehört zu mir« und »Im Frühtau zu Berge«. Frau Bernecker brachte regelmäßig ungespritzte Äpfel aus ihrem Garten mit und legte sie in einen Korb in der Klasse. Sie wollte, dass wir genug Vitamine zu uns nahmen. Uns waren die Äpfel oft zu natürlich, mit Dellen und Löchern. Dann lachte sie und sagte, falls wir einen Wurm finden würden, sei das nur ein Qualitätsbeweis für ihre Früchte. Echt bio halt.

Ich weiß noch genau, wie Frau Berneckers Schrift aussah. Ich beobachtete jahrelang, wo sie ihre Schwünge bei den Buchstaben machte, und imitierte sie. Heute bekomme ich oft Komplimente für meine Schrift – ich nenne sie »Bernecker Style«. Ich lernte noch mehr von ihr. Sie fragte mich mal, warum ich mich so ducken würde. Ich wusste nicht, was sie meinte. Sie sprach von meiner Körperhaltung. Es war mir nie aufgefallen, aber ich versuchte oft, so unauffällig wie möglich zu sein. Unsichtbar. Sie sagte, ich solle gerade und aufrecht gehen. Nur so könnten alle mein Leuchten sehen. Brust raus, Bauch rein, gerader Rücken und Kopf hoch – so sollte ich laufen. Stolzieren, das ist noch heute mein Gang. Topmodel, Girl! Die Schule wurde zu meinem Laufsteg. Von meiner geliebten Lehrerin bekam ich noch einen Tipp. »Sieh den Menschen in die Augen, und wenn du ihnen begegnest, grüß sie – am besten mit Namen«, erklärte sie mir. So gelingt es mir noch heute, schnell eine offene und herzliche Verbindung zu Menschen aufzubauen. »Du gehörst hier nicht hin«, sagte Frau Bernecker einmal zu mir. Ich könnte mehr als die Sonderschule schaffen, meinte sie. Sie glaubte an mich und inspirierte mich. Ihretwegen traute ich mich und wechselte wenig später auf die Hauptschule. Dort schrieb ich jede Menge Einsen – in schönster Handschrift natürlich – und bekam meinen qualifizierten Abschluss ohne Probleme. Doch dann mussten wir Nürnberg verlassen. Die Probleme mit unserem Aufenthaltsstatus blieben bestehen. Aus Angst, man würde unsere Duldung nicht verlängern und uns kurzerhand abschieben, zogen wir nach Frankfurt. Meine Eltern, meine Frau und ich.

Meine Lehrerin war eine von den »Gatekeeper*innen«, denen man im Laufe eines Lebens begegnet. Sie war eine von denen, deren »Ja« oder »Nein« über deine gesamte Zukunft entscheiden kann. Lehrkräfte sind sich dessen oft nicht bewusst, aber ihre Ablehnung spielt eine ebenso große Rolle wie ihre Unterstützung. Es sind ihre pädagogischen und didaktischen Fähigkeiten, ihre Empathie, ihre Lebensweisheiten und Noten, die entscheiden, ob wir weiterkommen oder nicht. Christiane Bernecker gab mir ein »Ja«. Ein Ja, das mich jeden Tag begleitet. Sie sah mehr in mir als den Roma-Jungen mit Schreibschwäche. Sie sah mein Potenzial und war bereit, mich zu schleifen und zum Strahlen zu bringen. Mich: Gianni Diamanto Jovanovic. Shine bright like a diamond.

Ich hatte Frau Bernecker lange aus den Augen verloren, als ich aus Nürnberg wegzog. Leider verstarb sie viel zu früh. Aber ich konnte mich noch bedanken. Vor ein paar Jahren saß ich mit meinem Mann in einem Café und redete die ganz Zeit nur über sie. Ich heulte und lachte und schließlich recherchierte ich ihre Nummer, um sie anzurufen. »Ach Gott, der Gianni«, sagte sie, als ich mich meldete. Sie freute sich sehr und es war, als wäre kein Tag vergangen. Ich atmete tief durch und dann sagte ich ihr, dass ich schwul sei. »Bist du glücklich?«, wollte sie wissen, und ich sagte: »Ja, sehr.« Das war, was sie hören wollte. »Dann hast du alles richtig gemacht«, sagte sie liebevoll, und ich war so froh und stolz auf mich. Da war sie wieder, diese Frau, die mich auffing. Die mit einer einzigen kleinen Frage einen schützenden Kokon um mich spann, die mir zeigte, dass ich, so wie ich war, richtig war. Sie war die beste Lehrerin der ganzen Welt, eine Künstlerin der Lehre. Sie hatte das Prinzip von Empowerment schon zu einer Zeit verstanden, als es dieses Narrativ noch gar nicht gab. Sie gab einem Sonderschüler alles, was sie konnte, und schuf damit das Fundament für das, was ich heute bin. Einen Orden hat sie verdient und sie bleibt für immer Teil meiner Identität. Wo es Lehrer*innen und andere Menschen wie sie gibt, da gibt es auch Hoffnung auf echte Veränderung. Auch in einer Stadt wie Nürnberg, wo Busfahrer mir heute noch die Tür vor der Nase verschließen und dann wegfahren.

Die Schulzeit war oft ein Kampf für mich. Von allen Seiten hatte ich Druck. Ich hatte keine Unterstützung zu Hause, bei uns standen keine Bücher herum. Meine Eltern wussten nicht, worauf es ankommt, um es in der Schule zu schaffen, sie waren mit ganz anderen existenziellen Dingen beschäftigt. Überleben zum Beispiel. Wenn ich zurückblicke, merke ich, welchen Einfluss diese Jahre auf meinen späteren Werdegang hatten. Die positiven Erlebnisse zählen für meine Biographie genauso wie die negativen Diskriminierungserfahrungen.

Ich habe in meinem Leben schon eine Menge gemacht, um weiterzukommen und Geld zu verdienen. Als Kind musste ich betteln gehen. Meist, wenn meine Eltern verreist waren und mich bei Verwandten ließen. Das Betteln war schrecklich für mich, es nahm mir jede Würde. Aber es war ein Mittel, um für mich und meine Familie an Geld zu kommen. Ich zeigte den Menschen meinen Bettlerbrief, den ich selbst geschrieben hatte. Auf dem Zettel stand eine rührende, ausgedachte Geschichte und in der letzten Zeile: Gott schütze Sie. So wollte ich das Mitleid der Menschen erwecken. Ganz allein zog ich durch die Nürnberger Innenstadt. Ich hielt die Hände auf, machte große Augen und fragte die Menschen nach etwas Kleingeld. Einige gaben mir ein paar Münzen, aber viel öfter beschimpften und bespuckten die Leute mich, drohten mir sogar Prügel an. Manchmal geriet ich auch an Männer, die versuchten mich mitzunehmen. Pädophile, die dachten, sie hätten mit mir leichtes Spiel. Hatten sie nicht. So trieb ich durch die Straßen, und einmal verlief ich mich und geriet in Panik. Ich weinte. Wenn ich Erwachsene um Hilfe bat, behandelten sie mich, als hätte ich eine Seuche. Jedes Mal, wenn ich um eine Häuserecke bog, hoffte ich, etwas Bekanntes zu entdecken, aber da war nichts. Irgendwann erbarmte sich eine Frau und sagte, ich solle mir keine Sorgen machen, sie würde die Polizei um Hilfe bitten. Andere Kinder hätten vielleicht sogar selbst Polizist*innen angesprochen – aber mir hätte man nichts Schlimmeres antun können. Ich wusste ja, Menschen in Uniform waren gefährlich für uns Rom*nja.

Zur Zeit der Nazis war es die Polizei, die Roma-Familien abführte und damit ihre Vernichtung besiegelte. In München saß die nationalsozialistische »Z***polizeistelle«. Nach dem Krieg wurde diese nicht etwa abgeschafft, man nannte sie Anfang der 1950er Jahre einfach um: in »Landfahrerzentrale«. Bis in die 1970er Jahre wurden Sinti*zze und Rom*nja weiterhin polizeilich erfasst – auch meine Eltern erlebten das noch. Racial Profiling kennt meine Community genau. Für Polizeistatistiken wird zwar erfasst, ob jemand die deutsche Staatsbürgerschaft hat oder nicht, welcher Ethnie jemand angehört, soll dort aber eigentlich nicht festgehalten werden. In Akten der Berliner Polizei sieht das anders aus. Dort wurden Angehörige meiner Community in den Datensätzen zusätzlich gekennzeichnet, indem die Beamt*innen dort Notizen wie »Roma«, »Sinti« oder »Z***« hinterließen.25 Das beanstandete die Landesdatenschutzbeauftrage und kritisierte, dass die Polizei auch mit rassistischen Stereotypen arbeite, um Sinti*zze und Rom*nja in Statistiken zu beschreiben. Dann werden beispielsweise Zusatzinformationen wie »wechselt häufig Aufenthaltsort« oder »mobile ethnische Minderheiten« eingetragen.26

Hinten in einem Streifenwagen zu sitzen, war die Demütigung schlechthin. Wie ein Schwerverbrecher fühlte ich mich, denn ich wusste, dass die Leute genau dieses Bild von uns Rom*nja im Kopf hatten. Als wir am Haus meiner Familie ankamen, schämte ich mich so sehr. Ich war fertig mit den Nerven, auch weil ich wusste, dass meine Verwandten mich wieder losschicken würden.

Ich wollte richtiges Geld verdienen und ganz normal arbeiten. Mit 13 suchte ich mir deshalb einen Job auf dem Jahrmarkt, der in Nürnberg gastierte. In einer Baguetterie bereitete ich die Brote für den Verkauf vor. Dabei hatte ich ein klares Ziel vor Augen. Ich wollte mir Sneakers kaufen: L. A. Gear Pump waren Anfang der 1990er so cool. Meine Eltern vermasselten mir die Tour. Stolz tauchten sie auf dem Jahrmarkt auf und erzählten meinem Chef, wie verantwortungsvoll ich mit meinen 13 Jahren schon sei. Der Mann war geschockt, dass ich so jung war, und feuerte mich sofort.

Mit 15 hatte ich kurz die Idee, als Einbrecher Karriere zu machen. Meine Familie fand, das sei bescheuert – auch weil sie glaubten, ich sei diesbezüglich mehr als talentfrei. Also entschied ich mich für etwas Anständiges. Ich bewarb mich in Zahnarztpraxen und begann mit 16 eine Ausbildung als Zahnarzthelfer. Das war ungewöhnlich, denn unter all den Zahnmedizinischen Fachangestellten war ich der einzige Typ. Zwei Jahre später beendete ich die Ausbildung, und ich hätte wirklich gerne ein Studium drangehängt, um Zahnarzt zu werden. Ich bekam sogar einen Studienplatz, aber musste mich dann entscheiden: Geld verdienen und die Familie ernähren oder Studieren? Ich hatte keine Wahl. Ich hatte schließlich eine Frau und zwei Kinder zu versorgen. Also schaffte ich mal als Zahnarzthelfer, Callcenter-Agent, Verkäufer bei Pimkie oder Autohändler an. Mit Mitte 20 machte ich mich mit meinem eigenen Unternehmen, einem Bleaching-Studio, selbstständig. Außerdem bildete ich mich weiter zum Zahnmedizinischen Prophylaxeassistenten. Alles für euer Lächeln und gesundes Zahnfleisch. Der Wunsch zu studieren, ließ mich aber nicht los. Bildung ist Erfolg, ich hatte die Lektion meines Vaters gelernt. Also schrieb ich mich für Dentalhygiene ein. Da war ich 40 und viele meiner Kommiliton*innen waren so alt wie meine Kinder. Mir war es egal. Ich musste diesen Bachelor haben, es mir und allen anderen mal wieder beweisen.

Plötzlich fand ich mich in Unibibliotheken wieder, musste für Hausarbeiten und meine Abschlussarbeit recherchieren und hatte Riesenpanik vorm Schreiben. Da war ich nun, der erste Mann aus meiner Familie an einer Hochschule. Ohne meine Freund*innen hätte ich nicht gewusst, wo ich anfangen sollte. Wissenschaftlich arbeiten? Ich? Aber ich schaffte es und durfte mir am Ende das Bachelor-Hütchen aufsetzen – was für ein geiles Gefühl. Frau Schönfeld sagte mir neulich, noch nie habe ein Kind meiner Sonderschule später studiert. Tausende Schüler*innen, und nur ich schaffte es an eine Hochschule?

Bildung, meine berufliche Qualifikation und mein Bachelorabschluss spielen aus verschiedenen Gründen eine große Rolle für mich. Ich bin sehr stolz auf meine Leistung, weil ich weiß, dass diese Gesellschaft mir und meiner Familie eigentlich nichts zugetraut hat. Aber ich habe die Baracken hinter mir gelassen, habe studiert und mir auch zu anderen Themen – zum Beispiel zur Geschichte der Rom*nja – Wissen angeeignet. Das verschafft mir Privilegien. Meine Karriere ist mir ein Beweis dafür, dass mich nichts stoppen kann. Ich blicke auf rassistische Strukturen im Bildungssystem – und scheiße darauf. Ich arbeite hart an meinen Zielen, damit andere irgendwann vielleicht nicht mehr mit den gleichen Barrieren zu kämpfen haben. Vor allem aber schützt mich Bildung – in der weißen Dominanzgesellschaft, aber auch in der Roma-Community. Bildung und der damit einhergehende Erfolg sichern mir Akzeptanz und Respekt. Ich bin ein souveräner, intelligenter, starker Mann und dafür werde ich anerkannt. Für Weiße bin ich ein Rom, aber sie können damit umgehen, weil ich mich in den von ihnen besetzten Räumen behauptet habe. Ich beherrsche »Codeswitching« und passe meine Sprache, meine Attitüde, manchmal sogar mein Denken einer pseudo-hochakademisierten Welt an. Für Rom*nja bin ich vor allem schwul, was nach wie vor für viele ein Problem ist – aber sie können darüber hinwegsehen, weil ich es in ihren Augen »geschafft« habe. Sie sehen mich im Fernsehen, folgen mir bei Instagram und sind stolz auf »einen von ihnen«. Was interessieren mich dann die wenigen traurigen Gestalten, die mich bedrohen oder wegen meiner Homosexualität anfeinden?

Einen guten Schulabschluss, eine Karriere – all das traut die Gesellschaft Roma-Kindern noch immer nicht zu. Auch für mich hatte Deutschland andere Pläne. Aber mich hat das nie beeindruckt. In meinem Kopf waren zu viele Bilder davon, wie ich sein und was ich erreichen wollte. Mal sah ich mich auf Bühnen vor Publikum, in einer Praxis oder in einem fetten Mercedes. Ich wusste, ich war zu mehr bestimmt. Die Bilder waren wie Visionen, und ich war bereit, hart dafür zu arbeiten, um sie Wirklichkeit werden zu lassen. Nur weil mein Leben auf einem Campingplatz, in Baracken und Obdachlosenheimen begonnen hatte, hieß das nicht, dass ich nicht irgendwann in meinem Traumhaus leben würde. Ich habe tatsächlich das erlebt, was als Bildungsaufstieg bezeichnet wird. Ich habe es geschafft. Aber was ist mit den vielen anderen?

Unser Bildungssystem selektiert ununterbrochen. Wer nicht von Anfang an Leistung zeigt, fällt durchs Raster. Wer sich nicht anpasst, auch. Das gilt auch für Kinder mit Eltern, die nicht bestimmten Rollenbildern und Vorstellungen von »guten Eltern« entsprechen. Lehrer*innen entscheiden über die Zukunft und das Leben der ihnen anvertrauten Kindern. Dabei setzen sie sich noch viel zu selten mit ihrer eigenen Rolle auseinander. Das muss sich verändern.

Die Erfahrungen, die Sinti*zze und Rom*nja mit und in der Schule machen, sind noch immer eine Katastrophe. Im Kontakt mit Schulleitungen, Lehrer*innen und anderen Mitarbeitenden erleben Kinder und Eltern verschiedene Formen von Diskriminierungen. Manchmal sind es rassistische Äußerungen von Mitschüler*innen und Lehrkräften, andere Male triefen Arbeitsmaterialien vor weißer Normativität und Klischees über Sinti*zze und Rom*nja. Unsere Geschichte wird nicht als Teil der deutschen Historie gelehrt, und ich verstehe nicht, warum. Stattdessen wurde es geduldet oder ignoriert, dass ich in der Schule als »dreckiger Z***« beschimpft wurde, und das Gleiche erleben meine Enkel noch heute. Über den Porajmos, die systematische Auslöschung meiner Angehörigen, erfuhr ich in meiner ganzen Schulzeit nichts.

Ich bin nicht der Einzige, der die Sonderschulzuweisung bekam, ohne dass meine Eltern wussten, wie wichtig der Schuleignungstest bei dem Mann mit dem Schnurrbart für meine restliche Zukunft sein würde. Noch immer sitzen Kinder und Eltern vor Kinderärzt*innen, ohne dass sie von Übersetzer*innen begleitet werden, ohne dass sie verstehen, was von ihnen erwartet wird. Auch das muss sich ändern. Die Qualität von Schulen muss daran gemessen werden, wie gut sich Kinder in ihr entwickeln – auch jene, die zunächst einmal keine guten Voraussetzungen mitbringen.

Heute werde ich als Speaker oder Workshopleiter in Schulen eingeladen – darunter auch Förderschulen. Und da kommt es vor, dass von 200 Kindern mehr als 60 Rom*nja sind. Ein Zahlenverhältnis, das Bände spricht und zeigt, dass unsere Community in der Bildungslandschaft noch immer einseitig kategorisiert wird. Dazu passt auch, dass es bis vor Kurzem Vereine gab, die Schulen ausschließlich für Rom*nja betrieben haben. In Zeiten, in denen längst über inklusive Schulkonzepte debattiert wurde – auch im Zusammenhang mit der Förderung von marginalisierten Gruppen – beharrten die Vereine auf der Exklusivität ihrer Einrichtungen. Das Prinzip: Die Kinder von Rom*nja wurden zum Beispiel täglich von einem Busshuttle eingesammelt und von zu Hause in die Vereinsschulen gekarrt. Weder auf dem Schulweg noch im Unterricht selbst trafen sie weiße Kinder. Deutsch sprachen sie nur mit den Lehrer*innen und Betreuer*innen, denn die Schüler*innen verständigten sich natürlich bei jeder Gelegenheit in ihrer Muttersprache Romanes miteinander. Die Kollegien solcher Schulen unterschieden sich nicht von Regelschulen. Lehrer*innen und Betreuer*innen waren fast ausschließlich weiß. Für viele BIPoC (Black, Indigenous and People of Colour) ist dies häufig eine unangenehme Erfahrung. Ihre Perspektiven und Lebenswirklichkeiten werden von Lehrkräften allzu oft nicht gesehen oder verstanden. Das erhöht das Risiko, Diskriminierung zu erfahren. Deshalb tut es Eltern und ihren Kindern gut, wenn in Schulen Menschen arbeiten, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie sie selbst. Eltern fühlen sich verstanden und haben in Gesprächen mit Lehrer*innen mehr Anknüpfungspunkte. Kinder wiederum brauchen Erwachsene, mit denen sie sich identifizieren können, und sie suchen Vorbilder, zu denen sie aufschauen können. Sie fühlen sich schneller verbunden mit Lehrer*innen, die dieselbe Muttersprache haben, Bräuche und Traditionen aus erster Hand kennen, eine ähnliche Hautfarbe haben oder vergleichbar aufgewachsen sind wie sie selbst. Der Werdegang solcher Lehrer*innen ist oft eine Inspiration für die Kinder. Lehrer*innen, die selbst BIPoC sind, können Kulturmittler*innen sein, sie schaffen Verbindungen zwischen den Eltern und der Schule und sind dadurch eine große Bereicherung für den Schulbetrieb. Kaum vorzustellen, was es mir bedeutet hätte, wenn ein Rom in einer meiner Schulen oder an der Hochschule unterrichtet hätte. Das Wichtigste aber bleiben ein sicherer Aufenthaltsstatus und anständige Jobs. Bekommen Sinti*zze und Rom*nja oder andere BIPoC diese nicht, hat ihr Nachwuchs weiterhin schlechtere Zukunftsaussichten als weiße Kinder.

Heute versuche ich, Schüler*innen zu helfen, eine Vision für ihre Zukunft zu entwickeln. Es ist nicht lange her, da reiste ich zurück nach Nürnberg. Meine alte Schule veranstaltete ihre erste »Anti-Rassismuswoche«. Mich hatte man eingeladen, um vor den Schüler*innen und dem Kollegium zu sprechen. Einen ganzen Tag sollte ich dort verbringen und verschiedene Workshops für die Kinder und die Lehrer*innen anbieten. Mit meinem Mann Paul im Schlepptau checkte ich in einem kleinen Hotelzimmer mitten in der City ein. Ich war wahnsinnig aufgeregt und schwitzte trotz der winterlichen Temperaturen die ganze Zeit. Meine ehemalige Lehrerin Frau Schönfeld hatte bei der Schulleitung und ihren Kolleg*innen dafür geworben, mich einzuladen. Vorab hatten wir mehrfach telefoniert. Sie hatte mich vorgewarnt, etliche der Kids hätten Konzentrationsschwierigkeiten. Eine Stunde einem fremden Erwachsenen zuzuhören, sei für sie eine echte Herausforderung. Außerdem sollte ich darauf gefasst sein, dass viele von ihnen ständig homophobe und gewaltvolle Ausdrücke verwendeten.

Na toll, ich ging also zurück in meine alte Schule, tauchte ein in meine Vergangenheit und nichts hatte sich geändert? Um mich herum würden Teenager*innen sein, die mich anstarrten. Zack, beim bloßen Gedanken daran konnte ich die Stimmen von damals wieder hören. Die Jungs, die mich auslachten und beschimpften. Solche Erinnerungen triggern mich bis heute. Ich bin nicht mehr der Junge von damals, aber ich habe ihn nicht vergessen. Kein bisschen. Der »kleine« Gianni und ich, wir sind Buddys. Und ganz sicher wollte ich nicht, dass irgendwelche Nürnberger Kids ihn nun wieder heruntermachten. Am nächsten Morgen nahmen Paul und ich uns ein Taxi. Ich wusste nicht, wann ich das letzte Mal so nervös vor einem Auftritt gewesen war. Während der Fahrer uns durch Nürnberg kurvte, zeigte ich aus dem Fenster und erklärte meinem Mann, wo wer von meiner Familie wohnte. Und dann hielten wir vor meiner alten Schule.

Auf die Fensterscheiben hatten die Schüler*innen leuchtend bunte Regenbögen gemalt. Wieder hatte ich einen Flashback und erinnerte mich, wie ich als Kind heimlich die Fingerfarbe von den Fenstern abgekratzt hatte. Wie sich die bunten Krümel unter meinen Nägeln sammelten und wie ich sie mit dem Zeigefinger wieder darunter hervorkratzte. Paul stupste mich an, und ich war zurück im Hier und Jetzt. Ich zeigte auf die Fassade – da oben war meine alte Klasse. Und dann sah ich sie, die Vorschulkinder, die mir zuwinkten. Wir stiegen aus dem Auto und warteten kurz vor dem Eingang, bis uns ein junger Lehrer hereinbat. Ich machte einen Schritt über die Schwelle und fühlte mich wie zu Hause. Damit hatte ich nicht gerechnet, die vertraute Umgebung fühlte sich richtig gut an. Der Empfang war herzlich. Im Eingangsbereich hatte man ein Plakat mit einem Herzen darauf für mich befestigt. »Herzlich willkommen, lieber Gianni Jovanovic. Wir freuen uns sehr, dass Sie unsere Schule besuchen«, stand darauf. Ich fühlte mich als hätte man mir einen roten Teppich ausgerollt. Ich spürte so viel Respekt und Freundlichkeit.

Der Schulkiosk war noch da – die Weißbrot-Rassist*innen waren natürlich weg – und Schüler*innen deckten sich mit Snacks ein. Alle wussten, wer ich bin. Alle hatten auf mich gewartet. Wenn ich ihnen ins Gesicht schaute, erkannte ich mich selbst. Das waren lustige, aufgeweckte Kids, und insgeheim fragte ich mich: Warum seid ihr hier in dieser Schule? Da war ich nun und stand im Foyer und schlürfte einen Kaffee, bevor es losging. In der Sporthalle waren Stuhlreihen aufgebaut, damit ich Workshops für die Schüler*innen und später für die Lehrer*innen geben konnte. Es war mucksmäuschenstill in der Halle, während ich erzählte. Siebt- und Neuntklässler hingen an meinen Lippen, und ich liebte den Austausch mit diesen Jugendlichen. Sie waren mitfühlend, neugierig und offen. Die Fragen, die sie mir stellten, waren tiefgründig, und je länger wir miteinander sprachen, desto entspannter wurde die Atmosphäre. Es war ein echter Glücksmoment, zu merken, wie sie mir ihr Vertrauen schenkten. Wir verstanden uns, weil viele meine Geschichte nachvollziehen konnten.

Frau Schönfeld war ehrlich gewesen: An der Schule hatte man Sorge wegen meines Besuchs. Würde die Situation eskalieren? Käme ich nur, um die Schule und meine ehemaligen Lehrer*innen an den Pranger zu stellen? Würde ich vor den Kindern anklagende Reden schwingen? Würde ich nicht. Ja, es stimmte, in dieser Schule hatte ich heftige Gewalt erlebt – aber ich hatte auch viele Erfolgserlebnisse. Ich bekam die Anerkennung und Bestätigung, die ich brauchte. Die Sonderschule gab mir gutes Rüstzeug mit auf den Weg. Es war wie so oft im Leben: Manches war scheiße, aber nicht alles.

Ich stand vor der Sporthalle und für einen kurzen Augenblick ließ ich den Stolz zu und feierte mich. Feierte meinen Widerstand, den ich schon als Kind geleistet hatte. Meine Willenskraft, die verhindert hatte, dass mich das System bricht.

Ich hatte gewusst, dass vieles in meinem Vortrag für die Lehrer*innen eine echte Herausforderung sein würde. Die Anti-Rassismuswoche war ihr erster Schritt, sich mit dem Thema ausführlich zu befassen. Die Lehrer*innen meiner Schule waren noch nicht sensibilisiert, manche Gespräche waren anstrengend, aber was für mich wirklich zählte: An meiner alten Schule machte man sich gerade auf den Weg. Die Lehrer*innen hatten Interviews mit mir gelesen und sich über meine aktivistische Arbeit informiert. Und sie machten keinen Hehl aus ihrer Überraschung, Bewunderung und Enttäuschung: Wie hatte ein ehemaliger Schüler aus ihrer Schule all das erreicht? Warum war ich so eine Ausnahme, warum schafften es nicht mehr? Zugegeben, das Interesse schmeichelte mir, ich war stolz auf mich. Die Schule schickte sich an, eine klare antirassistische Haltung zu entwickeln.

Das klingt so einfach, wer möchte schon Rassist*in sein. Haltung entwickeln bedeutet aber auch, sich auf einen kontinuierlichen (Ver-)Lernprozess einzulassen. Dass hier nun Lehrer*innen bereit waren, sich von einem ehemaligen Schüler auf die eigenen, internalisierten Rassismen hinweisen zu lassen, bedeutet mir viel. Diese Menschen zeigten mir einmal mehr, dass die festgefahrenen, rassistischen Strukturen porös und fragil werden können. Es ist Zeit für Veränderung. Ich sehe immer häufiger in Gesichter und lese darin Verständnis. Das ermutigt mich, weiterzumachen, zu erzählen, zu erklären und zu diskutieren. Natürlich möchte ich manchmal auch alles hinschmeißen oder auf den Tisch hauen und laut schreien.

Am Ende des Workshoptages in meiner alten Schule sah ich mich um. Ich blickte den Kindern und Lehrer*innen in die Augen. »Ich bin einer von euch! Diese Schule ist ein Teil von mir, so wie sie ein Teil von euch ist«, sagte ich. Das war das Stichwort: Tränenalarm, genau wie ich es mag. Am Ende heulten alle. Ich feiere Emotionalität und emotionale Intelligenz. Hier in dieser Schule gab es sehr viel davon.

Frau Schönfeld ließ mich nicht gehen, ohne mir etwas mit auf den Weg zu geben. »Gianni, ich möchte mich im Namen der ganzen Schule dafür entschuldigen, was du hier erlebt hast«, sagte sie. Worte können versöhnen, sie können eine überfällige Heilung in Gang setzen. Als ich mit Paul zurück zu unserem Hotel fuhr, sah ich das erste Mal, wie schön Nürnberg ist. Hand in Hand schlenderte ich mit meinem Mann durch die City. Plötzlich gab mir die Stadt Liebe, die ich noch nie gespürt hatte. In mir machte sich ein Gefühlsgemisch aus Glück, innerer Ruhe und Frieden breit.

Ich denke viel über Schulen und Lehrkräfte nach, und wenn ich mich dazu in der Öffentlichkeit äußere, klingt es vielleicht oft so, als würde ich unentwegt Kritik üben. Aber das liegt nur daran, weil ich die Schule für einen der wichtigsten Bereiche unserer Gesellschaft halte. Ich danke Lehrenden ganz allgemein für ihre Arbeit, dafür, dass sie jeden Tag aufs Neue einen Job machen, den andere auf keinen Fall machen wollen. Aber ich möchte sie auch daran erinnern, dass sie ihre Arbeit mehr als Berufung und Kunst verstehen sollten. Denn sie haben Gestaltungsmöglichkeiten im besten und wichtigsten Sinne. Es geht um die Menschen der nächsten Generationen. Um diesen besser gerecht werden zu können und die Bedürfnisse, Geschichten und Biographien von marginalisierten Schüler*innengruppen zu verstehen, ist es nötig, sich weiterzubilden. Mit den neuen Kompetenzen gestalten Lehrer*innen nicht nur ihren Unterricht anders, sondern auch Materialien, Beratungsangebote oder ganze Klassenzimmer. Davon profitieren am Ende alle.

Mein Tipp an Lehrende: Fahrt eure Antennen aus, seht nicht nur Symptome, sondern versucht, euch in die Perspektiven und Lebensrealitäten eurer Schüler*innen hineinzuversetzen. Weitet euren Blick. Bedenkt, mit wie vielen schwierigen Situationen Familien konfrontiert sein können. Es gibt Familien mit enormen Geldsorgen, Gesundheitsproblemen oder einem schwierigen Wohnumfeld. Kinder von Alleinerziehenden können ähnliche Probleme haben wie Kinder von Vollzeitberufstätigen. Migrantische Familien struggeln vielleicht mit Behörden oder mit spezifischen Identitätsfragen. Viele Sinti*zze und Rom*nja trauen sich aus Angst vor Benachteiligung bis heute nicht, in Schulen offen über ihre Herkunft zu sprechen. Redet mit den Familien, seid zugänglich. Und wenn es Sprachbarrieren gibt, sucht euch Sprachmittler*innen, die euch insbesondere in der Arbeit mit Eltern unterstützen können.

Ich wünsche mir, dass Lehrer*innen künftig stärker für Intersektionalität sensibilisiert werden. Außerdem müssen Schulen endlich zugeben, dass sie keine heilen, rassismusfreien Inseln sind. Noch immer glauben viele, dass das Thema erledigt ist, wenn sie ihre Schulen mit Flaggen dekorieren. Antirassistische Arbeit ist – auch in der Schule – eine tägliche Pflichtaufgabe. Es reicht nicht, Rassismus schlimm zu finden. Kinder, Eltern und Lehrer*innen brauchen Räume, in denen sie offen über Rassismus sprechen können. Räume für emotionale Kommunikation. Wer nicht will, dass Rassismus und Diskriminierung in Schule normal sind, muss bereit sein, die Missstände sichtbar zu machen und anzuerkennen. Das würde wirklich bedeuten, sich ernsthaft mit der Geschichte des deutschen Bildungssystems auseinanderzusetzen, die eigene Rolle zu reflektieren und aus der Vergangenheit zu lernen.