Königskinder

Wie das Elternsein aus Menschen Aktivist*innen macht

Wäre ich allein in diesem Leben, hätte ich trotz all dem Rassismus in Deutschland vielleicht nie das Bedürfnis gehabt, mich zu engagieren. Ich hätte mich weder für die Rechte von Sinti*zze und Rom*nja noch für queere Menschen eingesetzt. Aber ich bin nicht alleine, ich bin Vater und Großvater. Die Zahl 16 ist in meiner Familie eine magische Zahl. Mit 16 wurde ich das erste Mal Vater, genauso wie mein Vater und mein Großvater zuvor. Was die vorherigen Generationen mir in die Wiege legten, war ein starkes Selbstbewusstsein. Meine Eltern hießen mich in dieser Welt als Prinz willkommen. Ob wir in einem Wohnwagen mit Fernseher ohne Fernbedienung wohnten oder in einem Obdachlosenheim, war egal. Ich war jemand. Und auch wenn man mich wie Dreck behandelte, mir gehörte die Welt. Ich fühlte mich wie ein Royal und zeugte Königskinder. Das ist positiv, aber auch negativ gemeint. Als König wirst du nicht geboren, du wirst dazu gemacht. Vor der Macht und Selbstermächtigung steht also die Fremdbestimmung. Genauso geht es unseren Kindern, sie müssen ständig tun, was andere ihnen sagen. »Räum dein Zimmer auf«, »benimm dich«, »schrei nicht rum«, »friss meine Scheiße!« … Meinen Sohn und meine Tochter als Königskinder zu bezeichnen, sollte wie ein Mantra für ihr Leben sein: Behandle dich selbst wie einen König oder eine Königin. Schätze dich selbst und sei stolz und souverän! Auch mein Vater hatte mir das einst so vermittelt, und ich habe dieses Selbstbewusstsein internalisiert. Nichts wünschte ich meinen Kindern mehr als dasselbe Gefühl von Erhabenheit und Unbesiegbarkeit. Beide sind inzwischen längst erwachsen, und wenn ich sie mir anschaue, bin ich extrem stolz. Es gibt keinen Zweifel: Ich habe den allerschönsten Samen.

Aber die Beziehung zu meinen Kindern hat im Laufe der Jahre extreme Höhen und Tiefen erfahren. Sie erlebten mein Outing als schwuler Mann und mussten verkraften, dass ich die Familie verließ. Aber wir haben wieder zueinander gefunden. Wir reiben uns aneinander und fetzen uns, aber über die Jahre haben wir ein enges Band geknüpft. Wir sind füreinander da und sind als Familie krisenerprobt und -resistent.

Für meine Kinder war es immer normal, sehr junge Eltern zu haben. Sie kannten es ja nicht anders. Die Generationen lagen in unserer Familie alterstechnisch eben nie weit auseinander. Meine Tochter war regelrecht erstaunt, als sie in die Schule kam und uns mit den anderen Familien verglich. »Asbach uralt« waren die anderen Mütter und Väter. Sie sahen aus wie Großeltern. Gadjé bekamen eben spät Kinder, dann, wenn sie die beste Zeit des Lebens bereits hinter sich hatten. Bevor sie Nachwuchs planten, feierten sie Partys, probierten sich aus, wechselten die Partner*innen, machten Karriere, und erst wenn das Bankkonto und die Behausung irgendwann stimmten, fühlten sie sich bereit für eine eigene Familie. Bei uns lief das natürlich anders. Drei Haare am Sack und die erste Periode waren ja oft der Startschuss fürs Eheleben und damit auch für die Gründung einer Familie. Ich fühlte mich berufen zum Vatersein, aber vermutlich ging ich wegen meines jungen Alters auch oft sehr unbedarft mit meiner Verantwortung um.

Weil wir selbst noch jugendlich waren, hatten wir eine besondere Ebene mit den Kindern. Ich konnte mit ihnen jederzeit albern und verspielt sein. Mit meinem Sohn und meiner Tochter sprach ich oft wie mit Gleichaltrigen. Ich war Vertrauter und Kumpel zugleich. Das stand allerdings im krassen Gegensatz zu meiner Vaterrolle, die ich hier und da ähnlich ausfüllen wollte wie mein Dade. Auch ich wollte das Privileg eines autoritären Patriarchen für mich in Anspruch nehmen. Ich wollte am Kopfende des Tisches sitzen und sagen, wer was wie und wann zu tun hatte. Bring mir dies, bring mir das! So weich und nett ich war – ich konnte auch herumkommandieren. Ich war der festen Überzeugung, dass mir das zustand, und es fühlte sich gut an, wenn getan wurde, was ich wollte.

Ich war Sohn, Ehemann und Vater. Drei Rollen, die ich gleichzeitig erfüllen musste, vor allem in Zeiten, in denen wir uns alle eine Wohnung teilten. In einer Sekunde kommandierte ich meine Kinder herum, in der nächsten gehorchte ich meinen Eltern oder führte partnerschaftliche Gespräche mit meiner Frau. Manchmal fühlte sich das so an, als hätte ich einen Knoten im Hirn. Genauso ging es vermutlich meiner Frau. Wir verfielen von einem Extrem ins andere. Wir funktionierten als Ehe-Team durchaus. Doch trotz aller Zugewandtheit und Liebe stritten wir auch viel. Für meine zwei kleinen Kinder war das verunsichernd. Es bedeutete Unberechenbarkeit und ein Chaos der Gefühle. Das führte vermutlich auch dazu, dass meine Kinder die Ehe ihrer Eltern heute vor allem mit einem Wort beschreiben: »Gestört.«

Meine Kinder sind sehr unterschiedlich und doch finde ich mich in beiden wieder. Mein Sohn ist ein lustiger Mensch und sieht aus wie eine jüngere Ausgabe von mir. Oft hält man uns deshalb für Brüder oder einen Sugar Daddy mit seinem jungen Liebhaber. Wenn er als Baby etwas wollte oder ihn etwas störte, wurde mein Sohn laut. Er ist noch immer impulsiv wie ich, und als Kind versuchte er oft, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, indem er Lärm machte.

Einmal verreisten wir mit meinen Eltern und einem großen Wohnmobil und blieben eine Weile auf einem Campingplatz. In der Nähe gab es eine Shell-Tankstelle, und mein Sohn verliebte sich spontan in einen riesigen weißen Plüsch-Tiger. Er wollte ihn unbedingt haben, aber das Tier kostete einige hundert Mark. Davon wollte er sich nicht abhalten lassen, trotz aller Erklärungen. In einem vermeintlich unbeobachteten Moment schnappte er sich den Tiger und marschierte damit zum Ausgang. Das Vieh war so groß wie er selbst, deshalb war zwischen den Regalen nur das Kuscheltier zu erkennen, dass sich beim Gehen auf und ab bewegte. Natürlich fiel dem Kassierer der versuchte Diebstahl auf und er hielt meinen Sohn zurück. Dieser gab sich zumindest für den Moment geschlagen. Als wir wieder einmal zu der Tankstelle fuhren, schaltete er seinen Sturkopf ein. Er sah sich nur kurz um, griff den Tiger, rannte aus dem Laden und versteckte sich im Wohnmobil. Bis heute denkt er, dass wir die Rechnung beglichen, ihn aber damals im Glauben ließen, ein Meisterdieb zu sein. Nun ja, ich werde das Geheimnis nicht lüften. Wer weiß schon, was damals wirklich geschah? Wir hatten jedenfalls keinen Zweifel daran, dass wir es mit einem Kind zu tun hatten, das wusste, wie es seinen Willen durchsetzen würde. Zum Glück hat er beruflich einen anderen, ungefährlicheren Weg eingeschlagen.

Mein Sohn war zehn Jahre alt, als ich die Familie verließ, und ich vergesse nicht, wie er reagierte. Als er verstand, dass ich mich nicht nur für einen Partyabend verabschiedete, drehte er durch. Er klammerte sich an mich, zog an meinem T-Shirt und schrie. Natürlich wusste ich, dass ich nicht ihn verließ. Ich sagte »Nein« zu meinen Eltern, die mich zwangen, als Ehemann zu leben, und ich sagte »Nein« zu einer Ehefrau. Aber niemals wollte ich meine Kinder im Stich lassen. Aber ich musste raus. Ein Zeichen setzen. Heute kann ich nur erahnen, was das damals mit meinem Kind machte. Verlassen werden – dieses Trauma sitzt tief bei ihm. Als ich meinem Sohn erklärte, warum ich wirklich ging, brach für ihn eine Welt zusammen. Sein Männerbild zerfiel in Tausende Teilchen. Dass sein eigener Vater schwul sein sollte, passte nicht in sein Hirn. Für ihn gab es nur das Familienkonzept »Papa-Mama-Kind-hetero-bums-aus«. Homosexualität konnte er nicht tolerieren. Schwulsein und Mannsein, das schloss sich in seiner Welt aus. Und wie hätte ich ihn dafür verurteilen können?

Als Vater eines Sohnes merkte ich nur allzu oft, wie viele Stereotype von Männlichkeit ich selbst verinnerlicht hatte. Woher kam es sonst, dass ich ihm Dinge sagte wie: »Als erfolgreicher Mann musst du Männersachen wissen: Wie man ein Auto verkauft und repariert, wie man eine Bohrmaschine oder einen Dampfstrahlreiniger benutzt.« Wenn ich so etwas zu ihm sagte, ballte ich die Faust und verzog das Gesicht – ein männliches Grunzen konnte ich mir gerade noch verkneifen. Aber ich war nicht nur ein maskuliner, paternalistischer Poser. Ich erklärte ihm auch, dass man Frauen mit Respekt und Anstand behandelt. Dass auch ein Mann kritikfähig sein muss und einem ein starker Körper nicht automatisch recht gibt. Ich versuchte ihm zu zeigen, dass Männlichkeit nichts zu tun hat mit der Größe des Penis, sondern mit der Größe des Herzens.

Natürlich kam es vor, dass ich in meiner unermesslichen Weisheit kluge Dinge sagte, mit denen ich meinen Sohn beeindruckte und inspirierte. Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass ich schwul bin – und damit das Gegenteil von dem Männerbild war, mit dem er ansonsten aufwuchs. Er stand also im Spannungsfeld zwischen mir und allen anderen Typen, die er kannte. Er liebte mich immer, da bin ich mir sicher. Aber es verunsicherte ihn zutiefst, wenn andere sich über ihn lustig machten: »Da kommt der Sohn vom Schwulen.« Dann hatte er das Gefühl, sich beweisen zu müssen, das heterosexuelle Alphamännchen in ihm wurde herausgefordert. In diesen Situationen war er oft allein, ich konnte ihn nicht auffangen.

Jetzt haben wir zum Glück eine enge Bindung, und er erlebt mich im Alltag. Ich kann ihm einfach vorleben, wie ich denke und fühle. Er weiß, welche Ideale ich im Leben habe und wofür ich brenne. Er muss nicht mehr infrage stellen, ob sein schwuler Vater genug Eier in der Hose hat. Er weiß, ich habe mehr drauf als so manche anderen Männer. Ich bin mehr als ein ganzer Kerl.

Doch nach der Trennung entglitt mir mein Sohn. Zwei Jahre lang sahen wir uns kaum noch. Ich schrieb SMS, aber mein Kind lehnte den Kontakt zu mir ab – er war wütend und verletzt, schwankte zwischen Sehnsucht und Hass. Ich war Persona non grata in der Familie. Meine konservativen Eltern sprachen, wenn überhaupt, nur schlecht über mich, genauso wie meine Ex-Frau. Mein Sohn flüchtete sich in die Isolation. Die Trennung belastete ihn. Er hatte es nie leicht in der Schule gehabt, jetzt hatte er noch mehr Probleme als früher. Die Lehrer*innen meldeten sich öfter bei mir, und ich versuchte auch aus der Distanz, die Dinge für ihn zu regeln. Mein Sohn wollte nichts von mir wissen, aber er wollte auch nicht mitbekommen, wie die anderen in der Familie über mich herzogen, und kapselte sich auch zu Hause ab. Was er nicht ignorieren konnte, waren die Pläne seines Großvaters. Dieser war vollauf damit beschäftigt, den Ruf der Familie wiederherzustellen. Alle Roma sollten wissen: Wir Jovanovics waren »normal«. Wir hatten nicht die »Schwul-Krankheit«, und mit seinem Enkel war alles in Ordnung. Also tat mein Vater, was er schon bei mir getan hatte: Er beschloss, meinen Sohn zu verheirateten. Als ich mich von meiner Frau getrennt hatte, fiel das System meines Vaters in sich zusammen. Die Verheiratung bedeutete für mich ja vor allem den Zwang, Verantwortung zu übernehmen. Ich und meine heranwachsenden Kinder waren die Zukunftsabsicherung für meine Eltern. Mein Vater hatte in mich und meine Frau investiert, damit er etwas hatte, auf das er sich später verlassen konnte. Wir sollten ihm helfen, seine Existenz und den Fortbestand der Familie zu sichern. Der unsichere Aufenthaltsstatus machte es quasi unmöglich, einem geregelten Berufsleben nachzugehen. Er hatte also keine Chance auf eine vernünftige Rente. Die Erfahrung hatte ihn auch gelehrt, dass auf das deutsche Sozialsystem nicht unbedingt Verlass war, wenn du ein Rom bist. Deshalb versuchte er, die Dinge selbst zu regeln. Also sollte nun der 13-Jährige beweisen, dass er nicht so einen Schaden wie ich hatte.

Eines Tages meldete sich meine Ex-Frau telefonisch bei mir und erzählte von einem Mädchen, das mein Sohn angeblich heiraten wolle. Ich war fertig mit den Nerven, es traf mich wie ein Schlag. Genau das wollte ich ja immer verhindern. Mein Sohn sollte nicht den gleichen Mist erleben wie ich. Was mein Vater vorhatte, fühlte sich wie ein riesiger Denkzettel an. Es war seine Art der Machtdemonstration, mit der er mir zu verstehen gab: Wenn du nicht spurst, dann eben dein Kind. Es war eine Kriegserklärung. Am nächsten Tag besuchte ich die Familie und baute mich im Wohnzimmer vor ihnen auf. Alle waren da, und die Anspannung im Raum war unerträglich. Mein Vater erklärte, dass mein Sohn nun an meiner Stelle die Verantwortung übernehmen müsse. Wenn ich die Familie nicht in eine rosige Zukunft führte, dann eben er. Ich schrie: »Seht ihr nicht, wie zerstörerisch diese Heiraten sind?« Ich zeigte auf meine Ex-Frau und mich. Waren wir nicht zwei kaputte Existenzen? In mir kochte es, denn ich wollte auf keinen Fall zulassen, dass mein Vater seinen Plan durchsetzte. Doch der war sich keiner Schuld bewusst.

»Dein Sohn will das doch auch«, sagte mein Vater patzig. Tatsächlich war mein Ältester so manipuliert, dass er sich nicht gegen das Vorhaben wehrte. Die Elterngenerationen, die Onkel, die anderen Jungs in unserer Familie, sie hatten es wirklich drauf: Sie wussten, welche Argumente bei einem Teenager am besten zogen. Sie schmeichelten seinem Ego: »Das Mädchen mag dich wirklich. Sie erzählt allen, was für ein cooler Typ du bist«, sagten sie. Und: »Sie ist wirklich besonders hübsch.« Natürlich wussten sie auch, dass er neugierig war. »Dann kannst du endlich Sex haben«, erklärten sie. Ich kannte diese Gespräche aus eigener Erfahrung. Es war wie ein Spiel. Die Familie legte ihr Angebot auf den Tisch: »Du bekommst alles«, lautete das verheißungsvolle Versprechen. Das Mädchen, Sex, die Anerkennung deiner Familie. Jackpot! Im Kleingedruckten ging der Text dann weiter. »Du bekommst alles – zu unseren Bedingungen.« Wer dazu Ja sagte, zahlte einen hohen Preis. Wenn mein Sohn den Deal akzeptierte, erwartete ihn absolute Fremdbestimmung, das wusste ich genau. Ich war stinksauer auf meine Eltern, meine Ex aber auch auf meinen Sohn. Hatte ich nicht gerade ihm etwas ganz anderes vorgelebt? Hatte ich ihm nicht immer vermittelt, dass er frei war, zu entscheiden? Ich war unendlich enttäuscht und verließ aufgewühlt die Wohnung. Wenn meine Familie nicht auf mich hörte, blieb mir nur noch ein Weg: Ich musste das Jugendamt einschalten.

Es war ein krasser Schritt für mich, eine Behörde ins Spiel zu bringen. Das war schließlich das Schlimmste, was ich meiner Familie antun konnte. Es fühlte sich wie Verrat an, denn ich wusste ja, wie Beamt*innen seit jeher mit uns umgegangen waren. Ich hoffte aber, dass sie nun wirklich am längeren Hebel saßen und meinen Sohn vor der Heirat retten könnten. Doch Fehlanzeige. Kurze Zeit später saß ich in einem Büro des Amtes. Die Frau vor mir erklärte mir trocken, dass sie eigentlich keine Möglichkeit habe, gegen eine traditionelle Hochzeit vorzugehen. Nur wenn beide Kinder sich bei ihr oder der Polizei meldeten und angaben, dass sie zur Hochzeit gezwungen würden, könne man einschreiten. Ich haute auf den Tisch. Ich wusste doch, dass mein Sohn das niemals machen würde. Niemals würde er seinen Opa anzeigen. Er würde tun, was die Familie von ihm erwartete. Genauso wie ich 15 Jahre zuvor.

In meinem Schädel pochte es. Mein Herz fühlte sich an, als würde es explodieren. Es war so schmerzhaft zu wissen, was für einen Schaden mein Sohn davontragen würde. Mein Erstgeborener würde heiraten. Er würde eine Frau haben, sie schwängern … Mir blieb die Luft weg. Ich hatte nichts in der Hand und konnte nicht mehr aufhalten, was mein Vater auf den Weg gebracht hatte. Mein Sohn heiratete mit 13 Jahren ein Mädchen, das ein Jahr älter war als er selbst. Aber ich gab noch nicht auf, ich würde meine Kinder niemals verloren geben. Mein Ältester hatte um sich allerdings eine hohe Mauer gebaut, und ich kam nicht mehr zu ihm durch.

Erst viel später fand er Worte für das, was ihm damals passierte. Auch heute noch platzt es manchmal aus ihm heraus und er macht mir bittere Vorwürfe. Denn obwohl er es als Jugendlicher nicht sagen konnte: Er wollte, dass ich ihn rettete. Er wollte, dass ich ihn da irgendwie herausholte – egal wie. Aber ich kämpfte gegen Windmühlen. Die Familie verbot mir den Kontakt und spielte uns gegeneinander aus. Es verging keine Sekunde, in der sie meinem Sohn nicht klarmachten, was für ein Scheißkerl ich sei. Sie erzählten ihm, ich sei ein egoistischer Mann und Vater, der sie alle – aber vor allem ihn – im Stich ließ.

Ich verstehe es: Mein Kind konnte eigentlich nur zu dem Schluss kommen, dass ich ein Riesenarschloch war. Trotzdem fuhr ich immer wieder zurück zu meinen Eltern. Diese Begegnungen waren extrem hart für mich. Meine Schwiegertochter wohnte inzwischen mit der Familie, und sie hatte keine Ahnung, dass meine Ehe gescheitert war – und warum. Ich spielte den heterosexuellen Vater und Geschäftsmann, der viel auf Reisen war, um meine wahre Identität vor ihr zu verheimlichen, und fühlte mich erbärmlich. Im Stillen hoffte meine Familie, dass mich dieses Versteckspiel vor meiner Schwiegertochter so zerreißen würde, dass ich aufgab. Ich sollte meinen Partner verlassen, genauso wie mein selbstbestimmtes Leben in Köln. Das tat ich aber nicht, also fuhr meine Familie heftigere Geschütze auf. Meine Eltern und meine Ex beschimpften mich. Sie drohten, mir die Kinder wegzunehmen und mit ihnen die Stadt zu verlassen. Wenn ich nach Hause zu meinem Partner kam und wir gemeinsam am Esstisch saßen, war ich am Ende. Völlig demoliert. Ich versuchte, alles richtig zu machen, aber irgendwie bekamen sie es immer wieder hin, dass ich von mir selbst dachte, ich sei ein Kacktyp. Das ging eine gefühlte Ewigkeit so und es zerriss mich.

Also lebte mein Sohn sein Leben ohne mich, mit einer Frau und dem Rest der Familie. Ich weiß: Er dachte an mich und kämpfte sich innerlich an mir ab. Er liebte mich und er verachtete mich zugleich. Und dann tat er etwas Unglaubliches: Er vergaß mich. Er sprach nicht mehr über mich und auch nicht mit mir. Das brauchte er, um Abstand zu gewinnen. Ich war eine schmerzhafte Erinnerung, die er unbedingt verdrängen wollte. »So läuft das bei mir: Ich vergesse dich, und dann verzeihe ich dir«, erklärte er mal, später, als alles schon wieder auf dem Weg der Besserung war.

Es dauerte mir viel zu lange, aber irgendwann verstand auch mein Sohn: Wir zwei sind eine unkaputtbare Einheit. Wir sind wie Brüder, Partner in Crime. Er spürte, dass er nicht nur mir wehtat, wenn er mich nicht mehr treffen wollte – er verletzte sich auch selbst. Darum griff er irgendwann wieder zum Telephonhörer: »Papa, ich will dich sehen«, sagte er.

Ich sammelte den Jungen in der Stadt mit meinem Mercedes SUV ein und er mochte das Auto. Logisch, die Schwäche für dicke Karren hatte er von mir. Ich war aufgeregt, aber wir redeten miteinander, als wäre nie etwas zwischen uns gewesen. Er sah so gut aus wie ein Model. Wir alberten herum und dann fragte er plötzlich, als wäre es das Normalste der Welt: »Wie geht es eigentlich Paul?«

Ich war völlig überrumpelt, wusste kaum, was ich antworten sollte. Ich war immer noch mit meinem Traummann zusammen. Wir lebten miteinander und liebten uns wie eh und je. »Ihm geht es gut«, antwortete ich. Mein Sohn grinste und schlug vor, meinen Freund zu überraschen. Er hatte auch schon einen Plan. Ich sollte Paul anrufen und erklären, ich hätte einen Auffahrunfall gehabt, bei dem der Mercedes komplett zerbeult worden sei. Genau mein Humor. Ich tat, was mein Sohn vorschlug, und er versteckte sich im Kofferraum. Paul wartete nervös vor unserer Wohnung und war sofort parat, um den Schaden in Augenschein zu nehmen. Irritiert öffnete er die intakte Heckklappe, da sprang ihm mein Kind entgegen und fiel ihm überschwänglich um den Hals. Der Streich war ein Volltreffer. Mein Sohn lachte sich fast tot, als Paul vor Schreck schrill aufschrie und zurücktaumelte. Er umarmte den Mann, den ich liebte, so unglaublich herzlich – ohne jede Hemmung. Paul kamen die Tränen und ich heulte mit – natürlich. Mein Sohn war endlich zurück in unserem Leben. Ich hätte nicht dankbarer sein können.

Fast drei Jahre nach der Hochzeit meines Ältesten geschah, was geschehen musste. Mein Sohn war gerade mit mir und Paul auf Shoppingtour, als sein Telefon klingelte. Seine Frau rief ihn an und erklärte ihm ohne Umschweife, dass sie schwanger sei. Die Frau meines Kindes war schwanger. Da stand mein Sohn, mitten im Peek & Cloppenburg, und ich konnte sehen, wie alle Farbe aus seinem Gesicht wich. Es war, als würde sich der Boden unter ihm auftun und ihn mit einem schmatzenden Rülpsgeräusch aufsaugen.

Die Familiengeschichte wiederholte sich. Mein Sohn würde Vater. Ich wurde mit 32 Jahren Großvater. Für mich brach eine Welt zusammen, aber ich versuchte, für ihn stark zu sein. Auf keinen Fall wollte ich mir anmerken lassen, wie sehr auch ich in Panik war. »Mach dir keine Sorgen, ich bin immer für dich da«, sagte ich und klopfte aufmunternd auf seine Schulter. »Du schaffst das«, machte ich ihm Mut. Doch was ich sagte, hatte nicht viel mit dem zu tun, was ich in Wirklichkeit dachte. Es war, als könnte ich meinem Sohn am Gesicht ablesen, was wirklich im Kopf meines Kindes vor sich ging. »Fuck, ich bin im Arsch! Ich bin 15! Mein Leben ist vorbei!« Paul und ich sahen uns aus den Augenwinkeln an. Wir beide waren der gleichen Meinung: Das war eine verdammte Katastrophe. Die letzten Jahre hatte mein Sohn natürlich performt und mit seiner Frau geschlafen. Die Beiden hatten ihre ersten sexuellen Erfahrungen miteinander gemacht und sich ausprobiert. Ja, mein Sohn wusste, dass so Kinder entstehen. Dass er selbst allerdings Vater werden könnte, hatte er wohl verdrängt. Jetzt aber hatte die Realität ihn eingeholt und schlug ihm wie mit einer riesigen Dachlatte immer wieder auf den Kopf. »Wenn du vögelst und nicht verhütest, machst du Babys!«, schrie das Leben ihn an.

Das war nicht die Zukunft, die wir uns für meinen Sohn gewünscht hatten. Wir wussten aber auch, dass wir den Jungen nicht im Stich lassen würden. Da stand er nun vor uns, in dem Poloshirt, das er gerade anprobiert hatte. Er ließ die Schultern hängen und sah wie paralysiert zu Boden – hilflos, geschockt, ein Kind, das innerhalb einer Sekunde merklich gealtert war. Doch in den nächsten Wochen und Monaten würde er sich fassen und an den Gedanken, Vater zu werden, gewöhnen. Im Kreißsaal wich er seiner Frau nicht von der Seite und erlebte die gesamte Entbindung mit – ohne sich nass zu machen oder umzufallen. Er war stark, und als er seine wunderschöne Tochter das erste Mal in den Armen hielt, wusste er, wofür. Da fühlte er vermutlich, was ich empfunden hatte, als ich ihn 16 Jahre zuvor bewundert hatte. Er war der glücklichste und stolzeste Mensch der Welt. Ein Mann, ein Vater. Und ich liebte ihn und seine speckfüßige Tochter, genauso wie seinen Sohn, der ein gutes Jahr später zur Welt kam.

Ich habe mich oft schwergetan, meinen Sohn loszulassen und ihm seine eigenen Erfahrungen zuzugestehen. Ich bin eine Glucke, es ist schrecklich. Mein Sohn musste deshalb an mir und mit mir immer wieder Be- und Erziehungsarbeit leisten. Er sagte oft: »Stopp, ich muss meinen eigenen Weg gehen!« Dann regte ich mich auf – und tue es bis heute –, um dann doch zu erkennen, dass er immer stärker wird. Mein Sohn ist ein anderer Vater, als ich es war. Er versucht, seinen Kindern dort mehr Verlässlichkeit zu geben, wo er sie bei mir vermisst hat. Er hat hoffentlich aus meinen Fehlern gelernt. Dort, wo er kann, schafft er schon jetzt andere Strukturen als die Männer vor ihm. Er hat nichts von einem lärmendem Helikoptervater. Aber er ist ein Adler. Ein gefühlvoller Mann mit Weitblick, der seine schützenden Flügel über seine Kinder spannt, um sie vor echten Gefahren zu bewahren. Ein guter Typ.

Meine Tochter tickte anders als ihr großer Bruder. Sie war als Kind stiller und zurückhaltender. Sie war die Jüngste in der Familie und wie ein emotionaler Seismograph. Sie spürte ganz genau, wenn sich um sie herum Aggressionen aufstauten und die sprachliche Gewalt eskalierte. Sie war die Schlichterin zwischen ihren Eltern und auch den Großeltern. Manchmal stellte sie sich zwischen mich und den Rest der Familie. Mit ihren großen, hell grünlichen Augen und weit ausgestreckten Armen. Meistens funktionierte es: Wir Erwachsenen fühlten uns ertappt, erkannten ihre kindliche Angst und ließen einander in Ruhe.

Meine Kinder wurden mit Roma-Traditionen groß. Für sie war normal, was wir ihnen vorlebten. Gleichzeitig besuchten sie Kindergärten und Schulen, in denen teilweise ganz andere Gepflogenheiten üblich waren. Als orthodoxe Christen feierten wir andere Feste als die meisten anderen Deutschen, und meine Kinder liebten es. Für meine Tochter war es auch normal, dass ihre Mama und Oma immer lange Röcke trugen. Sie machte es den Frauen der Familie nach, hinterfragte nicht, warum es eine Regel war, die Beine und Knie zu verdecken. Erst im Erwachsenenalter las sie verschiedene Theorien darüber, was vielleicht der tiefere Sinn hinter den Röcken der Rom*nja sein könnte. Mag sein, dass sie entfernt an die Saris unserer indischen Vorfahr*innen erinnerten. Oder vielleicht sollten sie unsere Frauen vor neugierigen Blicken und sexuellen Übergriffen von Männern aus der Mehrheitsgesellschaft schützen. Womöglich waren sie dafür gedacht, dass die Frauen auf der Flucht schnell alle Habseligkeiten zusammenraffen und unter den Röcken verstecken konnten. Vielleicht dienten sie auch einfach nur als Reservezelt und Inspiration für Fashion Shows von weißen Designer*innen. Ich weiß es nicht. Meine Tochter trägt heute auf jeden Fall, was sie will. Es spielt keine Rolle, ob sie eine graue Jogginghose oder ein Kleid anhat, sie ist umwerfend.

Meiner Frau und meinen Eltern zu erzählen, dass ich schwul bin, war die eine Sache. Aber wie spricht man darüber mit seinen Kindern? Wie sollten sie verstehen, warum ich auszog und meine Frau die ganze Zeit schluchzte? Ich hätte es meinen Kindern selbst gesagt, aber ich hatte keine Gelegenheit mehr dazu. Erst vor Kurzem fand ich heraus, wie meine Tochter von meiner Homosexualität erfuhr. Ich hatte mich gerade vor den erwachsenen Familienmitgliedern geoutet und meine Ex-Frau weinte viel. Meine Tochter erwischte ihre Mutter im Badezimmer in einem wirklich verzweifelten Moment. Da brach es aus ihr hervor. Sie war Anfang zwanzig, sie fühlte sich sitzengelassen und gedemütigt von dem Mann, mit dem sie seit ihrem 13. Lebensjahr verheiratet war. Sie blieb zurück mit zwei Kindern, dem Druck der Schwiegereltern und anderen konservativen Rom*nja. Was sollte sie antworten, als ihre Tochter fragte, warum wir immer stritten und ob ich nicht bald heimkommen würde? »Dein Vater kommt nicht zurück, er ist schwul«, schrie meine Ex-Frau.

Beide Kinder wussten, was das bedeutete. Sie waren zwar noch in der Grundschule, aber in manchen Dingen schon sehr aufgeklärt. Plötzlich war klar: Der weiße Deutsche an meiner Seite war nicht einfach nur ein Geschäftspartner. Diese »Männerfreundschaft« war viel mehr. Paul war Papas Mann. Alle Bilder fügten sich in den Köpfen meiner Kinder zusammen. Sie wussten, ihr Papa war immer anders gewesen als andere Männer in unserem Umfeld. Wenn meine Frau unterwegs war, kochte ich für sie. Ich benutzte Lipgloss und hatte viel Spaß daran, meine Tochter zu schminken. Ich war cremiger, weicher als die anderen Männer, die meine Kinder kannten.

Als meine Tochter das erste Mal ihre Periode hatte, nahm ich sie in den Arm und erklärte ihr ganz behutsam, was da gerade mit ihrem Körper passierte. Ich sagte ihr, welche Hygieneartikel sie nun benutzen konnte, und streichelte ihr über die langen Haare. Sie war die Erste in ihrer Klasse, die ihre Tage bekam. Ich erklärte ihr, dass sie sich nun zwar veränderte, dass sie das aber noch lange nicht zu einer Frau machen würde. Ich wollte mit diesem Märchen ein für alle Mal aufräumen. »Deine Periode macht dich nicht zu einer Erwachsenen«, sagte ich ihr. Ich wollte ihr zu verstehen geben, dass sie ihre Kindheit genießen durfte. Sie würde nicht das Gleiche erleben wie ihre Mutter. Sie würde nicht so jung heiraten. Ich versuchte, ihr zu erklären, dass sie sich trotz ihrer körperlichen Reife Zeit lassen durfte. Sie sollte nicht hypersexualisiert werden wie so viele Frauen vor ihr. Ich wollte meine Tochter beschützen und ihr ein Gefühl von Sicherheit geben.

Ich hatte meinen Kindern immer wieder erklärt, dass ich »anders« sei, aber das Wort »schwul« erwähnte ich nie. Meine Ex-Frau und meine Eltern kamen mir zuvor und outeten mich vor den beiden. Meine Tochter reagierte still und hatte Mitgefühl. Ihr Papa tat ihr leid. Hatte es früher häufig Konflikte gegeben, spürte sie nun den tiefen Riss, der durch die Familie ging. Sie fühlte meine Einsamkeit und fürchtete, dass ich von den anderen für immer verstoßen würde. Sie war mir nicht böse und verstand, warum ich nicht von Anfang an aufrichtig gewesen war. Wie sollte ein Rom in unserer Familie zugeben, dass er Männer liebte? Als ich erklärte, dass ich eine Weile nicht kommen könne, verstand meine Tochter auch das.

Meine Kinder sprachen nicht über mein Outing – nicht miteinander und nicht mit anderen. Sie nahmen die Dinge irgendwie hin. Es war wie ein unausgesprochener Pakt. Die Leute redeten – aber innerhalb der Familie war ich, der schwule Vater, wie Lord Voldemort, der, dessen Namen nicht genannt werden darf. Ich war eine Schande für die Familie, und mein Vater hatte alle Hände voll damit zu tun, um in der Gemeinschaft wieder als der ehrenhafte Mann dazustehen, als der er gelten wollte. Meine Kinder wurden zu Hause also gebrieft, den Mund zu halten, wenn es um mich ging. Vermutlich hätten sie die Hinweise darauf aber gar nicht benötigt. Selbstschutz bedeutete für sie eben auch Verschwiegenheit. Die Diskussionen und Probleme, die aus einem offenen Umgang mit meinem Outing entstanden wären, wären für meine Kinder definitiv eine Nummer zu groß gewesen. Natürlich wollten sie nicht ausgegrenzt werden oder auf die Fresse bekommen.

Meine Tochter allerdings ließ sich den Umgang mit mir nicht verbieten. Wenn es jemand versuchte, antwortete die Grundschülerin patzig: »Geh auf der A57 spazieren!« Das ist Romanes für: Du kannst mich mal! Nichts und niemand hält mich von meinem Papa fern.

Ich weiß noch genau, wie sie mich zum ersten Mal in meiner und Pauls Wohnung besuchte. Ich merkte sofort, sie mochte mein neues Zuhause. Unsere Einrichtung war nüchterner, als sie es kannte. Damals hatten wir nirgendwo Gianni-Versace-Tapete oder Schwarze Madonnen stehen. Fast 20 Jahre später sollte sich das ändern, ich färbe auf Paul ab. Jedenfalls fühlte sich mein Kind sichtlich wohl und tat, was jede gute Romni tun würde: Sie fing an, aufzuräumen und Staub zu wischen. Putzfimmel lässt grüßen. Ich lachte mich kaputt.

Mein Sohn war bereits verheiratet und zum ersten Mal Vater geworden, als meinem Vater einfiel, dass er ja noch eine Enkeltochter hatte, die es zu versorgen galt. Auch sie sollte heiraten. Doch dieses Mal lief alles anders. Meine Tochter war in Panik. Sie hatte noch nie einen Freund gehabt, war nicht einmal einem Jungen nähergekommen. Jetzt sollte sie plötzlich eine Ehefrau werden. Sie traute sich nicht, ihrer Mutter oder mir zu erzählen, wie sehr sie sich vor allem davor fürchtete, mit einem Jungen zu schlafen. Über Sex sprach man mit seinen Eltern nicht. So viel hatte sie gelernt. Schließlich schalteten meine Ex-Frau und meine Eltern immer noch um, sobald sich im Fernsehen jemand küsste – von Sexszenen ganz zu schweigen. Aber meine Tochter war klug. Sie traf sich mit mir, sah mir in die Augen und sagte: »Papa, ich bin ein Kind, und diese Entscheidung ist viel zu groß für mich. Es geht um meine Zukunft, deshalb musst du entscheiden, was ich tun soll.« Sie gab mir die Hand und die Chance, die Dinge zu regeln. Ich konnte es besser machen als bei meinem Sohn. Niemals hätte ich zugelassen, dass sich die Dinge wiederholen. Der Druck durch meine Eltern war enorm. In endlosen lauten Diskussionen erwischte ich mich, wie ich mich manchmal wie der 14-jährige Junge fühlte, der einfach nur ein guter Sohn sein wollte. Aber jetzt war ich Vater und ich entschied: Dieses Kind heiratet nicht. Ich sprach ein Machtwort, und ich sagte es meinen Eltern und meiner Ex-Frau so, dass sie zumindest für den Moment schwiegen. Ich gab mich souverän, aber das war Fassade. Nach einem erneuten Streit schnappte ich mir meine Tochter und flüchtete zu Paul. Ich war aufgewühlt, genervt und wütend. Eigentlich konnte ich nicht mehr, und ich schrie es heraus: »Ich halte das nicht mehr aus! Das macht mich alles fertig!« Meine Familie hatte keine Ahnung, wie mürbe sie mich gemacht hatten. Ich schwächelte. Ich war kurz davor, aufzugeben, mich zurückzuziehen und meine Tochter der Familientradition zu überlassen. Aber ich hatte Paul. Er flippte aus, und er richtete mich wieder auf. Niemals würde er zulassen, dass ich mich geschlagen gab. Meine Tochter würde nicht heiraten. Basta. Wenig später zog sie zu uns. Mein Sohn tat es ihr gleich, nachdem seine Frau sich von ihm getrennt hatte. Aber wir schafften es nicht auf Dauer, unter einem Dach zu leben. Zu groß waren die Spannungen in unserer Patchworkfamilie. Das änderte aber nichts daran, dass meine Kinder und ich auf neue Art und Weise zusammenwuchsen. Dieses Mal nicht, weil wir Verwandte waren, sondern weil wir uns bewusst füreinander entschieden.

Wir müssen alte Verhaltensweisen immer wieder kritisch hinterfragen und über Bord werfen, damit wir selbst – aber auch andere – freier in unseren Leben sein können. Sich auch als Vater darauf einzulassen, nervt gehörig, denn es ist natürlich nicht der einfachste Weg. Meine Kinder lehnen sich auf, weil sie wissen, dass sie es dürfen. Sie entscheiden sich, ihr Leben so zu führen, wie es sich für sie richtig anfühlt.

Meine Tochter versucht nicht mehr, ausschließlich zu gefallen. Sie ist nicht mehr still und zurückhaltend, stattdessen verteidigt sie ihre Meinung und sagt, was sie will. Heute platze ich vor Stolz, wenn meine Tochter mich in Sachen Sexismus und Feminismus argumentativ an die Wand redet. Ich lerne von ihr – auch, weil sie andere Erfahrungen macht als ich. Meine Tochter wird oft als weiße Frau gelesen. Sie hat helle Haut und helle Augen, das passt für viele weiße Menschen nicht zu einer Romni. So kann mein Kind inkognito sein unter Weißen – das hat Vorteile. Aber sie erlebt auch, wie Weiße sich sicher in ihrer Gegenwart fühlen. Wie sie denken, sie wären unter ihresgleichen. Sie hört, wie sie über Rom*nja herziehen und sie diskriminieren. Wie muss das sein, wenn du untertauchen und schweigen könntest, aber es nicht willst? Meine Tochter ist eine deutsche Romni und es beeindruckt mich, wie klug, stark, reflektiert und souverän sie diese Situationen meistert, sich auflehnt und unbequem bleibt, und trotzdem bekommt, was sie will.

Ich bin schwul. Ich bin Vater und wurde mit 32 Jahren das erste Mal Großvater. Ich hatte weder graue Haare noch Falten. Ich war hot! Bis heute bin ich selbstverständlich nicht der gemütliche Werthers Echte-Opa mit Pullunder und Karo-Hose. Ich bin ein Großvater, der Unternehmer, Aktivist und Performer ist. Ich lackiere mir die Fingernägel, singe lauthals Beyoncé und kann auf 14-Zentimeter-Absätzen laufen. Ich bin gerne Geschäftsmann im schillernden Fummel, und ich genieße jede Sekunde mit meinen Enkel*innen, auch weil sie so anders sind als die Generationen vor ihnen. Zu erfahren, dass mein Sohn ein Kind erwartete, stürzte mich ins Gefühlschaos. Nachdem sich der erste Schock gelegt hatte, fühlte es sich einfach nur geil an. Ich hatte noch das ganze Leben vor mir. Meine Kinder waren eigentlich aus dem Gröbsten raus, dachte ich. Ich musste nicht mehr Windelwechseln, Hausaufgaben kontrollieren oder Essen kochen. Jetzt durfte ich eine neue Rolle ausfüllen. Ich durfte ein Opa sein, und mir war klar, dass das für einen homosexuellen Mann ein besonderes Privileg war. Ich war voller Vorfreude, denn ich wusste, meinen Enkel*innen würde ich von Anfang an die Wahrheit sagen. Niemals würde ich vor ihnen verheimlichen müssen, dass ich einen Mann liebte. Das war eine echte Zäsur für mich und unsere Familie. Mein erstes Enkelkind war ein Neuanfang. Die nächste Generation würde es besser haben.

Ich bin übrigens, ohne zu übertreiben, der beste Opa der Welt, der Traum aller Enkelkinder! Meine Enkel*innen sind die verwöhntesten Kinder unter der Sonne. Mir ist bewusst, dass das pädagogisch komplett daneben ist, aber das ist mir egal. Ich kaufe den Kindern Designer-Schnuller von Louis Vuitton und lasse mich dafür gern von euch verachten. Diese Kinder sind Juwelen, ihr Wohl steht für die ganze Familie an allererster Stelle. Wir alle sind bereit, Berge für sie zu versetzen, weil wir genau wissen, wie es ist, wenn du nichts hast. Ja, wir übertreiben, wenn wir allen zeigen, wie schön die beiden sind. Es ist uns ein Bedürfnis, der Gesellschaft zu beweisen: Diese Kinder leben nicht im Dreck. Sie kommen aus einem Wohlstandshaushalt. Diese Kinder müssen nicht ums Überleben kämpfen. Kommt damit klar!

Mein Ziel ist es natürlich nicht, egomanische »Ich«-linge ohne Sozialkompetenz und Herz heranzuziehen. Ich glaube aber, dass es nichts Schlechtes ist, Kinder zu verwöhnen. Die Absicht zählt. Kaufst du deinen Kindern nur teure Sachen, um dein Gewissen zu besänftigen? Kompensierst du damit, dass du nie Zeit für sie findest oder dass du sie gekränkt hast? Dann ist das ein Problem. Aber verwöhnst du sie, weil du deine Kinder mit deiner Liebe überschütten willst? Dann ist doch alles gut. Also lache ich, wenn ich ellenlange Wunschlisten von meinen Enkel*innen bekomme. Und ich kaufe weiterhin viel zu teure Weihnachtsgeschenke, weil ich diese Kinder liebe. Außerdem haben meine Enkel*innen längst gelernt, demütig zu sein. Das müssen wir ihnen nicht erst antrainieren. Sie sehen ja, wie viele Menschen in unserer Großfamilie in bitterer Armut leben. Sie schätzen Dinge wert, sind großzügig und teilen, was sie haben. Echte Kanacken-Kinder.

Wenn ich mir meine Enkel*innen anschaue, habe ich natürlich auch Ängste. Sie sollen ohne Rassismus aufwachsen, ohne Minderwertigkeitskomplexe oder Depressionen. Ich bin voller Hoffnung, aber auch Sorgen. Die beiden sind klüger als ich. In ihnen stecken alte Seelen. Wenn sich ihre Kindermünder öffnen, kommt mal brabbelnder Quatsch heraus – mal echte Weisheit. Mir ist dann klar: In diesen Kindern leben die Ahnen weiter und all deren Erfahrung. Ja, auch in den beiden Grundschüler*innen spüre ich Traumata. Aber vor allem sehe ich eine Fülle von Möglichkeiten. Ihr Vater, ihre Tante und ich sind uns unserer schmerzhaften Erfahrungen und Geschichte bewusst. Wir sind reflektierter und können viel für sie abfedern. Meine Enkel*innen können entspannter mit dem umgehen, was da in ihrer DNA schlummert. Ich wage es, ein positives Bild für ihre Zukunft zu zeichnen. Das ist ein Geschenk. In anderen Familien sieht das ganz anders aus: Wer mit Wohnungsnot, finanzieller Unsicherheit, Suchtproblemen, Krankheit oder Gewalt umgehen muss, hat oft keine Gehirnkapazität mehr frei, um etwas zu verändern. Es geht immer nur um Rettung und Überleben. Das ist natürlich nicht nur ein Problem von Sinti*zze und Rom*nja, sondern auch von weißen Menschen. Ich glaube, die Gesundheit von Familien und die demokratischen Werte, die sie leben, sind entscheidend für unsere Gesellschaft. Wenn es in unseren Familien funktioniert, strahlt das in die Gesellschaft aus.

Vater und Großvater zu werden, hat mein Leben vollkommen gemacht. Ich muss nicht mehr kämpfen, ich habe alles, was ich mir je erträumt habe. Ich bin der reichste Typ auf Erden. Aber ich weiß, dass nicht alle dieses Glück haben. Ich kann nicht einfach die Füße hochlegen. Ich habe noch eine Menge zu erledigen auf diesem Planeten. Darum ist die Beziehung zu meinen Kindern und meinen Enkel*innen das Wichtigste in meinem Leben und gleichzeitig das Leitmotiv meiner aktivistischen Arbeit gegen Rassismus und Queerfeindlichkeit. Ich bin ich mir nicht sicher, ob ich »für mich selbst« Aktivist geworden wäre. Ich hatte eine Karriere, ich hatte einen Mann, einen Freundeskreis – vielleicht hätte ich so weitermachen können. Vielleicht hätte ich die Witze überhören und mich weiter mit dem Alltagsrassismus arrangieren können. Immerhin lebte ich so schon einige Jahrzehnte und hatte von den Generationen vor mir mehr oder weniger gute Bewältigungsstrategien gelernt. Aber Kinder zu haben und früh Großvater zu werden, änderte meine Perspektive komplett.

Ich war wie alle Eltern: Ich wollte etwas für meine Kinder bewegen. Sie sollten es besser haben als ich. Aber wie funktioniert das, wenn ganze Familien traumatisiert sind? Für mich ist einer der wichtigsten Schlüssel das Wissen über die Geschichte unserer Community. Seit fast einem Jahrtausend werden Sinti*zze und Rom*nja diskriminiert, sind sie pausenlos Angriffen ausgesetzt. Und sie erleben ja nach wie vor physische oder verbale Gewalt. Rassismus macht krank, und Rassisten vernichten noch immer Menschenleben, auch wenn sich ihre Methoden gewandelt haben. Es sind Strukturen in allen Lebensbereichen, die uns sogenannte Minderheiten ausgrenzen, die verhindern, dass wir am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Schule, Arbeitsplätze, Nachbarschaft? Sinti*zze und Rom*nja sollen draußen bleiben, wenn es nach der breiten Masse geht. Häufig ist von Sinti*zze und Rom*nja als das »unbekannte Volk« die Rede. Doch es ist nicht so, als könnte man nichts über uns wissen. Man will nicht. Wer uns verstehen möchte, muss sich – wie so oft – mit Geschichte auseinandersetzen. Auch ich bilde mich stetig weiter, das gehört für mich unerlässlich zu meiner Politisierung dazu.

Meine Reise zu mir selbst begann mit meiner allerersten Stunde Psychotherapie. Ich hatte Glück und fand eine sehr erfahrene Therapeutin, mit der ich bis heute arbeite. Sie verstand mich und meine unterschiedlichen Diskriminierungserfahrungen von Anfang an. Mit ihr wagte ich mich im Laufe der Jahre an jedes einzelne Trauma in meinem Leben heran. Warum wurde ich so früh verheiratet? Diese Frage beschäftigte mich besonders. Durch Familienaufstellung lernte ich, meine Beziehung zu meinen Eltern zu verstehen und meine eigenen Schuldgefühle loszulassen. Die ersten sieben Therapiejahre war ich nur wütend auf meine Eltern, weil sie mich verletzt hatten oder mich nicht vor Leid beschützt hatten. Je tiefer ich in die Therapie einstieg, desto mehr erfuhr ich über mich selbst. So schaffte ich auch das Wichtigste: die Beziehung zu meinen Kindern neu auszurichten. Schließlich wollte ich auf keinen Fall die negativen Erfahrungen reproduzieren, die ich als Kind gemachte hatte. Außerdem schöpfte ich genug Kraft, mich außerhalb des Therapiezimmers auch anderen Fragen zuzuwenden. Nach und nach ordnete ich das Leben meiner Familie in größere Kontexte ein. Ich wollte wissen, wie meine Eltern nach Deutschland gekommen waren. Ich wollte wissen, was es mit dem Anschlag auf unser Haus auf sich hatte. Ich wollte wissen, ob meine Eltern meine Erinnerungen an Darmstadt, Nürnberg und unsere desolaten Unterkünfte teilten.

Vor der eigentlichen Politisierung kam die Sensibilisierung. Seit etwa 2010 beschäftigte ich mich immer mehr mit der Geschichte der Rom*nja und auch mit unseren Rassismuserfahrungen. Dafür gab es, neben meiner Therapie, verschiedene Auslöser. Eines Tages suchte eine Gruppe älterer Aktivist*innen aus Darmstadt den Kontakt zu mir. Einer von ihnen war Dr. Hans-Joachim Landzettel. In meiner Kindheit hatte er mich und meine vielen Cousins und Cousinen ehrenamtlich behandelt. Als Dankeschön bekam er von Darmstädter Bürger*innen Drohungen – und manchmal ein Päckchen mit Kot in den Briefkasten. Er und seine Mitstreiter*innen ließen sich nicht abschrecken und setzten sich trotzdem weiter für Sinti*zze und Rom*nja ein. Sie wussten von den Anschlägen auf uns, wie man das Haus meiner Familie zerstörte und uns danach hausen ließ. Die Aktivist*innen hatten über Umwege herausbekommen, dass meine Familie inzwischen in Köln lebte. Dr. Landzettel stand kurz vor seinem 80. Geburtstag, und aus diesem Anlass ließ er auch seine Arbeit als Menschenrechtler Revue passieren. Jetzt wollte er sehen, wie es einem der Kinder von damals ergangen war. Er sagte, dass er sich an mich sehr gut erinnern könne, weil ich besonders oft heftig erkrankt gewesen sei. Zum Beweis legte er mir eine Krankenakte vor, die er tatsächlich aufbewahrt hatte. Als Dr. Landzettel und die anderen Aktivist*innen mich besuchten, kamen all die Erinnerungen aus meiner Kindheit wieder hoch. Je mehr ich darüber nachdachte, desto bewusster wurde mir, dass nichts von dem, was mir widerfahren war, normal war. Es waren diese alten weißen Menschen, die mir eigentlich erst erklärten, was meine Familie und ich in Darmstadt erlebt hatten. »Gianni, was euch damals passiert ist, war purer Rassismus«, sagten sie. Plötzlich hatte das alles einen Namen. Ich wurde sensibler für die Mikroaggressionen, die kleinen Sticheleien, die ich tagtäglich erlebte. Wenn sich jemand über mich lustig machte, weil ich während eines Fußballturniers wie alle anderen ein Deutschlandtrikot trug, tat das weh. Vermeintliche Freund*innen sprachen mir ab, ein Recht darauf zu haben, mich mit Deutschland zu identifizieren. Als Rom habe ich ja gar kein eigenes Land, hielten sie mir vor. Solche Äußerungen hatte ich schon oft gehört, aber bis dahin hatte ich sie einfach immer weggelächelt. In mir arbeitete es. Ich begann zu recherchieren und las alles, was ich in die Finger bekommen konnte. Ich suchte im Internet und bei vielen Organisationen Informationen über die Geschichte meines Volkes. Ich las davon, dass Sinti*zze und Rom*nja seit mehr als 600 Jahren in Europa lebten. Ich erfuhr, dass sie ursprünglich vermutlich aus Indien nach Europa gekommen waren. Mehrere Jahrhunderte wanderten sie durch verschiedene Staaten – auch weil sie immer wieder Anfeindungen erlebten. Wir hatten eine Geschichte, und es war offensichtlich: Systematische Diskriminierung und Verfolgung waren Teil davon. Ich las, dass Rom*nja in Rumänien ab dem 14. Jahrhundert als Sklav*innen leben mussten. Sie waren Leibeigne von Prinzen, anderen Adeligen und in Klöstern. Wer als Sklave oder Sklavin geboren wurde, blieb dies bis zum Tod. Natürlich waren auch die Kinder von Sklav*innen niemals frei. Es war eine verheerende Entwicklung, die fünfhundert Jahre andauerte. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts passte das System der Leibeigenschaft nun wirklich nicht mehr zum politischen und intellektuellen Geschehen in Europa. Die Sklavenbesitzer*innen ließen uns frei, allerdings nicht, ohne die Hand aufzuhalten. Natürlich, sie wollten für ihren Verzicht finanziell entschädigt werden.

Sondergesetze oder -maßnahmen für oder gegen Sinti*zze und Rom*nja gab es übrigens immer wieder in ganz Europa – in Großbritannien, Spanien, Portugal, Österreich, Ungarn, Deutschland … Mal deportierte man uns auf andere Kontinente, mal ließ man uns polizeilich erfassen, verfolgte, ermordete oder zwangssterlisierte uns. Anti-Romaismus war europaweit verbreitet. Wir erlebten Unterdrückung wie viele kolonialisierte Völker.

Meine Großfamilie – unser Zusammenleben, das Spielen, die Streitigkeiten, aber auch die Feste mit Musik und Tanz – das war lange meine einzige Heimat, meine Welt, mein »Happy Romaland«. Mit rassistischen Fremdbezeichnungen betitelt zu werden, gehörte für mich dazu wie für andere das tägliche Zähneputzen. Wie ich diese sehr unterschiedlichen Situationen empfand, variierte stark. Es gab die Menschen, die regelrecht ins Schwärmen gerieten. Sie schwafelten vom Leben im Wohnwagen, den Lagerfeuern, der Musik. Es war die pure, vor Kitsch triefende Romantisierung. Damals fand ich daran erstmal nichts Verwerfliches, immerhin hatte das ja zumindest in Teilen tatsächlich mit meiner Realität zu tun. Ich dachte, irgendwie interessierten sich die Leute für unsere Kultur und Lebensweise. Schwierig wurde es spätestens dann, wenn Menschen mich ganz offensichtlich beleidigen wollten. Ein Wort hatte dann nur den einen Zweck: mich herunterzumachen und zu entmenschlichen. Dann gab man mir das Gefühl, ein Monster, dreckig und lernbehindert zu sein. Das fühlte sich, auch vor meiner Politisierung, falsch an. Und auf keinen Fall sollten die Generationen nach mir sich mit den gleichen Beleidigungen und Diskriminierungen befassen müssen. Meine Kinder fanden mein neu gefundenes Interesse erst befremdlich. Sie konnten sich nicht vorstellen, was ich erlebt hatte. »Papa, das ist deine Geschichte«, sagten sie manchmal. Aber ich hoffte, dass sie von meinem wachsenden Wissen über die gesellschaftlichen Zusammenhänge profitieren würden.

Ich las und las und las. Und häufig stieß ich auf dieses eine Wort. Immer wieder. So oft hatte man es mir ins Gesicht geschrien, und auch ich selbst bezeichnete mich häufig so. Ich hatte lange keine Ahnung, wie viel Gewalt in diesem Wort steckte. Ich kannte die Geschichte nicht. Ich wusste auch nicht, was man dem Volk meiner Familie jahrhundertelang angetan hatte, wenn man es laut aussprach, in Akten schrieb oder in die Haut tätowierte. Das Wort hatten sie wohl auch dem Großvater meiner Oma eintätowiert, bevor sie ihn töteten. Ich hatte nicht geahnt, wie viele Lücken mein Identitätspuzzle hatte. Jahrelang hatte mich meine Familie zu dem gemacht, was ich war. Jetzt musste ich mir eingestehen, dass es noch so viel mehr über uns Rom*nja zu lernen gab, dass ich noch viel mehr über mich selbst zu lernen hatte. Und so stürzte ich mich hinein in unsere Geschichte. Vieles von dem, was ich erfuhr, machte mich stolz, erstaunte oder entsetzte mich.

Ich hatte lange keine Ahnung von dem Trauma der Sinti*zze und Rom*nja. Ich sah nur, ob und wann wir Scheiße fressen mussten oder nicht. Ich spürte nur, ob man mich verprügelte oder mir Liebe schenkte. Aber von dem Ausmaß des Porajmos erfuhr ich erst jetzt. Porajmos bedeutet »Verschlingen« und bezeichnet den Völkermord an den europäischen Sinti*zze und Rom*nja in der Zeit des Nationalsozialismus. Ich las erst jetzt davon, verstand aber, dass sich dieses Ereignis – und all die Gewalterfahrungen zuvor – in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt hatte. In uns allen hat es Spuren hinterlassen.

Im Frühjahr 1941 hatte die Wehrmacht Jugoslawien besetzt. Unmittelbar nach dem Balkanfeldzug im April wurden Sinti*zze und Rom*nja systematisch deportiert und ermordet. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Polen, in der Sowjetunion und in Südosteuropa. In Serbien mussten registrierte Rom*nja gelbe Armbinden tragen. Darauf stand das Wort, das sie für alle sichtbar markierte. Es muss in dieser Zeit gewesen sein, dass mein Ur-Urgroßvater ermordet wurde. Meine Mutter und meine Großmutter reisten einmal ins KZ in Dachau. Sie waren dort, wo einmal die Hölle gewesen war. Was sie dort fühlten und erlebten, darüber sprachen sie kaum.

Ob und wie viele andere Angehörige das Schicksal meines Ur-Urgroßvaters teilten, wissen wir nicht. Diese Unwissenheit schwebt wie ein dunkler Schatten der Vergangenheit über uns. Unsere Gewalterfahrungen sind so divers wie die Gruppen der Sinti*zze und Rom*nja. Die Erfahrungen unserer Familien und Vorfahren unterscheiden sich. Einige Rom*nja haben die Balkankriege erlebt, andere Sinti*zze sind Überlebende des Holocausts oder deren Hinterbliebene. Und ihre Erlebnisse begleiten auch uns Nachgeborene wie Gespenster. Sie sind nicht greifbar und nicht zu sehen – sie sind wie aus einer anderen Welt und Zeit –, doch die Traumata unserer Vorfahren sind auch unsere Traumata.

Vermutlich habe ich in diesem Buch bislang kein Wort so häufig genannt wie Trauma. Ich sehe sehr wohl die zweifelnden und kritischen Blicke, wenn ich öffentlich davon spreche. Ob das nicht übertrieben sei, wollen sie wissen. Ob der Begriff nicht zu inflationär benutzt werde, wollen sie wissen. Ich sage Nein. Ich bin kein Psychologe oder Wissenschaftler, aber an mir selbst, an Angehörigen und Freund*innen erkenne ich die Symptome. Wenn ich von Trauma spreche, dann meine ich Angstzustände, Depressionen oder Alpträume. Ich meine bedrohliche Gedanken, die dich in Dauerschleife verfolgen. Ich meine Wut, die du unterdrückst, bis du platzt, und Emotionen, die du nicht kontrollieren kannst. Ich denke an krankhafte Nervosität und das Bedürfnis, dich selbst zu betäuben, bis du nichts mehr spürst oder endlich ruhig wirst. Ich spreche von Menschen, die niemandem vertrauen können und zerfressen sind von Schuldgefühlen, Selbstzweifeln und -kritik. Das sind keine Hirngespinste.

Ich und viele andere – wir haben einen Schaden, für den wir nicht verantwortlich sind. Ich schäme mich nicht für meine schmerzhaften Erfahrungen und die meiner Gemeinschaft. Auch ich bin Aktivist geworden, denn weil uns niemand hilft, müssen wir uns selbst und gegenseitig reparieren. Ich jedenfalls hatte irgendwann die Schnauze voll. Ich wollte nicht einfach aufgeben und meine Erfahrungen, Probleme und Traumata unreflektiert an meine Kinder und Enkel*innen weitergeben. Und ich bin glücklicherweise nicht der Einzige. Schon in den 1970er Jahren gab es die ersten Roma-Kongresse. Menschen aus der Community leisteten Widerstand. Sie wurden laut, machten Kunst, demonstrierten und hielten Reden. Sie sprachen über das Grauen, das Sinti*zze und Rom*nja in Konzentrationslagern erlebten, und über die Ungerechtigkeiten danach. Sie wollten etwas für die späteren Generationen ändern. Ich bewundere die Liedermacher Tornado Rosenberg und Rudko Kawczinsky, die als »Duo Z« auftraten. Aber auch so starke Frauen wie die Lyrikerin Bronisława Wajs, bekannt als Papusza, die Schriftstellerin und Künstlerin Ceija Stojka oder die Sängerin Esma Redžepova haben viel für unsere Gemeinschaft bewegt. Politischer Aktivismus wird viel zu oft und insbesondere unter Sinti*zze und Rom*nja aus einer männlichen Perspektive gesehen. Heterosexuelle Cis-Männer inszenieren sich als die Macher und vergessen dabei, die Leistungen der weiblichen, weiblich gelesenen und queeren Menschen zu erwähnen. Doch es braucht immer das Engagement von vielen, und ich möchte meinen Beitrag leisten.

Nach und nach erkannte ich das Ausmaß von Alltagsrassismus, rechtskonservativem Rassismus und rassistischem Terrorismus, dem wir ausgesetzt waren und noch immer sind. Mir wurde klar, ich würde Hilfe brauchen. Deshalb fing ich an zu recherchieren und suchte nach Organisationen, die sich mit Sinti*zze und Rom*nja befassen und sie unterstützen. Auch in diesem Umfeld war Vieles für mich sehr schmerzhaft. Denn rassistische Strukturen und Machtverhältnisse gibt es überall. Ich lernte in den Vereinen aber vor allem unglaublich starke, herzliche, kluge und gebildete Rom*nja kennen. Sie brachten mir viel von dem bei, was ich heute weiß und kann. Gerade die Frauen beeindruckten mich. Sie hatten alles: Sie hatten studiert, habilitiert oder sich promoviert. Ich war begeistert und sie inspirierten mich sehr. Ich, der irgendwann einmal auf einer Sonderschule gewesen war. Ich, auf dem immer nur der Stempel »lernbehindert« geprangt hatte, saß nun mit diesen Menschen an einem Tisch. Das waren echte Vorbilder. Ich wollte sein wie sie. Ich war eingeschüchtert, aber gleichzeitig merkte ich, wie sich eine Tür öffnete. Eine Tür zu einem neuen Zuhause. Diese starken, wunderschönen, klugen und begabten Geschwister nahmen mich in den Arm und luden mich ein. In ihren Augen sah ich Leid und Freude. Ich sah mich selbst. Diese Menschen waren wie ein Spiegelbild meiner Erfahrungen. Ihre Geschichten waren genauso dramatisch wie meine eigene. Sie erlaubten mir, mich zu öffnen, zu artikulieren, und gaben mir Raum, zu sein. Sie waren für mich echte Rom*nja, Repräsentant*innen meiner Kultur, auf die ich stolz war.

Ich knüpfte unzählige Kontakte zu den unterschiedlichsten Menschen aus meiner Community, und je mehr ich von ihnen lernte, desto lauter wurde ich für meine und unsere Interessen. Untereinander diskutierten wir viel, waren auch uneins. Aber wir gaben uns gegenseitig Energie und stärkten uns. Das Schönste waren die Geschwister, die mich mit offenen Armen willkommen hießen und einfach sagten: »Bruder, schön, dass du da bist.«

Es machte mir Mut, zu erfahren, dass viele berühmte Menschen Romn*ja oder Sinti*zze sind: Marianne Rosenberg, Rita Hayworth, Yul Brunner, Sido, Ronnie Wood. Erschreckend hingegen war die Erkenntnis, dass sich viele meiner negativen Gefühle auch mit harten Fakten beweisen ließen. 2014 ergab eine Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes: Die meisten Menschen bringen mit Sinti*zze und Rom*nja vor allem Kriminalität und Bettelei in Verbindung. Rund ein Drittel aller Deutschen möchte Sinti*zze und Rom*nja nicht als Nachbar*innen. Und immerhin die Hälfte denkt, das Verhalten der Sinti*zze und Rom*nja sei dafür verantwortlich, dass sie so viele Feindseligkeiten erleben.32 Kurz: Selbst schuld.

Ich erfuhr auch mehr über die kulturellen Einflüsse in unserer Community. Entdeckte die vielen Gemeinsamkeiten in unserer Sprache Romanes – und die Unterschiede. Denn die Sprachen der Länder, in denen wir leben, verändern unser Sprechen. So entstanden im Romanes Hunderte Dialekte. Aber es gibt auch im Deutschen und den anderen Mehrheitssprachen Worte, die ihren Ursprung im Romanes haben. Ich war groß geworden mit Roma-Musik vom Balkan. Nun hörte ich bewusst Jazz-Manouche und entdeckte im Flamenco all die Gesten und Bewegungen, die ich längst kannte, wieder. Wir Sinti*zze und Rom*nja waren überall und hinterließen unsere Spuren. Die Dinge fügten sich zusammen wie ein Puzzle, das lange verstreut vor mir gelegen hatte, und das ich jetzt nach und nach zusammensetze.

In der Weihnachtszeit 2013 stand ich das erste Mal in Berlin am Denkmal für Sinti*zze und Rom*nja. So still lag es da, der Reichstag ganz nah. Ein Ort der Erinnerung. Ein Symbol für Tod – und Leben. Ein Ort, der die Geschichte traurig ins Gedächtnis rückt. Langsam schritt ich über die grauen Steine, in die die Namen von Konzentrationslagern eingemeißelt sind. In der Mitte des Brunnenbeckens lag eine einzelne Blume. Sie liegt immer dort. Verwelkt sie, wird sie gegen eine neue, frische ausgetauscht. Es war ein kalter, grauer Tag. Ich hörte diese melancholische Melodie von Romeo Franz und las das Gedicht »Auschwitz« auf dem Rand des Brunnens: »Eingefallenes Gesicht / erloschene Augen / kalte Lippen / Stille / ein zerrissenes Herz / ohne Atem / ohne Worte / keine Tränen«. Und dann weinte ich. Es schüttelte mich, und ich konnte kaum aufhören. Das erste Mal fühlte es sich so an, als wären wir doch nicht die vergessenen Europäer*innen. Hier konnte ich die DNA meiner Geschwister spüren – der lebenden und der toten. Und es tat weh.

Das Mahnmal wurde von dem israelischen Künstler Dani Karavan gestaltet. Es ist ein spiritueller Ort. Hier können wir trauern und nachdenken. Es ist ein Ort der Zusammenkunft und des Heilens. Ein Grabmal für die Toten, von denen wir nie erfahren haben. Es ist auch ein Ort des Vergebens. Die Vorstellung, dass dort eine Baustelle entstehen soll, zerreißt mein Herz. Ein Tunnel für eine neue S-Bahn-Strecke soll direkt unter dem Brunnenbecken entlangführen. Den Gedenkort hatte die Deutsche Bahn offenbar vergessen. Wie makaber: Ausgerechnet das Unternehmen, das einst Sinti*zze und Rom*nja in seinen Zügen in die Vernichtungslager transportierte, wollte nun das Mahnmal dekonstruieren. Mit der Stadt Berlin beschloss die Deutsche Bahn, das Denkmal komplett abzubauen und zu verlegen. Erst in den 1980ern bekannte sich Deutschland zu seiner Verantwortung und zum Völkermord an den Sinti*zze und Rom*nja. 2015 erklärte die Europäische Union den 2. August zum Gedenktag. Drei Jahre zuvor war das Denkmal als kleines – aber längst überfälliges – Zugeständnis im Berliner Tiergarten fertiggestellt worden. Nicht einmal zehn Jahre später sollte es nun wieder verschwinden. Die Wunde, die noch gar nicht heilte, sollte wieder aufgerissen werden. Ein Tabubruch.

Hat Deutschland etwa schon genug getrauert und der Toten gedacht? Die ganze Zeit fragte ich mich: Was ist los, Deutschland, was hast du geraucht? Was für ein Wertesystem hat dieses Land? Und wieder wollte niemand Verantwortung übernehmen. Niemand wollte sich an das erinnern, was nie hätte sein dürfen. Aktivist*innen der Community und auch viele Verbündete gingen 2020 auf die Straße und protestierten. Wir schrien. Wir waren traurig, wütend und entsetzt. Schon wieder versuchte man, uns in diesem Land unsichtbar zu machen. Aber wir wollten nicht schweigen, unser Denkmal sollte unantastbar sein – für immer. Nach unzähligen Diskussionen gibt es noch immer keine zufriedenstellende Lösung. Die Baustelle soll nun vor und hinter dem Denkmal entlangführen. Es soll gesperrt werden und zeitweise nicht zu betreten sein. Es bleibt die Angst, dass das Kunstwerk beschädigt oder sogar zerstört werden könnte. Dass aus dem Riss im Herzen einer in der Landschaft werden könnte.

Es gibt auch Menschen, die uns Sinti*zze und Rom*nja in der Angelegenheit beschwichtigen möchten. Sie sagen, dass wir doch auch Grund zur Freude haben. Das alte Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in der Heidelberger Altstadt wird nämlich erneuert. Viel Geld wird in einen Neubau gesteckt. Das ist auch dringend nötig, denn das alte Gebäude ist in einem schlechten Zustand: Der Keller ist feucht, es fehlt ein richtiges Archiv, die Technik ist uralt und die Ausstellungs- sowie Veranstaltungsräume sind nicht angemessen. Trotzdem: Ein neues Dokumentations- und Kulturzentrum im Tausch gegen das Denkmal ist ein mieser Kompromiss. Wir müssen unsere Erinnerungskultur in diesem Land von Grund auf neu denken und gestalten. Im Gedenken an die Opfer des Porajmos steht uns alles zu – wir müssen uns nicht mit Brotkrumen zufriedengeben.

Seit Jahren bin ich im Austausch mit Sinti*zze und Rom*nja und Aktivist*innen aus anderen Communitys. Durch sie fand ich meine Geschichte als Rom. Ganz natürlich entwickelte sich daraus meine aktivistische Arbeit. Nicht aus Spaß oder Langeweile, sondern aus einer Notwendigkeit heraus. Aktivist*in wirst du, weil du keine Wahl hast. Denn wenn du erst einmal verstehst, was mit dir passiert, kannst du nicht mehr still sein. Ich will die Dinge nicht einfach auf sich beruhen lassen. Ich muss mich wehren.

Einer der wichtigsten Momente in meiner Politisierung war die Silvesternacht 2015 / 2016. Dabei sah zunächst alles nach einer ganz normalen Partynacht aus. Unzählige Kölner*innen und Menschen aus dem Umland reisten an, um sich auf dem Bahnhofsvorplatz und rund um den Dom zu treffen. Sie hatten Alkohol, Böller und gute Laune dabei. So weit so gut. Keine Ahnung, wie, aber die Stimmung kippte irgendwann. Eine riesige Gruppe junger Männer – die, die Polizei als »nordafrikanisch« oder »arabisch« beschrieb – belästigte Frauen. Es kam zu massenhaften sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen. Die Stimmung war aggressiv: Feuerwerkskörper wurden in die Menge geworfen und Menschen wurden Handys und Portemonnaies gestohlen. Unzählige Strafanzeigen wurden gestellt. Es war schlimm. Auch das, was danach geschah, denn jetzt bekamen die Gegner*innen von Angela Merkels »Willkommenspolitik« richtig Futter. Wer geflüchtete Menschen in erster Linie für Kriminelle hielt, fühlte sich jetzt erst recht bestätigt.

Nach den Übergriffen witterten rechte Gruppen ihre Chance. Sie hetzten gegen Geflüchtete, muslimische Männer, »Gutmenschen« und »Bahnhofsklatscher«. Mehr noch: In Köln verabredeten sie sich zur Jagd auf Männer, die für sie wie Geflüchtete oder Migranten aussahen. Diese Situation riss mir den Boden unter den Füßen weg. Natürlich verließ ich das Haus grundsätzlich nie ohne Ausweispapiere, Bank- und Krankenkassenkarten – Racial Profiling lässt grüßen. Aber jetzt dachte ich nicht mehr nur an übergriffige Polizeikontrollen, wenn ich ausging. Im vermeintlich toleranten Köln rannten enthemmte Männer durch die Stadt, und Bilder, wie ich sie aus den 1990er Jahren kannte, kamen wieder hoch. Damals war »Ausländer klatschen« ein Volkssport. Ich war in Panik – um meinen Sohn. Ich schickte ihm ständig Nachrichten, er solle auf sich aufpassen. Es war nicht sicher draußen. Nicht für ihn, nicht für mich, nicht für uns – Menschen, die so aussahen wie wir. Unsere dunklere Haut, unsere schwarzen Haare, unsere Bärte – unser geiler Style – all das würde uns verraten. Sie würden uns erkennen. Ich kannte dieses Gefühl, diese Angst um mein Leben, seit ich denken konnte. Aber meine Kinder? Ich konnte nicht zulassen, dass sie sich derart bedroht fühlten. Deutschland war auch ihr Zuhause, ihre Heimat. Und für uns Sinti*zze und Rom*nja gab es keinen Plan B. Kein Land, in das wir hätten »zurückgehen« können. Also musste sich hier etwas tun. Ich wollte dieses Land nicht einfach rechten Horden überlassen. Ich wollte meinen Kindern beweisen, dass wir uns nicht verkriechen müssen, dass wir mitbestimmen können, wie die Dinge sich in Deutschland entwickeln.

Mit meinen besten Freund*innen startete ich also unser erstes gemeinsames Projekt: »SayNoToFaceism – Deutschsein hat keine Hautfarbe«. Wir waren BIPoC, die zeigen wollten, dass wir und unsere Familien zu Deutschland gehören. Wir forderten einen Wandel in diesem Land. Unsere Kinder sollten endlich ohne ständige Fragen nach ihrer Herkunft und ohne Rassismus leben können … Wir wollten zeigen, dass Deutschland vielfältig und deshalb schön ist. Im Mittelpunkt stand eine Fotoaktion, die wir mit weißen Verbündeten innerhalb von wenigen Stunden auf die Beine stellten. Wir holten gut aussehende Menschen zusammen, allesamt mit internationaler Familiengeschichte. Wir shooteten in meinem Wohnzimmer, und was wir erlebten, war die reine positive Energie. Wir lachten und aßen gemeinsam, sprachen über Vorurteile gegen uns, unsere Ängste, aber auch über unsere Hoffnungen. Und egal, ob jemand Hijab trug, gay oder Schwarz war – wir spürten die Brücken zwischen uns. Es waren unsere Biographien, Identitätskrisen, Erfahrungen und unsere Empathie, die uns miteinander verbanden. Jede*r Einzelne von uns hatte so viel Stärke in sich, und gemeinsam fühlten wir uns unbesiegbar und unfassbar sexy. Auch mein Sohn und meine Tochter waren dabei und bekamen von dieser Empowerment-Dusche etwas ab. Ich wollte unbedingt eine Umgebung für sie schaffen, in der sie sicher waren, sich wertgeschätzt und frei fühlen würden. Das war ein persönlicher Schlüsselmoment für meinen öffentlichen Aktivismus und meinen Kampf gegen Rassismus.

Doch auch ein Jahr nach »SayNoToFaceism« wurde klar, Deutschland hatte nicht verstanden, dass die Gefahr durch gewalttägigen Rassismus real war. Ein junger rechter Terrorrist erschoss im Olympia-Einkaufszentrum neun Menschen. Die meisten waren Jugendliche wie meine Kinder. Der Hass des Attentäters richtete sich gegen Menschen mit Migrationsgeschichte, Muslim*innen, Sinti*zze und Rom*nja. Guiliano Kollmann, Amela Segashi, Sabine S., Can Leyla, Roberto Rafael, Selçuk Kiliç, Hüseyin Dayıcık, Dijamant Zabërgja und Sevda Dağ wurden Opfer eines Rassisten. Doch das wollten die Behörden lange nicht einsehen. Dass der Mörder schon während seiner Taten von »Untermenschen« sprach, die er für ein »Virus« hielt, war nicht Indiz genug.33 Lange Zeit sprachen Politiker*innen und Medien von einem Amoklauf. Ermittler*innen gingen sogar von einem persönlichen Racheakt aus. Erst 2018 wurde die Tat offiziell als extremistisch eingeordnet. Darauf, dass eine Gedenktafel entsprechend geändert wurde, mussten die Angehörigen noch weitere zwei Jahre warten.

Das Jahr 2020 war für Schwarze Menschen und People of Color eine wirklich emotionale Zeit. Es war geradezu bewusstseinsverändernd. Am 19. Februar ermordete in Hanau ein 43-jähriger Mann neun Menschen mit »Migrationsgeschichte«. Aber das allein wäre eine falsche Kategorisierung. Der Täter tötete sie, weil er sie als »anders« erkannte. Die Menschen, die er hinrichtete, hatten zumindest für ihn die falsche Haar- oder Hautfarbe. Sie hielten sich zum Teil in Shisha-Bars auf – Orte, die dem Täter verhasst waren. Für ihn waren die Opfer »fremd«, des Lebens nichts wert. Sein Motiv: Rassismus. Das zeigten auch Pamphlete, die er geschrieben hatte, die vor Rassen- und Verschwörungsideologien strotzten. Am Ende tötete der Attentäter auch seine kranke Mutter und sich selbst.

Die Angehörigen der Opfer und viele Unterstützer*innen kämpfen bis heute für eine lückenlose Aufklärung der Morde. Sie fordern Gerechtigkeit und ein angemessenes Gedenken – nicht nur in Hanau, sondern in ganz Deutschland. Sie kämpfen dafür, dass die rassistischen Taten als solche anerkannt werden. Doch weitreichende politische Konsequenzen gab es bislang nicht. Die Familien der Opfer gründeten die Initiative 19. Februar Hanau. Ihnen ist es auch zu verdanken, dass die Berichterstattung und die Diskurse sich deutlich schneller als in anderen Fällen nicht mehr auf die Täter*innenperspektive, sondern auf die Opfer konzentrierte. Sie haben es geschafft, dass die Dimensionen rechter Gewalt in der Öffentlichkeit präsenter geworden sind. Aber der Preis ist hoch. Die Menschen, die sich in der Initiative engagieren, arbeiten seit dem Terrorakt über die Erschöpfungsgrenze hinaus. Als Vater und Großvater kann ich mir kaum vorstellen, wie sie ihre Trauer bewältigen sollen. Ihnen gebührt mein größter Respekt.

Die Opfer waren keine Fremden. Sie waren Hanauer Kinder, Bürger*innen. Die meisten von ihnen wurden in Deutschland geboren. Trotzdem können wir nicht verschweigen, dass ihre Vorfahr*innen Kurd*innen, Rom*nja, Türk*innen, Afghan*innen oder Bosnier*innen waren, denn darum mussten sie sterben. Der 19. Februar hat Familien zerrissen. Der Anschlag erschütterte People of Color bis ins Mark. Er ließ uns mit dem Gefühl zurück, dass es jede*n von uns hätte treffen können. Doch was uns bewegte, interessierte die Nation kaum. Während nicht weiße Menschen zu Tausenden verängstigt, weinend und unter Schock waren, feierte das Land. Es war Karneval. Menschen prosteten sich zu, während wir am Boden lagen. Es war surreal und zutiefst verletzend. Auch mit meinen Kindern sprach ich über diese Tat. Wir waren traurig und wütend, wir fluchten. Der Esstisch in meiner Küche war ein Treffpunkt für die Familie und Freund*innen. Es war wichtig, in diesen Momenten nicht alleine mit dem emotionalen Chaos zu sein.

Beim Gedenken an die Opfer ein Jahr später sah ich in müde, traurige, zornige und verzweifelte Hanauer Gesichter. Während einer großen Gedenkveranstaltung stand ich vor einem Mikro und rang um Fassung, als die Menschen um mich herum skandierten: »Hoch die internationale Solidarität.« Ja, wir forderten Solidarität mit den Opfern, mit den Hinterbliebenen, mit uns. Wir brüllten und schluchzten. Wir schworen: Niemals sollte der 19. Februar 2020 in Vergessenheit geraten. Wir würden nicht aufhören, ihre Namen zu sagen: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili-Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. 

Wenige Tage nach meinem 42. Geburtstag im Mai 2020 ging ein Video um die Welt. Bei einem Polizeieinsatz in den USA wurde George Floyd ermordet. Die brutale Tat wurde von Handykameras dokumentiert. Kaum jemand konnte sich vor den Bildern schützen. Es war grausam. Millionen Menschen gingen auf die Straße, die Black-Lives-Matter-Bewegung war nach jahrelanger Arbeit sichtbarer als je zuvor. Auch in ganz Deutschland gingen Zigtausende gegen rassistische Polizeigewalt zu Protestmärschen. Politiker*innen und deutsche Medien beobachteten das erstaunt. Komisch, gab es denn auch in Deutschland Rassismus und Polizeigewalt? Wie oft mussten die Menschen den Namen Oury Jalloh noch hören? Bei meinen Schwarzen Geschwistern war die Angst spürbar. Einige weinten tagelang. Alles brach aus ihnen heraus und der Schmerz einte sie. Einte uns. Die Menschen redeten miteinander, stärkten einander und viele Weiße begannen das erste Mal, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen. Mit meiner Tochter und meinem Sohn lief ich auf den Demonstrationen mit. Ich beobachtete sie und dachte: »Seht ihr, Kinder? Wir sind hier und laut. Die Menschen hören uns endlich.« Vielleicht hatte ich mir zu viel erhofft.

Rund ein Jahr nach Floyd starb übrigens Stanislav Tomáš, ein 44-jähriger Rom, fast auf die gleiche Weise durch tschechische Polizisten. Kein Aufschrei, keine Proteste. Vielleicht ein paar Zeitungsartikel, mehr nicht. Es war egal, ob es um die Morde von Hanau, den Anschlag im Olympia-Einkaufszentrum oder den Tod von George Floyd ging. Immer wieder traf ein heteronormativer, eurozentristischer Blick auf unsere Communitys. Entweder ignorierten oder entmenschlichten sie uns wie schon so oft zuvor. Im Fokus der Berichte stand das vermeintlich Fremd- oder Andersartige. Die Sensationslust stürzte sich auf Stereotype und bediente diese. Die Mehrheitsgesellschaft zeigte häufig kein Mitgefühl. Warum nicht? Weil du nicht solidarisch mit Menschen bist, die du nicht kennst und mit denen du dich nicht identifizieren kannst. Menschen fühlen mit Homosexuellen, weil sie Schwule kennen. Vielleicht ist ihr Bruder, Onkel oder bester Kumpel gay. Sie empfinden Empathie, Freundschaft oder sogar Liebe für diese Menschen. Sie empfinden all das nicht für Rom*nja.

Atme, Gianni. Atme.

2021. Was für ein Jahr. Im Januar wiederholte der WDR eine Folge des Talkformats »Die letzte Instanz«, in dem sich die Teilnehmer*innen über Soße, rassistische Sprache und Diskriminierung unterhielten. Sagen wir mal so, die Besetzung der Runde war nicht optimal, da komplett weiß. Deshalb waren die Wortbeiträge der illustren Gäst*innen nicht unbedingt von Expertise geprägt. Der öffentliche Aufschrei war berechtigt sowie groß, und es wurde heftig diskutiert. Mein Telefon stand nicht mehr still und das Mail-Postfach rappelte. Als Reaktion auf die Fernsehsendung stampfte Enissa Amani kurzerhand ihr eigenes Format aus dem Boden. Sie rief und BIPoC kamen. In »Die beste Instanz« diskutierten Natasha A. Kelly, Nava Zarabian, Max Czollek, Mohamed Amjahid und ich mit Enissa über Rassismus, Antisemitismus und Anti-Romaismus. So könnten Talkshows ebenfalls aussehen – fanden auch die Zuschauer*innen. Das Online-Format wurde binnen kürzester Zeit mehr als 600 000 Mal aufgerufen und schließlich sogar mit dem Grimme Online Award des Jahres ausgezeichnet. Noch Fragen?

Eine bessere Zukunft gestalten hieß für mich immer auch, ehrlich mit meinem Schmerz umzugehen. Manche Menschen werfen mir öffentlichen Seelenstriptease vor, damit kann ich leben. Ich mache mich gerne nackt, wenn es sein muss. Vor meinen Kindern wollte ich mich nie verstellen, und auch mein Aktivismus soll authentisch sein. Je ehrlicher ich über meine Erfahrungen und Emotionen gesprochen habe, desto mehr hörten zu. Und vielleicht haben einige etwas verstanden: Wir alle sind in rassistischen Strukturen aufgewachsen. Wir profitieren oder sind Opfer davon.

Auch in meiner Familie reproduzieren Menschen oft Rassismus oder Homophobie in ihrer Sprache, obwohl sie selbst so sehr von Diskriminierung betroffen sind. Meine Hoffnung sind meine Enkel*innen. Sie ertappen die Erwachsenen oft und maßregeln sie. »Du redest rassistische Kackscheiße!« ist das Schönste, was meine Enkelin jemals zu meinem Vater gesagt hat. Ich bin besonders selig, wenn ich ihr Romanes höre. Denn die Sprache ist uns geblieben. Darin drücken wir alles aus: unsere Liebe, Politik, Freundschaft. Alles. Dass meine Enkel*innen die Sprache perfekt beherrschen, zeigt: Wir Rom*nja sind noch da.

Mein Aktivismus ist den Sinti*zze und Rom*nja sowie allen queeren Menschen gewidmet, aber vor allem tue ich all das für meine Familie. Ich weiß, wo ich herkomme, und das wünsche ich auch meinen Enkel*innen. Mein Enkelsohn hat da ohnehin keine Chance – er sieht aus wie ich. Wenn ich ihn und seine Schwester ansehe, sehe ich viele Unterschiede, aber auch Parallelen zu mir selbst. Sie wissen sich zu behaupten. Selbstbewusst sagen sie: »Nein, ich will das nicht!«, wenn ihnen etwas nicht passt. Sie können sich wehren – gegen ihre Lehrer*innen, Eltern, Groß- oder Urgroßeltern. Diese Kinder sind im besten Sinne »woke«. Sie haben schon jetzt Worte für Umstände, die Erwachsene oft nicht einmal beschreiben können. Sie können Rassismus benennen, wo sie ihn sehen oder selbst erleben. Sie korrigieren die Erwachsenen um sich herum, die kopflos Redensarten herunterspulen und rassistische Sprache und Bilder reproduzieren. »Hautfarbe? Kannst du da mal bitte präzise sein! Davon gibt es ja nun wirklich viele«, erklärte mein Enkelsohn mal und zeigte auf eine Palette Buntstifte. Er und seine Schwester haben die besten Sprüche parat, wenn Mitschüler*innen sie beleidigen: »Ihr wohnt doch alle in Wohnwagen«, bekamen auch sie schon zu hören. Antwort: »Ja, aber mit Porsche vorne dran!«