Goldkinder und schwarze Schafe: Die Ungleichbehandlung von Geschwistern

»Alle Liebe der Menschen muss erworben, erobert und verdient, über Hindernisse hinweg erhalten werden. Die Mutterliebe allein hat man unerworben und unverdient.«

Berthold Auerbach

Die meisten betroffenen Frauen, mit denen ich gesprochen habe, haben Geschwister, manche nur eine Schwester oder einen Bruder, andere hatten mehrere Geschwister.

Einige waren das Goldkind und wurden später irgendwann zum schwarzen Schaf erklärt. Andere waren von Anfang an das schwarze Schaf und daran hat sich nie etwas geändert. Bei wieder anderen schwankte es ständig, je nachdem, was die Mutter gerade brauchte und wer von den Geschwistern ihr das geben konnte. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang auch, wie sich die einzelnen Geschwister für sich selbst entwickeln, wie sie zueinanderstehen und inwieweit sie sich von ihrer Mutter unabhängig machen.

Narzisstische Mütter hassen es, wenn sich ihre Kinder, egal wie alt sie sein mögen, eigene Gedanken machen, es sei denn, es kommt ihnen gerade gelegen, was sie denken. Sie mögen es einfach nicht, wenn ihre Kinder ihre eigenen Wege gehen, und verlangen bedingungslose Aufmerksamkeit immer dann, wenn sie diese brauchen oder haben wollen. Auch bei uns zu Hause war das so: Ich erlebte mich eindeutig als das schwarze Schaf, meine Schwester als das Goldkind. Unsere Mutter versuchte uns beide aus meiner Sicht ganz klar gegeneinander auszuspielen, und es ist total erstaunlich, dass wir Schwestern ein so enges Verhältnis zueinander haben. Ich erinnere viele Beispiele, die ich nur so deuten kann, dass unsere Mutter versuchte, uns zu entzweien, und als wir noch jünger waren, war sie damit hier und da sogar erfolgreich.

In den Interviews, die ich führte, wurde deutlich, was ich bereits vermutet hatte: Narzisstische Mütter schätzen es überhaupt nicht, wenn sich ihre Kinder untereinander gut verstehen. Frieden soll sein, sofern der gerade benötigt wird. Aber bitte keine wirkliche Verbundenheit der Geschwister. Kinder, die sich eng miteinander verbunden fühlen, bilden eine Einheit. Narzisstische Mütter, oder sagen wir besser, Narzissten ganz allgemein, mögen es nicht, wenn andere Menschen eine Einheit bilden, eine Art Allianz. Es ist ihnen nämlich bewusst, dass sich diese Allianz, mag sie noch so klein sein, auch gegen sie wenden könnte. Und gemeinsam ist man immer stärker.

Ganz allgemein kann man sagen, dass das Goldkind immer alles hat und alles bekommt, während das schwarze Schaf leer ausgeht. Das betrifft nicht nur materielle Dinge, sondern auch Zuwendung und Liebe. Das Goldkind wird immer in den Himmel gehoben, das schwarze Schaf wird massiv entwertet. Oberflächlich betrachtet müsste man also davon ausgehen, dass es dem Goldkind in einer Familie mit einer narzisstischen Mutter unglaublich gut geht – aber das ist eben nur der oberflächliche Eindruck, den man als außenstehender Mensch gewinnen mag.

Die Wahrheit ist, dass auch das Goldkind leidet, nur in vielen Fällen nicht so bewusst – und oft auch erst im Erwachsenenalter und im Rückblick. Bezogen auf meine Kindheit und die meiner Schwester kann ich sagen, dass ich meine Schwester immer innig liebte – aber auch eifersüchtig auf sie war. So wie ich es wahrnahm, hatte sie immer die volle Aufmerksamkeit unserer Mutter, wurde ausstaffiert wie eine kleine Prinzessin und musste überhaupt nichts tun, um Mamas kleiner Goldschatz zu sein. Ich hingegen bekam nur sehr selten etwas, erbte Kleidung eher von Verwandten, wurde kaum und manchmal gar nicht beachtet. Ich hatte den Eindruck, dass ich mit allem allein zurechtkommen müsse und keinerlei Unterstützung von meiner Mutter zu erwarten hätte. Alles, was mit mir zu tun hatte, war ihr zu viel. Meine Schwester hingegen bekam die volle Unterstützung und noch viel mehr. Ich habe mir allerdings schon als Teenager zusammenreimen können, dass meine kleine Schwester vollkommen unselbstständig gehalten wurde. Stellte man ihr eine einfache Frage, sah sie auch im Alter von sechs oder sieben Jahren noch Hilfe suchend zu unserer Mutter, die dann ein ganz besonders liebevolles Lächeln aufsetzte und meiner Schwester die Antwort vorgab. Meine Schwester plapperte ihr dann einfach nach. War unsere Mutter nicht in der Nähe, verhielt sich meine Schwester ruhig und schweigsam. Sprach man sie an, antwortete sie nicht, manchmal versteckte sie sich sogar irgendwo. Als sie zur Schule ging, hatte sie es sehr schwer, denn dort sollte sie plötzlich allein klarkommen.

Bei mir war das anders. Ich war in meinen ersten sechs Lebensjahren von meinen Großeltern zur Eigenständigkeit erzogen worden und hatte meine eigene Meinung zu allen möglichen Dingen. Ich brauchte keine Mutter, die neben mir stand, wenn ich in der Schule oder sonst irgendwo war, ich kam allein zurecht – und dachte nicht mal über solche Dinge nach. Ich war einfach ich – jedenfalls wenn ich mich außerhalb meines Zuhauses bewegte.

Die Liebe meiner Mutter zu meiner Schwester habe ich schon als Teenager als »Affenliebe« bezeichnet. Und ich kann es nicht anders sagen, als dass sie richtiggehend benutzt wurde, um mir meinen Status als schwarzes Schaf der Familie zu verdeutlichen. Kam ich hungrig nach Hause und fragte nach Essen, hieß es, ich soll mir ein Brot machen. Meiner Schwester wurde im gleichen Moment ein Brot angeboten – und da war sie schon lange kein Kleinkind mehr. Sie bekam liebevoll ein Brot geschmiert, das Ganze wurde in mundgerechte Häppchen geschnitten, mit Salatblättern, Tomaten und Gürkchen dekoriert und meine Mutter setzte sich sogar neben sie beim Essen. Ich hingegen kann mich nicht erinnern, überhaupt Beachtung gefunden zu haben. Setzte ich mich dann mit meinem Brot an den Tisch, an dem sie mit meiner Schwester saß, wurde ich gefragt, ob ich etwa keine Hausaufgaben zu erledigen hätte.

Ich könnte noch endlose Beispiele dafür bringen, wie mir meine Mutter durch die liebevolle Zuwendung zu meiner Schwester zeigte, wie wenig sie für mich übrig hatte. Die Ergebnisse und Erkenntnisse sind es jedoch, auf die es ankommt: Die Probleme, die sowohl meine Schwester als auch ich hatten, waren nämlich die gleichen, auch wenn wir so unterschiedlich behandelt wurden. Ich hatte immer eine eigene Meinung zu allen möglichen Dingen, wagte es aber oft nicht, sie auch zu formulieren und durchzusetzen. Meine Schwester hingegen brauchte viele Jahre, um zu verstehen, dass sie eine eigene Meinung haben darf. Sie zu vertreten hätte sie sich früher aber nicht gewagt. Wertlos fühlten wir uns beide. Der Missbrauch, so stellt es sich für mich heute dar, fand an uns beiden statt, nur eben auf völlig unterschiedliche Weise. Bei keiner von uns beiden war es schlimmer oder besser, es war einfach nur anders, bewirkte aber die gleichen negativen Gefühle: die Angst davor, sich für sich selbst und die eigenen Rechte einzusetzen. Eigene Grenzen zu erkennen und zu verteidigen. Die Angst, egoistisch zu sein und als undankbar angesehen zu werden. Wir beide haben immer einen völlig unkritischen Respekt für andere Menschen aufgebracht und haben überhaupt nicht wahrgenommen, wenn man vor uns keinen Respekt hatte. Wenn man es genau nimmt, dachten wir wohl auch beide überhaupt nicht darüber nach, dass man auch vor uns Respekt haben sollte. Wir hatten beide immer das Gefühl, viel geben zu müssen und niemals etwas verlangen oder erwarten zu dürfen. Existenzängste, Angst, allein zu sein – das kennen wir beide nur zu gut. Die Ergebnisse waren also zumindest in unserem Fall gar nicht so unterschiedlich. Unsere Lern- und Entwicklungsprozesse verliefen trotz des Altersunterschieds recht parallel – und die meisten Dinge haben wir gemeinsam bearbeitet.

Das Goldkind hat es also nicht automatisch unglaublich gut – viele ehemalige Goldkinder tragen lebenslang ein schlechtes Gewissen den Geschwistern gegenüber mit sich herum und fühlen sich genauso »falsch« wie sie.

Johanna, eine Frau, die ich schon seit vielen Jahren kenne und die inzwischen um die fünfzig ist, war immer in der Position des Goldkindes. Als erstes Kind von insgesamt vier Geschwistern ist sie auch das einzige Mädchen in der Familie. Von ihrem Vater erzählt sie mir, dass er ein ruhiger Mann ist, beruflich in einer hervorragenden und gesicherten Position, er kann seiner Familie sehr viel bieten und ist der Alleinverdiener. Er ist sehr belesen und so kennen ihn seine Kinder, wenn er zu Hause ist: mit einem Buch in der Hand auf dem Sofa oder in seinem Lieblingssessel. Zu Hause hat allein die Mutter das Sagen und was sie sagt, ist Gesetz. Auch der Vater hat sich dem zu beugen.

Johanna erzählt mir, dass ihre Mutter der Familie gegenüber nicht offensichtlich lieblos ist, sondern eher ganz subtil und nur dem Vater und den Brüdern gegenüber. Sie tut immer alles für alle, was in ihrer Macht steht. Sie ist auch immer in Aktion: kochen, putzen, einkaufen. Sie engagiert sich an den Schulen ihrer Kinder, später nur noch an Johannas Schule, denn sie ist die Einzige, die auf ein Gymnasium geht. Schon in der Grundschule erfahren ihre kleinen Brüder ständige Kritik. Nichts können sie gut genug machen. Wenn sie eine Zwei von der Schule nach Hause bringen, hätte es eine Eins sein müssen. Bringen sie eine Eins mit nach Hause, ist das eine Selbstverständlichkeit, über die man nicht weiter spricht. »Wenn ich eine Eins mit nach Hause brachte, wurde ich aber gefeiert und bekam Belohnungen. Es hieß dann immer, das sei etwas Besonderes, schließlich gehe ich ja auf ein Gymnasium, meine Brüder aber nur auf eine Realschule.«

Johanna wird gefördert. Sie interessiert sich für Pferde und darf reiten lernen, bekommt sogar eine Reitbeteiligung. Sie interessiert sich für das Ballett und wird im Ballettunterricht angemeldet. Als sie merkt, dass das doch nichts für sie ist, darf sie den Unterricht abbrechen. Ihre Brüder hingegen müssen alles weitermachen, was sie anfangen wollten. Die meisten Dinge wollen sie allerdings nicht mal selbst anfangen, sondern mussten, weil die Mutter es für richtig erachtet. »Mein jüngster Bruder war ein kleines Sensibelchen«, erzählt mir Johanna. »Er weinte oft, natürlich hieß es dann, dass Jungs nicht weinen. Er sollte härter werden, also meldete unsere Mutter ihn im Fußballverein an. Ihm war das Training zu hart und er tat sich oft weh. Er wurde jahrelang gezwungen, weiter zum Fußballtraining zu gehen. Das Ergebnis war, dass er anfing zu lügen. Er trieb sich irgendwo herum und erzählte dann abends Geschichten vom Fußballtraining. Das kam eines Tages heraus und er wurde nicht nur Lügner genannt, sondern auch Versager. Er war in den Augen unserer Mutter ein Weichei.«

Das Schlimmste ist für Johanna allerdings, dass die Mutter ihren Brüdern immer Predigten hält: »Schaut euch eure tolle Schwester an. Die ist klug, die ist schön, die kann alles, die ist ehrgeizig, die ist nicht so verweichlicht.« Johanna bekam schöne Kleidung, sie wurde überall als Wunderkind vorgeführt, als überdurchschnittlich intelligent. »Das war furchtbar«, erzählt Johanna mir im Gespräch. »Meine Brüder hatten auch ihre Talente, aber das waren Begabungen, mit denen meine Mutter nichts anfangen konnte. Sie waren auch nicht dumm, aber weil sie es nicht aufs Gymnasium schafften, hieß es immer, die Klugheit in der Familie wäre eben einzig bei mir gelandet. Mit mir gab meine Mutter überall an und führte mich vor. Meine Brüder waren einfach nur da.« Andererseits, so erzählt Johanna, sei ein Versagen ihrerseits ohnehin in allen Belangen ausgeschlossen, ja undenkbar gewesen. Die Mutter setzt die Leistung voraus. Dass sie auch mal eine schlechte Note schreiben könnte – darüber wurde erst gar nicht nachgedacht.

Johanna hat immer ein schlechtes Gewissen ihren Brüdern gegenüber, denkt immer, sie nimmt ihnen alles – und versucht, sie zu unterstützen, wo immer es nur geht. Die zwei jüngsten Brüder wenden sich im Laufe der Jahre von ihr ab, ein gutes Verhältnis hat sie nur zu dem Bruder, der zwei Jahre nach ihr geboren wurde. Sie selbst hat studiert und hat eine tolle Karriere hingelegt. Ihre Brüder sind ebenfalls erfolgreich, auch ohne Studium. Der Mutter ist das aber nicht genug. Sie hat ihren ruhigen Mann überlebt und wenn Johanna sie gemeinsam mit ihrem Bruder besucht – allein tut sie das nicht –, bekommt sie immer noch die größte Aufmerksamkeit der Mutter. Sie weist sie dann immer wieder in Anwesenheit des Bruders darauf hin, dass dieser ja auch am Tisch sitzt. »Ach ja«, sagt die Mutter dann, »das freut mich auch.« Mehr nicht. Die Besuche bei der Mutter werden im Laufe der Jahre immer weniger. »Sie steht jetzt kurz davor, in ein Pflegeheim zu müssen«, erzählt Johanna. »Ich kann sie nicht pflegen. Meine Brüder wollen sie nicht pflegen. Aussprachen sind nicht möglich, sie streitet alles ab und wenn sie mal zugibt, dass sie mich immer bevorzugt hat, erklärt sie das mit meinen außergewöhnlichen Talenten. Dabei sind die ganz normal und meine Brüder haben auch ihre Talente. Das wird sie aber nicht verstehen, weil sie es nicht verstehen will.«

Ähnliche Geschichten erzählten mir auch andere betroffene Frauen, zum Beispiel Nadine, Ende dreißig: »Ich war der Mond, meine Schwester war die Sonne. Fehler wurden nur bei mir gesucht, meine Schwester machte alles richtig. Ich selbst habe das so übernommen und auch alle Fehler immer erst mal bei mir gesucht. Mit den Jahren hat das sogar diverse Psychosen ausgelöst. Mitgefühl hatte meine Mutter immer nur mit fremden Personen oder mit meiner Schwester. Mit mir niemals. Ich erlebte nur Abwertung und leide schon mein Leben lang unter Verlust- und Existenzängsten.«

Lina, Anfang vierzig, sagt: »Bei mir war es nicht die Mutter, sondern der Vater. Meine kleine Schwester war sein Liebling. Als es nur mich gab, war meine Mutter an allem schuld. Als meine Schwester dann zur Welt kam, war ich an allem schuld.«

Doris, Mitte vierzig, erzählt: »Die Sache mit dem Goldkind und dem schwarzen Schaf verlief bei uns sehr subtil. Ich kann mich an viele Erlebnisse in der Kindheit überhaupt nicht mehr erinnern, außer dass ich mutistisch war.* Es gab viele Situationen, in denen ich nicht gesprochen habe. Materiell wurde ich nicht vernachlässigt, aber ich habe mich immer als schwarzes Schaf der Familie gefühlt. Meinem Bruder ist alles gelungen, während ich der Rebell war, aber auch viel zu sozial und viel zu emotional. In der Gegenwart meiner Mutter fühlte ich mich unwohl und mochte ihre Berührungen nicht. Ich gehörte nie richtig dazu, auch in der Schule nicht, obwohl ich natürlich auch Freunde hatte. Heute leben meine Mutter und mein Bruder zusammen. Sie sind seit Jahren überzeugte Singles und total aufeinander fokussiert. Zu allem haben sie die gleiche Meinung. Er sieht sich als ihr Versorger, sie kümmert sich um ihn. Er versteht nicht, dass ich mich mit ihr nicht verstehe, und gibt mir daran die Schuld.«

Ich möchte gern wissen, was sie unter »subtil« versteht:

»Sie lässt mir gegenüber immer wieder Bösartigkeiten heraus, aber auf eine Art und Weise, dass andere es nicht wirklich merken. Sie stichelt so lange, bis ich sauer werde. Dann bekommen wir Streit und das ist natürlich dann meine Schuld. Sie sagt, ich sei streitsüchtig. Ich schaffe es inzwischen relativ gut, ruhig und gelassen zu bleiben, wenn wir uns sehen, aber meist bin ich schon nach wenigen Stunden wieder innerlich total wütend, weil sie eine Gemeinheit nach der anderen heraushaut, während sie meinen Bruder regelrecht anhimmelt. Er wird bewundert, sein Wort ist Gesetz. Es ist eine Koketterie, die sie auch früher bei meinem Vater anwandte. Ich bin nicht eifersüchtig, ich finde dieses Verhalten nur extrem widerlich.«

Im weiteren Gesprächsverlauf sagt sie: »Von außen betrachtet würde jeder sagen, dass mein Bruder total selbstbewusst und eigenständig ist. Aber da ist eben dieses unsichtbare Band zwischen ihm und meiner Mutter und er merkt nicht, was da abläuft. Vielleicht bin ich sogar in der besseren Position als er, denn ich habe immer gespürt, dass da was nicht stimmt, und habe mich freigestrampelt. Ich habe irgendwann verstanden, dass ich mich schwierigen, sozialen Situationen stellen muss, wenn ich meine Ängste überwinden möchte. Ich denke da zum Beispiel an meine Zeit in der Uni, wenn eine Vorstellungsrunde gemacht oder ein Referat gehalten werden musste. Ich habe oft Blut und Wasser geschwitzt. Und obwohl ich mich diesen Ängsten immer gestellt habe, hat es mir natürlich im Leben auch viel verbaut.«

Andrea, Mitte dreißig, erzählt: »Ich bin mir nicht sicher, ob meine Mutter oder mein Vater Narzissten sind. Ich bin die Ältere und daher war ich immer für alles verantwortlich. Wenn mein Bruder Mist gebaut hat, wurde nicht er bestraft, sondern ich. Wenn irgendjemand behauptete, ich hätte dies oder das angestellt, wurde ich nicht gefragt, ob das überhaupt stimmt – ich habe einfach nur den ganzen Hass abbekommen. Wenn irgendwas nicht lief, wie meine Mutter es haben wollte, war es meine Schuld. Ich musste mir mein Leben lang anhören, wie undankbar ich bin, weil ich als kleines Kind hier und da einfach mal etwas Liebe von ihr haben wollte. Liebe, wie mein Bruder sie ja auch bekommen hat. Sie hat mir immer wieder vorgeworfen, dass sie ihre Ausbildung abbrechen musste, weil sie mit mir schwanger war. Ich habe quasi ihre Karriere ruiniert. Es gab keine Umarmungen, keine lieben Worte oder dergleichen. Wenn ich mir als Kind wehgetan habe oder später, wenn ich mal Liebeskummer hatte, hieß es immer: ›Hör auf zu heulen und dich selbst zu bemitleiden.‹ Mein Bruder kennt das alles nicht. Er war eindeutig das Goldkind.«

Ausnahmslos alle Personen, mit denen ich gesprochen habe, männlich oder weiblich, erzählten von der Goldkind-Sündenbock-Situation. Offenbar ist es ein ganz deutliches Merkmal von narzisstischem Missbrauch durch einen Elternteil, dass die eigenen Kinder niemals gleich geliebt und behandelt werden. Das Gefälle in den Unterschieden, die gemacht werden, ist darüber hinaus so groß, dass zumindest dem Kind in der Position des schwarzen Schafes sehr deutlich wird, dass es weniger geliebt wird, weniger wichtig ist, als nicht so perfekt angesehen wird wie das Geschwisterkind, das ihm als Goldkind vorgeführt wird. Es herrscht eine Spirale der Abwertung und Demütigung, die zwangsläufig zu schweren Störungen, wenn nicht sogar Traumata des »weniger wertvollen Kindes« führen, die auch der erwachsene Mensch nur schwer und oft gar nicht überwinden kann. Es entstehen daraus selbstschädigende Verhaltens- und Denkmuster, oft auch »negative Glaubenssätze« genannt. Das Goldkind wird dazu benutzt, das schwarze Schaf noch mehr abzuwerten, als es ohnehin schon der Fall ist. Das schwarze Schaf wird umgekehrt dazu benutzt, das Goldkind noch mehr aufzuwerten.

Fast noch schwieriger erscheint mir die Situation, in der Geschwister seit frühester Kindheit um die Anerkennung und »Liebe« der narzisstischen Mutter konkurrieren müssen, weil die Positionen immer wieder wechseln: Beide (oder mehr) Geschwister befinden sich abwechselnd in der Position Goldkind oder schwarzes Schaf. Eine enge Verbindung zwischen den Geschwistern kann so nicht entstehen. Aber die Bindung zur narzisstischen Mutter ist auch nicht vorhanden: Sie muss immer wieder erarbeitet werden, wird aber auch immer wieder verloren. Somit stehen die Mutter und ihr Wohlwollen immer im Fokus der Aufmerksamkeit aller Geschwister, aber keines davon fühlt sich wirklich geliebt und angenommen. Keines der Kinder fühlt sich jemals sicher in seiner Position und untereinander herrscht ein stetiger Konkurrenzkampf. Ein Konkurrenzkampf, in dem es nicht darum geht, wer der oder die Bessere ist – sondern um Sicherheit und Liebe. Das ist tragisch.

In all den Gesprächen, die ich mit betroffenen Goldkindern und schwarzen Schafen führte, bin ich nur auf wenige Fälle gestoßen, in denen die Geschwister irgendwann ein gutes Verhältnis zueinander aufbauen konnten. Bei mir ist der Eindruck entstanden, dass es oft die Geschwister in der ehemaligen Goldkind-Position sind, die darin lebenslang verbleiben möchten und sich daher gar keine Gedanken über den Missbrauch machen, dem sie selbst ausgesetzt sind – sofern sie das Goldkind bleiben. Viele machen sich offenbar auch keine Gedanken über die sehr viel schlechtere Position von Bruder oder Schwester, weil es ja immer so gewesen und »natürlich« desjenigen Schuld ist. Das Aufarbeiten dieser Art des Missbrauchs und das Suchen von Nähe und Verbundenheit mit den Geschwistern scheint überhaupt nur dann stattzufinden, wenn ein Goldkind irgendwann von seinem Thron gestoßen und durch einen anderen Menschen ersetzt wird – oder wenn es schon in der Kindheit bewusst unter dieser Position gelitten und Schuldgefühle den Geschwistern gegenüber hatte. Ansonsten ist zu beobachten, dass Geschwister, die so aufgewachsen sind, auch als erwachsene Menschen nicht zusammenfinden, selbst wenn die narzisstische Mutter irgendwann verstirbt. Ein Zusammenfinden scheint eher da möglich zu sein, wo die Rollen von Zeit zu Zeit wechselten und jedes der betroffenen Geschwister sowohl die Position des Goldkindes als auch die des Sündenbocks kennt.

Es bleibt die Frage, warum die Liebe und die Fürsorge einer narzisstischen Mutter so unterschiedlich verteilt wird. Warum das schwarze Schaf, der Sündenbock, überhaupt schwarzes Schaf oder Sündenbock ist. Fragen, die alle Betroffenen oft lebenslang begleiten, denn: Sind sie nicht selbst schuld? Hat ihnen die Mutter nicht schon in der Kindheit immer wieder gesagt, was an ihnen alles falsch und schlecht ist? Warum sie nicht gut genug sind? Warum das Goldkind so viel besser ist?

Ich denke, es gibt hier eine Menge möglicher Erklärungsansätze. Die eine Wahrheit, die betroffene Menschen auf solche Fragen suchen, wird es wohl nicht geben. In meinem Fall war es sicher so, dass ich aus erster Ehe stammte und meine Mutter zu mir eigentlich gar kein Verhältnis aufbauen konnte, weil sie mich direkt nach meiner Geburt in die Obhut meiner Großeltern gab. Als ich dann zu ihr zog, war ich ihr sicher so fremd wie sie mir auch. Ich war außerdem eine kleine Persönlichkeit, das hatten meine Großeltern aus mir gemacht. Eine Persönlichkeit, die sie nicht mochte. Ich hatte meine eigene Meinung, ich hatte meine Interessen, ich hatte meine Vorlieben. Ich himmelte meine Mutter nicht an, sie war mir fremd und ich musste sie erst einmal kennenlernen. Vielleicht war sie einfach enttäuscht, weil sie dachte, ich werde sie mit meiner kindlichen Liebe überschütten, wenn ich nun zu ihr ziehe. Aber wenn mich etwas bedrückte, ging ich zu meinen Großeltern, denn zu ihnen hatte ich Vertrauen. Mit meinen Großeltern schmuste und kuschelte ich viel, mit ihr nicht – ich hatte als Kind schon das Gefühl, dass sie das eigentlich nicht will, und wagte nur selten entsprechende Annäherungen. Und wenn ich es wagte, hatte ich den Eindruck, sie schiebt mich von sich weg. Meine Schwester hingegen war das Kind aus zweiter Ehe. Unsere Mutter war zu dieser Zeit Hausfrau und hatte Zeit, sich um meine Schwester zu kümmern. In meinen Augen verhätschelte sie sie bis zur Hilflosigkeit und wir sind uns beide sicher, dass unsere Mutter damit nicht die Bedürfnisse meiner Schwester erfüllte, sondern ihre eigenen.

In Johannas Fall habe ich den Eindruck, dass die vermutlich narzisstische Mutter in ihrer Tochter eine Person sah, durch die sie ihre eigenen Träume und Wünsche auslebte. Vielleicht hätte sie selbst gern studiert und Karriere gemacht, aber in ihrer Generation galt das noch als Ausnahme. Vielleicht hätte sie selbst gern Reitunterricht gehabt und eine Reitbeteiligung. Vielleicht hätte sie selbst gern so vieles von dem gemacht oder wäre selbst gern das gewesen, was letztlich aus Johanna geworden ist. Möglicherweise mochte sie Männer auch nicht allzu sehr, definitiv hatte sie das Kommando und ihr Mann war nur der Ernährer, der von allen anderen Dingen in ihren Augen keine Ahnung hatte. Johannas Brüder hatten von daher vielleicht nur das Pech, als Junge geboren worden zu sein. Johanna sagt, Achtung hätte die Mutter vor dem Vater nie gehabt, sie hat sich ihm gegenüber total übergriffig verhalten.

In wieder anderen Familien drängte sich mir der Verdacht auf, dass die Mutter eher eifersüchtig auf die Tochter war und daher den Sohn bevorzugt hat. Vielleicht hat sie es niemals überwunden, dass sie selbst dies oder das nicht tun konnte, und gönnte es ihrer Tochter daher auch nicht. Vielleicht sah sie etwas Außergewöhnliches in der Tochter und wollte nicht, dass die Tochter besser ist als sie selbst, unterdrückte sie deswegen und hielt sie klein.

Gerade da, wo es mehrere Geschwister gibt, habe ich den Eindruck gewonnen, dass die Position des Goldkindes immer an das Kind vergeben wird, das in diesem Moment die Bedürfnisse der Mutter erfüllen kann: Entweder es steht voll und ganz auf ihrer Seite, beispielsweise wenn die Mutter Streit mit dem Vater, mit der Verwandtschaft oder mit Freunden hat. Oder sie konnte mit diesem Kind besonders gut angeben und anhand dieses Kindes der Umwelt beweisen, was für eine tolle Mutter sie doch ist.

Manchmal scheinen Äußerlichkeiten eine Rolle zu spielen. Eine Tochter, die ganz besonders hübsch ist, aber nach dem möglicherweise ungeliebten Vater kommt, ist vielleicht für eine narzisstische Mutter schwer zu ertragen. Ein Sohn, der dem ungeliebten Vater ähnlich ist, ebenso.

Alle möglichen Erklärungen, die mir aufgrund all dieser Geschichten einfallen oder die ich schon mit anderen Betroffenen gesucht und besprochen habe, sind individuell und für aufrichtig liebende Mütter überhaupt nicht nachvollziehbar. Vor allem zeugen all diese möglichen Erklärungen niemals von einer besonderen Schlechtigkeit, von Dummheit, von allen möglichen Fehlern, die einem »schwarzen Schaf« schon in der Kindheit unterstellt werden. Sie zeigen eigentlich alle nur große Defizite der Mutter auf. Und trotzdem fühlen sich die Betroffenen, als läge es an ihnen selbst, dass mit ihnen so umgegangen wurde. Fühlen sich schuldig, undankbar, und viele von ihnen haben auch im fortgeschrittenen Alter noch Scheu davor, diesen Missbrauch als solchen zu bezeichnen, anderen Menschen davon zu erzählen und ihre Mutter dadurch schlecht dastehen zu lassen. »Man« macht doch seine Mutter nicht schlecht. Und »man« hat ja immer noch die Hoffnung, dass sie eines Tages die Mutter sein wird, die man sich wünscht.

Wichtig zu erwähnen ist noch die Position des »lost child« – das verlorene Kind. Es ist tatsächlich verloren, auf ganzer Ebene. Das lost child ist einfach nur da. Es wird ernährt, gekleidet, zur Schule geschickt. Nicht schlecht, aber auch nicht gut behandelt. Das Goldkind erzählt bei Tisch irgendwas Tolles, was es getan oder erlebt hat, und erntet Beifall. Das schwarze Schaf am gleichen Tisch erntet für die gleichen Dinge Kritik. Wenn das verlorene Kind etwas erzählt, wird es vielleicht angeschaut, erhält aber so gut wie gar keine Reaktion, und dann wird das Thema gewechselt. Spricht das verlorene Kind die Mutter darauf an, schüttelt sie den Kopf und versteht nicht, was das Problem ist. Sie hat doch zur Kenntnis genommen, was es gesagt hat. Was zur Hölle soll sie denn noch tun?

Am häufigsten bleiben aber die Rollen »Goldkind« und »Sündenbock«. Das lost child kommt nicht in vielen Familien vor, aber es ist durchaus auch eine Rolle, die einem Kind zugedacht werden kann. Diese Rolle wechselt meiner Erfahrung nach übrigens nie in die des Goldkindes, eher in die des schwarzen Schafs: Wenn das verlorene Kind irgendwie schwierig wird, weil es sich niemals wahrgenommen fühlt, kann es gut sein, dass es die Rolle des schwarzen Schafs zugedacht bekommt. Damit wird dann oft das vorherige schwarze Schaf zum verlorenen Kind. Ja, es ist kompliziert …


* Mutismus bezeichnet eine Kommunikationsstörung, eine Stummheit, die nicht ursächlich in Defekten des Gehörs oder des Sprachorgans begründet ist. Mutismus geht häufig mit Depressionen und einer Sozialphobie einher.