非常高兴这本书能够告诉德国读者,
有一个中国学者是这样理解历史上的中国的.
葛兆光
Ich freue mich sehr, dass ich mit diesem Buch die Gelegenheit habe,
der deutschen Leserschaft zu erklären, wie ein chinesischer
Wissenschaftler das historische China versteht.
Ge Zhaoguang
Jede Geschichte, auch die Chinas, will nicht nur erzählt, sondern auch analysiert sein. Neben der Chronik der Ereignisse – und auf ihr aufbauend – hat die Suche nach Mustern und Strukturen, nach epochenübergreifenden Verläufen und großräumigen Zusammenhängen ihr eigenes Recht. Die Beschreibung des Vergangenen wird um die Absicht erweitert, seine Sinnhaftigkeit zu verstehen. Dafür müssen die schwierigsten Voraussetzungen erfüllt sein. Die professionelle Kompetenz des forschenden Historikers verbindet sich mit dem geschärften Problembewusstsein des Philosophen und Sozialwissenschaftlers.
Kaum ein chinesisches Werk der Gegenwart wird diesen Ansprüchen umfassender gerecht als das 2017 in Hongkong erschienene Buch Lishi Zhongguo de nei yu wai: you guan Zhongguo yu zhoubian de zai zhengqing 历史中国的内与外: 有关中国与周边的再澄清 des Shanghaier Historikers Ge Zhaoguang. Diese ebenso umfassende wie präzise, auf eine reiche Quellen- und Literaturbasis zurückgreifende Analyse der historischen Entwicklung Chinas wird nun unter dem Titel Zentrum und Peripherien in der chinesischen Geschichte: Dynamische Grundlagen des heutigen China in deutscher Sprache zugänglich gemacht.
Der Großteil der Literatur über die Geschichte und Gegenwart Chinas, aus der man sich außerhalb Chinas informieren kann, stammt von westlichen Autorinnen und Autoren; nur sinologische Fachleute verfolgen die reichen Debatten, die in chinesischer Sprache geführt werden. Umso wichtiger ist es, sich mit der Arbeit eines der maßgebenden Gelehrten und Intellektuellen Chinas zu beschäftigen. Dabei wird man kein Lehrbuch erwarten, kein enzyklopädisches Standardwerk, das sich mit eigenen Interpretationsakzenten zurückhält. Ge Zhaoguang vertritt ebenso originelle wie markante Thesen, die zur Diskussion einladen. Er präsentiert sie mit ungewöhnlicher wissenschaftlicher Autorität, nicht als Ergebnisse tagesaktueller Polemik oder im Einklang mit einer regierungsamtlichen Geschichtskonstruktion, sondern als Resultate jahrzehntelangen Forschens und Nachdenkens.
Das Buch kann und will den politischen Rahmen seiner Entstehung nicht verleugnen. Wenn Ge Zhaoguang das sich wandelnde Verhältnis zwischen den verschiedenen kaiserlichen Dynastien und den jeweiligen Peripherien innerhalb ihrer Reiche nachvollzieht, dann geht es ihm nicht um die historische Legitimierung eines neuartigen chinesischen Weltmachtstrebens. Der offiziellen volksrepublikanischen Doktrin von einem über mehr als zwei Jahrtausende hinweg stetig und kontinuierlich gewachsenen und innerlich integrierten chinesischen Einheitsstaat begegnet er mit Skepsis. Zugleich lernt man von ihm, dass westliche Warnungen vor einer zunehmenden »Systemrivalität« die Zusammenhänge unzulässig vereinfachen, zumal dann, wenn China zeitlos als das stets bedrohliche »Andere« dargestellt wird. Ge Zhaoguangs Botschaft betont Differenzierung in Zeit und Raum. Nur auf der Grundlage eines vertieften und nuancierten Wissens über China und seine politische und kulturelle Entwicklung können staatlich verordnete Geschichtsbilder auf chinesischer und schwach begründete Prognosen auf westlicher Seite einer rationalen Prüfung unterzogen werden. Das Buch verfolgt in beide Richtungen ein kritisch aufklärendes Programm.
Ge Zhaoguangs Zentrum und Peripherien in der chinesischen Geschichte ist eine Synthese verschiedener Forschungsthemen aus seiner akademischen Biografie. Seine umfassende Kenntnis der chinesischen Geschichte, insbesondere der Geistesgeschichte, beruht auf der disziplinären Breite der einzelnen Etappen seines wissenschaftlichen Werdegangs. Geboren 1950 in Shanghai, absolvierte Ge zunächst ein Bachelor- und Masterstudium an der Fakultät für Chinesische Literatur und Sprache der Beijing-Universität. Zwischen 1992 und 2006 forschte und lehrte er als Geschichtsprofessor an der Qinghua-Universität, die ebenfalls in Beijing angesiedelt ist. Ge Zhaoguang gehört zu jenen Intellektuellen in der Volksrepublik, die seit den 1990er Jahren begannen, die unterbrochene Kommunikation mit Wissenschaftlern in Taiwan, Japan, Hongkong und dem Westen wieder aufzunehmen und den internationalen Diskurs wiederherzustellen, der unter der Herrschaft Mao Zedongs zum Erliegen gekommen war. Gastprofessuren führten ihn an die Hong Kong Baptist University, die Kyoto University, die City University of Hong Kong, die Katholieke Universiteit Leuven und die National Taiwan University in Taipeh. Seine wissenschaftlichen Kontakte in Japan, Taiwan und Hongkong ermöglichten es ihm, mit der Publikation zahlreicher seiner Schriften in öffentliche Räume ohne Zensur (und ohne Druck zur Selbstzensur) auszuweichen. Auch der vorliegende Band erschien in einem Hongkonger Universitätsverlag.
2010 wurde Ge Zhaoguang als erster Princeton Global Scholar für drei Jahre an die renommierte amerikanische Universität eingeladen. Seine Vertrautheit mit der neuesten westlichen Forschungsliteratur lässt sich auf diese Zeit zurückführen. Sie ist nach wie vor bei chinesischen Autoren keine Selbstverständlichkeit, wenn es in ihren Arbeiten um Themen der eigenen Geschichte geht. Zugleich lässt Ge Zhaoguang die Zwänge der marxistischen Geschichtswissenschaft hinter sich. Er reiht sich in eine aktuelle internationale Chinaforschung ein, der es darum geht, die sich verändernden territorialen Grenzen in der Geschichte Chinas sowie seine ethnische und kulturelle Vielfalt zu verstehen und sich von den Stereotypen eines auf Dynastien und Han-Chinesen reduzierten Geschichtsbildes zu lösen.
Für Ge Zhaoguang war sein Wechsel 2007 an die Fudan-Universität in Shanghai und die damit verbundene Leitung des damals neugegründeten National Institute for Advanced Humanities Studies, die er bis 2013 innehatte, der Auslöser zu einem solchen Perspektivenwechsel gewesen. Als Forschungsagenda für das interdisziplinäre geisteswissenschaftliche Forschungszentrum wählte er zwei neue Themenschwerpunkte: zum einen die Untersuchung der Perspektiven der peripheren Gebiete und Nachbarvölker auf China, zum anderen die Analyse von historisch miteinander verbundenen Kulturen innerhalb dieses breiteren räumlichen Kontexts. Beide Fragestellungen bestimmten auch die drei in dieser Zeit erschienenen Monografien, von denen zwei bereits ins Englische übersetzt worden sind.1 Der dritte Band erscheint nun als erste deutsche Übersetzung einer Schrift des Autors. Inhaltlich baut er auf Überlegungen in den beiden vorherigen Bänden auf. Eine gute Ergänzung zu dieser Trilogie bieten drei Ende 2022 erschienene Bände mit Lehrmaterial, das aus der jahrzehntelangen Betreuung von Master- und Doktorarbeiten hervorgegangen ist.2
Ge Zhaoguangs intensive Auseinandersetzung mit den Grundstrukturen der chinesischen Geschichte und ihrer Beziehung zur Gegenwart in Zentrum und Peripherien in der chinesischen Geschichte wäre nicht ohne die Ergebnisse seiner frühen Forschungen zu einer Vielzahl von Themen von der chinesischen Antike bis zur Gegenwart möglich gewesen. Er gehört zu jenen Historikerinnen und Historikern in China, die weitreichende Studien mit detaillierten Kommentaren über die klassische chinesische Tradition veröffentlichen. Dies bezeugen die umfangreichen Fußnoten mit ausführlichen Quellenzitaten und Literaturhinweisen, die zur wissenschaftlichen Methodik des Autors gehören und auch im vorliegenden Band auffallen. Nach eigenem Bekunden zieht Ge Zhaoguang die detaillierte kritische Quellenarbeit einem freien Theoretisieren vor. Bei der selbstverständlichen Einbeziehung koreanischer und japanischer Quellen beruft er sich auf Hu Shi (1891–1962), den großen Gelehrten des frühen 20. Jahrhunderts, der dies 1938 in Zürich gefordert hatte, wo er als erster Chinese an einem Internationalen Historikerkongress teilnahm.3
Ge Zhaoguangs Forschung begann mit mehreren Werken zur Geschichte der beiden Hauptreligionen des chinesischen Altertums, des Buddhismus und des Daoismus, und ihrem jeweiligen Verhältnis zu anderen Bereichen der chinesischen Kultur.4 Daran schloss ein dreibändiger Streifzug durch die Jahrhunderte der chinesischen Ideengeschichte an, in dem – in Anlehnung an japanische Vorbilder – die geistesgeschichtliche und philosophische Bedeutung der oftmals auf ihre religiösen Inhalte reduzierten Quellen aus dem Buddhismus und Daoismus betont wird.5 Die späteren Arbeiten zum Verhältnis von Zentrum und Peripherien bauen auf dieser intensiven Beschäftigung mit den traditionellen Kernelementen der chinesischen Kultur auf.
Ge Zhaoguangs wachsendes Interesse an der Peripherie bewog ihn allerdings nicht zur Einarbeitung in die Sprache und Literatur von Völkern außerhalb der han-chinesischen Mehrheitssphäre, wie sie von der westlichen Chinaforschung vor allem für die Periode der Qing-Dynastie (1644–1911) heute gefordert wird.6 Er wurde nicht zu einem Grenzhistoriker oder Mongolisten, sondern argumentiert nach wie vor vom chinesischen Zentrum der kaiserlichen Dynastien aus und beschreibt das historische China als ein dynamisches Gebilde, das sich im Verlauf der Jahrhunderte von einer Dynastie zur nächsten aufspaltete und neu zusammensetzte. Zu seinen wichtigen Erkenntnissen gehört, dass sich damit auch die von den aufeinanderfolgenden Zentralregierungen festgelegten Grenzen ständig änderten.
Anhand dieser Grundstruktur, die im Zentrum des vorliegenden Bandes steht, zieht Ge Zhaoguang für sein Verständnis von »China« – das für diesen Zweck in distanzierende Anführungszeichen eingeschlossen werden sollte – und der chinesischen Geschichte drei prinzipielle Schlussfolgerungen:
Erstens ist es aufgrund der ständigen Vereinigung und Teilung von Dynastien und ihrer Grenzregionen falsch zu behaupten, dass ein bestimmter geografischer Ort im heutigen China in der Vergangenheit »immer schon« Teil des chinesischen Territoriums gewesen sei.
Zweitens liegt dem chinesischen Staatswesen eine äußerst stabile Kulturgemeinschaft zugrunde, die seit den ersten Dynastien Qin (221–206 v. Chr.) und Han (202 v. Chr.–220 n. Chr.) bestand. Ge Zhaoguang nennt diesen Prozess wörtlich »zu ›China‹ werden« (chengwei Zhongguo 成为中国).
Drittens lässt sich das historische China in politischer Hinsicht nicht immer mit einer bestimmten Dynastie gleichsetzen und auf eine klar definierte Regierungsform beziehen. Folglich müssen Begriffe wie Staat, Regierung oder Heimatland (zuguo 祖国) für jede historische Periode neu bestimmt werden. Daher finden sich im Text auch viele Begriffe in Anführungszeichen.
Ge Zhaoguang beschreibt in Zentrum und Peripherien in der chinesischen Geschichte das Verhältnis zwischen dem chinesischen Kernland und seiner Peripherie als Wechselspiel und erinnert in dieser Hinsicht an die Arbeiten von Owen Lattimore, Sechin Jagchid und Thomas Barfield, deren Peripherie-Begriff jedoch enger definiert war und sich auf die innerasiatischen Grenzgebiete und ihre nomadischen Reiche beschränkte.7 Innerhalb der chinesischen Geschichtsschreibung hat sich seit dem 19. Jahrhundert ein eigenständiger Forschungszweig entwickelt, die Grenzgeschichte (bianjiang shi 边疆史).8 Wichtige Impulse kamen auch von den Historischen Geografen der Yugong-Studiengesellschaft in den 1920er und 1930er Jahren, die den Wandel des Vielvölkerimperiums in einen modernen chinesischen Nationalstaat als territorialen Nationalismus erklärten.9 Die Gründung der Volksrepublik China 1949 war eine Zäsur. Denn sie kennt keine peripheren Räume mehr, sondern nur noch Grenzverhältnisse zu Nachbarstaaten. Aus den imperialen Grenzgebieten der früheren Jahrhunderte wurden im kommunistischen Einheitsstaat formal »Autonome Gebiete« (zizhiqu 自治区), die lokalen Völker verwandelten sich terminologisch in »Minderheiten« (shaoshu minzu 少数民族). Diese Bezeichnungen erinnern an die hierarchische Ordnung des traditionellen Tributsystems, die im modernen Nationalstaat internalisiert wurde. Die Reste des ethnischen Eigencharakters der ehemaligen Grenzvölker wurden durch die massiven Wellen staatlicher Umsiedlung von Han-Chinesen aus dem Kernland in den letzten Jahrzehnten immer mehr zurückgedrängt. Dadurch verloren diese Völker ihre aktive Rolle, die sie, wie Ge Zhaoguang eindrucksvoll zeigen kann, für die Entwicklung des historischen China erfüllt hatten.
Stärker als es in der chinesischen Grenzgeschichtsschreibung üblich ist, betont Ge Zhaoguang den Aspekt der gegenseitigen Beeinflussung von Chinesen und Nicht-Chinesen, den er als Dualismus von »Innerem« und »Äußerem« charakterisiert, damit eine Wortwahl aus den klassischen chinesischen Quellen aufgreifend. Die Bezeichnung »innen« beschränkt sich nicht geografisch und objektivistisch auf das jeweilige chinesische Kernland einer Dynastie, sondern meint ebenso die gefühlte Zugehörigkeit, die durchaus wechseln kann. Diesen flexiblen Umgang mit Grenzräumen behandelt das zweite Kapitel des Buches, wenn es Beispiele anführt, bei denen periphere Gebiete nach einem Dynastiewechsel im chinesischen Kernland durch Prozesse kultureller Anpassung zu einem Teil des Inneren wurden. Umgekehrt schildert das nachfolgende Kapitel, wie infolge von Gebietsverlusten einer schwächeren Dynastie Regionen sich nunmehr außerhalb Chinas befanden und daher zum Bereich des »Äußeren« gezählt wurden.10 In diesem Wechsel von »innen« (China) und »außen« (Peripherien) werden auch die Phänomene der Sinisierung (hanhua 汉化) und der Barbarisierung (huhua 胡化) besser verständlich. Ge Zhaoguang ist es mit seinem Ansatz gelungen, die meist getrennt behandelten Forschungsfelder der Grenzstudien, Historischen Geografie und chinesischen Kulturgeschichte auf eine wirkungsvolle und anregende Weise zu integrieren.
Seine Verwendung unterschiedlicher traditioneller Bezeichnungen für »China« unterstreicht die Bedeutung der Peripherie für die Selbstdefinition des chinesischen Kulturkerns, die von der klassischen chinesischen Geschichtsschreibung untermauert wird. Am Beispiel des Shiji 史记 (Aufzeichnungen des Chronisten) von Sima Qian (circa 145–96 v. Chr.),11 das den Standard für die offiziellen Geschichtsannalen der gesamten Kaiserzeit festlegte, zeigt er, wie diese Werke das historische China schreibend erfassten und seinen Zusammenhalt stärkten.
Ge Zhaoguang sieht im Begriff der »neun Provinzen« (jiu zhou 九州) noch mythische Ursprünge und einen Hang zur Selbstbeschränkung. Er verwendet huaxia 华夏 als generelles Synonym für China.12 Dieser Begriff lässt sich schwer ins Deutsche übertragen und bleibt daher im Text unübersetzt. Ge verbindet mit ihm die Existenz eines staatlichen Steuersystems und die schriftliche Fixierung des Herrscher–Untertanen-Verhältnisses. Im rein territorialen Begriff von »fünf Zonen der Unterwerfung« (wu fu 五服) werden auch die Übergangszonen der Peripherien einbezogen. Nur zwei Zonen befinden sich im chinesischen Kernland. Daher spiegelt sich bereits darin der imperiale Charakter des frühen chinesischen Staates.
Neben den räumlichen Dimensionen von Peripherie und historischem China unterscheidet Ge Zhaoguang zwischen den ethnischen Kategorien von Han-Chinesen und Barbarenvölkern. Während die Dynastien das stabile und einheitsstiftende Element der majoritären Han-Chinesen verkörpern, drückt sich in den Variationen des chinesischen Barbarenbegriffs die Vielfalt der Barbarenvölker aus. Ihre zahlreichen Namen wirken in deutscher Übersetzung verwirrend. Gerade in diesem breiten semantischen Spektrum zeigt sich ihre Heterogenität und damit Schwäche gegenüber dem chinesischen Zentrum. Die chinesischen Autoren der Kaiserzeit halfen sich mit einer geografischen Aufteilung der Völker nach den vier Himmelsrichtungen. Anders als im modernen westlichen Rassebegriff, der ab dem 19. Jahrhundert auch in China von Wissenschaftlern übernommen wurde, war die Zugehörigkeit zu den Barbaren veränderbar. Daher unterschied die klassische chinesische Sprache zwischen »rohen« (sheng 生) und »gargekochten« (shu 熟) Barbaren. Am Beispiel des chinesischen Südens zeigt der Autor, wie manche »Barbarenvölker« unter dem Migrationsdruck der Han-Chinesen ganz in der chinesischen Kultur und gesellschaftlichen Umgebung aufgehen konnten.
Gleichzeitig teilt Ge Zhaoguang die Meinung vieler westlicher Autoren, die Stärke der beiden Fremddynastien der chinesischen Geschichte, der mongolischen Yuan (1279–1368) und der mandschurischen Qing (1644–1911), beruhe gerade darin, dass sie keine Han-Chinesen waren und sich nur teilweise an ihre chinesische Umwelt angepasst hätten. Im qingkaiserlichen Vielvölkerimperium wurde China als einer von mehreren Reichsteilen behandelt, dessen wirtschaftliche und institutionelle Stärke allerdings einen wesentlichen Beitrag zu erfolgreichen Reichsbildungen in den innerasiatischen Gebieten leistete.13 Auch in der Debatte um einen kolonialen Charakter des Qing-Reiches findet Ge Zhaoguang überzeugende Argumente in der westlichen Forschung.14 Vor allem die zehn großen Feldzüge des Qianlong-Kaisers (Regentschaft 1736–1796) und die Eroberung und Gründung Xinjiangs als Grenzregion des Qing-Imperiums in den späten 1750er Jahren bewertet er als koloniale Aktivitäten.
Daher überrascht es kaum, dass Ge Zhaoguang in der Beurteilung des Begriffs »Imperium« und seiner Übertragbarkeit auf die chinesische Geschichte vom Mainstream der VR-Geschichtsschreibung abweicht, der diesen Begriff für China grundsätzlich ablehnt. So identifiziert Ge zumindest die beiden Fremddynastien Yuan (1271–1368) und Qing (1644–1911) eindeutig als Imperien, da es sich bei ihnen nicht um han-chinesische Regierungen gehandelt habe und zudem die territoriale Expansion sowie die Förderung von Völkervielfalt zentrale Elemente ihrer Herrschaftssicherung dargestellt hätten. Neu sei in Bezug auf die Qing-Dynastie jedoch deren Anbindung an die von der europäischen Kolonialexpansion geprägte Globalgeschichte.15 Auch die westliche Qing-Forschung hat in den letzten Jahren diesen Zusammenhang betont.16
Durch den Anschluss des historischen China an die frühneuzeitliche Globalgeschichte wurde freilich ein Konzept problematisch, das im Buch den historischen Rückblick mit der Analyse der Gegenwart verbindet: tianxia 天下, das im Deutschen meist als »Alles unter dem Himmel« übersetzt wird. Das Tianxia-Denken – Ge Zhaoguang spricht von der Utopie der »einen Welt« – basierte auf klaren hierarchischen Abstufungen, wie sie auch in anderen räumlichen Bezeichnungen wie »Neun Provinzen« und »Fünf Zonen der Unterwerfung« oder im Dualismus von »Innerem« und »Äußerem« zum Ausdruck kommen. Tianxia fasst – ähnlich wie die Idee der »Großen Einheit« (da yitong 大一统) – alles unter der Herrschaft des chinesischen Kaisers Stehende vage zusammen. Daher muss tianxia immer auch mit den Gegensatzpaaren »Innen/Außen«, Chinesen/Barbaren, Zentrum/Peripherie zusammengedacht werden. Erst so konnte trotz der räumlichen, kulturellen und ethnischen Differenz in der chinesischen Vorstellungswelt eine Einheit entstehen und dadurch das chinesische Zentrum gestärkt werden, ohne die Unterschiede aufzuheben. Niemand vor Ge Zhaoguang hat diesen Zusammenhang mit ähnlicher Deutlichkeit dargestellt.
Zum Verhältnis des Qing-Reichs zu den ab Mitte des 19. Jahrhunderts in China vordringenden europäischen Kolonialmächten passte das Tianxia-Denken nicht mehr. In einem »Jahrhundert der Demütigung« – wie die Geschichtsschreibung der Volksrepublik China die Periode zwischen dem Beginn des ersten Opiumkriegs 1839 und 1949 bezeichnet17 – kehrte sich die hierarchische Ordnung um. Das späte Kaiserreich der Qing bestimmte nicht mehr wie im traditionellen Tributsystem, das die Grenzvölker und Nachbarreiche asymmetrisch einbezog, die Rahmenbedingungen seiner Außenbeziehungen; vielmehr erwies es sich gegenüber der militärischen – und in den Treaty Ports und Pachtgebieten auch politischen – Dominanz Westeuropas, Russlands und Japans als unterlegen.
Ge Zhaoguangs kritische Erläuterungen zu den verschiedenen modernen Tianxia-Entwürfen sind dem Haupttext als Anhang beigefügt, stellen aber keineswegs nur ein Nebenprodukt dar, das der Autor im Buch unterbringen wollte. Sie bilden eine ideengeschichtliche Brücke vom historischen China zur Gegenwart der Volksrepublik. Ge Zhaoguang kritisiert im Wesentlichen Zhao Tingyangs vieldiskutierte Übertragung von tianxia von einer klassischen Ordnungsvorstellung des chinesischen Altertums auf die gesamte Menschheit im 21. Jahrhundert.18 Nach Zhao Tingyang gibt es kein »Außen« mehr; alles wird zur »Weltinnenpolitik« einer von China dominierten Weltordnung, wie sie auch in Xi Jinpings Parole vom »chinesischen Traum« (Zhongguo meng 中国梦), vom »Aufstreben einer Großmacht« (daguo jueqi 大国崛起) oder vom »Weg des Wiederaufstiegs« (fuxing zhi lu 复兴之路) zum Ausdruck kommt.
Was aber verbindet diese modernen Formen eines Tianxiaismus mit dem traditionellen konfuzianischen Begriff? Ge Zhaoguang erinnert an die frühesten Tianxia-Texte der Jahrhunderte vor der ersten Dynastiegründung, als in der damaligen konfliktreichen Zeit der strukturellen Differenzierung in ein chinesisches Zentrum und seine Peripherie bzw. in »Innen« und »Außen« die Tianxia-Idee die Schaffung einer stabilen universalen Ordnung versprach. Auf ein ähnliches Bedürfnis stößt Ge Zhaoguang auch in den Krisenzeiten späterer Jahrhunderte – sei es bei den Interpretationen der chinesischen Klassiker in der qingzeitlichen Gongyang-Schule, in Kang Youweis utopischer Idee einer Welt der »Großen Gemeinschaft«, im Neukonfuzianismus der Jahrzehnte im Übergang zum 21. Jahrhundert oder im heutigen Tianxiaismus einer neuen Weltordnung.19 Ge Zhaoguang kritisiert an diesen Ansätzen ihren ahistorischen und konstruktivistischen Charakter sowie ihre »Überinterpretation« (guodu quanyi 过度诠译). Er warnt davor, in der aktuellen Diskussion die wissenschaftliche Ebene zu verlassen und aus politischen Motiven das historische Tianxia-Denken als Modell einer neuen chinesischen Weltordnung zu missbrauchen.20
Sabine Dabringhaus