Vorwort: »China von der Peripherie aus betrachtet« bis »Innen und Außen im historischen China«

Qin Shihuang vertrieb die Rong und die Di,
baute die Große Mauer und grenzte China ein.

aus: »Hanshu – Über die westlichen Regionen«

Auf beiden Seiten der Großen Mauer ist die Heimat

Modernes Lied (1992)

Der vorliegende Beitrag behandelt keine neue Frage, sondern ein altes Thema. Die Diskussionen um China und seine Peripherie werden schon lange geführt, sind aber bis heute hochaktuell.21 Dies zeigt, dass es sicherlich noch offene Fragen gibt, mit denen sich die akademische Welt auseinandersetzt. Ich selbst bilde da keine Ausnahme. Als wir 2006 ein Forschungsprojekt mit dem Thema »China von der Peripherie aus betrachtet« ins Leben riefen, hatte ich einerseits die Idee, einen Vorschlag, den Hu Shi 胡适 (1891–1962) bereits 1938 auf dem Internationalen Historiker-Kongress in Zürich vorgebracht hatte, aufzugreifen und Quellen zur chinesischen Geschichte aus Japan und Korea als »neues Material« zu verwenden.22 Außerdem wollte ich das Prinzip der »Deutungshoheit« durchbrechen, welches in der chinesischen Geschichts- und Kulturforschung vorherrscht, und neue Perspektiven und Positionen zum Verständnis der Vielfalt von Ostasien und China eröffnen.23 Aber während der vergangenen zehn Jahre ist mir aufgefallen, dass es in der Bewertung der Forschung zu »China von der Peripherie aus betrachtet« immer einige kritische Stimmen gibt. Am wichtigsten sind bei dieser Kritik folgende Fragen: »Was bedeutet »Peripherie«? Sind die Staaten, die an das moderne China angrenzen, die »Peripherie«? Impliziert »China von der Peripherie aus zu betrachten« weiterhin einen Zentralismus, in dem China das Zentrum bildet und die umliegenden Staaten Grenzgebiete darstellen? Daher ist die Fragestellung, die man dabei auf keinen Fall außer Acht lassen darf, jene nach der Demarkation der »Peripherie«. Anders ausgedrückt: Geht man vom Staatsgebiet des gegenwärtigen China aus, dann zählen zur Peripherie selbstverständlich nur ausländische Staaten wie Japan, Südkorea, die Mongolei, Vietnam, Myanmar, Indien, Russland usw. Geht man aber von den Territorien der Dynastien oder vom imperialen Hoheitsgebiet mit seiner kulturell und politisch historisch relativ stabilen und dauerhaften Gemeinschaft der Han-Chinesen aus,24 müssten dann nicht die zahlreichen nicht-han-chinesischen Völker und Randgebiete im Norden und Westen (Xiongnu, Xianbei, Turkvölker, Tubo/Tibeter, Uiguren, Kitanen, Jurchen, Mongolen und Mandschu) und im Süden (Pu, Xi, Dong, Man) ebenfalls als Peripherie des historischen »China« verstanden werden? Sollten wir also nicht auch aus ihrer Perspektive und von ihrem Standpunkt aus sowie anhand ihrer schriftlichen Quellen das historische »China« betrachten? Weil dies allerdings in der Volksrepublik keine historischen Fragen innerhalb der akademischen Forschung sind, sondern praktische Probleme auf der politischen Ebene, konnte ich den Begriff der »Peripherie« in den vergangenen Jahren nur sehr allgemein und vage verwenden.

Aber diese Unschärfe ist nur eine Notlösung. Wenn man unablässig weiter in die Tiefe geht und bemüht ist, den Dingen auf den Grund zu gehen, bleibt es nicht aus, an realen politischen Problemen zu rühren und vielleicht trifft man auch auf noch mehr spezifische akademische Fragen. Wenn man beispielsweise sagt, dass die »Peripherie« gemäß den nationalen Grenzen moderner Staaten heute nur »außerhalb« verortet wird, dann lassen sich die historischen Forschungen zu »China« und seiner »Peripherie« wohl dem Themenfeld der »Geschichte der chinesisch-ausländischen Beziehungen« zuordnen. Aber im Sinne der Territorien der traditionellen kaiserlichen Dynastien liegt diese Art von »Peripherie« vielleicht noch »im Inneren«. Folglich gehört in diesem Verständnis von »China« und seiner »Peripherie« die Geschichtsforschung zum Themenbereich der sogenannten »Geschichte der chinesischen Nation«.25 Nimmt man die Staatsgrenzen des modernen China als Maßstab, dann sind einige »Peripherien« vielleicht »Grenzregionen« Chinas und gehören zum Forschungsgebiet der »Geschichte und Geografie der Grenzgebiete«. Wenn in der Vergangenheit einige Peripherien außerhalb des Territoriums einer traditionellen Dynastie lagen und sogar noch enger mit der Geschichte und Kultur fremder Länder verbunden waren und daher nicht »am Rand« (border), sondern »dazwischen« (among)26 lagen, dann sollte deren Erforschung möglicherweise eher den Bereichen der »Regionalgeschichte« oder der »transregionalen Geschichte« zugeordnet werden. Wenn wir anerkennen, dass das historische China, sei es in territorialer, ethnischer oder kultureller Hinsicht, veränderlich war, dann variieren »Innen« und »Außen« häufig ihre Form und ihren Ort. Und weil das so ist, müssen wir uns im Anschluss an die Erforschung von »China von der Peripherie aus betrachtet« der Forschung über »Innen und Außen im historischen China« widmen. Ich hoffe, dass dabei nicht nur die Veränderungen von »Innen« und »Außen« der Grenzregionen, der ethnischen Gruppen und der Kulturen des historischen China aufzeigt werden. Es soll vielmehr auch ein Versuch sein, eine Brücke zwischen den verschiedenen Quellen, Theorien und Methoden zu schlagen, die bisher zu verschiedenen Teilbereichen der Geschichtswissenschaften gehören, wie der Geschichte der chinesisch-ausländischen Beziehungen, der Geschichte der chinesischen Nation (einschließlich der »Grenzvölker«), der Historischen Geografie (einschließlich der sogenannten Geschichte und Geografie der Grenzregionen) und der globalen Geschichte (sowie der Regionalgeschichte).

Da wir in jedem Fall noch eine klare Definition und Erklärung der »Peripherie« – im Umkehrschluss also eigentlich von »China« – schuldig sind, beginne ich im Folgenden mit einer Neukonzeptionierung der »Peripherie«.